Ins Erzählen flüchten - Jonas Lüscher - E-Book

Ins Erzählen flüchten E-Book

Jonas Lüscher

0,0
11,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie erleben wir die Welt und uns in ihr? In welcher Sprache, mit welchen Zeichen und Modellen und auf welcher Grundlage erklären wir sie uns? Und welche Erklärungsformen und welches Modell haben sich, zumindest im Westen, durchgesetzt und warum?
Für den Schriftsteller Jonas Lüscher, der mit "Frühling der Barbaren" und "Kraft" jetzt schon zu den am meisten beachteten Autoren der Gegenwartsliteratur zählt, sind dies ganz persönliche Fragen. Sie betreffen sein eigenes Schreiben. Und sind ausschlaggebend für seine Entscheidung, die universitäre Welt hinter sich zu lassen, im literarischen Werk aber dennoch nicht bloß auf das völlige Eintauchen ins Erzählen zu setzen. In diesem Buch entwickelt Lüscher seine Vorstellung vom Erzählen als beschreibende Erkenntnis des Einzelfalls, die sich dennoch Ordnungsprinzipien nicht entziehen kann. Und beschäftigt sich, weil es um Machtfragen geht, ausdrücklich mit dem Thema engagierte Literatur. Ein faszinierendes Buch über das, was nur die Literatur kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jonas Lüscher

Ins Erzählen flüchten

Poetikvorlesung

C.H.Beck

Zum Buch

Wie erleben wir die Welt und uns in ihr? In welcher Sprache, mit welchen Zeichen und Modellen und auf welcher Grundlage erklären wir sie uns? Und welche Erklärungsformen und welches Modell haben sich, zumindest im Westen, durchgesetzt und warum?

Für den Schriftsteller Jonas Lüscher, der mit «Frühling der Barbaren» und «Kraft» jetzt schon zu den am meisten beachteten Autoren der Gegenwartsliteratur zählt, sind dies ganz persönliche Fragen. Sie betreffen sein eigenes Schreiben. Und sind ausschlaggebend für seine Entscheidung, die universitäre Welt hinter sich zu lassen, im literarischen Werk aber dennoch nicht bloß auf das völlige Eintauchen ins Erzählen zu setzen. In diesem Buch entwickelt Lüscher seine Vorstellung vom Erzählen als beschreibende Erkenntnis des Einzelfalls, die sich dennoch Ordnungsprinzipien nicht entziehen kann. Und beschäftigt sich, weil es um Machtfragen geht, ausdrücklich mit dem Thema engagierte Literatur. Ein faszinierendes Buch über das, was nur die Literatur kann.

Über den Autor

Jonas Lüscher, geboren 1976 in der Schweiz, lebt in München. Seine Novelle «Frühling der Barbaren» (C.H.Beck 82017) entwickelte sich zum Bestseller, stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und war nominiert für den Schweizer Buchpreis. Sie wurde inzwischen in rund 20 Sprachen übersetzt. Lüschers Roman «Kraft» (C.H.Beck 72017) gewann den Schweizer Buchpreis. Jonas Lüscher erhielt außerdem u.a. den Hans-Fallada-Preis und den Prix Franz Hessel.

Inhalt

Vorwort

Einleitende Bemerkungen

I. Vorlesung: Quantitative Blendung und narrative Beliebigkeit – Eine Beziehungsgeschichte

II. Vorlesung: Dem Einzelfall gerecht werden – eine biografische Bewegung

III. Vorlesung: Vom Schreiben engagierter Literatur zum engagierten Schriftsteller

Gewährsleute

Literatur

Fußnoten

Ich hatte das Glück, in meinem Leben einigen guten Lehrern begegnet zu sein.

Den wichtigsten vier widme ich mit Dank diesen Text:

Paul Michael Meyer

Andreas Hohn

Christian Kummer SJ

Michael Hampe

Vorwort

Der vorliegende Text ist das leicht überarbeitete Manuskript einer Poetikvorlesung, die ich im Frühjahr 2019 an drei Abenden gehalten habe. Veranstalter war die Hochschule St. Gallen, allerdings im Rahmen einer Reihe von öffentlichen Vorlesungen. Die Vorlesung fand denn auch nicht oben auf dem Rosenberg statt, dem Standort der Wirtschaftsuniversität hoch über der Stadt, sondern unten am Bahnhof, im Raum für Literatur. Die Zuhörerschaft besteht aus interessierten Leserinnen und Lesern, Studierende und Dozierende der Universität verirren sich kaum in die Poetikvorlesungen, eine akademische, literaturwissenschaftliche oder philosophische Vorbildung kann also nicht einfach vorausgesetzt werden.

Diesen Umständen habe ich versucht, Rechnung zu tragen, und gleichzeitig habe ich mich bemüht, das Genre der Vorlesung ernst zu nehmen – es also durchaus als Lehrveranstaltung zu verstehen. Dem sind gewisse methodische Vorgehensweisen geschuldet, zum Beispiel das gelegentliche zusammenfassende Wiederholen des bereits Gesagten, aber auch die Struktur oder besser Dramaturgie der drei Vorlesungen, denn ich halte den performativen Akt für ein geeignetes methodisches Verfahren, weil es das Gesagte zugleich vollzieht und zeigt.

Da es sich hierbei aber dennoch nicht um eine akademische Arbeit handelt, erlaube ich mir in der Behandlung von Zitaten einige Freiheiten. Um der Lesbarkeit willen habe ich nicht jede Paraphrase als solche gekennzeichnet und nicht jedes Zitat mit einer Fußnote versehen. Ich habe aber immer versucht, deutlich zu machen, auf wessen Schultern ich gerade stehe, und die wesentlichen Namen und ihre für mein Denken wichtigsten Werke finden sich im Anhang.

Viele der hier vorgetragenen Gedanken beschäftigen mich seit Langem, und ich habe bereits an anderem Ort darüber gesprochen und geschrieben. So sind einzelne Abschnitte, in ähnlicher Form, bereits in anderen Zusammenhängen erschienen.[1]

Einleitende Bemerkungen

Guten Abend.

Ich habe die drei kommenden Vorlesungen unter dem Übertitel Ins Erzählen flüchten angekündigt. Und weil es ja den Gepflogenheiten einer solchen Poetikvorlesung entspricht, über das eigene Schreiben und Denken zu sprechen und damit auch über das eigene Leben, weil Schreiben – das gilt vielleicht nicht für alle, aber für viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller –, eine Lebensform ist, können Sie sich bereits denken, dass es sich bei dieser Flucht um meine eigene handelt. Geflüchtet wird immer von da nach dort. Und man flüchtet vor irgendwas in etwas anderes. Zumal wenn die Flucht denn glückt. Manch einer flüchtet von da nach dort und endet doch im selben.

Geflüchtet bin ich vor der akademischen Philosophie ins Erzählen. Die Tatsache, dass man mich hierher eingeladen hat, als Schriftsteller eine Poetikvorlesung zu halten, scheint im ersten Moment auf eine geglückte Flucht hinzudeuten, und dann eben doch nicht. Es steckt darin bereits ein nicht auflösbarer Widerspruch, dass ich mich von der universitären Philosophie ins Erzählen geflüchtet habe und nun trotzdem hier vor Ihnen stehe und eine Vorlesung halte, also ein durch und durch akademisches Genre bediene, das sich in der Regel den harten Tatsachen verpflichtet fühlt, der Empirie, der Methodik und Systematik, dem sauberen Argument, dem eindeutigen Vokabular, dem scharfen Gedanken, der Klarheit und Eindeutigkeit. Ich werde dem Widerspruch ein wenig aus dem Weg gehen können, indem ich mich im Weiteren eines möglichst erzählenden Tones bediene. Dennoch, der Widerspruch bleibt. Nur gefällt mir das eben ausgesprochen gut, dass ein solcher bereits zu Beginn meiner Vorlesung wie ein Stolperstein dem allzu leichtfüßigen, geradlinigen Gang durch die Instanzen der aufgeräumten Vernunfthaftigkeit einen ersten Widerstand bietet.

Damit habe ich nun auch bereits einen jener Dualismen benannt, an deren Grenzlinien sich meine Vorlesung entlangbewegen wird: Widersprüchlichkeit und Widerspruchsfreiheit. Oder auch Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit. Es werden noch andere mehr oder weniger antagonistische Begriffspaare auftauchen: Mythos und Logos, Erklären und Beschreiben, das Allgemeine und das Besondere, das Reine und das Schmutzige, das Objektive und das Subjektive, der Igel und der Fuchs, Auffinden und Erfinden … Und obwohl diese Begriffspaare auf den ersten Blick nur schwer zusammenzugehören scheinen, will ich zeigen, dass sie jeweils dienlich sind, um zwei ganz unterschiedliche Arten der Weltbetrachtung voneinander abzugrenzen – eine quantitative und eine narrative.

Das Operieren mit solchen Gegensatzpaaren wiederum ist eine verkürzte Art des Sprechens. Eine nicht unproblematische Vereinfachung, denn sie suggeriert eine polare Ordnung und scharfe Grenzen, und wir müssen uns deswegen immer wieder in Erinnerung rufen, dass die meisten Dinge kaum je in ihrer Reinform auftauchen, oft existieren Vermengungen und Zwischenformen, und die Dinge sind in der Regel unordentlicher, schmutziger und weniger deutlich voneinander unterscheidbar, als ich sie, zum Zwecke der eingängigeren Darstellung, in einem solchen Rahmen wie hier präsentiere. Dies bitte ich Sie während meiner Ausführungen im Hinterkopf zu behalten.

Ich werde also im Rahmen dieser Vorlesung eine Flucht beschreiben – wobei das vielleicht ein etwas zu dramatisches Wort ist, dem Druck der Titelfindung geschuldet. Aber eine Bewegung ist es allemal, die ich hier schildern will. Eine Abwendung von der einen Art der Weltbetrachtung und eine Hinwendung zur anderen. Und ich werde diese Bewegung in ganz unterschiedlichen Feinkörnungen und aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben versuchen. Zuerst – und das ist das Programm für heute – werde ich, ausgehend von einer These zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage, einen ideengeschichtlichen Blick auf das lange, wechselhafte Verhältnis zwischen Beschreiben und Erklären werfen. Diese historische Einordnung dient gleichsam als Fundament für das Verständnis der biografischen Bewegung, der ich mich nächste Woche widmen werde. Damit wird auch eine Hinwendung vom Allgemeinen zum Besonderen, zum Einzelfall – meinem Fall – erfolgen. In der dritten Vorlesung dann will ich die Bewegung wieder umdrehen, um vom Privaten zum Politischen zu gelangen.

Sie sehen also jetzt schon, es wartet nicht die Beschreibung einer linearen Bewegung auf Sie, sondern vielmehr ein einziges Hin und Her. Dieses Oszillieren ist nicht etwa meiner Unfähigkeit zur zielgerichteten Darstellung geschuldet, sondern vielmehr dem Gegenstand, und es ist die angemessene Bewegung, wie Sie bald verstehen werden, auch wenn ich Sie damit zwinge, mir beim Hakenschlagen zu folgen.

Die Philosophie, zumindest die akademische, habe ich also vor gut drei Jahren hinter mir gelassen, als ich mein Promotionsprojekt an den Nagel gehängt und mich entschlossen habe, mich ganz dem literarischen Schreiben zu widmen. Meine Promotion sollte ein dezidiertes Plädoyer für eine narrative Gesellschaft werden. Ich hatte vor, zu zeigen, dass und weshalb wir als Gesellschaft einer quantitativen Blendung erlegen sind und uns bei der Beschreibung von komplexen Problemen mit einer sozialen Dimension, also solchen Problemen wie zum Beispiel einer Finanzkrise, vermehrt auf Narrationen verlassen sollten statt auf Computermodelle oder andere quantitative Methoden. Im Prozess des Nachdenkens darüber drängten sich gewisse sprachskeptische Motive in den Vordergrund, und ich begann zusehends mit dem philosophischen Sprechen und Argumentieren zu hadern, schien es mir doch, als zwinge mich dieses zu oft, möglichst viele Einzelfälle unter eine Beschreibung, eine Theorie oder ein Argument zu subsumieren. Jedenfalls litt ich zusehends darunter, dem Einzelfall nicht gerecht zu werden, und flüchtete mich also zu guter Letzt ganz ins Erzählen – dahin also, wo der Einzelfall zu seinem Recht kommt. Es wäre unredlich, hier zu verschweigen, dass dieser Fluchtweg zu diesem Zeitpunkt ganz offen vor mir lag. Zwei Jahre zuvor war mein literarisches Debüt, die Novelle Frühling der Barbaren, erschienen, mit der ich mich als literarischer Autor etablieren konnte, die viel Aufmerksamkeit, sowohl vom Publikum als auch von der Kritik, erhalten hat und die mir auch in ökonomischer Hinsicht ein Auskommen als Schriftsteller sicherte. Es war also zwingend, dass, wenn ich meine eigene These der eminenten Bedeutung der Erzählung für unsere Gesellschaft ernst nehme, ich mich fragen musste, weshalb ich noch einen theoretischen Text zu schreiben versuchte, wenn ich doch offensichtlich die Chance hatte – und zwar, was meine schriftstellerischen Möglichkeiten betraf (also so etwas wie mein Talent), aber auch die äußeren Bedingungen –, Literatur zu verfassen: Weshalb also nicht lieber die Zeit nutzen, einen neuen Roman zu schreiben?