Der Sand soll blühen - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Der Sand soll blühen E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Dass Gott auch ein zur Wüste gewordenes Leben wieder erneuern und fruchtbar machen kann - diese Erfahrung zieht sich wie ein roter Faden durch die spannende Erzählung der bekannten Autorin: Jasmina, gerade 18 Jahre alt, verlässt ihre Mutter und zieht zu einem Freund, der sie zunächst maßlos verwöhnt, dann aber sitzen lässt, als sie ihr zweites Kind erwartet. Ohne Berufsausbildung steht sie da und ist froh, im nahegelegenen Krankenhaus als Putzfrau unterzukommen. Dort liegt seit Monaten ihr früherer Lehrer Daniel Jordan, der nach einem Unfall gelähmt ist. Sie wird später seine häusliche Pflegerin, und aus Zuneigung wird schließlich eine eheliche Verbindung, freilich unter mancherlei Verzicht für Jasmina. Ihre beiden Töchter, von Daniel adoptiert, schaffen neue Probleme, während sie heranwachsen. In der älteren der beiden muss die Mutter ihr Spiegelbild aus jungen Jahren erkennen: Sie bricht aus der Geborgenheit des Elternhauses aus, und Jasmina verzweifelt beinahe an der Art und dem Tun ihres Kindes. Nicht nur ihr, sondern auch anderen Menschen ist der gelähmte Lehrer eine Hilfe zur Geduld und Erkenntnis, die beide aus dem Glauben kommen. Ein reifes Alterswerk nennt ein Rezensent dieses Buch von Elisabeth Dreisbach, das ebenso Alte wie Junge erreicht - wie alle ihre Bücher, deren erstes 1934 im Christlichen Verlagshaus erschien und das immer noch gefragt ist - desgleichen alle folgenden.

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Der Sand soll blühen

Band 33

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

ISBN: 978-3-95893-154-1

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Der Sand soll blühen

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Der Sand soll blühen

»Jasmina, das Telefon!«

»Sofort, ich bin gerade dabei, den Auflauf in den Backherd zu schieben.«

Das Telefon schrillte weiter.

»Jasmina, komm doch!«

»Da bin ich schon!« Die junge Frau nahm den Hörer ab. Auf der anderen Seite meldete sich eine ungeduldige Stimme. »Wie lange dauert es eigentlich, bis bei euch einer an den Apparat kommt?«

»Ich war gerade in der Küche und konnte nicht gleich weg.«

»An Ausreden warst du noch nie verlegen. Ich wollte dir nur sagen, dass ich meine ehemaligen Schulkameradinnen morgen Nachmittag zum Klassentreffen bei mir erwarte. Dummerweise hat sich meine Frau Berthold, die mir augenblicklich nach Bedarf im Haushalt hilft, heute früh den Fuß verstaucht. Da ich so schnell niemand herbeizaubern kann, der sie vertritt beim Kaffeekochen, Tischdecken und so weiter, bleibt mir nichts anderes übrig, als dich zu rufen, zumal du dich in meinem Haushalt auskennst. Ich erwarte dich also morgen gleich nach dem Mittagessen.«

Endlich kam Jasmina zu Wort. »Aber das können Sie doch nicht ohne weiteres tun, Frau Jordan. Zumindest müssen Sie erst einmal fragen, ob es mir überhaupt möglich ist zu kommen. Ich habe nämlich auch einen Haushalt, zwei Kinder, einen Garten und vor allem einen schwerbehinderten Mann, den ich fragen muss, ob er mich überhaupt morgen Nachmittag entbehren kann. Außerdem hat Beatrix einen Termin beim Zahnarzt. Ich habe ihr versprochen, sie dorthin zu begleiten.«

Aber die alte Frau hatte bereits wieder aufgelegt und ihre Entgegnungen überhaupt nicht gehört. Wütend knallte Jasmina den Hörer auf die Telefongabel und stampfte mit dem Fuß auf.

»So eine Unverschämtheit!« entfuhr es ihr.

Ihr Mann war indessen mit seinem Rollstuhl, den er selbst bedienen konnte, aus seinem Arbeitszimmer, in dem er am Schreibtisch tätig gewesen war, in die Diele gefahren, wo das Telefon seinen Platz hatte – früh genug, um Zeuge der heftigen Reaktion seiner Frau zu sein.

»Wer hat denn angerufen?« fragte er.

Am liebsten wäre Jasmina erneut hochgefahren. »Na, wer schon? Nur deine alte Tante kann einen solchen Befehlston anschlagen.« Aber dann beherrschte sie sich und antwortete möglichst ruhig: »Frau Jordan war am Telefon und verlangt, ohne auch nur mit einem Wort danach zu fragen, ob es mir möglich ist, dass ich morgen gleich nach dem Mittagessen zu ihr komme.« Jasmina schilderte ihrem Mann alles Nähere.

Nach einigem Besinnen antwortete er: »Ich meine, wir dürfen die alte Frau nicht im Stich lassen, wenn sie den morgigen Nachmittag zu einem Treffen mit ihren Klassenkameradinnen geplant hat. Es werden ohnehin nur noch wenige sein. Und die Sache mit dem Zahnarzt ist wohl auch kein stichhaltiger Grund, um ihr abzusagen. Morgen ist Mittwoch. Da hat Natalie keine Schule. Dann wäre es doch möglich, dass sie ihre Schwester zum Zahnarzt begleitet. Meinst du nicht auch, Liebste?«

Die junge Frau sah einen Augenblick vor sich hin. Wenn ihr so schwerbehinderter Mann in diesem gütigen Ton zu ihr sprach und sie dazu noch Liebste nannte, dann hatte er sie schon so gut wie entwaffnet. Aber sie konnte nun einmal nicht heucheln, auch nicht ihm gegenüber. Diese gehässige alte Frau, die jede Gelegenheit nutzte, um sie zu demütigen, und der es geradezu ein Bedürfnis war, ihr vorzuhalten, dass sie einige Jahre –

Daniel unterbrach ihren Gedankengang. »Komm, Jasmina, setz dich ein Viertelstündchen zu mir. Wir wollen in Ruhe darüber sprechen.«

»Ich muss nach dem Auflauf im Backherd sehen.«

»Du hast ihn doch erst vor einigen Minuten eingeschoben!«

»Ich weiß genau, was du mir sagen willst«, entgegnete sie schon wieder um einiges heftiger. »Tante Alma ist eine einsame alte Frau, dazu kränklich, die niemand hat als ihren dicken Mops und den grässlichen Papagei, der einen verrückt machen kann mit seinem Geschrei. Ich weiß, dass wir uns der Armen, obgleich sie in Wirklichkeit steinreich und dazu unerhört geizig ist, annehmen müssen. Du willst, dass ich alles schlucke und ohne Widerrede hinnehme, was sie mir immer wieder vorwirft. Du willst, dass ich geduldig und fügsam bin wie ein Lamm, wenn sie mich aus lauter Gehässigkeit nicht Jasmina, sondern Mina nennt, weil dieser altmodische Dienstmädchenname viel besser zu mir passe – und – «

Tatsächlich, die junge Frau war den Tränen nahe.

Der Mann im Rollstuhl streckte die Hand nach ihr aus. »Komm, setz dich zu mir!«

Zögernd und doch mit einem Glücksgefühl, ausgelöst durch seine Liebe und Geduld, ergriff sie die ihr gebotene Hand.

»Jasmina, ich verstehe deine Reaktionen gut. Sie sind menschlich –«

»– aber nicht christlich«, vollendete sie den Satz ein wenig eigenwillig.

»Ich weiß, aber jedes Mal, wenn ich mir vorgenommen habe, mich um deinetwillen zu überwinden, Daniel, dann passiert so etwas. Wenn ich zu Frau Jordan gehe, und sie spricht wieder in derselben gehässigen Weise zu mir, obgleich du sie gebeten hast, mit ihren Sticheleien aufzuhören, dann fühle ich mich verletzt und zutiefst gekränkt. Du willst doch nicht, Daniel, dass ich heuchle! Ich kann sie nun einmal nicht ausstehen! Sie wird es dir nie verzeihen, dass du mich geheiratet hast. Ich bin überzeugt, dass sie morgen, wenn sie ihr sogenanntes Klassentreffen veranstaltet, zu den Klatschtanten wieder davon spricht, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass ich jedes Wort in der Küche verstehe. Weil sie selbst nicht mehr gut hört und die eine oder andere der alten Spinatwachteln bestimmt ebenfalls nicht, schreit sie so laut, dass ich es unbedingt hören muss. Ich wette, dass sie das auch will.«

Mit dem Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht wiederholte Daniel: »Wie sagtest du? Spinatwachteln? Was bedeutet denn das?«

»Ach, so sagten wir immer in der Schule, wenn wir uns über eine der älteren Lehrerinnen ärgerten, die keinen Mann mehr bekommen hatten.« Plötzlich verstummte die junge Frau und errötete. »Entschuldige, Daniel, ich weiß –«

Sein Lächeln war noch nicht verschwunden, als er antwortete: »Jetzt meinte ich wieder einmal die wilde Jasmina in der fünften Klasse des Gymnasiums zu hören.«

Sie schob die Unterlippe vor. »Daniel, nun kehrst du aber den Klassenlehrer heraus. Du weißt, das kann ich schon gar nicht leiden.«

Er streichelte begütigend mit der Hand über ihr Haar. »Ich wollte dich nicht kränken, aber lass uns jetzt allen Ernstes über morgen Nachmittag sprechen. Ich will dich gewiss nicht dazu überreden, zu Tante Alma zu gehen, wenn es dir so schwer fällt. Aber im Stich lassen können wir sie nicht. Wie wäre es, wenn Natalie an deiner Stelle zu ihr ginge? Den Tisch decken und Kaffee kochen wird sie mit ihren fünfzehn Jahren doch schon können.«

»Auf keinen Fall, Daniel. Deine Tante ist imstande, in ihrer Gegenwart über mich, ihre Mutter, gehässig zu reden.«

»Aber wer könnte sonst statt deiner zu ihr gehen? Vielleicht deine Schwester?«

»Sie kann doch ihr kleines Kind nicht allein lassen. Wenn du unbedingt der Meinung bist, dass wir ihr helfen müssen, dann wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als selbst zu ihr zu gehen.«

Daniel hätte sie jetzt am liebsten an einen der von seiner Mutter vielgebrauchten Aussprüche erinnert: »Überwinde dich!« Aber dann hätte sie in ihm wieder den Schulmeister gesehen, der glaubte, sie zurechtweisen zu müssen, und das wollte er nicht. Seine junge Frau war sehr empfindlich und ließ sich nicht gern an die Zeit erinnern, in der er in der Tat ihr Klassenlehrer gewesen war.

»Ich weiß, dass es dich Überwindung kostet, zu Tante Alma zu gehen«, fuhr er fort. »Ich verstehe das gut, zumal sie nicht nur über dich, sondern auch über mich unfreundlich redet.

Aber sieh einmal, Jasmina, vielleicht ist sie gar nicht mehr imstande, sich umzustellen und eine in ihr festgefahrene Idee zu korrigieren. Nimm es nicht so schwer und denke daran, was der Hauptgedanke in unserem Hausbibelkreis in der letzten Woche war: Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.«

Am liebsten hätte die junge Frau auch jetzt noch einmal aufbegehrt und gesagt: »Aber nicht das, was mir diese gehässige alte Person nun schon wer weiß wie lange antut!« Doch wenn sie ihren Mann in seinem Rollstuhl sah, an den er Zeit seines Lebens gefesselt bleiben würde, und daran dachte, mit welcher Geduld er sich mühte, ihr zurechtzuhelfen, dann wusste sie, dass ihr Aufbegehren nicht recht gewesen war. Dazu liebte sie ihren Mann viel zu sehr. So gab sie sich einen Ruck, stand auf, legte den Arm um Daniels Hals und küssten ihn. »Abgemacht, ich gehe morgen zu Tante Alma – wenn sie auch ein alter Drachen ist!«

Er sah davon ab, sie wegen dieser respektlosen Äußerung aufs Neue zu korrigieren. Schließlich war sie wirklich nicht mehr seine Schülerin, sondern seine Ehefrau.

Jasmina, die nun aber doch nach ihrem Auflauf sehen musste, nahm nicht Kenntnis von dem Schatten, der für einen Augenblick auf dem Gesicht ihres Mannes lag. Sie hätte wohl auch kaum seine Gedanken erraten.

»Meine Ehefrau!« Dieses Wort sagte viel mehr aus als das, was seine Verbindung mit Jasmina ihm bedeutete, so glücklich er auch mit ihr war. Wenn … Aber es war sinnlos, dem schwersten Erlebnis seines Daseins nachzugrübeln – und wenn der Unfall nicht gewesen wäre, hätte er ja auch Sybille, seine erste Frau, die er ebenfalls sehr geliebt hatte, nicht verloren. Dann wäre es auch nie zu der Verbindung mit Jasmina gekommen …

Es war am Abend dieses Tages. Die Eheleute hatten sich zur Ruhe begeben. Daniel hatte, wie er es so gerne tat, Jasminas Hand in der seinen gehalten, bis er merkte, dass sie wie ein müdes Kind neben ihm einschlief. Aber heute irrte er sich. Wenn ihre gleichmäßigen Atemzüge ihn auch annehmen ließen, dass sie sich bereits im Land der Träume befand, so legten ihre hellwachen Gedanken noch einen weiten Weg zurück.

Die junge Frau sah sich plötzlich wieder als Schulmädchen im Gymnasium. Herr Jordan war neu an die Schule versetzt worden. Kein Wunder, dass viele in der Klasse sich in diesen jungen, außergewöhnlich gut aussehenden und geschmackvoll gekleideten Lehrer verliebten. Auf irgendeine Weise versuchte fast jede Schülerin, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wobei die Mädchen auf die unmöglichsten Ideen kamen. Jasmina fühlte sich nicht wenig geschmeichelt, als der Lehrer sie eines Tages fragte, wie sie zu ihrem außergewöhnlichen und wirklich schönen Namen käme. Sie stammelte etwas davon, dass ihr Vater ein Ausländer sei und ihr diesen Namen in Erinnerung an seine Mutter gegeben habe.

Herr Jordan übersah lächelnd die Schwärmereien seiner Schülerinnen, war freundlich und gerecht, verlangte aber ein konzentriertes Mitgehen im Unterricht. Geduldig mühte er sich um die Schwächeren, spornte sie an, sich etwas zuzutrauen, und nahm sich diejenigen besonders vor, die trotz ihrer Begabungen lässig und faul waren und sich mit schlechten Leistungen begnügten. Zu diesen gehörte auch Jasmina, ein äußerst temperamentvolles, intelligentes Mädchen. Jasmina ließ sich leicht beeinflussen, meist von den nicht besten Schülern. Bei mehr Fleiß und Ausdauer hätte sie weit bessere Leistungen vollbringen können. Obgleich der junge Lehrer sie schon einige Male ernsthaft ermahnen musste, schwärmte sie auch weiterhin für ihn. Irgendwie sprach es sich herum, dass Herr Jordan zum Christlichen Verein Junger Menschen gehörte. Wenn es im Unterricht um Lebensfragen ging, machte er aus seiner christlichen Gesinnung kein Hehl. Diese Tatsache veränderte die Haltung einiger Schülerinnen ihm gegenüber. Ein Frommer? Wie uninteressant!

Jasmina jedoch fühlte sich eigenartigerweise trotz ihrer zur Oberflächlichkeit neigenden Veranlagung weiterhin zu ihm hingezogen. Vielleicht kam es daher, weil sie eine bewusst christliche Mutter hatte. Von ihrem Vater wusste sie nicht viel. Er war ihrer Mutter begegnet, die als Schwester im Städtischen Krankenhaus arbeitete, als er auf einer Auslandsreise erkrankte und von ihr gepflegt wurde. Später hatten sie geheiratet und einige Jahre in Italien gelebt, von wo aus die Mutter nach der Geburt ihrer zweiten Tochter als junge Witwe zurückkehrte. Sie hatte sich bemüht, ihren Kindern eine gute Erziehung zu geben. Oft waren die beiden Mädchen aber sich selbst überlassen gewesen. Einesteils waren sie dadurch früh selbständig geworden, andererseits fehlte ihnen aber auch die väterliche Hand. Wenn die Mutter müde vom Dienst heimkehrte, war sie oft viel zu erschöpft, um sich ihren beiden Töchtern so widmen zu können, wie es nötig gewesen wäre. Glücklicherweise war Jasmina begabt und hätte die Schule ohne Schwierigkeiten durchlaufen müssen.

An einem Abend, die Mutter war gerade vom Dienst gekommen, hatte Jasmina ihr freudestrahlend erzählt, dass Herr Jordan sie nach Schulschluss im Klassenzimmer zurückgehalten und gefragt habe, wie sie sich ihre Zukunft vorstelle. Nachdem er nun schon zwei Jahre die Klasse unterrichtet hatte, war er auf Wunsch der Mädchen bei dem vertrauten Du geblieben. »Jasmina, ich hoffe sehr, du hast dich dazu entschlossen, das Abitur zu machen. Du bist begabt, das Lernen fällt dir leicht. Du müsstest nur noch mehr Fleiß und Ausdauer anwenden. Ich bin sicher, dass du es schaffen kannst.«

Ganz glücklich hatte Jasmina ihrer Mutter von diesem Gespräch berichtet und versucht, ihr alle Bedenken auszureden. »Ich habe ganz andere Berufsmöglichkeiten, wenn ich das Abitur mache, Mama.«

»Und du meinst, du schaffst es wirklich?« hatte leise zweifelnd die Mutter gefragt. Sie kannte doch das sprunghafte Wesen ihrer Tochter.

»Bestimmt – allerdings muss ich mir etwas mehr Mühe geben«, war Jasminas Antwort gewesen. Von ihren geheimen

Gedanken hatte sie der Mutter nichts verraten. Irgendwie bildete sie sich ein, ihr Lehrer würde ihre Liebe erwidern und sie deshalb aus persönlichem Interesse fördern wollen. Von nun an strengte sie sich sichtlich an, und ihre Leistungen wurden besser.

Es war etliche Monate nach dem Abschluss der zehnten Klasse, die in den Realschulen mit der Mittleren Reife endet, da erklärte Jasmina plötzlich, unfasslich für ihren Klassenlehrer, aber auch für ihre Mitschülerinnen und vor allem für ihre Mutter, dass sie nicht länger zur Schule gehen wolle. Herr Jordans wohlwollendes Zureden war zwecklos. Das erstaunte Fragen ihrer Mitschülerinnen beantwortete sie mit geheimnisvollem oder gar wichtigtuendem Lächeln. »Ihr werdet es schon früh genug erfahren …«

Nur die Mutter stellte Jasmina vor die vollendete Tatsache: »Ich habe einen Freund und werde zu ihm ziehen.«

Erschrocken, beinahe entsetzt hatte die Mutter gefragt: »Mädchen, das kann doch nicht dein Ernst sein! Du hast mir doch bisher nichts davon gesagt.«

»Ich kenne Viktor auch erst seit kurzem.«

»Wo, um alles in der Welt, bist du diesem Menschen begegnet? Du kannst doch nicht einen wildfremden Mann einfach heiraten. Außerdem bist du noch gar nicht mündig.«

»In zwei Monaten werde ich achtzehn. Solange dauert es auch noch, bis er eine Wohnung gefunden und eingerichtet hat. Und von heiraten, Mama, habe ich doch gar nicht geredet.«

»Aber du wirst doch nicht –«, die Mutter hatte das für sie Unfassbare nicht auszusprechen gewagt.

»Doch, Mama, ich werde! Du musst dich losmachen von deinen veralteten Ansichten, dass zwei Menschen, die sich lieben, erst dann zusammenziehen können, wenn sie verheiratet sind. Heute denkt man über diese Dinge eben anders, und ich liebe Viktor. Ich wäre bereit, mit ihm bis an das Ende der Welt zu gehen.«

Alle Einwände der Mutter waren vergeblich gewesen. Auch ihr Weinen und Bitten änderten nichts an dem Entschluss Jasminas. Ihre vermeintliche Liebe zu ihrem Klassenlehrer war vergessen. Sie lachte darüber. Wie eine unheimliche Macht war es über sie gekommen. Sie wusste nur noch eins: Viktor Brenner, der als Generalvertreter einer großen und bekannten Firma gut verdiente, versprach ihr den Himmel auf Erden.

Bald wussten es alle im Städtchen, die sich dafür interessierten: Jasmina, älteste Tochter der kleinen Frau Torelli, lebte mit einem jungen Mann in einer Dreizimmer-Wohnung im Neubauviertel zusammen. Doch so etwas war ja keine Seltenheit mehr. Heiraten kam immer mehr aus der Mode. Aber über diesen Fremden, der zwar einige Male in einem der Hotels abgestiegen war, hätte man gern Näheres gewusst. Er sah nicht danach aus, als ob Jasmina seine erste Frauenbekanntschaft wäre. Wenn er mit dem unerfahrenen Mädchen, das sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte, nur nicht ein frivoles Spiel trieb und sich bei nächster Gelegenheit einer anderen zu wenden würde!

Frau Torelli war todunglücklich gewesen. Zwar kannte sie den Hang ihrer Tochter zur Oberflächlichkeit. Das sprunghafte Wesen ihres Kindes hatte ihr schon oft Sorgen bereitet. Aber dann hatte sie die Schuld wieder sich selbst zugeschoben, weil sie als Berufstätige zu wenig Zeit für ihre Töchter fand. Und hatte sie selbst ihre eigene Mutter nicht auch vor die vollendete Tatsache gestellt, als sie die Frau des Ausländers wurde und mit ihm in dessen Heimat zog? Aber sie war schließlich mit ihm verheiratet gewesen, und ihr Mann hatte ihr stets die Treue gehalten.

Dieser Viktor Brenner jedoch machte ihr nicht den Eindruck, dass er es damit so genau nahm.

Jasmina aber war überglücklich. Ihr Freund, der gut verdiente, hatte die Wohnung nach ihrer Meinung fast fürstlich eingerichtet. Er kaufte ihr die elegantesten Kleider, machte mit ihr Reisen, bei denen Geld keine Rolle zu spielen schien. Sie brauchte nur einen Wunsch zu äußern, und schon hatte er ihn erfüllt. Frau Torelli aber ließ sich nicht täuschen.

Hellwach lag Jasmina in ihrem Bett, als die Bilder der Jahre nach ihrem Schulabgang in dieser Nacht wieder einmal greifbar nahe an ihrem inneren Auge vorüberzogen. Es gab Tage, in denen sie kaum Zeit hatte, sich mit den Geschehnissen der Vergangenheit zu befassen. Aber dann war es plötzlich, als würde durch irgendeine Begegnung oder Erinnerung ein Vorhang zur Seite gezogen, und vor ihr erstanden erneut erschreckend klar die dunklen Bilder der Vergangenheit. Heute war es der Anruf von Daniels Tante gewesen. Oh, wie ihr diese alte gehässige Frau zuwider war! Im gleichen Augenblick erschrak sie vor ihren eigenen Gedanken. Gut, dass ihr Mann, der längst neben ihr eingeschlafen war – so jedenfalls meinte sie – davon nichts wusste. Er war ja so sehr bemüht, ihr dabei zu helfen, die Bitterkeit dieser Tante gegenüber zu überwinden und mit ihrer Vergangenheit fertig zu werden. Daniel wusste zwar, dass sie sich Mühe gab, ihre Art, ihr Temperament zu zähmen. Die schweren Erlebnisse der vergangenen Jahre waren an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Jasmina war gewillt, all die Lektionen in der Schule des Lebens zu lernen. Und weil er sie liebte, blieb es ihm ein Anliegen, ihr dabei zu helfen.

Die Bilder ließen sich nicht verdrängen. Jasmina kam in dieser Nacht nicht zur Ruhe. Sie meinte, jeden Tag noch einmal zu erleben, an dem es ihr vorkam, als würde sie aus dem Himmel ihrer Glückseligkeit jäh herausgerissen. Ein Jahr ihres gemeinsamen Lebens lag hinter ihr. Viktor hatte sie in eine Welt eingeführt, die sie vorher nicht einmal zu träumen wagte. Ein Vergnügen folgte dem anderen, Ferienfahrten mit dem Schiff oder mit dem Flugzeug. Über seine finanziellen Verhältnisse ließ ihr Mann sie völlig im Unklaren. Unerfahren, wie sie war, machte sie sich darüber keine Gedanken. Geld schien in der Tat keine Rolle zu spielen. Und dann kam jener Augenblick, an dem sie ihm glückstrahlend an vertraute, dass sie ein Kind erwartete.

Bis tief ins Herz hinein war sie erschrocken, als er sie erst einmal fassungslos anstarrte, dann aber anschrie: »Du bist wohl verrückt! Das kommt überhaupt nicht in Frage. Du weißt, dass bei uns nie von einem Kind die Rede war, und ich habe dir früh genug Verhaltensmaßregeln gegeben. Du hättest es zu verhüten wissen müssen.« Er war furchtbar aufgebracht gewesen und hatte zornig hin und her das Zimmer durchquert.

»Aber Viktor«, hatte sie endlich zu sagen gewagt, »es ist doch schließlich das Allernatürlichste auf der Welt, wenn zwei junge Menschen Zusammenleben, dass sich eines Tages ein Kind anmeldet.«

»Aber nicht bei uns«, war er wiederum aufgebraust. »Merke dir das – nicht bei uns! Und das sage ich dir: Du lässt es abtreiben. Ich bestehe darauf!«

Da hatte sie aufgeschrien: »Das verlangst du von mir? Nie und nimmer werde ich das tun. Ich will dieses Kind! Ich will es, weil es von dir ist – und weil ich dich liebe!«

»Weil du mich liebst?« hatte er höhnisch gefragt. »Beweise mir das, jetzt ist es noch möglich. Geh zu einem Arzt. Sage ihm, dass dein körperlicher Zustand es nicht zulässt, dass du das Kind austrägst, oder sage ihm, was du willst. Aber eins kannst du dir merken: Unsere Wege trennen sich, wenn du nicht auf mich hörst.«

An jenem Tag war Jasmina weinend zu ihrer Mutter gekommen und hatte ihr alles gesagt. Frau Torelli war nicht überrascht gewesen. Sie hatte im Grunde nichts anderes erwartet. Als sie aber der Tochter vorschlug, die Beziehungen zu diesem oberflächlichen Menschen abzubrechen, bei ihr zu bleiben und ihr Kind alleine großzuziehen, war sie auf tränenreichen heftigen Widerstand gestoßen. »Mama, ich kann ohne Viktor nicht mehr leben, und ich weiß, er braucht mich. Komm mit mir zu ihm, rede du mit ihm und mache ihm klar, dass es doch auch sein Kind ist, das ich erwarte.«

Jasminas Verzweiflung hatte die Mutter schließlich dazu gebracht, mit ihr in deren Wohnung zu gehen, die sie bisher nicht betreten hatte. Gegen das aalglatte, gewandte Wesen des Freundes ihrer Tochter war sie allerdings nicht angekommen. Schließlich hatten Jasmina und Viktor sich dann doch versöhnt. Aber die junge werdende Mutter hatte von da an gewusst, dass sich eine Veränderung in dem Mann vollzog, von dem sie noch immer glaubte, geliebt zu werden. Er kam am Abend meist später nach Hause, nicht selten angetrunken. Jasmina musste sich Schmähungen und Erniedrigungen gefallen lassen. Oft blieb er nächtelang fort. Als die kleine Natalie geboren worden war, schien es kurze Zeit etwas besser zu werden. Jasmina begann zu hoffen. Dann aber ärgerte ihn die Unruhe, die nun einmal ein kleines Kind verursacht. Er behauptete, seinen ungestörten Schlaf zu benötigen und verbrachte die Nächte immer öfter, wie er sagte, in seinem Büro. Eines Tages überfiel Jasmina der Gedanke, dass er sie betrog und sich einer anderen Frau zugewandt hatte. Wohl gab es Zeiten, in denen sie meinte, er würde wieder zu ihr zurückfinden. Er schien sogar Gefallen an seinem Töchterchen zu haben. Aber als Jasmina ihm zwei Jahre später wieder, und diesmal zitternd vor Angst, mitteilen musste, dass sie schwanger war, zerbrach ihr vermeintliches Glück in tausend Scherben.

Nie würde sie vergessen, wie sie mit ihrem zweijährigen Töchterchen vor ihrer Mutter stand. »Mama, dürfen wir bei dir bleiben? Viktor hat mich verlassen. Als ich am Morgen erwachte, lag ein Zettel von ihm da. Hier ist er.« Sie hatte der Mutter den Wisch gereicht: »Du hast gewusst, dass ich keine Kinder wollte. Jetzt ist es endgültig aus zwischen uns. Nimm deine Kleider und geh mit Natalie zu deiner Mutter. Die Wohnung wird in den nächsten Tagen geräumt. Da ich alle Möbel bezahlt habe, hast du keinen Anspruch darauf. Erwarte nicht, dass ich je wieder zu dir zurückkehre. Es ist endgültig aus zwischen uns.«

Die Mutter hatte sie aufgenommen …

Soweit war Jasmina mit ihrem gedanklichen Rückblick gekommen. Sie presste die Fäuste auf die Augen. Wenn sie doch schlafen könnte! Lag das alles nicht weit hinter ihr, und hatte Gott sich ihrer, die sie in herzloser Weise verstoßen worden war, nicht angenommen? Jasmina wunderte sich beinahe, dass ihre Gedanken in dieser Nacht plötzlich solche Wege gingen. Nein, damals, als Viktor Brenner sie verließ, war sie weit davon entfernt, darin ein Wirken Gottes zu sehen. In ihr war nichts als Auflehnung, Empörung und Enttäuschung gewesen. Seitdem waren Jahre vergangen, und es war kein leichter Weg, den sie hatte zurücklegen müssen – ein Weg voller Demütigungen und vieler Kränkungen.

In der Wohnung ihrer Mutter hielt sie sich wie verborgen. Sie wollte niemand begegnen. Hatte sie nicht auf viele überheblich herabgeblickt in jener Zeit, als sie am Arm ihres Freundes elegant gekleidet ins Theater ging, Konzerte besuchte oder mit ihm in seinem großen Auto vorfuhr oder in die Berge, ans Meer, nach Hamburg, Wien, Paris oder sonst irgendwohin fuhr, um das prickelnde Nachtleben in den verschiedensten Vergnügungsstätten zu genießen? War es wirklich ein Genuss gewesen? Heute wusste sie, dass sie sich einem Selbstbetrug hingegeben hatte. Wie Seifenblasen zerplatzen, so war ein Nichts zurückgeblieben. Die Vergangenheit war eine Täuschung gewesen, und die Zukunft lag ohne jede Hoffnung vor ihr. – Heute aber wusste sie, dass Gott sich ihrer angenommen hatte.

Nachdem ihre zweite Tochter Beatrix geboren worden war – ein zartes, schwächliches Kind, dem die Ärzte wenig Überlebenschancen gaben –, war ihr klar gewesen, dass sie der Mutter nicht länger mit ihren beiden Kindern zur Last fallen durfte, obwohl diese ihr vorschlug, mit den Mädchen bei ihr zu bleiben.

Es folgten Jahre, in denen Jasmina sich mit viel Fleiß und Mühe anstrengte, um für sich und ihre Kinder eine Existenz zu schaffen. Es dauerte lange, bis sie auch nur einigermaßen überwunden hatte, dass Viktor sie auf das Niederträchtigste belogen und hintergangen hatte. Niemals hatte er je davon gesprochen, dass er verheiratet war und eine Frau und vier Kinder zu versorgen hatte. Kein Wunder, dass er keine weiteren Kinder wünschte. In schmählicher Weise hatte er ihre Jugend und Unerfahrenheit ausgenutzt, und sie war der Meinung gewesen, dass das, was sie mit ihm erlebte, die große Liebe sei!

Sie sah sich in dieser Nacht, wo die Vergangenheit wieder einmal anklagend vor ihr stand, auf Stellensuche gehen. Das waren zum Teil demütigende Wege gewesen. »Sie bewerben sich um einen Platz als Verkäuferin? Was für eine Ausbildung können Sie nachweisen? – Wie, überhaupt keine? – Ja, wie denken Sie sich das? – Nein, wir stellen nur qualifizierte Kräfte ein.«

Sie bemühte sich um eine Stelle als Hilfskraft in einem Büro. »Können Sie Schreibmaschine schreiben? Stenographieren? Haben Sie irgendeine Kenntnis in der Buchführung? Kommen Sie wieder, wenn Sie zumindest an einigen Abendkursen teilgenommen haben. Ohne jegliche Kenntnisse können wir Sie nicht einmal als Aushilfskraft einstellen.«

Sie hatte es in einer Wäscherei versucht, ja sogar in einer Fabrik als Hilfsarbeiterin. Sie musste doch Geld verdienen für sich und für ihre Kinder. Schließlich war sie froh gewesen, dass es ihrer Mutter gelang, sie im Krankenhaus als Stationsmädchen unterzubringen. Ihre Kinder brachte sie tagsüber in einen Kinderhort. Was kostete es sie für Überwindung, mit Putzeimer und Schrubber die langen Krankenhausgänge zu säubern, niedrigste Arbeiten zu verrichten wie das Reinigen des Klosetts und anderes mehr. Dabei traf sie immer wieder auf Menschen, die sie von früher her kannten. Sie war drauf und dran gewesen, alles hinzuwerfen, als eine ihrer früheren Schulkameradinnen ihr beim Reinigen der Treppe begegnete und sie höhnisch ansprach: »Hier also bist du gelandet? Ich muss schon sagen, du hast es weit gebracht.«

Als sie erkannte, dass solche Begegnungen nicht zu umgehen waren, gab sie den Platz im Krankenhaus auf und suchte sich Putzstellen in Privathäusern. Doch wenn sie geglaubt hatte, dass sie solchen oder ähnlichen Demütigungen entgehen könnte, hatte sie sich geirrt.

»Was, Sie haben zwei Kinder? Verdient Ihr Mann denn nicht genug, dass Sie putzen gehen müssen? Entschuldigen Sie, wir sind ja schließlich froh, wenn wir jemand bekommen, der diese Arbeit tut. Es geht uns ja auch nichts an, aber Sie sind doch nicht unintelligent. Sie hätten gewiss andere Möglichkeiten. – Ach, Sie sind gar nicht verheiratet? Na, dann kein Wunder! Aber uns kann das ja schließlich gleichgültig sein. Die Hauptsache, dass Sie pünktlich mit Ihrer Arbeit beginnen und diese zufriedenstellend verrichten.«

Nach diesen Erfahrungen hatte sie es mit Büroputzen versucht. Als einer ihrer Chefs ihr ein unzweideutiges Angebot machte und im Zusammenhang damit Gehaltserhöhung versprach, war sie derart empört gewesen, dass sie diese Stelle augenblicklich auf gab. Sie war doch keine käufliche Dirne!

Wenn sie nicht die beiden Kinder gehabt hätte, dann wäre für sie vielleicht noch die Möglichkeit zu einer beruflichen Ausbildung gewesen. Nun aber fiel auch das weg. Fürsorgegelder wollte sie nicht annehmen. Der Vater der Kinder zahlte nicht. Er schien unauffindbar zu sein. So blieb ihr nichts anderes übrig, als auch weiterhin die niedrigsten Arbeiten zu tun, um sich und ihre Kinder zu versorgen.

So ging das einige Jahre. Natalie wuchs heran, ein munteres, aufgewecktes Kind. Beatrix machte ihr nach wie vor Sorgen. Es schien, als habe sich die Angst, die sie lähmend in jener Zeit empfand, als sie dieses ihr zweites Kind erwartete, bereits im Mutterleib übertragen – die Angst vor dem Mann, mit dem sie zusammenlebte. Beatrix war und blieb ein verschüchtertes Kind, irgendwie gekennzeichnet davon, dass es unerwünscht zur Welt gekommen war.

Einige Jahre lang empfand sie nichts als Empörung, ja Hass dem Mann gegenüber, der vorgegeben hatte, sie über alles zu lieben. In jener Zeit, erinnerte sie sich, waren wie schon damals in den ersten Monaten ihres Zusammenseins mit Viktor die warnenden Worte ihrer Mutter in ihrem Innern immer wieder aufgestanden. Aber wenn sie davon zu ihrem Freund sprach, hatte er sie ausgelacht und sich über sie und ihre Mutter lustig gemacht.

Doch was nützten diese späten Erkenntnisse! Ihre Jugend war dahin, noch ehe sie richtig begonnen hatte, und von der Zukunft hatte sie nichts mehr zu erwarten.

Auch an die Mutter dachte Jasmina in dieser Nacht, in der sie vergeblich auf den erquickenden Schlaf wartete. Die Mutter hatte nicht geduldet, dass sie sich mit ihren beiden kleinen Kindern nach einer eigenen Wohnung umsah. »Wie willst du das denn zahlen können«, hatte sie gefragt, »wo du bei deinen Putzstellen doch kaumso viel verdienst, dass ihr drei davon leben könnt. Ihr bleibt bei mir, und wir richten uns so gut wie möglich in der kleinen Wohnung ein. So kann ich mit meinem Geld auch noch ein wenig dazu beisteuern, dass du mit den Kindern dein Auskommen hast.«

Die gute Mutter! Nie hatte sie ihr Vorwürfe gemacht oder sie daran erinnert, dass sie sich damals nicht von ihr hatte warnen lassen. Nein, zu ihrer eigenen Lebenslast hatte sie noch die Bürde der Tochter auf sich genommen. Heute, Jahre danach, glaubte Jasmina zu erkennen, dass die Mutter allein aus ihrer inneren Kraft fähig gewesen war, so zu handeln, wie sie es getan hatte. Sie sprach nur selten über ihre christliche Gesinnung, aber sie handelte danach.

Mit der Zeit war das Gerede über Jasmina verstummt, wenn es auch immer noch solche gab, die ihr verächtlich nachschauten oder ihr sogar spitze Bemerkungen ins Gesicht warfen.

Es kam ein Tag, an dem die Stadt durch eine andere Nachricht neuen Gesprächsstoff erhielt. Der nach wie vor beliebte Lehrer Daniel Jordan – er war inzwischen verheiratet – hatte bei einem schweren Autounfall seine Frau verloren und war selbst mit schweren inneren Verletzungen ins Krankenhaus gekommen. Eine Welle von Mitgefühl und Teilnahme wurde ihm entgegengebracht. Es gab aber – wie so oft – auch andere Stimmen: »Da sieht man, dass seine christliche Überzeugung ihn vor einem solchen Unglück auch nicht bewahren konnte. Was hat es nun für einen Sinn, Sonntag für Sonntag zur Kirche zu laufen, wenn es ihm nicht besser geht als anderen.«

Daniel Jordan hatte auf der Station gelegen, auf der Jasminas Mutter als Schwester tätig gewesen war. Sie hatte der Tochter von den schweren Verletzungen ihres früheren Lehrers erzählt, der wohl nie mehr seinen Beruf würde ausüben können. Zeitlebens müsste er im Rollstuhl fahren. Tiefes Mitleid hatte Jasmina erfüllt, denn sie dachte immer noch mit Dankbarkeit und in Verehrung an ihren früheren Lehrer. Es hatte geheißen, dass er sehr glücklich verheiratet gewesen war.

Trotz der mit jenem Unglücksfall verbundenen Tragik schien die Erinnerung daran Jasminas Gedanken in jener Nacht in eine andere Richtung zu lenken. War es nicht, als habe eine unsichtbare Hand damals eine Tür aufgestoßen, durch die ein winziger Lichtstrahl die Trostlosigkeit jener Zeit erhellte?

Die Mutter war eines Abends sichtlich erregt von ihrem Dienst im Krankenhaus zurückgekommen. »Jasmina, ich muss mit dir reden! Ich habe sofort an dich gedacht und meine, du bist imstande, diese Aufgabe zu übernehmen.«

»Mama, ich weiß gar nicht, wovon du redest«, hatte sie geantwortet. »Bei welcher Gelegenheit hast du an mich gedacht, und was für eine Aufgabe soll ich übernehmen?«

Da hatte ihr die Mutter berichtet, dass Herr Jordan, der monatelang im Krankenhaus gelegen hatte, nun soweit hergestellt war, dass er nach Hause zurückkehren konnte. Bei seinem Zustand sei er aber unmöglich imstande, allein zu bleiben, obwohl er sich jetzt schon ein wenig daran gewöhnt habe, mit dem Rollstuhl umzugehen. Zwei Probleme müssten aber noch gelöst werden, bevor er entlassen werden konnte: Einmal sollten an seinem Einfamilienhaus noch einige Veränderungen am Eingang und an den Türschwellen vorgenommen werden, damit Herr Jordan ohne Schwierigkeiten mit seinem Gefährt herein- und herausfahren konnte. Was allerdings noch viel wichtiger war: Er benötigte einen zuverlässigen Menschen, der ihn versorgen und seinen Haushalt selbständig führen könne.

Da hatte Jasmina die Mutter kopfschüttelnd angeblickt. »Aber du meinst doch nicht im Ernst, dass ich das kann?«

»Doch, Jasmina, der Meinung bin ich.«

Sichtlich erschrocken hatte Jasmina abgewehrt. »Das ist völlig unmöglich. Erstens besitze ich gar nicht die Kenntnisse, um einen solchen Haushalt zu führen, und dann fehlt mir jede Erfahrung mit einem so behinderten Menschen, wie Herr Jordan es durch den Unfall geworden ist – und dann – dann – außerdem …«

Sie konnte doch der Mutter nicht sagen, dass er ihre erste Jungmädchenliebe gewesen war, wenn es auch eine Zeit gab, in der sie sich darüber lustig gemacht hatte, worüber sie sich später aber schämte. Und dann – wie konnte sie sich ihm anbieten als sein Dienstmädchen, seine Hilfe – nachdem es ihm damals ein so großes Anliegen gewesen war, dass sie weiter zur Schule ging und das Abitur machte. Nein, nein, der Plan ihrer Mutter war undurchführbar!

Dann aber war das, was Jasmina nie für möglich gehalten hatte, doch eingetreten. Es hatte sich niemand gefunden, der den gelähmten Lehrer betreuen wollte. Man konnte sich ja vorstellen, was alles mit dieser Aufgabe verbunden war. Der Mann konnte noch viele Jahre leben. Es ging also nicht um einen Gelähmten, mit dessen Tod man altershalber bald rechnen konnte. Daniel Jordan war damals knapp 36 Jahre alt.

Schließlich hatte Jasminas Mutter es doch fertiggebracht, ihre Tochter umzustimmen. »Das wäre eine Dauerstelle für dich«, hatte sie wohlmeinend gesagt. »Was du jetzt noch nicht kannst, das lernst du mit der Zeit. Ich habe mir schon einen Plan zurechtgelegt. Ich lasse mir einige Wochen unbezahlten Urlaub geben und komme tagsüber zu Herrn Jordan, um dich anzuleiten, wie du mit dem gelähmten Mann umgehen musst, wie du ihm aus dem Rollstuhl wieder heraushilfst, wie du ihn zu Bett bringst und alles andere, was nötig ist.«

Jasmina hatte sich mit aller Energie dagegen gewehrt. »Mama, das kann ich nicht!«

»Du wirst es lernen. Wenn du Schwester wärst, würde dies alles auch von dir gefordert werden.«

»Und meine Kinder? An diesem Platz kann ich nicht damit rechnen, um fünf Uhr Feierabend zu haben, um sie dann aus dem Kinderhort zu holen und wenigstens den Abend mit ihnen zu verbringen.«

»Nein, damit kannst du nicht rechnen. Du wirst dich damit abfinden müssen, auch nachts in Herrn Jordans Nähe zu sein. Er könnte dich dringend benötigen.«

»Nein, Mama, nein, du mutest mir zu viel zu!«

Aber als Jasminas Mutter ihre Tochter eines Tages dazu überreden konnte, Herrn Jordan im Krankenhaus zu besuchen und mit ihm über alle diese Dinge zu sprechen, da war sie von dem hilflosen Mann im Rollstuhl so überwältigt, dass sie gar nicht anders konnte, als sich dieser Aufgabe zur Verfügung zu stellen.

Für Jasmina begann damit eine Zeit, auf die sie nur voller Staunen und in großer Dankbarkeit zurückblicken konnte. Hatte sie in den vergangenen Jahren an den verschiedenen Arbeitsplätzen bis auf wenige Ausnahmen Demütigungen, ja sogar Ablehnung erfahren, so empfand sie das Vertrauen und die Wertschätzung, die ihr Daniel Jordan entgegenbrachte, wie einen schützenden Mantel. Nie stellte er neugierige Fragen, wie das ihre vorherigen Arbeitgeber oft getan hatten. Natürlich hatte er damals erfahren, warum Jasmina vor dem Abitur das Gymnasium verlassen hatte. Er hatte zutiefst bedauert, was eine seiner begabtesten Schülerinnen hatte durchmachen müssen.

In der ersten Zeit ihrer Tätigkeit bei ihrem ehemaligen Lehrer hatte Jasmina mit bangem Herzen befürchtet, dass er sie darauf ansprechen würde. Als es nicht geschah, wurde sie ruhiger. Ihre kindlich zu nennende Schwärmerei für ihn war einer dankbaren Verehrung gewichen. Das half ihr, mit viel Eifer die Arbeit im Hause und für ihren ehemaligen Lehrer zu tun. Dabei war ihr die langjährige Erfahrung der Mutter eine wertvolle Hilfe gewesen. Jasmina bewunderte die Selbstbeherrschung des Gelähmten, seine Ausgeglichenheit. Unbefangen erzählte er ihr von seiner tödlich verunglückten Frau und wie glücklich die wenigen Jahre ihrer Ehe gewesen waren, die aber leider kinderlos blieb.

So waren die Monate dahingegangen. Wie immer suchten etliche Leute nach sensationellem Gesprächsstoff. »Was, die Jasmina ist als Hausmädchen bei dem gelähmten Lehrer Jordan? Konnte der wirklich nichts Anständigeres finden?«

»Er soll mit ihren Leistungen ja recht zufrieden sein.«

»Na, die weiß schon, warum sie sich anstrengt. Vielleicht hofft sie, ihn zu beerben.«

»Ans Heiraten kann der ja sowieso nicht denken, bei seiner Lähmung. Sonst würde Jasmina es bestimmt auf ihn absehen. Was Besseres könnte sie ja nie bekommen!« So geiferten die Klatschmäuler herum.

Eine der Schlimmsten schien Daniels alte Tante zu sein. »Was habe ich von dir gehört?« hatte sie ihn eines Tages am Telefon gefragt. »Du hast diese leichtfertige Person ins Haus genommen?«

»Wen meinst du, Tante Alma?«

»Na, die Mina. Das weiß doch jeder im ganzen Städtchen, wie die es getrieben hat. Sie hat auch bei mir einige Wochen aushilfsweise gearbeitet.«

»Tante Alma, selbst wenn es so wäre, wer gibt uns das Recht, über einen Menschen den Stab zu brechen? Was wissen wir überhaupt von unserem Nächsten?«

»Du willst doch nicht sagen, dass dieses Frauenzimmer dein Nächster ist? Sei mir nicht böse, Daniel, aber dann müsste ich die Beziehung zu dir abbrechen. Ich werde mich umsehen und auf dem Arbeitsamt nachfragen, ob nicht doch irgendeine andere zuverlässige Person gefunden wird, die dir den Haushalt führen und dich betreuen kann, jemand mit einem einwandfreien Ruf.«

»Bemühe dich nicht«, hatte Herr Jordan sehr bestimmt geantwortet. »Jasmina bleibt bei mir. Ich bin mit ihren Leistungen sehr zufrieden und habe sogar vor, ihre beiden Kinder zu mir ins Haus zu nehmen. Ich kann der Mutter nicht zumuten, auf die Dauer wegen mir von ihren Kindern getrennt zu leben.«

»Das ist doch nicht dein Ernst«, hatte die Tante entrüstet geantwortet. »Denkst du denn nicht an das Gerede in der Stadt?«

»Da gibt es nichts zu reden, und wenn – so würde ich mich in keiner Weise davon beeinflussen lassen.«

Die Tante hatte voller Empörung den Hörer aufgelegt.

Wie war Jasmina dankbar und glücklich gewesen, als sie die beiden Mädchen ins Haus holen durfte. Natalie war damals gerade sieben Jahre alt und wurde eingeschult. Mit Sorgen bemerkte Jasmina schon seit längerer Zeit, dass dieses aufgeweckte und bildhübsche Mädchen offensichtlich seinem Vater glich. Vor allem trat das in ihrer Wesensart zutage. Manchmal stieg urplötzlich heiße Sorge in Jasmina empor: Was werde ich mit dieser Tochter noch erleben, wenn sie so sehr dem Vater gleicht!

Beatrix blieb nach wie vor ein scheues, ängstliches Kind, das vor lauter Minderwertigkeitsgefühlen den Kindergarten nicht besuchen wollte.