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Aus einem alten, abbruchreifen Haus dringen verdächtige Töne. Ob es darin spukt? Die merkwürdigen Ereignisse häufen sich, und da steht für die Schüler der Abenteuerklasse der Entschluss fest: Sie werden herausfinden, was es mit diesem Haus alles auf sich hat! Aber anscheinend sind sie nicht die einzigen, die einem Geheimnis auf die Spur kommen wollen. Hans und Conny beobachten bei einem nächtlichen Ausflug sogar eine schreckenerregende Gestalt – und dann sind Tina und Stöff plötzlich verschwunden!
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Seitenzahl: 369
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Der Schatz auf der Insel
Die Abenteuerklasse – Band 3
Damaris Kofmehl
© 2016 Folgen Verlag, Bruchsal
Autor: Damaris Kofmehl
ISBN: 978-3-95893-029-2
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Shop: www.ceBooks.de
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Eine unruhige Schulstunde
Ein unfreiwilliges Bad
Der rostige Nagel
Der elfte im Bunde
Liegt etwas in der Luft?
Nächtlicher Ausflug
Die verdächtige Zündholzschachtel
Tina und Stöff spielen Detektiv
Der Telefonanruf
Abendspaziergang
In der Falle
Geheimnisvolle Zusammenhänge
Was ist mit den Tieren los?
Der Kommissar ist zu Besuch
Der Brief
Verblüffendes aus dem Nachbardorf
Warten
Eine wilde Verfolgungsjagd
Auf Schatzsuche
Der Junge auf der Eiche
Eine feuchte Angelegenheit
Das Geheimnis des rostigen Nagels
Die Schatzinsel
»Aufhören! Sofort aufhören!« Thomas fuchtelte wild mit seinen Armen in der Luft herum, aber das spornte seine Klassenkameraden nur noch mehr an. Schließlich gab der Dicke auf und ließ sich seufzend auf seinen Stuhl plumpsen. »Wenn ihr damit fertig seid, könnt ihr mich rufen«, brummte er schicksalsergeben und tat, als ginge ihn die Sache nicht das geringste an.
»Wird gemacht!« lachte Ruedi und klebte die Kappe von Thomas' Füllfederhalter an die Decke des Schulzimmers. Den Rest des Füllers platzierte Daniel soeben haargenau über dem Lehrerpult, und Hans nahm sich der Tintenpatronen an, für die er neben einer Neonröhre einen guten Platz fand. Tina und Stöff zerlegten alle möglichen Gegenstände aus Thomas' Etui grinsend in ihre Bestandteile, und Bärbel und Conny versorgten die Jungs ständig mit dem neuen Material. Der Dicke sah kopfschüttelnd zu und warf zaghafte Blicke an die Zimmerdecke. Wie er sich sein Etui vor der Biologiestunde wieder einräumen sollte, war ihm ein Rätsel.
Gerade wollte Ruedi den Stuhl, den er auf einen Tisch gestellt hatte, ein Stück weiterschieben, als auch schon der Lehrer eintrat. Die Übeltäter brachen ihre Aktion schweigend ab und setzten sich brav auf ihre Plätze.
Herr Gerber legte seine Tasche aufs Pult und musterte das Kunstwerk kritisch. Sorgfältig mit Klebestreifen befestigt, hing hier ein Bleistift, dort ein Kugelschreiber, da ein Zirkel, dort ein Radiergummi und was sonst noch in Thomas' Etui zu finden war.
»Darf ich vielleicht erfahren, was hier vorgeht?« fragte Gerber amüsiert und blickte in die Klasse.
»Wir wollen Thomas zu einem Konditionstraining verhelfen«, erschallte es aus einer Ecke, und alle grinsten – außer Thomas natürlich. Mit knallrotem Kopf saß er neben Ruedi in der Bank und brummte verschwörerische Worte vor sich hin.
»Na schön, lassen wir es dabei bewenden, und widmen wir uns jetzt der Biologie«, entschied der Lehrer und blätterte in seinen Unterlagen. Wie nebensächlich fügte er hinzu:
»Ich hoffe, jemand ist so freundlich und leiht Thomas bis zur nächsten Pause einen Stift.« Er nahm ein Blatt aus seinem Ordner und ging zur Wandtafel. »Unser Thema bis zu den Herbstferien lautet …« Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick ging die Tür auf, und Britta stürmte außer Atem herein.
»Entschuldigung«, murmelte sie verlegen, »der Wecker hat nicht geklingelt.« Sie huschte auf ihren Platz und setzte sich schweigend. Gerber warf ihr einen strafenden Blick zu und wartete, bis das Mädchen seine Sachen ausgepackt und sich einigermaßen ruhig hingesetzt hatte. Sie sah ihren Lehrer mit großen Augen an, darauf gefasst, dass er ihr eine ordentliche Moralpredigt halten würde. Doch er sagte nur: »Ich hoffe, du hast gut geschlafen« und ließ es dabei bewenden. Ruedi wandte den Kopf und zwinkerte Britta belustigt zu.
»Nochmals Glück gehabt, was?« Und Thomas fügte dramatisch hinzu: »Wahrscheinlich hast du im Traum gerade auf den dritten Telefonanruf irgendwelcher hinterhältiger Erpresser gewartet und das Scheppern des Weckers vor lauter Spannung mit dem Telefonklingeln verwechselt. So oder ähnlich war's doch, nicht wahr?« Das Mädchen schnitt eine beleidigte Grimasse, doch bevor sie antworten konnte, gebot Gerber der Klasse Ruhe. Dann nahm der Lehrer einen zweiten Anlauf für den Unterrichtsbeginn, doch auch der misslang. Denn genau in diesem Moment löste sich der Radiergummi von der Zimmerdecke und landete treffsicher auf Gerbers Kopf.
Schallendes Gelächter erfüllte den Raum. Gerber bückte sich, hob den Radiergummi, der inzwischen auf den Boden gehüpft war, auf und warf ihn Thomas zu.
»Sollte sich ein weiterer Zwischenfall ereignen«, sagte er mit einem misstrauischen Blick an die Decke, »werdet ihr alles einsammeln, und ich überziehe so viele Minuten, wie ihr dafür gebraucht habt, abgemacht?« Er fuhr sich durchs Haar, überlegte eine Weile, und zum dritten Mal an diesem Montagmorgen begann er: »Also, unser Thema bis zu den Herbstferien lautet …« Doch auch diesmal kam er nicht weiter. Es klopfte an der Tür, und gleich darauf ging vorsichtig die Türklinke hinunter, und Paula schlüpfte ins Zimmer.
»'tschuldigung«, murmelte sie, »hab' verschlafen.«
»Das seh' ich«, entgegnete Gerber gelassen, und ironisch fügte er hinzu: »Aber halb so schlimm, ich habe noch nicht mit dem Stoff begonnen.« Schon etwas ungeduldiger als bei Britta wartete er, bis das Mädchen in der vordersten Reihe neben Britta ruhig auf seinem Platz saß. Dann sah er die beiden direkt an.
»Ich hoffe, es wird nicht zur Gewohnheit«, sagte er ernst, und im selben Atemzug fuhr er fort: »Und nun wenden wir uns der Biologie zu. Unser Thema: Krebse.« Ein Stöhnen ging durch die Reihen der Schüler, aber Gerber zeigte sich davon nicht beeindruckt. Er schritt zur Wandtafel, schrieb das Wort über die ganze Tafel, unterstrich es doppelt, setzte mit etwas kleinerer Schrift das Wort »Übersicht« darunter und wandte sich wieder der Klasse zu.
»So, jetzt seid ihr dran. Was wisst ihr bereits über Krebse?« Es folgten ein paar gescheite und weniger gescheite Bemerkungen, und die Stunde nahm ihren Lauf – obwohl die Klasse überhaupt nicht bei der Sache war. Dass Britta und Paula nämlich beide verschlafen hatten, schien allen mehr als verdächtig. Es kam äußerst selten vor, dass eine der beiden zu spät erschien, denn so neugierig, wie sie waren, waren sie stets darauf aus, ja nichts zu verpassen. Vor allem an Montagen! Was konnte bis dahin nicht alles Spannendes geschehen sein! Um so merkwürdiger, dass gleich beide heute so spät gekommen waren. Die Klassenkameraden ahnten sofort, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste. Und natürlich wollten sie dieses Geheimnis noch vor der Pause lüften. Ruedi begann als erster, sie mit gedämpfter Stimme auszuquetschen.
»Na, wo habt ihr euch denn gestern Nacht herumgetrieben?«
»Heraus mit der Sprache!« forderte jetzt auch Thomas, »wir wissen genau, dass ihr nicht Schäfchen gezählt habt.«
»Thomas!« sagte Herr Gerber mit lauter, durchdringender Stimme. Der Junge fuhr leicht zusammen und presste die Lippen aufeinander.
Aber kaum drehte sich der Lehrer zur Tafel, kam wieder Leben in die Klasse.
»Ihr könnt euch ja nicht vorstellen, was wir letzte Nacht erlebt haben«, plapperte Britta halblaut, »wir sind …« »Britta!« rief der Lehrer ermahnend, ohne sich umzudrehen. Das Mädchen schwieg gehorsam. Dafür berichtete nun Paula hastig weiter: »Wir sind bei einem verlassenen Gebäude gewesen und …«
»Paula!« ertönte es ruhig von der Wandtafel her. Paula zog knurrend den Mund schief und stützte den Kopf auf die Hände. »Der merkt aber auch alles!« brummte sie ärgerlich. Herr Gerber beendete mit einer schwungvollen Armbewegung seinen Satz und blickte dann mit hochgezogenen Augenbrauen in die Klasse.
»Ihr seid zwar mit Abstand die kleinste Klasse in der Umgebung«, bemerkte er und verschränkte die Arme, »aber ich komme langsam zu der Überzeugung, dass ihr auch mit Abstand die unruhigste Klasse seid. Was ist eigentlich los mit euch?«
Niemand antwortete.
»Ihr habt wohl ein spannenderes Thema gefunden als Krebse, nicht wahr?« Brittas Arm schoss in die Höhe, und als der Lehrer sie aufrief, erklärte sie flehend: »Bitte, Herr Gerber, Paula und ich haben etwas unerhört Spannendes erlebt. Wir können es einfach nicht bis zur Pause aufschieben.«
»Das ist wohl auch der Grund, warum ihr verschlafen habt. Sehe ich das richtig?«
»Nun ja«, räumte Paula etwas betreten ein, »in gewissem Sinn schon. Aber es wird Sie doch sicher ebenfalls interessieren, was wir erlebt haben, oder?«
»Ihr wollt bloß den Unterricht verkürzen«, meinte der Lehrer abwehrend, »nein, nein, ihr habt schon genug Unfug getrieben, jetzt wird gearbeitet.«
»Ooooch!« erschallte es übertrieben enttäuscht. Die ganze Klasse wusste, dass sie ihn rumkriegen würden, es war bloß eine Frage der Zeit. Nach gut einer Minute schmeicheln und bitten gab Gerber schließlich nach.
»Ihr habt gewonnen, aber dafür versprecht ihr mir, nach der Stunde dieses Blatt einzupacken und zu Hause selbständig zu studieren.« Er warf einen Blick auf die Uhr, lehnte sich an einen Heizkörper und sagte ergeben: »Bitte, meine Damen, kommt nach vorne, ihr seid dran.« Britta und Paula schwangen sich elegant aufs Lehrerpult. Sie tuschelten kurz miteinander, um auszumachen, wer womit beginnen sollte, und dann ergriff Paula das Wort. »Es fing damit an, dass Britta und ich gestern eine längere Fahrradtour unternommen und uns etwas in der Zeit verschätzt hatten«, erzählte sie aufgeregt. »Es begann nämlich schon zu dämmern, als wir erst in Brugg waren, und von da bis Wohlen sind es noch über zwanzig Kilometer. Außerdem wollten wir nicht auf der Autostraße fahren, und so suchten wir uns trotz der einbrechenden Dunkelheit und unseres Hungers eine etwas abgelegene Route.«
»Wir hatten nämlich seit dem Mittag noch nichts gegessen«, ergänzte Britta rasch.
»Nun«, fuhr Paula fort, »wir hatten ein ziemliches Tempo drauf und kamen erschöpft in Dottikon an, wo wir eine kleine Verschnaufpause einlegten. Wir meinten, von dort aus den Weg nach Hause auch ohne Karte zu finden und fuhren immer dem Bünzkanal entlang, weil der ja mitten durch Wohlen hindurchfließt. Wir dachten, wir brauchten dem Kanal nur zu folgen. Stimmt aber nicht! Man muss über die letzte Brücke auf die andere Seite des Kanals wechseln, um nach Wohlen zu kommen. Das haben wir aber erst gemerkt, als unser Weg im rechten Winkel vom Bünzkanal abbog und weiter oben in die Hauptstraße einmündete. Wir haben dann versucht, auf einer Querstraße wieder zum Kanal zurück zu gelangen. Dummerweise endete diese Straße abrupt, kurz nach einer alten, abbruchreifen Holzbude. Wir wendeten unsere Drahtesel und wollten gerade zurückradeln, als wir plötzlich ein eigenartiges Geräusch vernahmen, das heißt, es waren vielmehr Töne.«
»Töne?« wiederholte Bärbel gespannt. Die Schüler spitzten die Ohren.
»Ja, Töne«, bestätigte Britta eifrig. »Von einer Mundharmonika oder so was ähnlichem. Es kam direkt von dem düsteren Haus her, und ihr könnt euch vorstellen, dass wir ziemlich erschraken. Erstens sah das Gebäude nicht so aus, als ob jemand darin wohnt, zweitens wirkte die ganze Gegend menschenleer und verlassen und mit dem Wäldchen im Hintergrund recht unheimlich, und drittens war es halb elf und damit schon fast stockdunkel. Wir wollten dem Phänomen natürlich nachgehen. Es ist doch seltsam, dass jemand nachts um halb zehn in einer Bruchbude Mundharmonika spielt.«
»Vielleicht ist es jemand, der zu Hause nicht spielen darf, weil er nur abscheuliche Töne hervorquetscht und damit die ganze Nachbarschaft wütend macht«, erwägte Ruedi.
»Bist du aber phantasielos!« meinte Paula enttäuscht, »es klang zwar wirklich, als hätte der Unbekannte noch nie zuvor eine Mundharmonika in der Hand gehabt. Aber diese Erklärung ist mir doch zu einfach. Es muss mehr dahinterstecken.«
»Wie immer«, grinste Daniel, denn schon oft hatten Britta und Paula aus einer Mücke einen Elefanten gemacht. Wahrscheinlich lag es den beiden im Blut, alle Dinge etwas zu übertreiben und höchst dramatisch darzustellen, und Daniel und den andern Klassenkameraden bereitete es immer großen Spaß, sich über die Klatschtanten lustig zu machen.
»Wie gesagt, wir wollten die Sache genauer unter die Lupe nehmen«, hakte Paula wieder ein, »also stellten wir unsere Räder ab und schlichen uns an das Haus heran. Durch die Fenster im Erdgeschoß war nichts und niemand zu sehen, es war zu dunkel. Wir versuchten die Tür zu öffnen, aber sie klemmte. Dann liefen wir ums Haus herum, doch es gab keinen zweiten Eingang. Aber eine schmale Holztreppe führte zum oberen Stockwerk, und wir stiegen vorsichtig hinauf. Die Stufen knarrten leise, das war nicht zu ändern. Oben angekommen erwartete uns die zweite Enttäuschung. Auch diese Tür war abgeschlossen, und die Fenster waren zu weit entfernt, um einen Blick vom Innern der Wohnung erhaschen zu können.
»Dann habt ihr wohl auch niemanden gesehen?« fragte Conny. Die Mädchen schüttelten den Kopf.
»Nein, leider nicht«, erklärte Britta, »und das Mundharmonikaspiel hörte auf, als wir wieder unsere Räder bestiegen. Es war, als ob alles ein Traum gewesen wäre. Aber ich sage euch, da stimmt etwas nicht. Wir sollten der Sache nachgehen.«
»Und wie stellst du dir das konkret vor?« wollte Hans wissen. Ihm kam die Geschichte doch ziemlich kindisch vor. »Sollen wir alle Leute in der Umgebung fragen, ob sie nachts um halb elf Mundharmonika zu spielen pflegen?«
»Blödsinn«, antwortete Britta etwas beleidigt, »so direkt können wir das natürlich nicht anfangen. Wir denken eher an so was wie eine kleine Hausdurchsuchung. Vielleicht finden wir etwas Interessantes. Habt ihr übermorgen am Nachmittag schon etwas vor? Sonst könnten wir gemeinsam hinfahren.«
»Und wo soll das sein? In Dottikon?« erkundigte sich Thomas mit einem unguten Gefühl im Magen. Die Mädchen kicherten.
»Keine Angst, Dicker, auch du wirst es überleben. Es liegt bloß einen knappen Kilometer hinter Anglikon.« Aber diese Auskunft schien den Dicken durchaus nicht zu befriedigen. Er seufzte tief.
»Ich hab's ja geahnt. Eine Weltreise!« Die andern schmunzelten. Die Entfernung von Wohlen nach Anglikon betrug nach ihren Schätzungen höchstens drei Kilometer, aber für den unsportlichen Thomas war eben alles, was nicht im Umkreis von ein paar Metern lag, ein Stückchen zu weit weg. Und da es nun mal keinen zweiten von dieser Sorte in der Klasse gab, hatte er immer seine liebe Mühe, die andern von seinem Standpunkt zu überzeugen, obwohl sich sein Talent als Überredungskünstler in den letzten Jahren prächtig entfaltet hatte. Auch diesmal setzte er sein ganzes Vermögen ein, um die Freunde von ihrem gewagten Vorhaben abzubringen.
»Liebe Freunde«, hob er an, »ich bin soeben zu der Einsicht gekommen, dass wir die anstrengende Fahrradtour ganz gewiss unnötig in Angriff nehmen und statt dessen besser zu Hause bleiben sollten.«
»Und weshalb, wenn die Frage erlaubt ist?« forschte Ruedi, gespannt auf Tommys Ausrede. Der schloss bedächtig die Augen und erklärte mit philosophischer Gelassenheit: »Nun, wir wissen ja alle, dass unseren hochgeschätzten Damen Britta und Paula manchmal die Phantasie einen Streich spielt, und da sie darüber hinaus selbst öffentlich eingestehen, dass alles wie ein Traum gewesen sei – nun, so sagt mir mein gesunder Menschenverstand, dass es sich mit größter Wahrscheinlichkeit wirklich nur um einen Traum handelt und …«
»Es war kein Traum!« protestierte Paula.
»Und wenn schon«, meinte Thomas überlegen, »in alten Häusern gibt es massenweise geheimnisvolle Geräusche. Ich verspüre wirklich nicht den geringsten Drang, mich als Tonjäger zu betätigen …« Die andern hörten geduldig zu. Der Dicke würde sich ja letztlich doch dem Willen der Mehrheit beugen, weil er seine Freunde nicht allein lassen wollte, und so war es denn auch. Die Klasse einigte sich, am Mittwochnachmittag auf Expedition zu gehen. Daniel und Hans fanden die Aktion zwar etwas voreilig, ließen sich dann aber doch überreden. Sie waren ganz einfach zu faul, eine passende Ausrede zu suchen. Einzig Katharina und Stefan, die sowieso immer anderer Meinung waren als ihre acht Mitschüler, spielten auch diesmal die Querschläger.
»Ihr mit euren Abenteuern«, sagte Stöff mit einem leicht abschätzigen Ton, »ihr würdet ja schon Detektiv spielen, wenn ein Huhn ein blaues Ei legt.«
»Natürlich würden wir das«, bestätigte Britta wie zum Trotz, »und ihr könnt euch drauf verlassen, wir werden Dinge herauskriegen, die euch glatt umhauen.« Tina, die mit einem mitleidigen Lächeln zugehört hatte, lachte hell auf.
»Das wollen wir erst mal sehen«, sagte sie herausfordernd, »falls es mit diesen geheimnisvollen Tönen tatsächlich etwas auf sich haben sollte, wären Stöff und ich garantiert die ersten, die des Rätsels Lösung wüssten. Wetten?«
»Wie interessant«, stellte Ruedi nur fest. Er glaubte dem Mädchen kein Wort. »Da bin ich aber sehr gespannt.« Tina und Stöff grinsten nur vor sich hin und gaben keine Antwort. Kurz darauf schrillte die Pausenglocke, und die Klasse stürmte aus dem Zimmer – mit Ausnahme von Thomas, der sich seine Sachen Stück für Stück von der Decke lösen musste.
Natürlich waren Britta und Paula am Mittwochnachmittag die ersten, die sich mit ihren Fahrrädern beim vereinbarten Treffpunkt einfanden. Sie platzten beinahe vor Ungeduld. Nach knapp fünf Minuten trudelten Bärbel und Conny ein. Als sie ihre überpünktlichen Kameradinnen nervös am Gartenzaun stehen sahen, mussten sie sich das Lachen verkneifen.
»Ihr könnt es wohl kaum erwarten, was?« stellte Bärbel zur Begrüßung fest, und Paula bestätigte eifrig ihre Vermutung und plapperte aufgeregt drauflos.
»Und wie ich aufgeregt bin. Ich habe sogar davon geträumt! Stellt euch vor, der ganze Boden war voller Mundharmonikas, und jede blies eine andere Melodie, furchtbar, ich kann euch sagen, das war die reinste Katzenmusik …« »Miau!« erklang es, und eine schwarze Katze strich Paula um die Beine.
»Mizzi!« rief das Mädchen überrascht. Sie hatte Connys Katze bis jetzt noch nicht bemerkt. »Kommt sie auch mit?« fragte sie. Conny zuckte lachend die Achseln.
»Das musst du sie schon selber fragen«, erwiderte sie, indem sie das Tier sachte aufhob und in ihre Arme schloss. Doch die Katze gab keinen Kommentar. »Wahrscheinlich ist sie beleidigt«, meinte Bärbel, »es war nämlich nicht sehr höflich von dir, Paula, einen Tonsalat als Katzenmusik zu bezeichnen. Auf solche Wörter reagiert sie empfindlich.«
»Was höre ich da? Tonsalat?« Die Mädchen drehten sich um. Thomas und Ruedi kamen des Weges. Der dicke Thomas trat merklich stärker in die Pedale und erreichte die vier sogar noch vor seinem sportlichen Freund. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen.
»Tonsalat?« wiederholte er, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. »Ich habe mich doch wohl nicht verhört?« Die Mädchen schüttelten lachend den Kopf.
»Nein, Tommy, du hast das Wort völlig richtig verstanden«, gab ihm Britta recht, »nur ein klein wenig falsch.« »Hmm«, brummte der Dicke enttäuscht und stieg vom Rad, »und dabei hat sich mein Magen schon so gefreut.« »Oh«, bemitleideten ihn die andern, aber Ruedi winkte ab.
»Ihr braucht ihn gar nicht zu bedauern«, sagte er unbarmherzig, während er seinen Drahtesel an den Gartenzaun lehnte, »erstens saß er vor zehn Minuten noch gemütlich beim Mittagessen, und zweitens hat er wie üblich eine Zehnmann-Monatsverpflegung mit dabei.« Der Dicke wollte heftig protestieren, aber die Kameraden ließen ihn nicht zu Wort kommen und gingen daran, den Inhalt seiner prallgefüllten Plastiktüte genauer zu untersuchen. Drei Sandwichs, eine Tafel Schokolade, ein Pack Kartoffelchips, mehrere Bonbons und ein Kaugummipäckchen bestätigten wieder einmal, was sie schon längst wussten: Ihr Kamerad war ein Vielfraß! Glücklicherweise brauchte Thomas sich nicht allzu lange dumme Sprüche anzuhören, denn nun trödelten Hans und Daniel ein und nahmen sofort die Aufmerksamkeit der anderen gefangen. Auch Mizzi, die es bis jetzt schnurrend genossen hatte, von Conny gekrault zu werden, starrte augenblicklich wie gebannt in Richtung der Jungs. Was war denn das dort, was vor Hans hertrottete – war das etwa ein Hund? »Hallo miteinander!« rief Hans, und Britta stieß hervor: »Nein, wie süß! Ist das Chico?« Ein hohes Bellen war die Antwort, und der kleine Vierbeiner begann wie wild an der Leine zu zerren.
»Ich hab gar nicht gewusst, dass du ihn schon nach Hause nehmen durftest«, sagte Bärbel erstaunt, und Conny stellte fest, dass er schon enorm groß sei. Alle sahen den jungen Schäferhund belustigt an und erinnerten sich wieder an das beeindruckende Erlebnis seiner Geburt. Mit Staunen hatten sie an jenem Tag in den vergangenen Sommerferien zusehen dürfen, wie Chico zusammen mit drei anderen Welpen in Onkel Christophs Wohnung zur Welt gekommen war. Auch Bärbels Onkel war damals das erste Mal bei einer Hundegeburt dabei, und er hatte sich so darüber gefreut, dass er Hans einen der Welpen versprochen hatte. Bevor Hans jedoch seinen Hund vor knapp einer Woche nach Hause nehmen durfte, musste Chico noch eine Zeitlang bei Trixi, seiner Mutter, bleiben. Hans ging ihn regelmäßig besuchen, damit er sich bereits an sein neues Herrchen gewöhnte. Und da war er nun, der junge Schäferhund, voll Energie und Abenteuerlust, und wartete schwanzwedelnd auf das, was nun geschehen würde.
»So, Chico, sag meinen Freunden guten Tag.«
»Wuff!« machte Chico und erheiterte damit die ganze Bande.
»Der ist wirklich so niedlich, wie du ihn geschildert hast«, sagte Bärbel zu Hans, während sie sich neben das Tierchen kniete. »Kannst du auch schon Pfötchen geben?« Als Chico keine Reaktion zeigte, nahm sie seine rechte Pfote und hielt sie eine Weile in der Hand. »Siehst du, Chico, das ist Pfötchen geben, und jetzt kannst du es selbst einmal versuchen.« Sie ließ die weiche Pfote wieder los und wartete darauf, dass er tun würde, was sie ihm gerade gezeigt hatte, doch Chico war offenbar nicht ganz mitgekommen und sah Bärbel wie ein großes Fragezeichen an. Die Umstehenden lachten, aber Bärbel gab die Hoffnung nicht auf und begann nochmals mit ihren Erklärungen. Doch auf einmal blickte das Hündchen verstört drein, tappte ein paar Schritte rückwärts und schien nach etwas Ausschau zu halten.
»Miau!« erklang es leise, und Mizzi lugte vorsichtig über Connys Schulter. Wie gebannt starrten sich die beiden Tiere an.
»Chico, darf ich bekannt machen, das ist Mizzi«, sagte Conny. Sie stellte ihre Katze behutsam auf den Boden. Jetzt wurde es spannend. Skeptisch musterten sich Mizzi und Chico. Sie versuchten die Gefahr abzuschätzen, die von dem Gegenüber zu erwarten war. Freund oder Feind? Die schwarze Katze wagte sich vorsichtig einen Schritt näher, worauf der junge Schäferhund sofort einen Schritt zurück ging. Er ließ ein leises Winseln hören und stellte den Kopf schräg. Ob die ihn beißen wollte? »Miau!« machte Mizzi wiederum und versuchte ein zweites Mal, sich dem Hund zu nähern, und diesmal blieb Chico stehen – ob aus Schreck oder Neugier war nicht zu erkennen. Jedenfalls schob er die Nase etwas vor, und als Mizzi nahe genug bei ihm war, begannen die beiden sich gegenseitig zu beschnuppern, erst Nase an Nase, schließlich von allen Seiten. Sie liefen um sich herum und schienen langsam, aber sicher ihre Skepsis abzulegen, ja, sie schienen sich sogar regelrecht füreinander zu interessieren.
»Ich glaub, die mögen sich«, sagte Hans zufrieden, und Conny meinte begeistert: »Na prima! Was wollen wir mehr?« Sie brachen auf. Mizzi und Chico liefen vor ihnen her, Seite an Seite, und da Thomas die Geschwindigkeit mit seinem erbärmlichen schlappen Anblick allgemein etwas milderte, war es für die Tiere ein leichtes, mit den Kindern Schritt zu halten.
Nach einer Viertelstunde hatten die Freunde ihr Ziel erreicht, und unvermutet überkam die meisten ein mulmiges Gefühl. Nur Daniel betrachtete flüchtig die Bude und wandte sich dann leicht verärgert an Britta und Paula: »Weshalb habt ihr das nicht früher gesagt?« fragte er. Die Mädchen begriffen natürlich nicht, was er meinte.
»Es ist zwar nichts Tragisches«, sagte er, »aber wenn ich gewusst hätte, dass wir hierher kommen, hätte ich auf meinem Gepäckträger eine riesige leere Kiste montiert.« Jetzt verstanden ihn die andern überhaupt nicht mehr, aber Dani erklärte ihnen, dass dieses abbruchreife Gebäude eine Fahrradwerkstatt sei, in die er selbst immer sein Rad zur Reparatur gebracht habe. Und nun – seit dem Tod des Mechanikers – komme er ab und zu her, um nach alten Fahrradbestandteilen zu suchen.
»Aber ihr habt natürlich nichts von einer Fahrradwerkstatt gesagt.«
»Bitte tausendmal um Verzeihung, mein Herr«, entschuldigte sich Britta übertrieben galant, und äußerst nüchtern fuhr sie fort: »Wir wussten es ja gar nicht. Es war zu dunkel, um das festzustellen. Wir merkten lediglich, dass die Bude nicht bewohnt ist und ziemlich mitgenommen und gespenstig aussieht, mehr nicht.«
Es war tatsächlich ein etwas gespenstiges Haus, reif für einen Gruselfilm. Schon die Tanne, deren schwarze Äste sich über das Dach ausbreiteten, verlieh dem Gebäude eine unheimliche Atmosphäre, und der windschiefe Kamin und die losen, moosbewachsenen Ziegel verstärkten diesen Eindruck noch. Die Fenster – sofern sie nicht vollständig von Kletterpflanzen überwuchert waren – glotzten wie Späher aus Schießscharten, und die Fensterläden drohten beim nächsten starken Windstoß aus den Angeln zu reißen.
Die Freunde stellten ihre Fahrräder ab und deponierten die Jacken und Pullover, die sie auf der Hinfahrt übergezogen hatten, auf den Gepäckträgern. Daniel, der als einziger wusste, wie das verzwickte Öffnungssystem des Eingangs funktionierte, bahnte ihnen den Weg ins Haus. Ein Geruch nach Karrenschmiere, Gummischläuchen und Radketten schlug ihnen entgegen, und sie stolperten in ein gewaltiges Durcheinander. Der ganze Boden, jedes Gestell, einfach alles war vollgestapelt mit Fahrradbestandteilen. Ganze Berge von Reifen, Luftpumpen, Schrauben, Nägeln und Klingeln türmten sich auf und waren derart wirr durcheinandergewürfelt, dass auch der chaotischste Mensch den Überblick verlieren musste.
»Ein Griff – und die Sucherei beginnt«, kommentierte Thomas. »Und da wundert ihr euch noch, wenn es hier eigenartige Geräusche gibt. Wenn man auch nur die banalsten Laute, die sich mit Hilfe dieser Geräte erzeugen lassen, auf Band aufnähme, würde es garantiert eine größere Auswahl bieten als jedes Geräuscharchiv beim Radio.«
»Es war aber nicht irgendein Geräusch, es war eine Mundharmonika«, sagte Paula energisch, und Britta fügte hinzu: »Und wenn du nachts um halb elf aus dieser abgelegenen Bude diese ganz besonderen Töne hörst und keinen Verdacht schöpfst, dann … dann ist dir wirklich nicht mehr zu helfen.«
»Macht doch, was ihr wollt«, winkte Thomas gelassen ab, »ich für meinen Teil ziehe nach unserer anstrengenden Fahrt eine kleine Ruhepause vor.« Nach diesen Worten verschwand er kurz, erschien mit seinen drei extradicken Butterbroten wieder unter der Tür und hielt nach einer bequemen Sitzgelegenheit Ausschau, wo er die Brote in aller Ruhe verspeisen konnte, ohne dauernd herumgeschubst zu werden. Gemütlich ließ er sich auf einem Holzschemel nieder, streckte die Beine auf den nächstbesten Tisch und packte sein erstes Sandwich aus.
Dass seine Klassenkameraden in diesem Wirrwarr früher oder später auf einen interessanten Fund stoßen würden, konnte sich Thomas beim besten Willen nicht vorstellen. Und überhaupt: Worauf hatten sie es eigentlich abgesehen? Auf ein Geräusch? Oder einen Gegenstand, der diese »besonderen Töne« erzeugt haben könnte? Wahrscheinlich wusste es niemand so recht; jedenfalls ging die planlose Sucherei bald in ein Aufstöbern von noch brauchbaren Fahrradbestandteilen über, und nach einer halben Stunde bestand das Ziel des Ausflugs nicht mehr darin, dem Geheimnis der unheimlichen Töne auf die Spur zu kommen, sondern darin, die andern mit ergatterten Fundgegenständen zu übertrumpfen.
Britta und Paula erfreute diese Entwicklung natürlich keineswegs. Schließlich waren sie hergekommen, um Detektiv zu spielen, nicht um Gerümpel anzuhäufen! Aber davon ließen sich die andern in ihrem Eifer nicht überzeugen. Die abenteuerlustigen Mädchen beratschlagten gerade, wie nun weiter vorzugehen sei, als plötzlich ein lautes Scheppern in die Werkstatt drang. Sofort hielten die Kinder in ihrer Beschäftigung inne. Britta schoss in die Höhe.
»Was war das?« Die Freunde tauschten fragende Blicke aus.
»Ich glaube, da hat sich jemand an unseren Rädern zu schaffen gemacht!« schaltete Paula schließlich und stürmte ins Freie, gefolgt von ihren Klassenkameraden. Sie hatten richtig vermutet. Alle Räder waren umgestoßen worden und lagen wie Dominosteine halb übereinander. Und was noch schlimmer war: Ihre Gepäckträger waren leer!
»Das gibt's doch nicht! Alles weg!« stellte Paula verständnislos fest. Thomas, der normalerweise etwas länger brauchte, um zu einem Tatort zu gelangen, war auf Paulas Ausruf hin erstaunlich schnell zur Stelle.
»Alles weg?« wiederholte er, und ein schauerliches Gefühl beschlich ihn. »Auch meine Zwischenverpflegung?«
Es war offensichtlich, dass sein grellroter Plastiksack ebenfalls fehlte. Das war natürlich absolut nicht nach Tommys Geschmack.
»So eine Frechheit!« schimpfte er und ballte die Fäuste. »Wenn ich den zwischen die Finger kriege, gibt's Hackfleisch!«
»Da!« rief Hans plötzlich und deutete auf den Weg. Die Kameraden sahen gerade noch, wie eine dunkle Gestalt hinter der Kurve verschwand. Hans überlegte nicht lange. »Schnell, auf die Räder, den Kerl kaufen wir uns. Weit kann er noch nicht sein!« Damit packte er sein Rad, das ganz obenauf lag, riss es hoch und schwang sich in den Sattel. Er wollte dem Verdächtigen unverzüglich nachsetzen, doch zu seiner Überraschung wurde er wie von unsichtbarer Hand mit einem Ruck daran gehindert. »Was ist denn nun schon wieder los?« Er betrachtete seinen Stahlesel genauer und entdeckte eine Schnur, die sich in seinem Vorderrad verwickelt hatte. »So ein Mist!« stieß er hervor, und, zu den andern gewandt, meinte er schnell: »Fahrt schon mal. Ich komme gleich nach.« Doch nun stellte sich heraus, dass die andern genauso wenig starten konnten wie er – sämtliche Vorderräder waren mit dieser heimtückischen Schnur aneinander gekettet, und Ruedi musste erst sein Taschenmesser aus den engen Jeans klauben und die Schnur an mehreren Stellen durchtrennen. Zu dumm nur, dass der Unbekannte einen so großen Vorsprung gewinnen konnte!
»Der kann sich auf etwas gefasst machen!« wetterte Thomas und spuckte sich in die Hände. »Los, Freunde, auf in den Kampf!« Und schon saß der Dicke auf seinem Stahlroß und trat kräftig in die Pedale. Vor lauter Zorn hatte er doch tatsächlich vergessen, wie anstrengend er Radfahren stets fand. Einzig Britta und Paula beteiligten sich nicht an der Verfolgungsjagd. Der Gedanke, beim Herumschnüffeln in der Werkstatt vielleicht doch noch etwas Interessantes zu entdecken, ließ die beiden Mädchen einfach nicht los. Sie hegten nämlich den leisen Verdacht, diese Bruchbude verberge ein größeres Geheimnis, als sie sich träumen ließen, und ganz unrecht hatten sie dabei tatsächlich nicht …
Unterdessen radelten die andern in rasendem Tempo den Weg entlang. Vor der Hauptstraße hielten sie mit quietschenden Reifen an. Thomas keuchte wie eine alte Dampfmaschine, strotzte jedoch von Energie und Tatendrang.
»Komm schon'. Zeig dich, du hinterhältiges Biest! Onkel Tommy hat ein Hühnchen mit dir zu rupfen!«
Natürlich war weit und breit niemand zu sehen. Nur ab und zu flitzte ein Auto an ihnen vorbei. Doch die sechs gaben die Hoffnung nicht auf.
»Wenn er zu Fuß unterwegs ist, werden wir ihn schon finden«, meinte Hans überzeugt, »und ich glaube fast, er ist wirklich zu Fuß unterwegs, sonst hätten wir wahrscheinlich irgendein Motorengeräusch gehört.«
»Glaub ich nicht«, zweifelte Daniel, »nicht, wenn er sein Fahrzeug hier an der Hauptstraße geparkt hatte.« Aber Hans war sich seiner Sache trotzdem sicher.
»Angenommen, er ist wirklich mit einem Mofa oder Auto gekommen«, überlegte er, »dann sehe ich nicht ein, weshalb er es hier, über zweihundert Meter vom Tatort entfernt, hätte abstellen sollen. Dann wäre er bestimmt so nahe wie möglich ans Gebäude herangefahren, damit er möglichst schnell wieder verduften konnte. Aber dann hätten wir zumindest den anspringenden Motor hören müssen.«
»Und wenn er sich ins Dickicht verschlagen hat?« gab Bärbel zu bedenken.
»Am besten, wir teilen uns auf«, meinte Ruedi, »Hans und Dani, ihr untersucht das Gebiet oberhalb der Hauptstraße, Conny und Bärbel, ihr durchkämmt die Umgebung auf dieser Straßenseite, und Tommy und ich nehmen uns das Wäldchen vor. Wenn er zu Fuß ist, haben wir vielleicht Glück.«
Sie trennten sich. Thomas und Ruedi fuhren ein kleines Stück die Hauptstraße entlang, und stellten ihre Fahrräder am Rande des Wäldchens ab. Dann pirschten sie sich in den Wald. Angestrengt lauschten sie, ob irgendwo ein Ast knackte oder Laub raschelte, aber es war nichts zu hören. Sie drangen tiefer in den Wald ein.
»Schade, dass wir keine Pfadfinder sind«, flüsterte Thomas ärgerlich. Ruedi sah ihn schief an.
»Weshalb denn das?«
»Weil ich dann meine Zwischenverpflegung mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit wiederbekommen würde und wir garantiert auf der richtigen Spur wären.« »Vielleicht sind wir es ja auch.«
»Das glaubst du doch selbst nicht. Der Typ ist doch schon längst mit der Beute über alle Berge. Das ist es ja auch, was mich so furchtbar wütend macht.«
»Ich spare mir meine Wutausbrüche noch etwas auf. Immerhin besteht noch die Möglichkeit, dass …« Ruedi brach mittendrin ab und runzelte die Stirn. Er lauschte angespannt und spähte geradeaus. Thomas blickte in dieselbe Richtung, wurde jedoch nicht schlauer dabei. Fragend sah er seinen Gefährten an.
»Der ergebene Freund und Helfer vermutet, dass sein großer Meister eine nicht ganz uninteressante Beobachtung gemacht hat, und bittet höflichst um nähere Angaben.«
»Psst!« machte Ruedi. »Ich hab was gehört. Dort bei den Büschen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf ein paar dichte Sträucher. Wie gebannt starrten die Jungen dorthin. Zu sehen war zwar nichts, aber … da war es wieder! Ein leises Rascheln der Blätter. Diesmal hörte es auch Thomas ganz deutlich.
»Das hört sich ja an, als würde sich jemand hinter diesem hübschen Gebüsch verbergen«, deutete Tommy das Geräusch höchst erfreut, aber mit gedämpfter Stimme, und es juckte ihn in den Fingern.
»Wir sind zwar keine Pfadfinder, aber wenn das nicht unser Mann ist, bin ich Neptun höchstpersönlich.«
Ruedi war etwas vorsichtiger.
»Vielleicht ist es nur ein Vogel«, überlegte er, »man kann ja leider nicht hindurchsehen.«
»Du hast ganz recht«, stimmte ihm Thomas zu. Er kam langsam, aber sicher in Fahrt. »Es ist bestimmt ein Vogel, ein sehr großer sogar. Und weil ich doch zu gern seine Augenfarbe wüsste, werde ich mir jetzt Durchblick verschaffen und zum Angriff übergehen. Attackeee!!« Und mit diesem Kriegsgeschrei stürmte er in vollem Tempo auf das Gestrüpp los, als gälte es, Jericho zu erobern. Dass im selben Moment ein Hase in panischer Angst die Flucht ergriff, übersah Thomas in seinem Eifer völlig. Doch Ruedi war sich jetzt über ihren Fehlschluss im klaren. Er sah seinem dicken Freund belustigt dabei zu, wie er die Sträucher mit einer hastigen Handbewegung entzwei teilte, um sich im nächsten Augenblick einem Musketier gleich auf den unsichtbaren Feind zu werfen. Schon sah Ruedi innerlich das enttäuschte Gesicht, das sich ihm im nächsten Moment zuwenden würde, als er einen dramatischen Aufschrei vernahm. Und gleich danach folgte ein Aufprall! Es hörte sich an, als würde jemand bäuchlings ins Wasser springen und dabei das halbe Schwimmbecken überschwappen lassen.
»Tommy!« rief Ruedi erschrocken und eilte seinem Freund zu Hilfe. Jetzt sah er die ganze Bescherung: Unmittelbar hinter den Sträuchern breitete sich eine ansehnliche Wasserlache aus. Und mittendrin saß Tommy auf seinem gepolsterten Hinterteil, von oben bis unten mit Schlamm verspritzt und mit einer bunten Vielfalt von Pflanzen behängt– ein wahrhaft kurioser Anblick. Ruedi wusste nicht, ob er lachen oder Mitleid zeigen sollte, aber schließlich konnte er sich nicht länger beherrschen und brach in schallendes Gelächter aus. Sein Freund fand das natürlich ganz und gar unangebracht.
»Ich sehe wohl sehr komisch aus, wie?« Ruedi brachte kein Wort heraus, er stand nur da und hielt sich den Bauch vor Lachen. Thomas schob den Lianenvorhang vor seinem Gesicht zur Seite und spuckte ins Wasser.
»Du denkst wohl an irgendeinen Dick-und-Doof-Film oder …« Bei dieser Bemerkung kugelte sich Ruedi nur noch mehr vor Lachen.
»Nein, mein Verehrtester«, brachte er schließlich heraus, »ich habe mich lediglich an deine Behauptung erinnert, dass du der leibhaftige Neptun wärst, wenn hinter dem Strauch nicht unser Mann säße, und …« Er machte eine kurze Verschnaufpause. »Nun ja. Ehrlich gesagt habe ich mir Neptun …«
»… nicht so rund vorgestellt, das kann ich mir denken«, beendete Thomas den Satz brummend. Er erhob sich stöhnend und watete aufs Trockene. Dann schüttelte er sich wie ein nasser Pudel.
»Du könntest mich wenigstens mal fragen, wie's mir geht, teurer Freund«, meinte er, als Ruedi sich langsam, aber sicher von seinen Lachanfällen erholte.
»Und, wie geht's dir denn?« erkundigte er sich. Thomas verdrehte die Augen.
»Oh, frag mich nicht«, bekundete er, »wenn mein Hinterteil schreien könnte, müsstest du dir jetzt die Ohren zuhalten.«
»Und ich dachte, bei einer derart guten Polsterung sei nichts zu befürchten«, schmunzelte Ruedi.
Sie machten sich auf den Rückweg. Die Lust auf die Räuberjagd war ihnen vergangen, und große Aussichten hätten sie jetzt ohnehin nicht mehr gehabt. Vielleicht wussten die andern mehr zu berichten.
Als sich die beiden Freunde dem Treffpunkt näherten, er-warteten Conny und Bärbel sie bereits.
»Und, habt ihr etwas herausgefunden?« bestürmte Conny sie gleich. Ruedi schüttelte den Kopf.
»Mein werter Herr Kollege hat es für nötig befunden, auf unserer gefährlichen Verfolgungsjagd ein Bad zu nehmen. Und dabei haben wir den Vogel aus den Augen verloren.«
»Ein Bad?« Die Mädchen musterten grinsend die tropfende Kreatur.
»Das kann nur dir passieren!« lachte Conny, und Bärbel fügte hinzu: »Ich möchte bloß wissen, woher du diese unvergleichliche Begabung hast, überall als Tollpatsch aufzutreten. Ich glaube, du solltest Komiker werden.«
»Und du Berufsberaterin«, entgegnete Thomas leicht verärgert und wrang einen Zipfel seines T-Shirts aus. Nach seinem unfreiwilligen Bad vertrug er einfach keinen Spaß mehr.
»Und ihr seid wohl auch leer ausgegangen, nicht wahr?« erkundigte sich Ruedi. Leider hatte er recht. Also setzte man alle Hoffnungen auf Daniel und Hans, die wenig später in einem Affentempo angeradelt kamen und kurz vor den Wartenden mit einem halsbrecherischen Manöver stoppten.
»Nichts«, verkündete Hans, um seine Kameraden nicht auf die Folter zu spannen, »und ihr?«
»Auch nichts«, kam es zurück.
»Hätte mich, ehrlich gesagt, auch gewundert«, sagte Daniel, »es gibt einfach zu viele Möglichkeiten zur Flucht. Wirklich ärgerlich, aber … He! Was haben sie denn mit dir gemacht?« Sein Blick blieb an Thomas haften, und Ruedi erläuterte flüchtig, was sich zugetragen hatte – allerdings mit der Vorbemerkung, Lachanfälle seien aus Rücksicht auf den Pechvogel nicht gestattet.
»Tja«, meinte Dani mitleidig, »wenn ich meine Jacke noch hätte, würde ich sie dir jetzt leihen, Tommy.« »Besten Dank«, bekundete Thomas, »ich hoffe, mein kochendes Blut wird mich noch bis zu Hause warm halten.«
»Und wenn nicht, muss ich dich eben wieder zum Kochen bringen«, schmunzelte Ruedi. Ein Rippenstoß bezeugte, dass Tommys Reaktionsvermögen durchaus noch intakt war.
Schweigend marschierten die Freunde zur Bruchbude zurück, wo sie bereits mit hellquietschenden Stimmen und freudigem Gebell erwartet wurden.
»Da seid ihr ja endlich«, begrüßte sie Britta stürmisch, »wir dachten schon, ihr hättet uns im Stich gelassen, dabei habt ihr ja nicht die leiseste Ahnung, was wir hier …« Sie stutzte. »Mann, was ist denn mit dir los?« stieß sie hervor und deutete auf Thomas. »Du grollst ja ganz schön vor dich hin! Hat's ein Gewitter gegeben?«
»Allerdings«, knirschte Thomas nur. Die beiden Mädchen betrachteten den Dicken noch immer mit weitaufgerissenen Augen.
»Wie hast du das denn hingekriegt?« schmunzelte Paula. »Bist du irgendwie gestolpert?«
»Glaubst du etwa, ich habe mir die Ohren waschen wollen?« entgegnete Thomas muffig.
»Schon gut«, wehrte Paula ab, die einsah, dass mit dem Jungen im Moment nicht gut Kirschen essen war, »und ihr andern, habt ihr unsere Sachen gefunden?«
»Leider nicht«, gestand Bärbel. Die Mädchen nickten betrübt, wechselten dann aber schnell das Thema.
»Aber jetzt müssen wir euch erzählen, was wir hier erlebt haben, als ihr weg wart!« Paula konnte nicht länger an sich halten.
»Also«, sprudelte sie los, als endlich alle im Gras saßen, »eigentlich müssten wir Mizzi fragen, was an der ganzen Geschichte so interessant ist. Sie war es nämlich, die ihre Aufmerksamkeit plötzlich der Decke widmete.«
»Miau«, bestätigte die Katze und schmiegte ihren Kopf an Paulas Beine, weil sie gestreichelt werden wollte. »Anfangs waren wir noch so in unsere Sucherei nach verdächtigen Gegenständen vertieft, dass wir Mizzi nicht groß beachteten«, fuhr das Mädchen fort, »doch auf einmal bemerkte ich, dass sie zielstrebig von einem Gestell zum andern sprang und den Blick immer zur Holzdecke richtete, als würde dort eine Maus hängen. Als sie dann immer unruhiger hin und her tappte, zu mauzen anfing und schließlich sogar ein Glas mit Nägeln umstieß, so dass es rasselnd zu Boden fiel, wurden wir aufmerksam. Ob das mit dem Glas Absicht oder Zufall war, kann ich nicht sagen, jedenfalls ging aus Mizzis Verhalten deutlich hervor, dass sie uns etwas zeigen wollte. Dann wurde auch noch Chico nervös! Vorher hatte er sich nur für all die sonderbaren Gegenstände interessiert und jeden eingehend beschnuppert.« Als Chicos Name fiel, schoss das Hündchen wie eine Rakete in die Höhe, wedelte heftig und kläffte siegesbewusst.
»Und was habt ihr dann herausgefunden?« erkundigte sich Ruedi. Britta zuckte die Achseln.
»Das können wir nicht so direkt sagen«, gestand sie. »Fest steht, dass sich im Obergeschoß irgend etwas Geheimnisvolles befindet. Mizzi scharrte nämlich sicher nicht grundlos an der Decke herum, und auch Chico schien ja außer sich zu sein. Aber was es war, haben wir leider nicht feststellen können. Wir versuchten zwar, in den oberen Stock zu kommen, aber die Tür außerhalb des Gebäudes war – wie schon am Sonntagabend – verschlossen. Es gibt da zwar noch eine Tür, und zwar in der Werkstatt selbst, aber die war mit allerlei schweren Geräten versperrt, und das Schloss war ohnehin eingerostet. Und durch die Zimmerdecke vernahmen wir einfach nichts. Tja, das wär's.«
»Hmm«, machte Conny nachdenklich, »mir scheint, das ist tatsächlich eine merkwürdige Geschichte, vor allem die Sache mit dem Glas. Katzen sind sehr geschickt und umgehen Hindernisse mit Leichtigkeit. Es muss also schon etwas Besonderes gewesen sein, wenn Mizzi sich so ungeschickt verhält, dass ein Glas mit Nageln vom Regal fällt.«
»So ungeschickt?« wiederholte Britta skeptisch. »So geschickt würde ich sagen. Deine Miezekatze ist ein cleveres Tierchen. Das war Absicht, ganz bestimmt. Ich hob das Glas nämlich vom Boden auf, und es hatte ein beachtliches Gewicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass es sich ohne kräftige Nachhilfe keinen Zentimeter bewegt hätte. »Wie dem auch sei«, meinte Ruedi, »ich gäbe viel darum, eine Zeitlang die Hunde- oder Katzensprache verstehen zu können, um von den Tieren selbst zu erfahren, was da oben los war.«
»Wuff!« machte Chico, als fände er das eine ausgezeichnete Idee, und Bärbel räumte achselzuckend ein:
»Tja, Fremdsprachen sollte man können.«
Eine Weile saßen sie nachdenklich auf der Wiese und zupften Gräser aus dem Boden. Eigentlich gab es jetzt nichts anderes mehr zu tun, als die gesammelten Fahrradbestandteile aus der Werkstatt zu schaffen und auf den Gepäckträgern aufzutürmen.
Chico begleitete sein Herrchen begeistert, wedelte mit dem Schwanz, bellte vergnügt, und Hans musste achtgeben, dass er nicht über ihn stolperte, wenn der junge Hund wie wild vor ihm auf und ab sprang.
Mizzi beobachtete die Szene mit wachsender Gleichgültigkeit und begann schließlich, ihr Fell zu putzen. Aber plötzlich hielt sie inne und drehte sich um. Ein älterer Mann kam auf die Bruchbude zu. Er mochte an die siebzig Jahre alt sein, war weder groß noch klein, nicht gerade dick, aber auch nicht unbedingt mager. Sein vom Wind zerzaustes Haar war schneeweiß und stach kräftig von der sonnengebräunten Haut ab, ebenso das Weiß seiner Augen. Im übrigen war er etwa das, was man sich unter einem Durchschnittsmenschen vorstellt – mit dem Unterschied, dass man sich einen durchschnittlichen Herrn von Anfang Siebzig eigentlich nicht mit Rennrad und kompletter Rennausrüstung vorstellt. Ein gelb-weiß gestreiftes T-Shirt, schwarze Rennhosen und weiße Handschuhe gehörten zu seiner professionellen Aus-rüstung, und auch das gelbe Rennrad, das übrigens nur so von Sauberkeit strotzte, war perfekt ausgestattet. Nicht einmal die Trinkflasche am unteren Rahmenrohr fehlte.
Der Mann schob sein Fahrrad neben sich her und näherte sich langsam den Schülern.
»Na, hat sich der Ausflug gelohnt?« rief er ihnen munter zu. Die Kinder sahen auf.
»Ich denke schon«, antwortete Ruedi, der seinen Stahlesel soeben fertig bepackt hatte, spontan, »es wird sicher nicht das letzte Mal sein, dass wir herkommen.«
, Ja, das kann ich mir vorstellen«, lachte der Rennfahrer, »es gibt ja auch allerhand zu sehen, nicht wahr?«
»Allerdings«, bestätigte Daniel, der vergeblich versuchte, eine Klingel auf seinem vollbeladenen Gepäckträger festzubinden. »Für Bastler ein kleines Paradies. Man kann nur hoffen, dass es noch lange erhalten bleibt. Schließlich weiß man nie, wann sich hier ein neuer Fahrradmechaniker einrichtet und das Herumschnüffeln ein Ende nimmt.«
»Das ist richtig«, nickte der Mann, »und soviel ich weiß, wird tatsächlich nächstens ein neuer Mechaniker eingestellt.« Die Buben spitzten die Ohren. »Wirklich?« fragte Hans. »Woher wissen Sie das denn?« Der Radfahrer kam noch näher.
»Och«, sagte er und fuhr sich durchs Haar, »ich komme mit meinem Kunibert – Kunibert ist mein Rennrad – tja, ich komme mit ihm weit herum und kenne viele Leute hier in der Umgebung, müsst ihr wissen. Da hört man halt allerlei Gerüchte, und das ist eines davon.«
Diesmal waren es Britta und Paula, die aufmerksam wurden.
»Gibt es noch mehr solche Gerüchte?« erkundigte sich Britta wissbegierig, denn ihr Spürsinn für das Ungewisse war soeben wieder erwacht. Der Rennfahrer schien zu überlegen.
»Meinst du über dieses Gebäude? Da gibt es in der Tat oft Gerüchte.«
»Ja?« stieß Paula begeistert hervor, und ihre Augen begannen zu funkeln. »Was wird denn so erzählt?« Der Mann lachte.
»Eine ganze Menge. Das Neueste, das sich herumspricht, ist beinahe lächerlich. Man glaubt, sein Geist spuke im Haus herum.«
»Wessen Geist?« fragte Conny. Die Kinder drängten sich dichter um den Fremden, der nun eindeutig im Mittelpunkt des Geschehens stand. Seine großen Augen blitzten noch stärker, als er erklärte: »Der Geist vom ›rostigen Nagel'.« Die Schüler sahen sich verdutzt an.
»Vom ›rostigen Nagel'? Hört sich ganz gut an, aber was ist denn das?« Jetzt war es der Mann, der sich wunderte. »Seid ihr nicht von hier?«
»Doch.«
»Und euch ist der ›rostige Nagel' kein Begriff?«
»Nein.«
»Dann ist es aber höchste Eisenbahn, dass ihr es erfahrt«, erläuterte der Radfahrer. »So nannten sie den Fahrradflicker, der vor einem halben Jahr gestorben ist. Und eben, wie gesagt, seit neuestem – genauer gesagt seit letzter Woche – soll sein Geist im Gebäude herumspuken. Das ist natürlich blanker Unsinn, aber die Leute mögen nun mal solche nervenkitzelnden Geschichtchen.«
»Genau wie unsere beiden Klatschtanten«, grinste Daniel, und alle schmunzelten – außer Britta und Paula natürlich, die nur den Mund schief zogen, weil sie sich ein bisschen beleidigt fühlten. Der alte Mann bemerkte ihre Verlegenheit und versuchte für sie Partei zu ergreifen. »Tröstet euch, ich mag diese Art von Klatsch auch recht gern«, sagte er schnell, »aber das ist ja nicht weiter schlimm. ›Mögen‹ heißt schließlich noch lange nicht, dass man es auch glaubt, nicht wahr?«
»Sehr richtig«, bestätigte Daniel, der schon eine neue heimtückische Bemerkung im Hinterkopf hatte, mit erhobenem Zeigefinger, »und genau darin besteht der Unterschied zwischen Ihnen und unsern beiden ehrenwerten Damen. Sie mögen die Geschichten zwar, besitzen aber dennoch soviel Vernunft, um zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden zu können, während Britta und Paula diese Fähigkeit bedauerlicherweise nicht zu den ihrigen zu zählen die Ehre haben. Hugh, ich habe gesprochen.«
Dass die beiden Mädchen diese Behauptung nicht widerstandslos akzeptierten, versteht sich von selbst, und wie der Donner auf den Blitz folgte nun eine hektische Rechtfertigung, bei der die zwei Mädchen alle möglichen Gegenbeispiele aufzählten, bis hin zu der Geschichte mit den geheimnisvollen Tönen und dem sonderbaren Verhalten der Tiere. Sie waren durch ihre Ausführungen der-art in Fahrt geraten, dass sie nicht bemerkten, wie der alte Rennfahrer sie plötzlich mit großen Augen anstarrte – oder, besser gesagt, durch sie hindurchstarrte. Bärbel musste ihnen erst einen leichten Schubs geben, um ihren Redeschwall zu stoppen. Die Stille, die darauf folgte, hatte etwas Unheimliches an sich. Vielleicht war es der merkwürdige Ausdruck im Gesicht des Fremden, vielleicht auch nur der krasse Gegensatz vom lauten Geplapper zum plötzlichen Schweigen, jedenfalls spürten alle, dass etwas in der Luft lag. Sogar Mizzi zitterte leicht, und Chico traute sich nicht einmal zu winseln.
»Was haben Sie?« fragte Conny zögernd. Der Mann schwieg eine Weile.
»Es ist eigenartig«, murmelte er schließlich, ohne sich zu bewegen.
»Was ist eigenartig?« drängte Ruedi. Der Mann hob den Kopf und sah die Kinder der Reihe nach durchdringend an. Anscheinend überlegte er, wie er die Erklärung am besten formulieren sollte, aber dann sagte er unverhofft: »Kinder, Kinder, ich glaube, wir sollten uns zusammentun. Hättet ihr etwas dagegen, wenn ich euch zu einem Drink bei mir zu Hause einlade? Ich wohne gleich auf der andern Seite des Wäldchens.« Die Klasse war perplex. Auf die dramatischste aller dramatischen Mitteilungen hatten sie sich gefasst gemacht, und was kam statt dessen? Eine Einladung zu einem Drink! Wenn das nicht komisch war! Nur Thomas, der die ganze Zeit über keinen Ton gesagt und sich nur mit verschränkten Armen und hochgezogenen Schultern im Hintergrund postiert hatte, fand diese Einladung durchaus nicht komisch. Kaum war das Wort »Drink« gefallen, drängte er sich vor und verkündete lautstark: »Angenommen!« Der Radfahrer sah den dicken, tropfenden Jungen verblüfft an.
»Sie müssen sich nicht wundern«, erklärte Ruedi, »er ist in eine Pfütze gefallen. Und daher hat er nur noch zwei Wünsche: trockene Kleider und etwas zwischen die Zähne.«
»Ich denke, das lässt sich beides einrichten«, schmunzelte der Rennfahrer, »vorausgesetzt, ihr kommt eine Weile zu mir.« Die Schüler überlegten. Es war kurz nach vier Uhr. Ein kleiner Abstecher würde schon noch drin liegen, und zudem schien ihnen dieser Herr ganz sympathisch. Warum also nicht? Die Kinder nickten sich zu.
»In Ordnung«, willigte Bärbel im Namen der Klasse ein, »vorausgesetzt, Sie verraten uns, was Sie vorhin so stutzig gemacht hat.« Der Mann runzelte die Stirn.
»Nun«, begann er langsam, »die genaueren Zusammen-hänge werde ich euch dann bei mir erklären.«
»Hat es etwas mit unseren Beobachtungen zu tun?« wollte Britta wissen.
»Eine ganze Menge«, meinte der Radfahrer. »Vielleicht ist es nur ein komischer Zufall, aber … ihr habt doch etwas von Tönen erzählt, die an eine Mundharmonika erinnerten.« Die Mädchen nickten eifrig. »Zufällig weiß ich, dass der rostige Nagel die Gewohnheit hatte, nachts ein Instrument zu spielen …«
»Mundharmonika?« bohrte Paula hoffnungsvoll. Der Mann nickte bedächtig. »Genau das.«
»So, da wären wir«, erklärte der alte Mann und stieg vom Rad. Die Schüler taten es ihm gleich, abgesehen von Thomas, der wegen seines schmerzenden Hinterteils seinen Drahtesel gar nicht erst bestiegen und den kurzen Weg hierhin zu Fuß zurückgelegt hatte. Neugierig sahen sie sich um.
Das Häuschen des alten Rennfahrers sah genauso durchschnittlich aus wie er selbst, obwohl einige Eigenheiten nicht zu übersehen waren. So zog sich ein Holzzaun, der gelb-rot-grün gestrichen war, um das ganze Grundstück, und der Briefkasten neben dem Holzgattertürchen stellte ein aus Holz geschnitztes Hundehüttchen dar, aus dessen Törchen ein schlafender Hundekopf ragte. Über dem halbrunden Tor war aber nicht der Name eines Hundes, sondern der des alten Mannes angebracht. »Sandrini« stand dort mit schwarzen Buchstaben.
Doch sonst war an dem Haus und seiner Umgebung nichts Außergewöhnliches zu bemerken; ein kleiner Gemüse-, Obst- und Blumengarten, ein Rasen, eine Birke und ein Kirschbaum schlossen das Gebäude ein, und das Häuschen selbst war stellenweise mit Efeu bewachsen. »Haben Sie diesen Briefkasten selbst gezimmert, Herr Sandrini?« wollte Bärbel wissen. Sandrini wandte sich ihr zu und zog den Mund schief.
»Es ist nicht gerade ein Meisterstück«, antwortete er schnell, und fast flehend fügte er hinzu: »Aber bitte, nennt mich nicht ›Herr‹ Sandrini! Der Herr ist im Himmel, und ich bin nur Sandy. Und wie heißt ihr eigentlich so?« Die Freunde stellten sich und die beiden Tiere vor, und Sandy prägte sich die zehn Namen so gut es ging ein, während er seine Gäste in das Haus führte.
»So, und nun wollen wir mal sehen, ob sich ein paar trockene Kleider für dich finden lassen, äh … wie war dein Name doch gleich?«
»Thomas«, erwiderte der Dicke freundlich, »aber meine Freunde nennen mich einfach Tommy.«
»Dann nenn ich dich auch so«, entschied der Mann lächelnd und wandte sich den andern zu. »Und während Tommy und ich in meinem Kleiderschrank herumstöbern, könnt ihr es euch schon um den runden Tisch gemütlich machen. Wir sind gleich zurück.« Es dauerte auch wirklich nicht lange, und die beiden erschienen wieder auf der Bildfläche. Thomas trug einen blauen Trainingsanzug, der wie angegossen saß. Er schien sehr zufrieden damit.
»Und was wünschen die Herrschaften zu trinken?« fragte Sandy, nachdem sich Thomas ebenfalls gesetzt hatte. Dabei griff der Mann nach einem winzigen Papierblock und einem noch winzigeren Bleistiftstummel und sah mit hochgezogenen Augenbrauen in die Runde, als säßen die Kameraden im teuersten Restaurant.
»Was kann man denn bestellen?« erkundigte sich Bärbel schmunzelnd. Der Kellner blickte an die Decke, als wäre es dort aufgeschrieben.
»Also, gnädiges Fräulein«, begann er, »wir haben … wir haben, nun …« Er überlegte scharf, und plötzlich sagte er entschuldigend: »Bedaure sehr, Mademoiselle, muss erst den Kühlschrank Balduin fragen. Bin gleich zurück.« Und damit verbeugte er sich leicht, trat einen Schritt zurück und verschwand in Windeseile in der Küche. Als er zurückkam, strahlte er übers ganze Gesicht und zählte mit erhobenem Haupte auf: »Wir haben zu bieten: Weinessig, frisch gepressten Zitronensaft, Milch oder Johannisbeersirup, unsere Hausspezialität, natürlich von eigenen Johannisbeeren. Vom Chef de cuisine wärmstens empfohlen. Was darf ich bringen?« Alle entschieden sich für die Hausspezialität, und für die Tiere wurde Milch mit Brotklümpchen bestellt.
»Und was darf es sonst noch sein?« fragte Sandy weiter. »Vielleicht ein paar selbstgebackene Butterplätzchen?« Bei diesem Vorschlag lief Thomas das Wasser im Mund zusammen, aber ehe er einwilligen konnte, kam Ruedi ihm – wie leider schon oft in solchen Fällen – zuvor.
»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig«, winkte er bescheiden ab, worauf der Mann mit einem Seitenblick auf das enttäuschte Gesicht von Thomas zufrieden nickte. »In Ordnung, ich bring welche.« Er verschwand zum zweiten Mal in der Küche und erschien wieder mit einem riesigen Tablett. »So«, meinte er, als alle ihr Glas hatten, »greift zu. Und dann will ich euch endlich verraten, weshalb ich euch zu mir gebeten habe.« Britta und Paula, die bis jetzt nervös auf ihrem Stuhl herumgerutscht waren, spitzten die Ohren und tranken vorsorglich einen großen Schluck Fruchtsaft – für den Fall, dass ihnen bei Sandys Erläuterungen die Spucke wegblieb. Thomas deckte sich unterdessen mit drei köstlich duftenden Bonbons ein und war mit sich und der Welt gänzlich zufrieden – das erste Mal, seit er baden gegangen war. Seine Schwärmerei für dieses herrliche Backwerk ließ denn auch nicht lange auf sich warten, obwohl er nach seinem unbarmherzigen Sturz wahrscheinlich bei allem Essbaren in Begeisterungsstürme ausgebrochen wäre.
Sandy hörte dem Jungen geduldig zu. Als er jedoch sah, dass Britta und Paula vor Neugier beinahe platzten, lenkte er das Gespräch geschickt auf das andere Thema. »Also, weshalb ich euch eingeladen habe«, begann er nachdenklich und setzte sich rittlings auf einen Stuhl, die Arme auf die Rückenlehne gestützt, »nun, wie ich euch ja bereits verraten habe, spielte der rostige Nagel häufig Mundharmonika – übrigens fast jede Nacht.«
»Meinst du, es könnte sein Geist sein, den wir am Sonntagabend gehört haben?«, erwägte Paula. Sandy winkte ab.
»Moment, Moment. Schön eines nach dem andern. Ich möchte euch erst alles der Reihe nach erzählen, bevor ihr mir eure Folgerungen kundtut, sonst kommen wir-nie vom Fleck. Nun …«, er besann sich kurz, »ihr behauptet also, vergangenen Sonntag geheimnisvolle Töne vernommen zu haben. Schön. Und heute sollen eure beiden Tiere sich auf einmal äußerst ungewöhnlich benommen haben. Auch schön. Darin würde ich als normaler Bürger weiter nichts Auffallendes sehen, wenn ich nicht zufällig eine Story kennen würde, die – wie soll ich sagen – irgendwie dazu passt. Ich meine die Story vom Geist des rostigen Nagels.« Er trank einen Schluck Johannisbeersirup und aß einen seiner selbstgebackenen Kekse. Die Kinder beugten sich über den Tisch und hörten aufmerksam zu. »Das Gerücht von seinem Geist, der ja scheinbar in der Bude herumspuken soll, geht auf Max zurück, einen alten Bekannten von mir«, fuhr Sandy fort. »Max ist ein begeisterter Spaziergänger, und so wie ich am liebsten den ganzen Tag mit meinem Kunibert durch die Gegend radeln würde, so würde er ebenso gerne tagein, tagaus wandern oder spazieren gehen. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb wir uns so gut verstehen. Nun, vor einer knappen Woche, es war, glaub ich, vergangenen Samstag, ein Tag vor eurem Erlebnis mit den geheimnisvollenTönen, da erlebte Max eine, wie er sagt, haarsträubende Geschichte. Es war schon dunkel, und er kam rein zufällig an der verlassenen Werkstatt vorbei. Da wurde er stutzig, weil er darin Licht brennen sah. Er schlich näher und spähte durch ein Fenster hinein. Tja, und da sah er ihn.«
»Wen, den rostigen Nagel?« fragte Britta gespannt. Der Alte nickte.
»Ja. Oder besser gesagt, er meinte, dessen Geist zu sehen. Schließlich ist der rostige Nagel seit gut einem halben Jahr tot.«
»Aber dann kann er ihn doch nicht gesehen haben«, meinte Ruedi kopfschüttelnd, »das ist ja lächerlich. Vielleicht war es ein Einbrecher oder …«
»Das glaubst du ja selbst nicht«, schnitt ihm Paula vorwurfsvoll das Wort ab, »immer musst du alles mit dem Verstand erklären können. Dabei sieht jeder vernünftige Mensch auf den ersten Blick, dass in dieser Lotterbude nichts zu holen ist.«
»Meinetwegen«, gab sich Ruedi geschlagen, »aber ein Gespenst war es sicherlich auch nicht, oder glaubst du das im Ernst?«
»Max behauptet es jedenfalls«, entgegnete Sandy an Brittas Stelle. »Ob ihr es glaubt oder nicht, ist euch überlassen.«
»Und du, Sandy?« fragte Ruedi. Der Mann überlegte eine Weile.
»Ich finde die Tatsachen ziemlich ungewöhnlich«, wich er der Frage aus, »zudem hat Max noch eine äußerst erstaunliche Beobachtung gemacht.«
»Was denn?« drängte Paula.
»Der rostige Nagel hatte eine auffällige Knollennase«, berichtete Sandy mit einem geheimnisvollen Ton in der Stimme, »und Max hat diese Knollennase bei der Silhouette wiedererkannt.« Eine Weile lang war es still. Sogar Ruedi, der als letzter an eine Geistergeschichte geglaubt hätte, verspürte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Dann aber schüttelte er mit einem überlegenen Lächeln den Kopf.
»So ein Unsinn. Wahrscheinlich hat sich dieser Max alles nur eingebildet.«
»Und wie erklärst du dir dann die geheimnisvollen Töne oder das Verhalten der Tiere heute Nachmittag?« unterbrach ihn Britta. Ruedi zuckte die Achseln.
»Zugegeben, das mit den Tieren ist merkwürdig«, räumte er ein, »aber gerade damit ist bewiesen, dass es unmöglich der Geist des rostigen Nagels sein kann, der da in dem Gebäude herumschleicht.« Die andern sahen ihren Kameraden überrascht an. Der schien sich seiner Sache recht sicher zu sein. »Gespenster bezeichnet man ja bekanntlich als Erscheinungen, die man nicht anfassen kann«, erklärte der Junge überzeugt. »Man kann sie zwar sehen, aber nicht bildlich festhalten. Sie sind zwar da, aber sind es doch wieder nicht. Und wie sollen jetzt Mizzi und Chico etwas riechen, das eigentlich gar nicht vorhanden ist?«
»Spielverderber«, brummte Paula, die den Einwand dummerweise ziemlich einleuchtend fand. Aber Sandy rettete die Lage.
»Dennoch ist es einfach eine sehr merkwürdige Angelegenheit«, gab er zu bedenken. »Ehrlich gesagt, möchte ich ihr gerne nachgehen. Und ich dachte mir eigentlich, dass ihr mir dabei helfen könntet.«
»Wir?« kam es wie aus einem Munde, teils überrascht, teils erfreut.
»Nun ja«, meinte der alte Mann, als er die verblüfften Gesichter seiner Gäste sah, »vielleicht müsste man es eher umkehren und sagen, dass ich gerne euch helfen würde, denn mir scheint, dass ihr bereits mittendrin seid, das Geheimnis zu lüften. Und ich habe irgendwie das Gefühl, dass wir uns ganz gut ergänzen würden.«
»Ohne Zweifel«, gab ihm Conny, ohne lange zu überlegen, recht, »wir wären garantiert ein unschlagbares Team. Was meint ihr?«
Die andern zögerten mit der Antwort. Es kam alles so überraschend, dass sie sich etwas überrumpelt fühlten – genau wie vor kurzem, als Sandy sie so unverhofft zu einem Drink eingeladen hatte. Vermutlich war es seine Spezialität, die Leute immer durcheinanderzubringen und von einer Überraschung in die andere zu stürzen, und es passte auch hervorragend zu seinem spitzbübischen Gesicht. Ob das der Grund war, weshalb ihnen dieser Rennfahrer so sympathisch erschien?
»Ich glaube fast, ich bin einverstanden«, schmunzelte Ruedi.
»Ich ebenfalls«, nickte Hans, und nach und nach schlossen sich auch die andern dieser Meinung an. Sandy strahlte zufrieden.
»Das ist ja wunderbar!« meinte er vergnügt. »Kommt Kinder, darauf trinken wir einen!« Er hob sein Glas und verkündete feierlich: »Auf eine gute Zusammenarbeit!« Die Gläser klirrten, und Sandy war somit als neues Mit-glied im Spürnasenklub aufgenommen – das elfte, wenn man die Tiere ebenfalls dazuzählte.
»So«, sagte der Mann, als alle ihre Gläser wieder abgestellt hatten – und seine Augen funkelten wie Diamanten vor Tatenlust »und jetzt machen wir uns an die Arbeit, es gibt eine Menge zu tun.« Er spuckte in die Hände und rieb sie so schnell aneinander, dass es wohl keinen gewundert hätte, wenn plötzlich ein Rauchwölklein zwischen den Handflächen aufgestiegen wäre. »Wie gedenkt ihr vorzugehen?« fragte er diplomatisch. Die Klasse war schon wieder überfragt. »Ihr habt also noch keinen Plan?« Wieder keine Reaktion. »Gut«, sagte Sandy, »ich meine natürlich: schlecht. Aber das macht nichts, schließlich habe ich schon einen Plan, und einer genügt hoffentlich.«
»Du hast einen Plan?« plapperte Britta aufgeregt.
»Plan ist vielleicht zu viel gesagt«, meinte der Alte vor-sichtig, »es ist eher ein Vorschlag. Und vielleicht klingt er etwas langweilig.«
»Was denn?« drängte Paula, die wie auf Nadeln saß.
»Also hört zu, Kinder«, begann Sandy und rutschte näher zum Tisch, »bis jetzt stehen unsere Schlussfolgerungen auf ziemlich wackligen Beweisen, und wir selbst sind ihnen gegenüber auch noch ziemlich kritisch eingestellt. Ich denke daher, dass es das beste ist, wenn wir sie noch einmal überprüfen, damit wir uns endlich ein etwas klareres Bild von der ganzen Sache machen können. Sonst geschieht uns am Ende noch dasselbe wie dem törichten Mann in Matthäus 7, Vers 26 und 27. Und das wollen wir nun wirklich nicht riskieren, oder?«
»Nein, nein, natürlich nicht«, nickten die Freunde eifrig, obwohl sie keine Ahnung hatten, wovon die Rede war. Aber sie wollten sich schließlich nicht blamieren, und dann noch vor einem alten Mann …
»Und wie stellst du dir diese Überprüfung vor?« kam Bärbel geschickt aufs Thema zurück.