Der populistische Planet - Jonas Lüscher - E-Book

Der populistische Planet E-Book

Jonas Lüscher

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Beschreibung

Hat die "Elite" tatsächlich den Kontakt zum "Volk" verloren? Was bedeutet es wirklich, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen? Was verbirgt sich hinter der Floskel "Das muss man doch noch sagen dürfen"? Eine internationale Gruppe von Denkerinnen und Denkern stellt die gängigen Erzählungen der Populisten in unterschiedlichen Ländern zur Debatte.

Rechte und linke Populisten auf der ganzen Welt eint dieselbe Erzählung: Der Staat befinde sich in der Hand einer abgehobenen, globalistisch denkenden, meist urbanen Elite, die den Kontakt zu den "normalen" Bürgerinnen und Bürgern längst verloren habe und die alltäglichen Sorgen des "Volkes" gar nicht mehr nachvollziehen könne. Sie aber, die Populisten, gehörten nicht zu dieser Elite und sie würden daher als einzige die Ängste der Bürgerinnen und Bürger verstehen, offen artikulieren und ernst nehmen. Der Schriftsteller Jonas Lüscher und der Philosoph Michael Zichy haben eine diverse Gruppe zusammengestellt, um den Gemeinsamkeiten, aber auch den Unterschieden zwischen den vielen Erscheinungsformen des Populismus unter den Vorzeichen unterschiedlicher gesellschaftlicher, ökonomischer und religiöser Bedingungen nachzuspüren. In globalen Gesprächen zwischen Budapest, Kairo, Brasilia, Nairobi, Moskau, Salzburg und Zürich ist so ein Buch über einen populistisch infizierten Planeten entstanden. Es zeigt, warum sich die Welt vielerorts in Aufruhr befindet – und was es konkret bedeutet, in einem bestimmten Land unter einer populistischen Regierung leben zu müssen. Mit Beiträgen von Jonas Lüscher, Michael Zichy, Maria Stepanova, Youssef Rakha, Yvonne Owuor, Carol Pires, Naren Bedide und Ágnes Heller.

Mit Beiträgen von Jonas Lüscher, Michael Zichy, Maria Stepanova, Youssef Rakkha, Yvonne Owuor, Carol Pires, Naren Bedide und Ágnes Heller.

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Der populistische Planet

Berichte aus einer Welt in Aufruhr

Mit Beiträgen von Naren Bedide, Ágnes Heller, Jonas Lüscher, Yvonne Adhiambo Owuor, Carol Pires, Youssef Rakha, Maria Stepanova und Michael Zichy.

C.H.Beck

Zum Buch

Hat die «Elite» tatsächlich den Kontakt zum «Volk» verloren? Was bedeutet es wirklich, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen? Was verbirgt sich hinter der Floskel «Das muss man doch noch sagen dürfen»? Eine internationale Gruppe von Denker*innen stellt die gängigen Erzählungen des Populismus auf den Prüfstand. Entstanden ist ein einzigartiger Briefwechsel über verschiedene Kontinente hinweg. Rechte und linke Populisten auf der ganzen Welt eint dieselbe Erzählung: Der Staat befinde sich in der Hand einer abgehobenen, globalistisch denkenden, meist urbanen Elite, die den Kontakt zu den «normalen» Bürger*innen längst verloren habe und die alltäglichen Sorgen des «Volkes» gar nicht mehr nachvollziehen könne. Sie aber, die Populist*innen, gehörten nicht zu dieser Elite und würden exklusiv die Ängste der

Bürger*innen verstehen, offen artikulieren und ernst nehmen. Der Schriftsteller Jonas Lüscher und der Philosoph Michael Zichy haben eine diverse Gruppe zusammengestellt, um den Gemeinsamkeiten, aber auch den Unterschieden zwischen den vielen Erscheinungsformen des Populismus unter den Vorzeichen unterschiedlicher gesellschaftlicher, ökonomischer und religiöser Bedingungen nachzuspüren. In globalen Gesprächen zwischen Budapest, Kairo, Brasilia, Nairobi, Moskau, Hyderabad, Salzburg und Zürich ist so ein Buch über einen populistisch infizierten Planeten entstanden. Es zeigt, warum sich die Welt vielerorts in Aufruhr befindet – und was es konkret bedeutet, unter einer populistischen Regierung leben zu müssen.

Zu den Herausgebern

Jonas Lüscher ist Schriftsteller und lebt in München.

Michael Zichy ist Assoziierter Professor für Philosophie an der Universität Salzburg.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Jonas Lüscher und Michael Zichy:

Eine erste Überlegung

Ágnes Heller:

Populismus oder Ethnonationalismus?

Yvonne Adhiambo Owuor:

Der undurchdringliche Schatten unserer Existenzkrise

Michael Zichy:

Das Rezept des Populismus

Jonas Lüscher:

Die Mär vom «guten Populisten»

Carol Pires:

Brasilien, ein Land der Zukunft? Über den (Miss-)Erfolg des Populisten Bolsonaro

Ágnes Heller:

Es gibt keine Demokratie ohne kulturelle Elite

Youssef Rakha:

Big Macs und Coca-Colas des politischen Marktplatzes

Maria Stepanova:

Passéismus im Ressentimentstaat

Naren Bedide:

Populismus ohne Volk

Michael Zichy:

Die vielen Gesichter des Populismus: Eine Zwischenbetrachtung

Carol Pires:

Jair Bolsonaro und der tropische Protofaschismus

Jonas Lüscher:

Nach einem Jahr – was hat sich verändert?

Yvonne Adhiambo Owour:

Die Seuche, die Populisten und wir

Youssef Rakha:

Wir, die Populistinnen und Populisten

Maria Stepanova:

Geteiltes Unglück

Naren Bedide:

Indien ist die Pandemie

Yvonne Adhiambo Owuor:

Das. Auch.

Youssef Rakha:

Revolution 101

Naren Bedide:

Die Welt versetzt sich zurück in den Mutterleib

Michael Zichy:

Hinsehen, wo es weh tut

Jonas Lüscher:

Pandemie und Anstand

Carol Pires:

Populismus, der tötet

Nachrufe auf Ágnes Heller

Sie war eine vorbildliche Exponentin der kulturellen Elite

Sie wird eine Quelle der Inspiration bleiben

Über die Autor*innen

Fußnoten

Für Ágnes

Einleitung

Ende 2018 kontaktierte uns das Goethe-Institut mit der Anfrage, ob wir Interesse hätten, ein Konzept für einen Online-Dialog zum Thema Populismus auszuarbeiten. Mit Online-Formaten werden in der Regel Geschwindigkeit und Kürze assoziiert: kurze Texte, tagesaktuell, schnell geschrieben, Schlag auf Schlag publiziert; aber eben auch schnell gelesen und schnell vergessen. Bei einem derartigen Vorgehen kommen aber die Freiheiten nicht zur Geltung, die man durch das digitale Publizieren gewinnen könnte. Deswegen haben wir beschlossen, einen anderen Weg zu gehen – den der maximalen Freiheit: keine strengen Abgabetermine, keine Einschränkung in der Länge der Beiträge, also Zeit zum Nachdenken und Platz, um Gedanken sorgfältig zu entwickeln. Und weil wir sowieso schon dabei waren, etwas ungewohnte Wege zu beschreiten, haben wir uns auch noch erlaubt, für diesen Dialog ein etwas aus der Mode gekommenes Format, den Briefwechsel, zu wählen.

Das Thema war im Groben gegeben: Populismus. Darüber wurde schon viel nachgedacht und publiziert; die wissenschaftliche Literatur dazu ist extensiv, Analysen gibt es zuhauf. Was uns aber interessiert hat, ist, das Phänomen aus einer internationalen, vielschichtigen Perspektive zu beschreiben und dabei subjektive Wahrnehmungen zur Sprache kommen zu lassen. Also auch Stimmen einen Raum zu geben, die von der konkreten Lebenswirklichkeit unter populistischen, teils semi-autoritären bis autoritären Regierungen berichten.

So ergänzen sich Analyse und Berichte aus der Lebenswirklichkeit; gepaart mit der internationalen Perspektive ergibt sich daraus ein komplexes Bild, das sich in kein striktes Gattungskorsett zwängen lässt. Mehr noch: Vermeintliche Gewissheiten, was der Populismus sei oder warum er schlecht sei, werden durch die Form eines aufeinander bezogenen Briefwechsels relativiert beziehungsweise provokativ in Frage gestellt.

Dazu haben wir eine diverse Gruppe zusammengestellt, bestehend aus Journalist*innen, Philosoph*innen, Aktivist*innen, Schriftsteller*innen mit einem Altersunterschied von 60 Jahren aus sieben Ländern auf vier Kontinenten.

Nicht alle unserer zukünftigen Briefpartner*innen kannten wir persönlich. Einige waren uns nur durch ihr Werk vertraut, aber sie schienen uns vielversprechende Dialogpartner*innen, weil sie sich alle durch einen ganz eigenen Blick auf ihr Land auszeichneten und individuelle Wege gefunden hatten, ihre scharfen Beobachtungen in Sprache zu fassen.

Im Laufe des Dialogs wurde uns bald klar, wie richtig unser Ansatz war, welches Glück wir mit unserer Auswahl hatten und wie wertvoll diese Diversität war. So wurde schnell deutlich, dass wir alle unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen leben und schreiben, die Welt sehr unterschiedlich wahrnehmen und uns dadurch gegenseitig außerordentlich bereichern können. Aber ebenso schnell wurde deutlich, dass uns etwas Fundamentales verbindet: die Sorge um unsere Gesellschaften und die Angst vor Grausamkeit, Erniedrigung und Unfreiheit, die wir angesichts des raumgreifenden Populismus verspüren.

Zwei unerwartete Ereignisse haben diesen Briefwechsel geprägt. Bereits im Sommer 2019, nachdem sie zwei Briefe verfasst hat, ist Ágnes Heller verstorben und hat eine tiefe Lücke in unserem Kreis hinterlassen. Wie wichtig sie für uns war, zeigt die Tatsache, dass wir alle immer und immer wieder in unseren Briefen auf ihre Beiträge Bezug nehmen. Ihr wacher Geist, ihr Mut und ihr unkonventionelles Denken haben uns auch im weiteren Verlauf dieses Projektes begleitet. Im Anhang dieses Buches finden sich zwei Nachrufe auf sie, die wir für die Webseite des Goethe-Instituts, noch ganz unter dem Eindruck ihres unerwarteten Todes, verfasst hatten.

Ihren Platz hat auf ganz eigene, großartige Weise Naren Bedide eingenommen, ein Lyriker und Dalit-Aktivist aus dem südindischen Hyderabad, der uns mit überraschenden Einblicken in die Spielart des indischen Populismus vor dem Hintergrund des Kastensystems versorgt hat.

Das zweite unerwartete Ereignis ist natürlich die Corona-Pandemie, die nicht nur unser aller Leben auf ähnliche, aber auch auf erstaunlich unterschiedliche Art und Weise auf den Kopf gestellt, sondern auch unseren Briefwechsel bald dominiert hat. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als hätten wir unser ursprüngliches Thema aus den Augen verloren; dem ist aber natürlich nicht so, denn die Pandemie hat die Auswirkungen populistischer Politik in aller Deutlichkeit zutage gefördert und wir sahen uns gezwungen, uns diesem Phänomen sozusagen unter Extrembedingungen zu widmen.

Herausgekommen ist der vorliegende Briefwechsel, den wir dankenswerterweise, erweitert und ergänzt durch einige zusätzliche Briefe, hier als Buch publizieren dürfen. Wir danken unseren Briefpartner*innen, mit denen wir uns nach diesen zwei Jahren freundschaftlich verbunden fühlen. Wir danken Tatjana Brode und Eliphas Nyamogo, die das Projekt «Diesseits des Populismus – Zeitgeister» beim Goethe-Institut angestoßen und betreut haben. Ohne ihr großes Engagement und die Mithilfe des Instituts hätte das Buch nicht erscheinen können. Und wir danken Martin Hielscher, der das Projekt zum Verlag C.H.Beck getragen, und Matthias Hansl, der das Buch beim Verlag betreut hat.

Salzburg & München im Januar 2021

Michael Zichy & Jonas Lüscher

Jonas Lüscher und Michael Zichy:

Eine erste Überlegung

München, 29. April 2019

Liebe Freund*innen,

Wie Ihr wisst, wollen wir mit Euch einen internationalen Dialog über verschiedene Kontinente hinweg führen, der sich einem Thema widmet, das uns alle seit geraumer Zeit in seinem Bann hält: dem Populismus. Um unsere Diskussion darüber in Fahrt zu bringen, beginnen wir mit ein paar ersten Überlegungen. Zuallererst eine notwendige Präzisierung: Anstelle von Populismus wäre es vermutlich richtiger, den Plural zu verwenden und von Populismen zu sprechen. Ganz offensichtlich tritt der Populismus in verschiedenen Ausformungen auf. In der Fachdiskussion wird in erster Linie zwischen rechtem und linkem Populismus unterschieden. Aber auch diese Unterscheidung ist natürlich nicht feinkörnig genug. Wir wollen in diesem Projekt den Unterschieden, aber auch den Gemeinsamkeiten zwischen den vielen Erscheinungsformen des Populismus unter den Vorzeichen unterschiedlicher gesellschaftlicher, ökonomischer und religiöser Bedingungen nachspüren. Dazu haben wir eine ausgesprochen diverse Gruppe zusammenstellen können.

Ágnes Heller, die einen großen Teil ihres Lebens in den USA verbracht hat und nun wieder in Ungarn lebt, dem Land, welches sie vor 42 Jahren zu verlassen gezwungen war, kennt sowohl die Eigenarten der US-amerikanischen Politik, die zur Wahl Donald Trumps geführt haben, wie auch die Zustände in Ungarn, in denen Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei seit vielen Jahren die Politik bestimmen. Zudem haben wir in Ágnes Heller eine Gesprächspartnerin, die als Kind den Schrecken des Faschismus erlebt oder vielmehr überlebt hat und die in den 70er Jahren, nach vielen Jahren der politischen Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Regime und der Unterdrückung durch dasselbe, ihre Heimat verlassen musste. Sie ist eine Gesprächspartnerin, die also nicht nur die Populismen der Gegenwart auf beiden Seiten des Atlantiks bestens kennt, sondern auch die beiden folgenschwersten politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts, die sich – aber dazu wird sich Ágnes Heller selber äußern – populistischer Mechanismen bedient haben.

Mit Maria Stepanova haben wir eine profunde Kennerin der russischen Verhältnisse in unserer Gruppe, die nicht nur seit vielen Jahren die Politik Putins als Journalistin und Publizistin kritisch begleitet, sondern in ihrem jüngst erschienenen Roman Nach dem Gedächtnis die Tiefen der sowjetischen Erinnerungsräume auslotet.

Yvonne Adhiambo Owuor hat in ihrem Debütroman Dust nicht nur die Politik der kenianischen Gegenwart beschrieben, sondern auch die koloniale und postkoloniale Geschichte ihres Landes ausgeleuchtet. Gegenwärtig beobachtet sie ihre Heimat aus der Ferne. Am Wissenschaftskolleg zu Berlin arbeitet sie an ihrem neuen Roman und hat dabei die Gelegenheit, populistische Strömungen in Deutschland mit den Verhältnissen in Kenia in Bezug zu setzen.

Carol Pires wird uns aus Brasilien berichten können, wo sich in den nächsten Monaten zeigen wird, wie schnell und tiefgehend der autoritäre und populistische neue Präsident Jair Bolsonaro das Land zu verändern vermag.

Youssef Rakha hat in Kairo den Volksaufstand 2011, die darauf folgende Regierungszeit der Muslimbrüder, die zweite Revolution – oder, je nach Sichtweise, den Putsch – und die sich nun verfestigende Militärregierung mit der ihm eigenen intellektuellen Distanz beobachtet. Er hat im Vorgespräch bereits angedeutet, dass er beabsichtigt, den Zusammenhang zwischen Populismus und Islamismus auszuloten.

Michael Zichy kennt, auch als aktiver Politiker bei den österreichischen Grünen, die Verhältnisse in seinem Land bestens und beobachtet mit Sorge die Veränderungen in der Gesellschaft, die sich im nun zweiten Jahr der rechtsbürgerlichen Koalition vollziehen.[1]

Jonas Lüscher wurde in seiner Jugend in der Schweiz durch das Erstarken des spezifisch helvetischen Rechtspopulismus der Schweizerischen Volkspartei (SVP), die nunmehr seit zwanzig Jahren die stärkste Partei im Land darstellt, politisiert. Heute beobachtet er mit Sorge den Einzug der rechts-konservativen bis offen rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) in den Bundestag seiner Wahlheimat. Eine solch vielfältige Gruppe ist eine ideale Voraussetzung, um dem Phänomen des Populismus auf die Spur zu kommen.

Wir wollen die Diskussion mit einer These anstoßen: Es scheint uns, als ob es ein Narrativ gibt, dessen sich alle Populisten bedienen. Der Staat, so lautet es, befinde sich in der Hand einer abgehobenen, globalistisch denkenden, meist urbanen Elite, die den Kontakt zu den «normalen» Bürgern längst verloren habe und die alltäglichen Sorgen des «Volkes» gar nicht mehr nachvollziehen könne. Sie aber, die Populisten, gehörten nicht zu dieser Elite und sie würden daher als Einzige die Ängste der Bürger*innen verstehen, offen artikulieren und ernst nehmen. Dort, wo die Populisten bereits in der Regierung sitzen – wie beispielsweise in Ungarn oder den USA –, wird das Narrativ leicht abgewandelt: Nun sei es die Opposition, mehr noch aber die übernationalen Institutionen – die EU, die UNO –, gegen die es die «wahren Interessen» des Volkes zu verteidigen gelte.

Diese Erzählungen sind aus mehreren Gründen interessant. Erstens: Viele führende Populisten kommen selbst nicht im Geringsten aus dem «gewöhnlichen» Volk. Christoph Blocher etwa, das Gesicht des Schweizerischen Rechtspopulismus, gibt sich als Volkstribun, ja fast schon als Bauernführer aus – dabei ist er ein Chemieunternehmer mit einem Vermögen von um die 10 Milliarden Euro. Donald Trump und Silvio Berlusconi sind ähnliche Beispiele. Weshalb wird diesen Männern trotzdem die Behauptung abgenommen, sie seien volksnah, wüssten um die Sorgen der einfachen Leute und nähmen sich dieser auch wirklich an?

Zweitens: Populisten rühmen sich dafür, das auszusprechen, was die «schweigende Mehrheit» denkt, und sie nehmen für sich in Anspruch, die wahren Interessen des Volkes zu vertreten. Aber tun sie dies wirklich? Oder gelingt es ihnen nur, das Volk auf perfide Art zu manipulieren, sich zum Sprachrohr für dessen Frust zu machen? Werden die Meinungen und Interessen einer Mehrheit tatsächlich durch eine Elite – und ihr Diktat der politischen Korrektheit – unterdrückt? Wenn dem nicht so wäre: Wie kommt es dazu, dass dieses Narrativ trotzdem so verfängt?

Und drittens schließlich: Stimmt die These der Existenz einer abgehobenen politischen Elite, einer «classe politique», überhaupt? Für welche Länder hat sie Gültigkeit, für welche nicht? Sind wir, die Diskursteilnehmer, Teil dieser Elite und damit Teil des Problems? Oder ist es nicht vielmehr so, dass es angesichts der Komplexität der Welt und der politischen Entscheidungen schlicht eine Elite braucht? Übt diese Elite tatsächlich moralischen Terror aus und spricht Denkverbote aus, oder ist die Diskrepanz zwischen politischer Elite und gewöhnlichem Volk die unvermeidbare Folge des Umstandes, dass sich politische Zusammenhänge in einer globalisierten Welt nur noch schwer vermitteln lassen?

Wer nimmt den Ball auf und antwortet mit einem ersten Essay auf unsere Fragen und berichtet über die spezifischen Verhältnisse in seinem Land?

Herzlich,

Michael und Jonas

Ágnes Heller:

Populismus oder Ethnonationalismus?

Budapest, 27. März 2019

Liebe Freundinnen und Freunde,

ich habe ein Problem mit dem Ausdruck «Populismus». Perón war ein Populist, und Chávez ebenso. Doch Orbán und seine Gefolgschaft sind keine Populisten. Populisten sind zwar Demagogen, stehen aber tatsächlich auf Seiten des Volkes und nicht der Wohlhabenden. Einige totalitäre Parteien Europas waren auch populistisch, jedoch nur anfangs. Im Gegensatz dazu haben Orbán und seine Partei eine eigene Oligarchie geschaffen, die «Neureichen», deren Wohlstand ihnen gänzlich selbst zugutekommt, während die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Ich würde stattdessen eher von einer Art Refeudalisierung sprechen. Diese ethnonationalistischen Parteien behaupten nicht einmal, das «Volk» zu unterstützen; sie unterstützen die «Nation». Sie nehmen für sich in Anspruch, die Nation gegen all deren Feinde wie Soros, Brüssel und vor allem natürlich gegen den Liberalismus zu verteidigen. Den Liberalismus zum Feind Nummer eins zu erklären, ist beileibe nichts Neues. Das haben die Ethnonationalisten mit totalitären Parteien gemein. Und dennoch sind sie nicht totalitär, weil sie es gar nicht nötig haben.

Dementsprechend ist ihre Identitätspolitik ethnonationalistisch. Für Ethnonationalisten setzt sich die «Nation» im Gegensatz zu Aristoteles nicht aus der Summe ihrer Bürgerinnen und Bürger zusammen, sondern aus all jenen, deren Vorfahren aus dem betreffenden Land stammen, die von gleichem «Blut» sind und sich einem Land zugehörig fühlen, in dem sie vielleicht nie gelebt haben. Etwa so wie die «Volksdeutschen», die nie in Deutschland ansässig waren, selbst nicht in der Eltern- und Großelterngeneration, aber von denen man dennoch verlangte, ihre Treue zu Deutschland anstatt zu dem Land zu bekunden, in dem sie beheimatet waren. In den Augen der politischen Führungselite Ungarns zählt die Anhängerschaft der Oppositionsparteien nicht zu den Ungarn. Menschen hingegen, die nie in Ungarn gewohnt haben, doch ungarischer Herkunft sind, gelten als wahre Ungarn, vorausgesetzt, sie sind Befürworter Viktor Orbáns. Ethnonationalismus kann leicht in offenen Rassismus umschlagen.

Seit 1914 ist der Ethnonationalismus eine verbreitete Ideologie in Europa und war der eigentliche ideologische Beweggrund für den Ersten Weltkrieg. Europa bezahlte für diesen Krieg mit hundert Millionen Toten, alle Europäer, die durch die Hand von Miteuropäern starben.

Tatsächlich unterscheiden sich die neuen Ethnonationalisten von heute von denen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dahingehend, dass ihre Ideologie negativ ist. Sie versprechen keinen Landgewinn, keine Gesellschaft, die frei von Fremden ist, nicht Glück für alle oder gar Größe und Erhabenheit. Sie versprechen Schutz. Sie geben vor, ihre Nation vor Einwanderern, vor der Einmischung anderer in die Innenpolitik und der vermuteten Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränität seitens der EU zu bewahren. Sie errichten Mauern nicht nur gegen Einwanderer, wie sie glauben machen wollen, sondern gegen alle anderen EU-Staaten, die nicht mit ihnen übereinstimmen.

Wie ich vorher erwähnte, ist der größte Gegner der Ethnonationalisten der Liberalismus. Daher schaffen sie, sobald sie an die Macht gelangen, die Gewaltenteilung ab, zentralisieren alle entscheidungsgebenden Organe sowie die Medien und die Bildung und richten Institutionen ein, mit denen sie die öffentliche Meinung manipulieren (etwa durch die sogenannten Nationalen Konstitutionen in Ungarn). Damit können sie eine Diktatur errichten, ohne auf die Waffen des Totalitarismus zurückgreifen zu müssen. Dazu sind sie in der Lage, weil sie die Macht nicht durch Gewalt, sondern durch Parlamentswahlen erlangt haben – zwar keine sauberen, aber dennoch Wahlen. Sie werden gewählt und wiedergewählt, dreimal, fünfmal, wie Putin, Erdoğan, Kaczyński, Sisi und Orbán. Alle halten ihre Präsidentschaft für demokratisch, da sie ja von einer Mehrheit oder nahezu einer Mehrheit gewählt wurden. Lässt sich das abstreiten? Auf der Suche nach einer Bezeichnung für diese Regierungsform kam mir der Ausdruck «Demokratur» in den Sinn. Das Wort allein ist ein Indiz dafür, dass der Begriff «Demokratie» überdacht werden muss.

Demokratie wurde in der europäischen Geschichte mehrfach umdefiniert. Ursprünglich bezog er sich auf eine direkte Demokratie nach Athener Muster. Kant zufolge war diese Demokratieform nicht länger möglich, weil die Staaten zu groß waren und man sich nicht an einem Ort zur gemeinsamen Entscheidungsfindung versammeln konnte.