Gefahr im Zeltlager - Damaris Kofmehl - E-Book

Gefahr im Zeltlager E-Book

Damaris Kofmehl

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Beschreibung

Roman und Jörg sind eifrig dabei, die alte Fahrradwerkstatt bei Dottikon wieder instand zu setzen. Da taucht auf einmal ein mysteriöser Motorradfahrer auf. Jörg ist von seinem Erscheinen total geschockt. Warum nur? Und warum stellt der Motorradfahrer dem Jungen nach? Als kurz darauf die beiden Freunde mit ins Klassenlager dürfen, überschlagen sich die Ereignisse. Ist Jörg tatsächlich in einen Rauschgiftschmuggel verwickelt? Oder versucht jemand, ihm etwas anzuhängen? Ein Tauziehen um Jörg beginnt. Wird sich die Freundschaft der Klasse bewähren, oder wird ihr Misstrauen ihn in die Hände der Gangster treiben?

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Gefahr im Zeltlager

Die Abenteuerklasse – Band 4

Damaris Kofmehl

Impressum

© 2016 Folgen Verlag, Bruchsal

Autor: Damaris Kofmehl

ISBN: 978-3-944187-62-4

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

Dieses eBook darf ausschließlich auf einem Endgerät (Computer, eReader, etc.) des jeweiligen Kunden verwendet werden, der das eBook selbst, im von uns autorisierten eBook-Shop, gekauft hat. Jede Weitergabe an andere Personen entspricht nicht mehr der von uns erlaubten Nutzung, ist strafbar und schadet dem Autor und dem Verlagswesen.

Inhalt

Ein merkwürdiger Kunde

Neuigkeiten

Conny ist nicht zu bremsen

Geheime Besprechung

Vorsicht: Frisch gestrichen!

Das verhängnisvolle Paket

Ein Rad kommt selten allein

Das dunkle Auto

Jörg steckt in der Klemme

Schlechte Aussichten

Mikes Plan

Im Zeltlager

Das Gift beginnt zu wirken

Die Drohung

Sandy setzt sich ein

Unter Zeitdruck

Die Entscheidung

Der Junge mit dem Skateboard

Zwei neue Rätsel

Zu spät!

Eine unangenehme Situation

Der Streit

Spürnasen in Aktion

Ein neuer Hoffnungsschimmer

Was ist in Zimmer 17 los?

Eine lange Nacht

In letzter Sekunde

Ein merkwürdiger Kunde

Er stand in der Türöffnung und sah sich suchend um. Ein kränkliches Husten schüttelte seine Brust, als er einen tiefen Zug von seiner Zigarette genommen und den Rauch durch Mund und Nase ausgeatmet hatte. Er hielt sich die zittrige Hand vor den Mund und hustete in die hohle Handfläche hinein.

Die blonden, langen Locken, durch ein rotes Stirnband einigermaßen zusammengehalten, schüttelten sich mit, die Fransen seiner schwarzen Lederjacke ebenfalls.

Er richtete sich wieder auf und ließ seine wässrigen Augen über den düsteren Raum schweifen.

Auf verstaubten, wurmstichigen Regalen stapelte sich allerlei Werkzeug, und Schrauben und Muttern in allen Größen und Formen waren bunt durcheinandergestreut auf den Brettern verteilt. Am Boden lagen Fahrradschläuche, Luftpumpen, verbogene Räder sowie Ersatzteile jeglicher Art, alles mit einer Schmutzschicht überzogen, die sich wohl über Jahre daran festgesetzt hatte, und ganz hinten in einer Ecke lehnte ein verrostetes Fahrradgestell an der Wand, über und über mit Spinnweben behangen.

Der Mann schlug mit der Faust gegen den hölzernen Türrahmen.

»Hallo? Niemand da?« Keiner meldete sich. »Hallo?« Er polterte zum zweiten Mal gegen den Rahmen, diesmal etwas energischer, jedoch ohne Erfolg.

»Mensch, was ist denn das für eine Bude hier, ich hab's eilig!«

Eben wollte er nach draußen gehen und nachsehen, ob vielleicht dort jemand aufzutreiben war, als es im Obergeschoß zu rumoren begann und kurz darauf eine Tür geöffnet wurde. Sie quietschte laut und fiel stöhnend ins Schloss zurück.

»Wer ist da?« ertönte eine klare Stimme. »Bist du es, Conny?«

»Na endlich«, brummte der Mann, »wurde auch langsam Zeit!« Ein schlanker Bursche von vielleicht achtzehn Jahren kam die steinerne Treppe herunter. Er trug blaue Latzhosen und ein rot-blau kariertes Hemd, das aus der Hose herausguckte und – genau wie die Hose – mit weißer Farbe verschmiert war. Unter einem großen Strohhut schauten zwei schwarze Augen hervor und sahen den fremden Mann fragend an.

»Sie wünschen?«

Der Fremde nahm einen Zug von seiner Zigarette.

»Ich bin auf der Durchreise«, sagte er. »An meinem Motorrad ist was kaputt.«

»Das tut mir leid für Sie«, erwiderte der Junge und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Ich hab's eilig, Mann!« erklärte der andere ungeduldig. »Vor fast einer Stunde sollte ich schon in Zürich sein. Also reparier' mir den Karren bitte, ja?«

Der Junge lächelte.

»Sie müssen entschuldigen, aber wir sind hier nur für Fahrräder ausgerüstet.«

»Ist ja toll!« nickte der Fremde verärgert. »Und wo gibt es in diesem Kaff eine Werkstatt für Motorräder?« »In Wohlen gibt es eine«, informierte ihn der Junge. »Sie fahren am besten immer die Hauptstraße lang.«

»Fahren ist gut!« lachte der Mann spöttisch auf. »Ich hab' bloß das winzig kleine Problem, dass mein wundervolles Motorrad seit Dottikon keinen Mucks mehr von sich gibt und mir beim Schieben schier die Arme abgefallen sind. Und jetzt willst du mir weismachen, ich soll nach Wohlen fahren. Wirklich gut, der Scherz! Scheust dich wohl vor der Arbeit, was?«

»Im Gegenteil!« widersprach der Junge und schob sich mit dem rechten Zeigefinger locker den Strohhut etwas aus der Stirn. »Wie Sie vielleicht bemerkt haben dürften, bin ich eigentlich damit beschäftigt, eine Wand anzustreichen.« Der Fremde tat einen tiefen Zug, hustete unmittelbar darauf kräftig und sagte mit ernster Miene:

»Hör mal gut zu: Ich hab' keine Lust, mich mit dir herumzustreiten, und auch nicht, noch mehr Zeit zu verlieren. Du wirst doch wohl das Werkzeug auftreiben können, um ein Motorrad zu reparieren – oder wofür hat dein Chef dich eingestellt, he?«

»Es gibt keinen Chef, entgegnete der junge Mann mit dem Strohhut gelassen, »das Haus gehört mir.«

»Dir?« Seinem Gegenüber fiel die Kinnlade hinunter. »Du willst doch nicht etwa behaupten …«

»Genauer gesagt, gehört es uns beiden, meinem Freund Jörg und meiner Wenigkeit. Wir haben es dem ehemaligen Besitzer vor einigen Wochen abgekauft und sind nun dabei, alles zu renovieren, um dann die Werkstatt neu zu eröffnen. Tja, und im Augenblick streichen wir gerade die Wohnung.« Der Fremde führte den Zigarettenstummel nervös an seinen Mund und sog so stark daran, dass sich in seinen Wangen zwei große Gruben bildeten, die sein bleiches, schmales Gesicht noch knöcheriger erscheinen ließen, als es ohnehin schon war.

»Mann, ich hab's eilig!« sagte er wieder und guckte den jungen Hausbesitzer nun fast flehend an. »Willst du dir das Ding nicht wenigstens mal ansehen? Ich zahl' dir das Doppelte, wenn's sein muss!« Der Bursche zögerte einen Augenblick und schaute abwägend an seiner farbbeschmierten Kleidung herunter. Seufzend nickte er dann. »O.k., ich seh's mir an.« Er schob den Fremden sachte beiseite und trat ins Freie.

Mitten auf dem breiten Kiesweg, der das Gebäude mit der Hauptstraße verband, stand die Maschine. Sie sah noch ziemlich neu aus und war auf Hochglanz poliert.

»Tolles Ding!« meinte der Junge. »Hat bestimmt ein kleines Vermögen gekostet.«

»Das kann man wohl sagen!« bestätigte der Mann stolz, und seine Stimme klang zum ersten Mal nicht aggressiv. Gemeinsam schoben sie das Motorrad in die Werkstatt, und der Junge machte sich an die Arbeit.

Es war keine leichte Aufgabe, den Fehler zu finden – geschweige denn, ihn zu beheben. Denn erstens verstand sich der junge Mechaniker wirklich nicht gerade wie ein Experte auf Motorräder, und zweitens fehlte es an geeignetem Werkzeug, und es dauerte gute zehn Minuten, bis der Junge aus dem Chaos in der Werkstatt das nötige behelfsmäßige Material zusammengetragen hatte und mit der Reparatur beginnen konnte.

Der Fremde zündete sich eine neue Zigarette an.

»Wie lange wird es dauern?« fragte er den Jungen. Der zuckte die Achseln.

»Mal sehen«, meinte er, während er niederkniete und sich am Motorgehäuse zu schaffen machte, »wenn's gut geht, zwanzig Minuten.« Der Mann warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Zwanzig Minuten?« wiederholte er in einem Ton, der seiner Unzufriedenheit deutlich Ausdruck gab. »So lange kann ich nicht warten. Ich geb' dir eine Viertelstunde. Dann muss ich weiter.« Der Junge mit dem Strohhut ließ sich nicht beeindrucken.

»Sie werden sich wohl gedulden müssen«, sagte er einfach. »Ich kann Ihnen nichts versprechen.« Doch der Fremde war von seiner Forderung nicht abzubringen.

»Eine Viertelstunde«, beharrte er, »eine Viertelstunde und keine Minute länger, o.k., Big Boss?« Der Mechaniker drehte den Kopf, stützte sich auf die Knie und erhob sich langsam, bis er dem Fremden Auge in Auge gegenüberstand. Dann erklärte er ihm höflich, aber bestimmt: »Erstens ist meine Name Roman und nicht Big Boss, und zweitens hab' ich auch nur zwei Hände. Wenn Sie also unbedingt wünschen, dass ihr Motorrad in exakt einer Viertelstunde wieder zu Ihren Diensten steht, müssen Sie schon behilflich sein, o.k., mein Herr?« Das wirkte. Der Mann führte mit zittriger Hand die Zigarette an den Mund und blies den Rauch schräg in die Luft. Dann begab er sich hustend zum Eingang und lehnte sich an einen Türpfosten. Sein Blick verriet zwar nach wie vor, was innerlich in ihm vorging, aber wenigstens verzichtete er nun auf weitere Bemerkungen und ließ den Burschen in Ruhe arbeiten.

Nach einer langen, fast peinlichen Stille, die anfangs keiner zu brechen wagte, versuchte der Junge mit dem Strohhut, ein kleines Gespräch anzufangen. Vorsichtig fragte er den Mann, was er denn in Zürich Wichtiges zu erledigen habe. Aber darüber wollte der ihm offensichtlich keine Auskunft geben – jedenfalls klang seine Antwort eher vorwurfsvoll und ausweichend, als er einsilbig sagte: »Geschäftlich.«

»Ach so«, nickte der Mechaniker, als sei er nun viel klüger geworden. Er unterließ es jedoch, auf diesem heiklen Gebiet weiter zu forschen, denn er wollte den Mann nicht unnötig reizen.

Und dann geschah es.

Roman erkundigte sich, ob er von weit her gekommen sei, und als eine Antwort ausblieb, wiederholte er die Frage.

Doch als der Fremde auch diesmal nicht reagierte, wandte Roman sich ihm zu – und traute seinen Augen kaum.

Die Zigarette schlaff im linken Mundwinkel, stand der Mann wie angewurzelt da und starrte zur Treppe hinüber. Sein Gesicht war angespannt; zwischen seinen Augenbrauen hatte sich ein kleines Grübchen gebildet, und die Augen waren zu einem schmalen Spalt zusammengezogen, als würden sie von der Sonne geblendet oder als müssten sie eine unscharfe Schrift entziffern.

Der Junge runzelte die Stirn. Er folgte dem Blick des Fremden – und zuckte im selben Augenblick kaum merklich zusammen.

Auf der Treppe stand Jörg.

Er war bleich wie ein Leintuch. Seine Hände wirkten unnatürlich verkrampft. Seine Lippen bebten. Die Augen waren weit aufgerissen und starrten wie hypnotisiert auf den Mann in der Lederjacke.

Es war unheimlich still, so still, dass man ein Blatt hätte zu Boden fallen hören. Dann räusperte sich der Fremde. »Ist das der Junge, von dem du mir erzählt hast?« fragte er, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, und deutete mit einer Kopfbewegung zu Roman.

»Wie?« fragte Roman, als habe er nicht gleich verstanden. »Sie meinen den zweiten Hausbesitzer?« Er legte das Werkzeug zur Seite, erhob sich und ging ein paar Schritte auf Jörg zu. »Ganz recht. Das ist er.« Und zu seinem Freund gewandt, sagte er: »Ich komme gleich wieder, Jörg. Mach du nur schon ohne mich weiter. Es dauert nicht mehr lange.« Der Junge rührte sich noch immer nicht von der Stelle. Er fixierte bloß den Mann im Türrahmen und schien die Bemerkung seines Freundes nicht einmal wahrgenommen zu haben. Roman sah ihn besorgt an.

»Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« Jörg gab keine Antwort, sondern drehte sich statt dessen ruckartig um und verschwand lautlos im oberen Stockwerk.

Die Szene hatte keine dreißig Sekunden gedauert, und im Prinzip war nichts weiter geschehen, als dass die beiden sich wie erstarrt angesehen hatten – aber Roman war es kaum mehr möglich, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Die gespenstigen Gesichtszüge seines Freundes hatten sich ihm eingeprägt, als seien sie in Stein gehauen.

Dem Fremden ging es offensichtlich nicht anders. Noch Sekunden später verharrte er in derselben Haltung und schaute unverwandt auf die Stelle, an der noch vor wenigen Augenblicken Jörg gestanden hatte. In seinem linken Mundwinkel klebte noch immer die Zigarette, die wie ein glimmender Docht vor sich hin qualmte und sich in Asche zersetzte.

Erst nach einer geraumen Weile fand der Mann seine Sprache wieder.

»Nicht gerade gesprächig, der Bengel, was?«

»Sie waren es ja auch nicht«, verteidigte der Mechaniker seinen Freund trocken.

»Trotzdem«, meinte der andere, und in seiner Stimme lag auf einmal etwas Rätselhaftes, »einen Augenblick lang hab' ich beinahe geglaubt, der kann gar nicht sprechen. Merkwürdig, nicht wahr?« Der Junge drehte sich abrupt um und sah den Mann durchdringend an. Der sog mit unschuldiger Miene an seiner Zigarette.

»Ein absurder Gedanke«, lächelte der Fremde dann kopf-schüttelnd, »ich weiß schon. Es ist mir ja auch bloß so rausgerutscht.« Der Mechaniker unterließ eine Bemerkung und kehrte seinem Kunden wieder den Rücken zu. »Ist wohl einfach mit dem linken Bein aufgestanden«, schätzte der Mann, und als seine Vermutung nicht bestätigt wurde, fügte er wie beiläufig hinzu: »Oder ist er auch sonst so wortkarg?« Seine Frage blieb auch diesmal unbeantwortet. Roman wischte sich lediglich die schmutzigen Hände an einem ebenso schmutzigen Lappen ab und trat auf den Mann zu.

»Ich kriege zwanzig Franken«, sagte er und streckte ihm die Hand hin.

»Schon repariert?« zweifelte der andere. »Davon möchte ich mich lieber selbst überzeugen.«

»Erst krieg' ich mein Geld«, bestimmte der Mechaniker und wartete geduldig, bis ihm der Mann einen Geldschein gereicht hatte. Gemeinsam schoben sie dann die Maschine ins Freie. Der Fremde schwang sich auf den gepolsterten Sitz und gab Gas.

»Scheint tatsächlich zu laufen«, stellte er befriedigt fest und setzte sich den Helm auf. Bevor er aber endgültig wegfuhr, lächelte er dem Jungen noch mal geheimnisvoll zu.

»Wirklich ein interessantes Bürschchen, dein Freund. Bestell ihm einen schönen Gruß von mir und sag ihm, das nächste Mal darf er ungeniert guten Tag sagen!« Roman sah ihn ausdruckslos an.

»Ich werd's ausrichten«, sagte er einfach, doch dann fügte er hinzu: »Aber es wird wohl nicht viel nützen.« Der Mann zeigte sich überrascht.

»Wieso? Ist er etwa im Ernst …« Er setzte ein verlegenes Lächeln auf, »… ich meine, ist er tatsächlich so was wie … stumm?« Für einen kurzen Augenblick entstand eine Stille, in der keiner den Gesichtsausdruck des andern zu deuten vermochte. Der Junge mit dem Strohhut nickte schließlich kurz und wandte sich ohne jede Verabschiedung dem Haus zu.

»Als ob er das nicht gewusst hätte!« murmelte er nur.

Neuigkeiten

»Gebt mir sofort meine Wolle zurück!« Bärbel sah Hans und Daniel, die am anderen Ende des Klassenzimmers standen, verärgert an. Doch die grinsten nur und machten mit ihrer Beschäftigung weiter, während die andern zuguckten und sich köstlich amüsierten.

Es war Donnerstag, kurz vor zwei, und wie üblich herrschte eine vergnügte Stimmung. Hans hielt einen blauen Wollknäuel in der Hand, kauerte sich nieder und zielte. In der nächsten Sekunde sauste der Knäuel quer unter den Schulbänken hindurch, natürlich einen langen Wollfaden hinter sich herziehend, und landete direkt in Danis Pranke, der das Bündel flink ein paar Mal um die Tischfläche wickelte, dann um einen Stuhl, und schließlich den auf Faustgröße geschrumpften Wollknäuel seinem Freund zurückwarf. Bärbel stand dicht daneben und war voll damit beschäftigt, den durchs ganze Zimmer verspannten Faden wieder aufzuwickeln. Das allerdings erforderte äußerste Geduld, denn die beiden Jungen hatten den Knäuel an den unmöglichsten Stellen hindurchgezogen, so dass das Gebilde je länger, je mehr einem riesigen Spinnennetz wie aus einem Sciencefiction-Film glich. Bärbel war zwar dabei, das kunstvolle Netz von hinten aufzulösen, aber diese Entwirrung dauerte seine Zeit, und zudem hatten Hans und Daniel über einen halben Knäuel Vorsprung!

Als der Wollknäuel vollständig abgewickelt war, befestigten die Jungen das Ende sorgfältig an der Tür zum Klassenzimmer, und zwar so straff, dass sie sich von außen nicht mehr ohne Gewaltanwendung öffnen ließ – es sei denn, der Faden würde vorher reißen.

Aber vorläufig wirkte die Wolle noch ziemlich strapazierfähig, und alle waren natürlich gespannt, was geschehen würde.

Beim Schrillen der Glocke huschten sie – mit Ausnahme von Bärbel – schnell auf ihre Plätze und fixierten neugierig den Wollfaden.

Eine halbe Minute später ging die Türklinke hinunter, beim ersten Mal ganz normal, beim zweiten Mal langsam und vorsichtig, aber weiter geschah nichts.

Der Faden riss nicht, und Gerber schimpfte nicht. Alles war ruhig, nichts deutete darauf hin, dass hier irgend etwas Ungewöhnliches vorgefallen war – abgesehen davon, dass die Schüler sich vielsagende Blicke zuwarfen und sich beherrschen mussten, um nicht loszulachen.

Die Türklinke kehrte in ihre Ausgangsposition zurück und rührte sich nicht mehr.

Die Schüler lauschten angespannt. Zum dritten Mal ging die Klinke hinunter, die Tür öffnete sich sogar einen Spalt, aber natürlich längst nicht so weit, dass sich jemand hätte hindurchzwängen können.

»Bin ja gespannt, was der jetzt unternimmt!« flüsterte Britta, ohne die Türklinke auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen.

Die Überraschung war perfekt: Plötzlich drängte sich eine Hand mit einer Schere durch den schmalen Spalt, trennte mit einer zielsicheren Bewegung den straffen Faden durch, und Gerber erschien triumphierend auf der Bildfläche.

»Guten Tag«, begrüßte er die kleine Schar munter, »darf man vielleicht erfahren, was das geben soll, wenn es fertig ist?«

»Einen Pullover für meinen Bruder!« ertönte es prompt aus der hintersten Bankreihe, und Bärbels Kopf tauchte über der Tischplatte auf. »Wenn Sie gestatten, würde ich den Faden gerne zu Ende entwirren, es sind nur noch knappe achtzig Meter.« Und schon verschwand das Mädchen wieder unter dem Tisch und kroch weiter der Schnur nach.

Der Lehrer blickte ihr verblüfft nach und schüttelte den Kopf.

»Wenn ich nicht genau wüsste, dass das hier ein Schulzimmer ist, würde ich es für eine Irrenanstalt halten!« Er sah die Schüler bittend an.

»Weshalb könnt ihr nicht wenigstens ab und zu auf eure Streiche verzichten? Oder sollen wir einmal in der Woche einen Tag des allgemeinen Waffenstillstandes einlegen?« Die Klasse zuckte unschuldig die Achseln.

»Was halten Sie von Sonntag?« kam es aus einer Ecke, und alle mussten sich das Lachen verkneifen. Der Lehrer wartete geduldig, bis wieder Ruhe bei den zehn Schülern eingekehrt war.

»Ich sehe, es hat keinen Zweck, darüber zu diskutieren. Ihr wollt meinen Standpunkt ja ohnehin nicht einsehen. Aber tut mir wenigstens den Gefallen und haltet euch bis zum Klassenlager etwas zurück, ja?« Ausgerechnet das Klassen-lager ins Spiel zu bringen, war wohl der größte Fehler, der ihm in dieser Situation hatte unterlaufen können! Die Schüler wussten schon lange, dass sie im Oktober eine Woche lang unterwegs sein würden, aber außer dem genauen Datum war ihnen weder Reiseziel noch Unterkunft bekannt, und das war für eine abenteuerlustige Klasse nahezu unerträglich! Jede erdenkliche Gelegenheit, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, wurde voll ausgenutzt – jedoch immer ohne Erfolg. Gerber hatte ihnen lediglich eingeschärft, ihre Fahrräder müssten in gutem Zustand sein, aber das war auch alles, was er ihnen preisgab.

»Den Rest erfahrt ihr spätestens im Lager«, schmunzelte er jedes Mal geheimnisvoll, wenn er wieder einem Angriff seiner Schüler erfolgreich widerstanden hatte. Und um die Angelegenheit noch spannender zu gestalten, als sie es ohnehin schon war, fügte er stets vielversprechend hinzu, sie sollten sich auf alles gefasst machen!

Natürlich saßen die Schüler wie auf Nadeln und wussten kaum, wie sie die eineinhalb Wochen bis zum Lager heil überstehen sollten! Vor allem Britta und Paula, die beiden Klatsch- und Dramatisierungskünstlerinnen, litten unter diesem Geheimnis und setzten alles daran, es endlich zu lüften. Und dazu schien ihnen jetzt der richtige Augenblick gekommen zu sein.

Kaum hatte nämlich Gerber das sagenumwobene Wort ausgesprochen, schnellte Brittas Finger in die Höhe, und mit unschuldiger Miene säuselte sie:

»Wir könnten unsere Streiche bestimmt ein bisschen ein-schränken, wenn Sie uns etwas mehr über das Lager erzählen, Herr Gerber!« Die Schüler bekräftigten Brittas zuvorkommenden Vorschlag mit heftigem Kopfnicken. »Aha«, meinte der Lehrer und schmunzelte vielsagend. »So habt ihr euch das also gedacht! Eine kleine Erpressung, wenn ich euch recht verstehe.« Ein Murmeln ging durch die Reihen. Die Schüler flüsterten halblaut durcheinander.

»Nun«, suchte Paula nach einem überzeugenden Argument, »Sie müssen verstehen – diese ewige Geheimnistuerei wirkt sich halt nicht gerade sehr konzentrationsfördernd aus!« Und mit einem unschuldigen Blick fügte sie hinzu: »Meinen Sie nicht auch, Sie haben uns schon lange genug auf die Folter gespannt?«

Gerber verschränkte die Arme und schien offensichtlich zu überlegen, was er darauf Gescheites erwidern könnte. Schließlich seufzte er schicksalsergeben und sagte entgegen jeder Erwartung mit betontem Ernst:

»Tja. Ich glaube, da habt ihr ausnahmsweise einmal recht.« Die Schüler trauten ihren Ohren kaum! War das wieder einer von seinen faulen Tricks, oder hatte er tatsächlich seine Meinung geändert? Erwartungsvoll blickten sie den Lehrer an und hofften auf eine Erklärung. Die blieb nicht lange aus.

»Um es kurz zu machen«, sagte Gerber nach einer Gedankenpause und räusperte sich, »ich hätte da ein kleines organisatorisches Problem mit euch zu besprechen, oder besser gesagt …« Er ließ seinen Blick über die unruhige Schülerschar schweifen und wandte sich dann Conny zu. »Am besten frage ich dich gleich selber. Du kennst seinen Terminkalender wohl am ehesten.« Jetzt war die Verblüffung perfekt. Einen Moment lang starrte Conny ihn an, als hätte er sie soeben zum Kaiser von China ernannt, und etwas verwirrt fragte sie zurück: »Bitte, was haben sie gemeint?« Gerber schmunzelte.

»Bloß keine Panik!« beruhigte er das Mädchen. »Ich wollte dich nur fragen, ob dein Freund einen Job übernehmen würde, das ist alles.« Connys Augen wurden immer größer.

»Sie meinen aber nicht etwa Roman?« Der Lehrer nickte eifrig. »Doch, natürlich, wen denn sonst?« entgegnete er mit einer Selbstverständlichkeit, dass sich Connys Gesichtsfarbe verdächtig ins Rötliche steigerte und ein reges Geflüster durch die Klasse ging. Doch Gerber beachtete es nicht und fuhr nachdenklich fort: »Ich bin nämlich auf der dringenden Suche nach jemandem, der Auto fahren kann. Roman hat doch den Führerschein, nicht wahr?« »Ja, aber …«

»Und Zeit und Lust hätte er bestimmt auch!«

»Aber wofür denn?« wollte Conny wissen. Der Lehrer stutzte.

»Na eben, um mit ins Klassenlager zu kommen!« Jetzt konnten die Schüler nicht mehr an sich halten.

»Roman soll mit ins Klassenlager?« kam es von allen Seiten, und Begeisterung spiegelte sich auf den jungen Gesichtern. »Ist das Ihr Ernst?«

»Aber sicher!« bestätigte der Lehrer. »Sofern er noch nichts anderes geplant hat, wäre ich ihm sogar sehr dankbar. Ohne Chauffeur werden wir wohl schwerlich auskommen, und mein Kollege hat kurzfristig abgesagt.« Die Klasse wurde immer aufgeregter. Das war nun wirklich eine umwerfende Neuigkeit für einen gewöhnlichen Donnerstag Nachmittag!

Sie alle konnten Roman gut leiden. Seit er zusammen mit Jörg in die alte Abbruchbude bei Dottikon eingezogen war, radelten sie fast täglich dorthin, um ein bisschen Zeit mit ihm zu verbringen – und wenn sie auch noch so viele Hausaufgaben zu erledigen hatten!

Im Augenblick lief in dem alten Haus zwar alles drunter und drüber, weil die beiden Burschen schwer damit zu tun hatten, es wieder in einen bewohnbaren Zustand zu versetzen, aber das machte die Besuche bei ihnen um so interessanter – vor allem, sobald es darum ging, sich selber gestalterisch und erfinderisch an der Sache zu beteiligen.

Eines war jedenfalls klar: Wenn Roman mit ins Klassenlager kam, würde es bestimmt eine unvergessliche Woche werden! Darüber waren sich die Schüler einig.

Zur selben Zeit fand rund zwanzig Kilometer entfernt ein ungewöhnliches Treffen statt. Auf einer stattlichen Motorjacht in einem der zahlreichen Bootshäfen der Stadt Zürich saßen sich zwei sehr verschiedene Herren gegenüber. Der eine, vermutlich der Besitzer des Schiffes, war für seinen Umfang eher zu klein geraten und wirkte in jeder Hinsicht etwas unproportioniert, ungefähr so, wie ein in die Breite verzerrtes Spiegelbild eines gewölbten Spiegels. Krebsrot glänzte sein molliges Gesicht – ob von Natur aus oder infolge eines Sonnenbrandes, sei dahingestellt, jedenfalls hob es sich scharf gegen das hellgraue Haar und die weiße Kleidung ab und lenkte daher schon von weitem die Aufmerksamkeit auf sich. Doch noch viel mehr musste man sich wohl über den zweiten Mann – oder kurzum über seine Anwesenheit – wundern. Jung, zwar nicht gerade groß, aber muskulös, passte er nämlich ganz und gar nicht zu seinem Gastgeber. Außerdem – mit seinen engen Jeans, dem schwarzen, lässig hochgekrempelten und vorne weit geöffneten Hemd und der schwarzen Sonnenbrille, die er, wie es sich gehört, an einem leuchtend gelben Band um den Hals hängen hatte, hätte man ihn mit Sicherheit eher in einer Disco oder in einem Spielsalon vermutet als auf einer Luxusjacht.

Aber das schien ihn nicht sonderlich zu stören. Seelenruhig biss er auf seinem Kaugummi herum, die Beine übereinandergeschlagen und die Füße weit von sich gestreckt, die Arme auf der Brust gekreuzt, den Blick auf das nahegelegene Hafenrestaurant gerichtet – als könnte ihn nichts in der Welt dazu bringen, diese bequeme Stellung zu ändern.

Der ältere Herr dagegen verhielt sich alles andere als gelassen. Ständig sah er auf die Uhr, und immer wieder erhob er sich von seinem Sitz und ging nervös hin und her. Manchmal suchte er mit einem flüchtigen Blick das Gelände ab, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und ließ sich dann wieder für eine kleine Weile auf seinem Stuhl nieder. Die betonte Gleichgültigkeit des jungen Mannes steigerte seine Unruhe nur noch mehr.

»Es ist immer dasselbe mit diesen Kerlen! Wenn man sie nicht bestellt hat, tauchen sie in den ungünstigsten Momenten auf, und wenn man sie bestellt hat, lassen sie einen warten.« Er sah den andern, der auf diese Feststellung hin kaum merklich die Mundwinkel verzog, gereizt an. »Und du sitz nicht so faul herum!« befahl er verärgert. »Und deinen dämlichen Kaugummi kannst du auch gleich über Bord werfen. Er stört mich.«

»O.k., o.k.«, erwiderte der Angesprochene gedehnt, wobei er sich einigermaßen aufrecht hinsetzte und den Kau-gummi über die Reling spuckte. »Sonst noch einen Wunsch?« Er bekam keine Antwort. Statt dessen fluchte der ältere Herr leise vor sich hin. Er war furchtbar aufgebracht.

»Eine Stunde«, schimpfte er, »eine volle Stunde warten wir jetzt schon. Das wird Folgen haben, Bürschchen, ich sag's dir.« Er warf wohl zum zwanzigsten Mal einen Blick auf seine goldene Armbanduhr. Eben wollte er weiterwettern, als Motorengeräusch an sein Ohr drang. Er spähte in Richtung Parkplatz.

Ein Motorradfahrer kam mit hoher Geschwindigkeit an-gebraust, bremste scharf und brachte das schwere Fahrzeug kurz vor der Böschung zum Stillstand.

»Na, endlich!” brummte der kleine, rundliche Herr und sah mit verschränkten Armen und strenger Miene dem Mann dabei zu, wie er den Helm abnahm und seine blonde Mähne schüttelte. »Wurde langsam Zeit!« Als der Motorradfahrer in seine Richtung schaute, gab er ihm mit einer energischen Kopfbewegung zu verstehen, er solle sich beeilen.

Kaum befand sich der Nachzügler an Bord, machte man die Leinen los und fuhr mit vollem Tempo aus dem Hafen hinaus.

Erst, als sie in der Mitte des Sees angelangt waren, stoppte der ältere Herr die Motoren und hieß seine beiden Gäste in der Kajüte Platz nehmen. Er war noch immer ziemlich schlecht gelaunt, und der lange Blonde konnte sich an den fünf Fingern abzählen, dass ihm jetzt eine ordentliche Moralpredigt drohte. Doch zu seinem Erstaunen wurde seine Verspätung lediglich mit einem scharfen Blick und der harten Verwarnung abgetan, das nächste Mal könne er sich nach einem andern Job umsehen – und damit hatte es sich. Und bevor der Motorradfahrer wusste, wie ihm geschah, fragte sein Auftraggeber bereits: »Orangensaft, Mineralwasser, Cola?« und stellte gleichzeitig drei Gläser auf den Tisch.

»Cola«, sagte der mit der Sonnenbrille, ohne lange zu überlegen, »aber das Glas dürfen Sie gerne behalten.«

»Und du?«

»Mineralwasser«, entgegnete der andere. Der kleine dicke Herr brachte das Gewünschte und setzte sich den beiden gegenüber.

»Kommen wir zur Sache«, hob er an und runzelte die Stirn, »Ihr kennt Carlos, nehme ich an.« Er sah von einem zum anderen und blickte auf einmal ziemlich düster drein. »Sie haben ihn geschnappt.« Die beiden jungen Männer verzogen keine Miene.

»Wann?«

»Vorgestern«, sagte der kleine Dicke, »an der deutschen Grenze. Der Trottel hatte einen zu viel gekippt. Da haben sie ihn und den Wagen durchsucht.«

»Wird er reden?«

»Das ist nicht das Problem. Was weiß er schon! Aber …« Er machte eine kurze Pause, um zu unterstreichen, welche Bedeutung dem beizumessen war, was er jetzt vorbringen würde.

»Das Problem ist«, erklärte er, indem er die beiden jungen Männer konzentriert ansah, »wir brauchen Ersatz – und zwar dringend.« Erst jetzt begannen die Zuhörer, sich betroffen zu fühlen. Anscheinend ging sie das Ganze doch etwas an!

Der Boy mit der Sonnenbrille, der bis jetzt lässig an der Cola-Flasche genippt hatte, stellte sie ruckartig auf den Tisch.

»Sagen Sie bloß nicht, dass ich … dass wir ihn jetzt vertreten sollen.« Der ältere Mann winkte ab.

»Nein, das nicht gerade. Ihr sollt mir nur einen Neuen auftreiben. Das ist alles.« Jetzt fiel den jungen Männern endgültig die Kinnlade hinunter. Zum ersten Mal, seitdem sie sich an Bord des Schiffes befanden, sahen sie sich länger als drei Sekunden direkt ins Gesicht.

»Sie machen Witze«, sagte der Blonde endlich und deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf sein Gegenüber. »Weshalb ausgerechnet mit dem? Ich meine … wir kennen uns ja nicht mal.«

»Oh, dem lässt sich leicht abhelfen«, meinte der kleine Dicke, »darf ich bekannt machen: Oskar, Mike. Ich hoffe, ihr werdet euch vertragen. Nun zu den Einzelheiten …«

»Just a moment, please«, fuhr ihm der mit der Cola, der mit »Oskar« vorgestellt worden war, ins Wort. »Dürfte ich vielleicht auch mal was piepen? Wenn wir diese Aufgabe schon zu zweit anpacken müssen, wer von uns beiden übernimmt dann so was Ähnliches wie …«

. wie die Verantwortung?« Ein mitleidiges Lächeln huschte über das krebsrote Gesicht. »Aber meine Herren, wir sind hier doch nicht im Kaninchenzüchterverein! Ich bin überzeugt, dieses belanglose Problem wird sich von ganz alleine regeln.« Und wie nebensächlich fügte er hinzu: »Zudem … ein bisschen Konkurrenzdenken hat noch niemandem geschadet, nicht wahr?«

Einen kurzen Moment starrten sich Mike und Oskar an wie zwei hungrige Raubtiere, die beim Anschleichen auf ihre Beute einen Rivalen gesichtet haben und ihn nun angespannt fixieren – stets darauf gefasst, bei der kleinsten verdächtigen Bewegung anzugreifen.

Doch plötzlich hellte sich Oskars Gesicht auf. Ohne Mike aus den Augen zu lassen, meinte er überzeugt: »Aber selbstverständlich wird sich das alles regeln. No problem, was, Partner?« Er nahm die Flasche, prostete Mike zu und ließ die schwarze Flüssigkeit bis auf den letzten Tropfen in seine Kehle laufen. Mike folgte jeder seiner Bewegungen, ohne mit der Wimper zu zucken, und nickte bedächtig.

»Kein Problem«, wiederholte er trocken, »natürlich nicht!«

»Na wunderbar!« freute sich der ältere Herr. »Ich hab' gewusst, dass ihr euch glänzend verstehen würdet. Dann kommen wir jetzt also zu den Einzelheiten.« Er begann, ihnen stichwortartig aufzulisten, worauf sie bei der Auswahl im speziellen zu achten hätten.

»Ich geb' euch einen Monat Zeit«, schloss er seine Ausführungen, »länger kann ich nicht warten. In zwei Wochen erwarte ich einen von euch zur Lagebesprechung – genaue Zeit und Ort folgen noch. Alles weitere wird sich zeigen.« Er sah prüfend von einem zum andern.

»Soweit alles klar?«

»Alles o.k., Boss«, nickte Oskar erhaben. Er lehnte sich zurück und grinste Mike an: »Oder hast du noch was zu melden?« Mike, der die Unterhaltung bis dahin relativ teilnahmslos verfolgt hatte, verzog bei dieser stichelnden Frage leicht die Mundwinkel, und ein geheimnisvolles Lächeln umspielte seine Lippen.

»Ja, da wäre noch eine Kleinigkeit«, sagte er nachdenklich und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Es ist zwar nichts von Bedeutung, aber wäre es schlimm, wenn …«

»Wenn was?« stutzte der kleine Dicke stirnrunzelnd. Mike ließ sich Zeit. Er schien zu spüren, dass seine plötzlich selbstbewusste Haltung die anderen verunsicherte.

»Nun«, holte er aus, hustete ein paar Mal kräftig und versuchte, möglichst wichtig dreinzuschauen, »es klingt vielleicht etwas eigenartig, aber … muss man für diesen Job sprechen können?« Oskar und der Herr mit dem krebsroten Gesicht blickten ihn ziemlich verdutzt an.

»Bitte, wie war das doch gleich?« fragte der Boss ungläubig zurück und beugte sich etwas weiter vor.

»Na ja«, erklärte Mike mit gespielter Gelassenheit, »wenn man dazu nicht unbedingt sprechen können muss, dann … ich meine, dann hätte ich vielleicht einen Vorschlag …« Zum zweiten Mal gelang ihm ein Überraschungseffekt. Jetzt begann sich der kleine Herr ernsthaft für die Sache zu interessieren.

»Du hättest also jemanden in Aussicht?« Mike nickte.

»Ja, hätt' ich. Einen tollen Burschen, absolut zuverlässig und geeignet. Das einzige, was er nicht kann, ist sprechen. Ansonsten ist er o.k.« Der Boss runzelte nachdenklich die Stirn. Er schien zu überlegen. Dann sah er Mike kritisch an.

»Woher kennst du ihn?« Mike nahm einen großen Schluck Mineralwasser und schmunzelte siegesbewusst. »Vor einer knappen Stunde hab' ich ihn zufällig getroffen«, erklärte er, »er arbeitet in einer Fahrradwerkstatt bei Dottikon. Ich garantiere Ihnen, wenn wir den kriegen, können Sie zufrieden sein.«

»Wieso? Hat er Erfahrung auf dem Gebiet?«

»Indirekt ja«, bestätigte Mike, der jetzt, wo sein Chef ihm so großes Interesse entgegenbrachte, immer mehr in Fahrt kam. »Sie kannten doch Remo und seine Jungs.« Der kleine Dicke nickte. »Stand ja wohl groß genug in der Zeitung, als er erschossen wurde!« stellte er trocken fest. »Und was hat er damit zu tun?«

»Er war Laufbursche bei der Bande«, erklärte Mike, »überdies eine Art Mädchen für alles. Soviel ich weiß, war er Remo treu ergeben.«

»Klingt gut«, meinte der ältere Herr zufrieden, »klingt sehr gut. Und du meinst, du könntest uns den Mann an Land ziehen?« Mike lächelte.

»,Mann` ist vielleicht etwas übertrieben«, verbesserte er, »Jörg ist erst um die siebzehn. Aber das spielt wohl kaum eine Rolle, denke ich.« Das Gesicht des Chefs hellte sich auf.

»Erst siebzehn? Und kann nicht sprechen?« Er nickte Mike anerkennend zu. »Das gefällt mir, das gefällt mir sogar ausgezeichnet.« Er schlug einen sachlichen Ton an. »Wieviel Zeit brauchst du: eine Woche?«

»Kommt darauf an, wie er reagiert. Kann sein, dass wir ihn erst rumkriegen müssen«, meinte Mike abschätzend. »Das wird sich zeigen.« Der Mann mit dem krebsroten Gesicht dachte kurz nach und sah dann von einem zum anderen.

»Meine Herren«, hob er feierlich an, »ich glaube, wir haben uns verstanden. Macht euch an diesen Jörg ran, je früher, desto besser. Wie, ist mir egal, Hauptsache, ihr kriegt ihn.«

»Das werden wir schon«, versicherte Mike überzeugt. »Keine Sorge, den kaufen wir uns, was, Partner?« Er warf Oskar einen triumphierenden Blick zu, den der jedoch mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck erwiderte, ohne etwas zu sagen.

Der kleine dicke Herr erhob sich abrupt, erklärte, die Sitzung sei beendet, und ging davon, um den Motor anzulassen.

Conny ist nicht zu bremsen

Conny war Feuer und Flamme, dass Roman als Chauffeur mit ins Klassenlager durfte. Den ganzen Nachmittag über rutschte sie nervös auf ihrem Stuhl herum und konnte es kaum erwarten, es ihm endlich zu sagen. Keine halbe Minute nach Schulschluss saß sie bereits auf ihrem Fahrrad und radelte Richtung Dottikon.

Sie war furchtbar aufgeregt. Während der ganzen Strecke versuchte sie sich vorzustellen, was für ein Gesicht Roman wohl machen würde, wenn sie es ihm sagte. Bestimmt würde er sich unglaublich freuen!

Als sie von der Hauptstraße abbog, beschleunigte sie ihr Tempo noch mehr, und vor der Werkstatt musste sie schließlich so stark bremsen, dass sie beinahe gestürzt wäre.

»Hallo, Conny! Du bist aber heute in Schwung!«

Das Mädchen blickte auf. Roman stand am Fenster und nickte ihr lachend zu.

»Hallo, Roman!« rief Conny noch ganz außer Puste, und ohne sich eine Verschnaufpause zu gönnen, fuhr sie fort: »Ich hab' eine tolle Nachricht für dich! Du wirst es nicht glauben, aber Gerber hat mich heute gefragt, ob …«

»Wart, ich komm' runter«, unterbrach Roman sie, verschwand in der Wohnung und stand kurz darauf vor ihr. »Also, worum geht's?« Conny strahlte übers ganze Gesicht. »Stell dir bloß vor!« wiederholte sie begeistert, »Gerber hat mich gefragt, ob du mit ins Klassenlager möchtest!« Der Junge stutzte. »Wer? Ich?«

»Ja, du. Er braucht dringend einen Chauffeur – keine Ahnung, wofür –, und weil er weiß, dass du Auto fahren kannst, hat er mich vorhin gefragt, ob du Zeit hast. Na, was sagst du dazu?« Roman sah noch immer ziemlich überrascht aus.

»Wann ist es denn?”

»In eineinhalb Wochen«, gab Conny Auskunft, »aber frag mich ja nicht mehr! Das ist nämlich so ziemlich alles, was wir bis jetzt wissen. Na, was ist, kommst du mit?« Roman gab nicht sofort Antwort.

»Und was ist mit Jörg?« wandte er schließlich ein. Conny stutzte. »Ach so, Jörg. Von ihm war eigentlich nicht die Rede, wieso fragst du?« Roman zuckte die Achseln.

»Ich denke bloß, es wäre mir lieber, wenn wir ihn nicht alleine ließen.«

»Wieso?«

»Das kann ich dir im Augenblick nicht sagen. Aber glaub mir, es ist wichtig.« Conny begriff immer weniger.

»Aber warum denn?« wunderte sie sich. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« Der Junge seufzte. Er sah die ganze Szene, die sich vor weniger als zwei Stunden in der Werkstatt zugetragen hatte, wieder deutlich vor sich – aber er zögerte. Er wollte Conny das Ganze eigentlich verschweigen, um ihr nicht unnötig Angst einzujagen, aber dann sah sie ihn so vertrauensvoll an, dass er es ihr doch erzählte.

Das Mädchen war ziemlich betroffen.

»Und du bist sicher, dass er ihn kennt?« Roman nickte. »Hundertprozentig!« sagte er. »Woher auch immer, sie kennen sich.«

»Und Jörg? Wie stellt er sich dazu? Hast du ihn gefragt?« »Mehrmals«, winkte Roman ab, »aber er weicht mir aus. Er geht nicht darauf ein. Er überhört es ganz einfach.«

»Vielleicht kennt er ihn doch nicht«, überlegte Conny. Doch Roman schüttelte entschieden den Kopf.

»Er kennt ihn«, sagte er überzeugt, »er kennt ihn sogar sehr gut. Er will es nur nicht eingestehen.« Eine Weile stand Roman schweigend da und sah nur vor sich hin. »Du hättest ihn sehen sollen«, sagte er dann leise, »wie er auf der Treppe stand und den Mann anstarrte – mit einem Gesichtsausdruck, als würde ihm der im nächsten Augenblick an die Gurgel springen.« Conny wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie wollte Roman gerne helfen, aber sie war genauso ratlos wie er.

»Meinst du nicht, du machst dir zu große Sorgen um Jörg?« fragte sie schließlich, aber es klang nicht sehr überzeugt, »immerhin ist er siebzehn und …«

»Es gefällt mir nicht«, entgegnete Roman trocken, und so leise, dass sich Conny anstrengen musste, es zu verstehen, fügte er hinzu: »Es macht mir Angst.«

Conny lief es kalt den Rücken hinunter. Sie kannte Roman nun bereits seit über einem Jahr, und jedes Mal, wenn sie mit ihm zusammen war, bewunderte sie seine ruhige und überlegte Haltung von neuem. Sie hatte den Eindruck, als könnte ihn nichts und niemand aus der Fassung bringen, und bis jetzt war das in der Tat auch noch nie vorgekommen. Alles nahm er mit einer unbeschreiblichen Gelassenheit; es schien einfach kein Problem zu geben, dem er nicht gewachsen war. Und jetzt auf einmal diese Besorgnis! Das passte ganz und gar nicht zu ihm. Was war bloß geschehen?

Connys Herz pochte wild. Sie wollte etwas sagen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Doch als auch Roman schwieg, nahm sie all ihre Gedanken zusammen und schlug schließlich vor: »Weißt du was? Ich frage Gerber, ob Jörg auch mit ins Lager darf. Gerber sagt bestimmt nicht nein. Oder was denkst du?«

Roman wandte sich ihr zu, als hätte er geradezu auf diese Worte gewartet.

»Ja, tu das«, nickte er erleichtert, »und sag ihm auch, dass ich wirklich gern mitkomme, ja?«

»Wird gemacht!« antwortete das Mädchen glücklich, und mit einem Mal waren alle Sorgen und Probleme wie weggeblasen. Conny war nun wieder genauso übermütig wie zu Beginn.

»Du kannst dir ja nicht vorstellen, wie aufgeregt ich bin«, sagte sie und strahlte dabei übers ganze Gesicht, »ich freu' mich riesig, dass du mitkommst!« Und ehe sich's Roman versah, wurde er stürmisch umarmt und mit einem dicken Kuss mitten auf die Nase beglückt. Er sah seine kleine Freundin schmunzelnd an und musste innerlich über ihre spontane Reaktion lächeln, obwohl es letztlich genau das war, was er an dem Mädchen so mochte. »Ich freu' mich auch«, sagte er dann, und seine schwarzen Augen funkelten geheimnisvoll, »und Jörg wird sich bestimmt auch freuen.«

In der Tat strahlte Jörg wie ein kleines Kind, als die beiden ihm erzählten, dass Conny am nächsten Tag mit Herrn Gerber über diese Sache sprechen wollte – und Conny und Roman freuten sich mit ihm.

Das einzige Problem war, dass Jörg kein eigenes Fahrrad besaß. Aber Roman versprach ihm, sich da schon etwas einfallen zu lassen.

»Und wenn wir eins zusammenbasteln müssen«, meinte er verheißungsvoll und zwinkerte seinem Freund dabei vielsagend zu. Der begriff zwar nicht ganz, worauf Roman mit dieser Anspielung hinauswollte, nickte aber trotzdem eifrig, und seine Augen glänzten vor Begeisterung wie zwei kleine Sterne.

Geheime Besprechung

Die Zeit verrann viel zu schnell, und als Conny sich endlich verabschiedete, war bereits der Abend hereingebrochen.

Jörg und Roman räumten die Wohnung etwas auf, aßen eine Kleinigkeit und machten es sich dann unter der großen Tanne vor ihrem Haus gemütlich, um diesen herrlichen Herbstabend in vollen Zügen zu genießen. Beide hatten ihre Instrumente mitgenommen, und während Roman auf seiner Gitarre herumzupfte, improvisierte Jörg dazu mit seiner Mundharmonika eine passende Melodie. Sie hatten in den vergangenen Tagen schon oft so zusammen gespielt, und immer erfanden sie neue Stücke – keines war wie das andere, doch jedes in sich abgeschlossen und auf seine Weise einzigartig. Roman war jedes Mal erstaunt darüber, wie gut Jörg bereits spielen konnte, immerhin war es noch keine fünf Wochen her, seit er zum ersten Mal in seinem Leben eine Mundharmonika in Händen gehalten hatte, und höchstens drei, seit er mit Roman im Duett spielte. Aber offenbar musste ihn dieses Instrument faszinieren, denn er nahm es fast überall mit hin und spielte, wann und wo er nur konnte. »Weißt du eigentlich, dass du unerhört begabt bist?« fragte Roman nach einem besonders gelungenen Stück. Jörg zuckte bescheiden die Achseln. Doch Roman beharrte auf seinem Kompliment. »Du spielst wirklich gut«, meinte er, und um es noch mehr zu unterstreichen, sagte er: »Mit dir würde ich sogar auf Tournee gehen!« Jörg winkte geschmeichelt ab. Er fand Romans Behauptungen reichlich übertrieben, obwohl der es allem An-schein nach ernst gemeint hatte. »Du musst die Mundharmonika auf jeden Fall mit ins Lager nehmen«, fuhr er fort, »dann können wir jeden Abend zusammen spielen, o.k.?« Jörg nickte. Er nahm sein Instrument zur Hand und begann wieder zu spielen. Roman zupfte ein paar Akkorde dazu, ließ es aber bald bleiben und hörte Jörg einfach zu.

Es hörte sich an, als würde ein Vogel irgendwo ganz für sich allein in der Stille singen. Es war ein Klang, der alles ringsherum verstummen ließ. Manchmal hielt der Junge inne, als wäre die Stille ein Teil seiner Melodie, dann hob er wieder an, erst leise, dann sanft anschwellend, bis hin zur vollen Lautstärke, um sie wieder fast übergangslos in nichts aufzulösen.

So spielte er lange, zehn Minuten, vielleicht auch zwanzig. Roman hörte ihm schweigend zu, die Beine übereinandergeschlagen, die Arme verschränkt, und sah einfach geradeaus in die Weite.

Wie lange die Freunde so dasaßen, wussten sie nicht, aber es war schon dunkel, als sich Roman entschied, ins Haus zu gehen. Jörg wollte noch eine Weile im Freien bleiben, und so ließ Roman ihn allein. Wohl war ihm dabei nicht, aus einem unerklärlichen Grund hatte er das Gefühl, es sei nicht gut, dass er seinen Freund draußen lasse, aber er hätte nicht sagen können, weshalb. Es war ja auch nur so ein Gefühl, vermutlich ohne weitere Bedeutung – und dennoch beunruhigte es ihn.

»Irgend etwas wird geschehen«, dachte er, während er am Fenster stand und Jörg von dort aus beobachtete, »irgend etwas.«

Und dann geschah es tatsächlich: Roman wollte sich gerade die Zähne putzen, als Motorengeräusch an sein Ohr drang. Er horchte auf, ließ die Zahnbürste liegen und trat ans Fenster. Ein Auto kam langsam über den Kiesweg angerollt. Die Scheinwerfer waren auf Abblendlicht eingestellt. In einiger Entfernung, noch ziemlich dicht beim nahen Wald, hielt es an. Eine Weile geschah nichts. Dann öffnete sich die Beifahrertür, und jemand stieg aus. Wer es war, konnte Roman nicht erkennen, dazu war es zu dunkel. Erst als der Mann auf das Haus zukam, nahm Roman seine Gestalt deutlicher wahr – und erschrak. Der sich dem Haus näherte, war niemand anders als der Mann mit der Lederjacke!

Roman wusste nicht, was er denken oder tun sollte. Er stand nur wie versteinert da und starrte auf den Mann herunter, und mit jedem Schritt, den der Fremde auf das Haus zu machte, pochte sein Herz schneller. Was sollte das bedeuten? Was hatte dieser Typ hier noch zu suchen? Was wollte er von ihm – und vor allem, was wollte er von Jörg? Unwillkürlich zuckte Roman ein zweites Mal zusammen.

»Meine Güte, was ist, wenn er ihn sieht?« schoss es ihm durch den Kopf, und gleichzeitig blickte er zur Tanne hinüber.

Jörg saß noch immer an derselben Stelle. Er war in der Dunkelheit kaum auszumachen. Vielleicht würde ihn der Mann mit der Lederjacke sogar übersehen, rechnete sich Roman hoffnungsvoll aus. Aber dem war leider nicht so! Ob sich der Junge selbst verraten hatte oder nicht, konnte Roman vom Fenster aus schlecht beurteilen, jedenfalls wechselte der Fremde plötzlich die Richtung und steuerte geradewegs auf Jörg zu.

Roman schluckte trocken. Unschlüssig stand er da. Seine Gedanken drehten sich im Kreise. Am liebsten wäre er hinuntergegangen, um irgend etwas zu tun – egal was, Hauptsache, es hätte den Mann von Jörg abgehalten! Dann wiederum sagte er sich, es sei ja im Grunde nichts geschehen und seine Besorgnis sei vielleicht doch etwas voreilig und übertrieben. Also blieb er einfach stehen, wartete und sah zu, wie sich der Fremde unaufhaltsam dem Jungen näherte.

Und dann stand er dicht vor ihm, wie ein großer, dunkler Schatten, und begann zu sprechen – leise, kaum hörbar. Es war Roman unmöglich, auch nur ein Wort zu verstehen. Das machte ihn natürlich um so nervöser, vor allem, als das Gespräch sich über mehrere Minuten hinzog. Roman strengte seine Augen aufs äußerste an, um Jörgs Gesicht zu erkennen, aber das einzige, was er sah, waren zwei schwarze Gestalten, die sich unscharf vom Hintergrund abhoben.

Wirklich zu dumm! Sollte er sich näher heranschleichen? Das Risiko, unterdessen etwas Wichtiges zu verpassen, war ihm einfach zu groß. Andererseits konnte es genauso falsch sein, nur abzuwarten, wie sich das Ganze weiter entwickeln würde. Was also sollte er tun?

Wie er noch so überlegte, geschah etwas Seltsames: mitten in das raunende Gespräch hinein knallte ziemlich laut eine Autotür, und Sekunden später erschien ein zweiter Mann auf der Bildfläche.

Roman musterte ihn kritisch. Er war, so weit Roman das in der Dunkelheit erkennen konnte, kräftig gebaut, hatte breite Schultern und große, starke Hände. Sein Auftreten wirkte ziemlich cool und überheblich, als er sich den beiden breitspurig näherte und sich ihnen schon von weitem mit seiner rauen Stimme ankündigte.

»Na, was ist, habt ihr's endlich, oder wie steht's?« Der Mann mit der Lederjacke wandte sich seinem Kumpel ärgerlich zu.

»Halt du dich da raus«, hörte Roman ihn sagen, »du weißt genau, wie's läuft!«

»Eine Plauderstunde war aber nicht eingeplant«, entgegnete der andere herausfordernd und stellte sich mit verschränkten Armen zwischen die beiden. Seine Stimme wurde etwas leiser, aber Roman konnte sie dennoch gut verstehen.

»Also, was nun? Ist er dabei?«

»Er überlegt sich's noch mal«, gab der Mann mit der Lederjacke in gleicher Lautstärke Auskunft.

»Da gibt's nichts zu überlegen«, fuhr ihm der andere scharf ins Wort und wandte sich nun selber Jörg zu.

»Junge, einen solchen Job kriegst du dein Leben lang nicht wieder, das kannst du mir glauben!”

»Lass ihm Zeit«, beharrte der Mann mit der Lederjacke, »in ein paar Tagen kommen wir wieder, dann sehen wir weiter.« Roman schwitzte am ganzen Körper. Er starrte auf die Gruppe herunter und hatte das sichere Gefühl, es würde gleich etwas Schlimmes geschehen – aber es geschah nichts. Schweigend sahen die drei sich an, bis der, der eben erst dazugekommen war, mit erstaunlich ruhiger Stimme sagte:

»O.k. Überleg's dir nochmals. Aber glaub ja nicht, wir hätten keine Mittel, dich zu zwingen!«

Mit diesen Worten drehten sich beide Männer um und entfernten sich. Roman sah ihnen nach, bis sie ins Auto eingestiegen und in der Dunkelheit des Waldes verschwunden waren. Dann . ging er nachdenklich zum Waschbecken, um sich die Zähne zu putzen.

Als Jörg nach einer guten halben Stunde endlich ins Haus kam, lag Roman noch immer hellwach auf seiner Matratze. Er hätte seinen Freund gern auf das nächtliche Treffen angesprochen, sagte dann aber doch nichts und versuchte statt dessen zu schlafen.

Aber es dauerte lange, bis ihn die Müdigkeit überwältigte.

Vorsicht: Frisch gestrichen!

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