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Wenn die Wellen in der Nordseesonne glitzern, wird das Leben plötzlich leicht Marle ist Anfang dreißig und schon Witwe. Nach zwei Jahren einsamer Trauerzeit will ihr Schwiegervater Wilhelm sie mit sanfter Gewalt zurück ins Leben schubsen: Er hat ein kleines Haus auf Wangerooge gekauft. Marle lässt sich widerwillig darauf ein – vielleicht weckt die Nordseeinsel ja ihre Lebens- und Liebesgeister? Clara, Vicki und Rachel wirken auf Marle tatsächlich wie eine frische Brise. Die drei Frauen, die gemeinsam ein Hotel betreiben, werden schnell ihre Freundinnen. Und die Liebesgeister? Die können erst mal warten – immerhin ist der erste Mann, der ihr auf Wangerooge begegnet, ein italienischer Frauenheld. Kein geeigneter Partner für einen Neuanfang. Oder doch?
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Der Sommer der Inselfreundinnen
BRIGITTE JANSON heißt eigentlich Brigitte Kanitz und stammt ursprünglich aus Lübeck. Viele Jahre war Hamburg ihre Wahlheimat, wo sie als Journalistin arbeitete. Heute lebt sie als freie Autorin in den italienischen Marken.Von Brigitte Janson sind in unserem Hause bereits erschienen:Die Tortenbäckerin · Der verbotene Duft Winterapfelgarten · Holunderherzen · Windmühlenträume Die Inselfreundinnen
Marle ist erst Anfang dreißig und schon Witwe. Obwohl der Tod ihres Mannes bereits zwei Jahre her ist, will die Erzieherin aus Hamburg noch immer nicht wahrhaben, dass ihr Leben nun ohne ihn weitergehen muss. Sie würde sich am liebsten vor der Welt verstecken, will niemanden sehen. Nur ihr Schwiegervater Wilhelm ist immer für sie da. Und ausgerechnet der möchte Marle mit sanfter Gewalt zurück ins Leben schubsen. Genauer gesagt nach Wangerooge, wo er ein kleines Haus gekauft hat. Marle muss mit. Vielleicht wird ja die frische Luft auf der Nordseeinsel die Lebens- und Liebesgeister seiner Schwiegertochter wieder wecken. Allerdings läuft Marle schon am Tag ihrer Ankunft einem Einheimischen in die Arme, der als neuer Partner ganz und gar ungeeignet scheint: Federico Carmaleonte. Der Sohn italienischer Einwanderer gilt als einer der größten Frauenhelden der Insel. Wilhelm glaubt, dass er Marle das Herz brechen wird, doch zum ersten Mal seit zwei Jahren fühlt Marle sich lebendig.
Brigitte Janson
Roman
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Mai 2021© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © www.buerosued.deAutorenfoto: © Michaela PhilipzenE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-2493-7
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
Epilog
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
1. Kapitel
Für Claudia – danke für vierzig Jahre wunderbarer Freundschaft
In ihren Träumen lebte er noch. Er schalt sie liebevoll, weil sie wieder mal so schusselig war und die Autoschlüssel verlegt hatte, und er wunderte sich, dass sie deshalb so traurig war.
Marle schreckte hoch und wischte sich mit beiden Händen heftig über das Gesicht. Es half nichts. Sie sah ihn vor sich. Konstantin. Groß, mit feinen, aristokratischen Gesichtszügen, mit hellbraunem Haar, ergrauten Schläfen und zärtlichem Blick.
In ihren Träumen war er kerngesund. Tränen schlichen sich in ihre Augen.
»Verdammt!«, rief Marle laut und sprang aus dem Bett. Von draußen drangen die Rufe der Möwen in ihr Schlafzimmer. Es klang, als würden die Vögel sie auslachen.
»Ihr habt ja recht«, erklärte Marle. Sie zog sich einen Morgenmantel über und trat ans offene Fenster. »Nach all der Zeit sollte ich wirklich damit aufhören.«
Ihr Blick ging zur Elbe hinunter. Ein riesiges Kreuzfahrtschiff hatte den Hamburger Hafen verlassen und strebte der Deutschen Bucht zu. Es wurde von zwei Schleppern begleitet, die fröhlich auf den Wellen tänzelten. Zwei kleinere Schiffe waren in die entgegengesetzte Richtung unterwegs. Signalhörner erklangen, der frische Wind ließ die Fahnen knattern, und es roch nach Flusswasser, vermischt mit einem fernen, salzigen Hauch Meeresluft. Am hohen Himmel segelten weiße Schäfchenwolken nach Süden.
Früher hatte Marle diesen Ausblick geliebt. Am Tag, als Konstantin sie zum ersten Mal mit in sein Elternhaus genommen hatte, war sie sofort verzaubert gewesen. Nicht nur von der herrschaftlichen, weiß verputzten Villa aus der Gründerzeit weit oben auf dem Süllberg im vornehmen Blankenese, sondern vor allem von der Weite, die sich den Augen darbot. Es gab keine Grenzen für den eigenen Blick, keine hohe dunkelrote Backsteinfront direkt gegenüber wie in Hammerbrook, dem Arbeiterviertel, in dem Marle aufgewachsen war.
»Wunderschön«, hatte sie geflüstert und das großartige Panorama in sich aufgenommen. Es war ein bisschen wie im Märchen gewesen. Bloß dass Konstantin kein Prinz war, sondern Spross einer hanseatischen Kaufmannsfamilie – und Marle war kein armes Aschenputtel, sondern eine junge Frau, die sich in ihrem Beruf als Erzieherin ein gutes, ausgefülltes Leben aufgebaut hatte. Ihre Eltern waren viel zu früh im Abstand von wenigen Jahren gestorben. Ihr Vater bei einem Arbeitsunfall, ihre Mutter an einer verschleppten Lungenentzündung. So hatte Marle gelernt, allein und stark durchs Leben zu gehen.
Außerdem schlossen die meisten Märchen damit, dass die beiden Liebenden glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage lebten. Wobei dieses Ende in sehr weiter Zukunft lag und nicht schon auf sie lauerte, bevor das dritte Ehejahr herum war.
Marle stieß einen tiefen Seufzer aus und wandte sich schnell ab. Diesmal kam keine Antwort von den Möwen. Offenbar waren sie weitergeflogen. Stattdessen hörte sie jetzt ein leises Klopfen an ihrer Zimmertür.
»Alles in Ordnung, Liebes?«, fragte ihr Schwiegervater.
»Aber ja«, gab sie betont fröhlich zurück. »Guten Morgen!«
»Ich habe dich rufen hören. Brauchst du etwas?«
»Nein, Wilhelm, danke. Ich komme gleich runter.« Kummer riss an ihrer Stimme. Sie hörte es selbst, konnte aber nichts dagegen tun.
Ihr Schwiegervater entfernte sich, und Marle wandte sich vom Fenster ab. Sie zog ein Paar Jeans an und streifte ein T-Shirt über. Seit mehr als zwei Jahren kleidete sie sich so. Im Winter ein Pulli zu den Jeans, im Sommer ein leichtes Hemd. Als Konstantins Freundin und spätere Ehefrau hatte sie einen eleganten Look gepflegt. Hosenanzüge, Zweiteiler, und für die Feste in der feinen Hamburger Gesellschaft natürlich geschmackvolle Abendroben. Vor dieser Zeit jedoch hatte sie Kleider geliebt. Bunt und geblümt, mit weiten Flatterröcken und in allen denkbaren Längen. Einen ganzen Schrank voll hatte sie besessen. Ihre Kolleginnen in der Kita hatten sie liebevoll »Hippiegirl« genannt und behauptet, sie sei eine Zeitreisende aus den Sechzigern.
Marle lächelte bei der Erinnerung. Manchmal fehlte ihr die Arbeit. Sie vermisste das glockenhelle Kinderlachen, die strahlenden Augen, die unschuldige Neugierde auf die Welt. Sogar der Stress ging ihr ab. Wenn einige Kinder einen schlechten Tag hatten, andere kränkelten, wenn schlechtes Wetter einen Ausflug unmöglich machte, wenn sie länger arbeiten musste. All das war ihr Leben gewesen, und sie hatte sich nützlich gefühlt.
Vorbei. Sie würde nie wieder die Kraft für diesen Job haben. Und sie könnte es auch nicht ertragen, Kinder um sich zu haben, weil sie …
»Schluss jetzt!«, sagte sie laut. Solche Gedanken waren verboten. »Ich will nur an den heutigen Tag denken!«
Manchmal half es, sich selbst Befehle zu geben. Manchmal hatte Marle dann wirklich ein paar Stunden Ruhe vor den Erinnerungen.
Sie schlüpfte in flache Sandalen und band ihre rotblonden Haare zu einem lockeren Knoten.
Heute war ein wunderschöner Frühsommertag. Sie würde mit ihrem Schwiegervater frühstücken und dann mit ihm einen Spaziergang unternehmen. Unten am Strandweg, wo er am liebsten entlangging. Sie könnten bis zum Elbstrand laufen und sich zwei Sonnenliegen mieten. Es war schließlich Sonntag. Marle lächelte. Wilhelm war ein wunderbarer Mensch – der beste Schwiegervater, den sie sich hätte wünschen können.
Als sie ihr Zimmer verließ und die breite Marmortreppe nach unten lief, versank ihr Traum von Konstantin in ihrem Unterbewusstsein, und sie war bereit, den neuen Morgen anzugehen.
Der Frühstückstisch war im Wintergarten gedeckt. Er gehörte zu Marles Lieblingsorten im Haus. Die große Fensterfront ließ Licht und Wärme herein, eine gemütliche Sitzecke aus Korbmöbeln lud zum Entspannen ein, und ein langer Esstisch ermöglichte Mahlzeiten hier draußen, auch in der kalten Jahreszeit. In großen Kübeln wuchsen Zitronenbäume, Palmen und purpurfarbene Bougainvillea. Weißer Sternjasmin verströmte seinen betörenden Duft, und die Blätter von zwei kleinen Olivenbäumen schimmerten silbrig im Morgenlicht.
Mit leisem Missfallen bemerkte Marle feinstes Meißener Porzellan auf blütenweißem Damast. Auch silberne Kaffee- und Teekannen standen auf dem Tisch, dazu eine Kristallkaraffe mit frisch gepresstem Orangensaft, ein großer Korb voll mit Brötchen und Hörnchen, eine Schüssel mit Obstsalat, mehrere Gläser Marmelade, Honig, Butter sowie eine Aufschnittplatte, die für eine ausgehungerte Fußballmannschaft gereicht hätte.
Prompt drehte sich ihr der Magen um, und sie wusste jetzt schon, sie würde nichts hinunterbekommen.
Warum musste Olga auch immer so übertreiben? Olga Kowalsky war die Haushälterin ihres Schwiegervaters, und Marle verstand sich gut mit ihr. Die ältere Frau war inzwischen ihre einzige Freundin – aber beim Thema Essen waren sie sich niemals einig.
Marle gab Wilhelm einen Kuss auf die Stirn und setzte sich ihm gegenüber mit dem Rücken zur Fensterfront.
»Wir hätten auch draußen frühstücken können«, sagte sie. »Es ist ein warmer Tag.« Auf der Terrasse stand der Gartentisch hinter einigen Büschen, die die Aussicht verdeckten.
Wilhelm hob kurz die Schultern. »Olga meint, der Wind wäre noch ziemlich kalt. Du weißt ja, wie sehr sie um meine Gesundheit besorgt ist.«
Er selbst passte perfekt in dieses Ambiente. Zu einem gestärkten weißen Hemd trug er eine dunkelblau melierte Weste und eine maßgeschneiderte Leinenhose. Im Kragen steckte ein seidenes Halstuch. Sein einziges Zugeständnis an den Sonntag war das Fehlen eines Sakkos.
»Ja«, erwiderte Marle. »Sie verhätschelt dich. Kaffee, Tee und Toast würden völlig ausreichen.«
Wilhelm nickte leicht. Obwohl sie aus verschiedenen Welten stammten, waren sie beide von Natur aus bescheidene Leute. Marles Vater war dreißig Jahre lang Polier auf dem Bau gewesen, Wilhelms Vorfahren hatten den Reichtum der Familie mit dem Gewürzhandel begründet. Sie seien echte Hamburger Pfeffersäcke gewesen, erzählte er gern. Vor zweihundert Jahren wurden fast alle Gewürze der Einfachheit halber Pfeffer genannt, ganz gleich, ob es sich um Ingwer, Zimt, Nelken, Safran oder Kumin handelte. Und die Hamburger Kaufleute, die damit zu Geld kamen, hießen im Volksmund schnell Pfeffersäcke.
Allerdings hatte sich eine gewisse Protzsucht seiner Ahnen spätestens bei ihm selbst verloren. Wilhelm Severin war ein Mensch, der jegliche Verschwendung hasste. Seine Vorliebe für gute Kleidung war der einzige Luxus, den er sich gönnte. Nun saß er mit leicht erschrockenem Gesichtsausdruck vor dem viel zu reich gedeckten Tisch. Von Natur aus ein hagerer, groß gewachsener Mann, hatte er noch nie zur Völlerei geneigt.
Marle legte sich eine Serviette auf den Schoß und lächelte. »Gib es zu, dir reichen eine Banane und ein halbes Brötchen mit Orangenmarmelade.«
Wilhelm erwiderte das Lächeln, und sein gütiges Gesicht legte sich in hundert Falten. »Stimmt, Liebes. Und dazu drei Tassen Earl Grey. Aber wie um Himmels willen soll ich dies der guten Olga beibringen?«
»Ich rufe gleich bei der Tafel an. Die Leute werden sich mal wieder freuen.«
Sie tauschten einen verschwörerischen Blick, dann nahm Wilhelm sich eine Banane und schälte sie bedächtig.
»Nachher machen wir einen schönen langen Spaziergang«, fuhr Marle fort. »So windig ist es gar nicht, wie Olga behauptet.«
Wilhelm runzelte die Stirn. »Wolltest du heute nicht Bewerbungen schreiben?«
Marle, die nach der Kaffeekanne greifen wollte, hielt inne.
Mist!, dachte sie. Er mag ja auf die achtzig zugehen, aber sein Gedächtnis funktioniert einwandfrei. Seit dem Winter schon drängte ihr Schwiegervater darauf, dass sie in den Beruf zurückkehrte. Es sei nicht gut, argumentierte er stets aufs Neue, dass eine junge Frau untätig zu Hause herumsaß. Und so hatte sie versprochen, sich um eine neue Anstellung zu kümmern. Zuletzt hatte sie Anfang der Woche verkündet, sie werde den Sonntag konzentriert ihren Bewerbungen widmen.
»Das stimmt«, erwiderte sie. »Aber ich dachte, es würde regnen, wie schon die ganze Woche lang. Bei diesem herrlichen Wetter wäre es eine Schande, auch nur eine Stunde drinnen zu bleiben.«
Wilhelm räusperte sich ein paarmal. »Ich fürchte, wir müssen reden.«
Sein Ton war ernst, und Marle fröstelte plötzlich. Trotzdem tat sie unbeeindruckt. »Klar, liebster Schwiegerpapa. Vielleicht auf unserem Spaziergang?«
»Nein, besser jetzt.«
Sie sah ihn an. Wilhelm erwiderte ihren Blick, ohne zu blinzeln. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, sein Kinn war leicht nach vorn geschoben. Zum ersten Mal bekam sie eine Ahnung davon, wie er früher gewesen sein musste. Als er noch das Bankhaus Severin leitete, das sein eigener Urgroßvater nach dem Niedergang des Gewürzhandels gegründet hatte. Ein kühler Kopf und knallharter Verhandlungspartner. Auch Konstantin hatte manchmal so ausgesehen, und das waren die Momente gewesen, in denen Marle ihm lieber aus dem Weg gegangen war.
»Was … ist denn?«, fragte sie zaghaft und ärgerte sich, weil sie so leicht einzuschüchtern war. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Ich wünschte mir, du würdest etwas falsch machen«, erwiderte Wilhelm. »Das würde nämlich bedeuten, dass du wenigstens irgendetwas versuchst. Aber du tust gar nichts.«
Marle zuckte zusammen wie unter einem Schlag.
»Ich … bin in Trauer.«
Seine Stimme wurde weich, als er entgegnete: »Das weiß ich, Liebes. Auch ich vermisse meinen Sohn schmerzlich. Aber du trauerst jetzt seit … Wie lange ist es her? Zwei Jahre?«
»Zwei Jahre, drei Monate, eine Woche und fünf Tage«, gab sie wie aus der Pistole geschossen zurück.
»Gott im Himmel! Du zählst immer noch mit.«
»Ich will das gar nicht«, gestand sie. »Es ist wie ein Zwang.«
In Wilhelms Blick lag nun tiefes Mitgefühl, aber auch große Hilflosigkeit. »Ich weiß, Liebes, wie schwer es ist. Aber du musst es aushalten und trotzdem vom Fleck kommen. Du brauchst eine Beschäftigung.«
Einen Moment lang dachte sie über seine Worte nach. Er machte nicht klein, was geschehen war, er verstand, wie es ihr ging – dennoch wollte er ihr einen Schubs geben. Es fühlte sich gar nicht so verkehrt an.
Sie straffte die Schultern. »Du hast recht.«
Überrascht hob Wilhelm seine buschigen Brauen. Mit einer solchen Antwort hatte er offenbar nicht gerechnet.
»Das ist wundervoll«, meinte er vorsichtig. »Also wirst du wieder in deinen Beruf zurückkehren?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht.«
Nachdenklich fuhr er sich durch sein noch immer dichtes, schlohweißes Haar. »Daraus schließe ich, dass du gar nicht vorhattest, Bewerbungen zu schreiben.«
»Nein«, gestand Marle leise. »Hatte ich nicht.« Sie schaute durch die große Fensterfront nach draußen. »Aber du hast so oft nachgefragt, dass ich dir was vorgeflunkert habe.«
»Verstehe.« Sein Gesicht verschloss sich.
»Bitte nicht böse sein.« Sie sprang auf, lief um den Tisch herum, beugte sich zu ihm hinunter und legte ihm beide Arme um die Schultern. »Ich wollte dich nicht anlügen. Aber ich wusste mir nicht anders zu helfen.«
Wilhelm tätschelte ihr liebevoll den Rücken. »Ist schon gut.«
Erleichtert löste sie sich wieder von ihm, ging zu ihrem Stuhl zurück und setzte sich. »Ich weiß bloß noch nicht, was ich stattdessen tun könnte. Aber mir wird bestimmt etwas einfallen.«
»In Ordnung, Liebes.«
Marle trank noch eine Tasse Kaffee, Wilhelm schenkte sich Tee nach. Stille hatte sich über den Wintergarten gelegt, und so war der Krach, der plötzlich im Salon entstand, überdeutlich zu hören.
Ein Poltern erklang, dann ein lautes, schweres Scheppern, während die hastigen Schritte von mindestens zwei Personen näher kamen.
Marle schnappte nach Luft. Das war meine Vase, dachte sie beklommen. Sie sah das Kunstwerk aus Muranoglas vor sich, das Konstantin ihr auf ihrer Hochzeitsreise in Venedig gekauft hatte. Die hohe Vase war ganz in Blautönen gehalten und mit wellenförmigen Mustern versehen. Sie stand auf einem Tischchen aus Rosenholz und wurde von Olga jeden Morgen mit frischen Blumen bestückt.
»Verdammt!«, rief eine jugendliche Männerstimme. »Warum muss das Ding hier auch im Weg sein?«
Wilhelm stellte seine Teetasse bedächtig auf die Untertasse zurück.
»Meine Enkelsöhne«, murmelte er. Dann erhob er sich und wandte sich dem Salon zu, setzte sich jedoch nicht in Bewegung.
Marle blieb wie erstarrt sitzen. Ein Gedanke kam ihr, der ihr wie ein Stich ins Herz fuhr: Nach den Menschen gehen auch die Dinge. Sie wusste noch genau, wie sehr es sie geschmerzt hatte, als zu Ostern ihr Laptop den Geist aufgegeben hatte. Auch der war ein Geschenk von Konstantin gewesen, und sie hatte ihn wie einen Schatz gehütet.
»Du Horst!«, ließ sich eine zweite Stimme vernehmen. »Wer hat gesagt, dass wir um die Wette laufen sollen?«
»Du! Weil du dich immer vordrängelst!«
»Ich bin der Ältere!«
»Bullshit! Deine acht Minuten kannst du dir sonst wohin stecken!«
Wilhelm drehte den Kopf zu Marle. »Horst?«
»Ich glaube, das heißt in ihrer Sprache Idiot«, gab sie zurück. Konstantins Söhne waren für sie von Anfang an eine Herausforderung gewesen. Auch als sie noch lebhafte Jungs von elf Jahren gewesen waren. Damals war sie mit Konstantin noch nicht verheiratet gewesen, aber er hatte gemeint, es sei höchste Zeit, dass seine Kinder die Frau kennenlernten, die er über alles liebte. Marle hatte nur zu gern zugestimmt, schließlich war sie Erzieherin. Es würde schon alles gut werden.
Es wurde eine Katastrophe.
Konstantins geschiedene Frau Birthe hatte ihm nie verziehen, dass ihre Ehe in die Brüche gegangen war. Dabei war sie diejenige gewesen, die damals die Trennung verlangt hatte, weil ihr Mann während der Finanzkrise praktisch nicht mehr zu Hause gewesen war. Konstantin hatte Marle einmal erzählt, er hätte damals das Bankhaus Severin nur mit knapper Not vor dem Konkurs retten können.
Und obwohl er für sie und ihre gemeinsamen Söhne großzügig Unterhalt zahlte, hegte Birthe einen tiefen Groll gegen den Mann, der wenige Jahre nach ihrer Scheidung eine zwanzig Jahre jüngere Frau kennenlernte und sogar heiratete. Diesen Groll, der die neue Frau natürlich mit einschloss, impfte sie auch ihren Zwillingen ein, und so hatte Marle von Anfang an bei Patrick und Tim keine Chance gehabt.
An jenem Tag vor sechs Jahren hatten sie einen gemeinsamen Ausflug zum Heidepark Soltau unternommen. Konstantin, seine Söhne und Marle. Schon bei der Begrüßung hatten die Zwillinge finstere Gesichter aufgesetzt und waren den ganzen Tag lang unausstehlich gewesen. Dieses Benehmen war ihnen sichtlich schwergefallen, aber sie hatten durchgehalten bis zum Abend. Marle erinnerte sich genau daran, wie sehr ihr die Kinder leidgetan hatten. Ihre Mutter hatte ihnen die Chance genommen, ein normales, lockeres Verhältnis zu Marle aufzubauen.
Zwar hatte sie manches Mal in den folgenden Jahren gespürt, dass beide Jungs gern diese aufgezwungene Mauer durchbrochen hätten, aber bevor es zu einer echten Annäherung hätte kommen können, war Konstantin gestorben. Und nun war Marles Beziehung zu ihnen schwieriger denn je.
Patrick und Tim warfen sich lautstark noch ein paar weitere Beleidigungen an den Kopf, aber das war alles nur Show. Im Grunde waren sie ein Herz und eine Seele. Marle ahnte, dass die beiden zu früh hatten lernen müssen, dass sie sich am besten nur aufeinander verließen.
»Streitet nicht, Jungs«, bat Wilhelm, wurde aber nur von Marle gehört. Er machte noch immer keine Anstalten, die paar Meter bis zum Salon zurückzulegen.
Natürlich würde er es niemals zugeben, aber seine Enkelsöhne waren ihm nicht ganz geheuer – besonders seit sie in die Höhe geschossen waren und ihn jetzt, mit siebzehn, um Haupteslänge überragten. Dabei war er selbst ein hochgewachsener Mann, aber diese doppelte Portion jugendliche Energie ließ ihn geradezu schrumpfen.
»Da bist du ja, Opa!«, rief Patrick, der Ältere, und kam in den Wintergarten gestürmt. Sein Zwillingsbruder Tim rempelte ihn an und überholte ihn geschickt.
»Hi, Opa!« Er schlug Wilhelm auf die Schulter und grinste von einem Ohr zum anderen. »Echt sorry, aber ich bin gegen dieses hässliche blaue Teil gestoßen.«
Wilhelm rieb sich die Schulter und setzte sich schnell wieder auf seinen Stuhl, bevor sein anderer Enkelsohn auf die Idee kommen konnte, ihn ähnlich handfest zu begrüßen.
»Entschuldigt euch bei Marle«, sagte er mit Schärfe in der Stimme. »Es war ihre Vase.«
»Ich habe überhaupt nichts damit zu tun«, erklärte Patrick, schnappte sich ein paar Scheiben Schinken und stopfte sie in den Mund. Tim dachte auch nicht daran, seine Stiefmutter um Verzeihung zu bitten, sondern folgte nur dem Beispiel seines Bruders, wählte ein großes Stück Käse aus und hätte nun sowieso nicht mehr reden können, selbst wenn er gewollt hätte.
Mit einer Mischung aus Ekel und Faszination sah Marle den Jungs dabei zu, wie sie sich systematisch durch das reichhaltige Frühstück kämpften. Für die Tafel würde nichts mehr übrig bleiben.
Nach ein paar Minuten setzten sich Patrick und Tim wenigstens auf zwei Stühle. Marle und Wilhelm schauten sich stumm an, froh darüber, dass die Brüder mit dem Essen beschäftigt waren. So gaben sie wenigstens Ruhe. Auch erinnerten die zwei sich an ihre Tischmanieren, und so wirkte die Szene im Wintergarten auf einmal fast wie ein normales Familienfrühstück. Dieser Meinung schien auch Olga zu sein, denn als sie mit frischem Kaffee und Tee erschien, lächelte sie beifällig in die Runde.
Wilhelms Haushälterin stammte aus Krakau, lebte aber schon seit dreißig Jahren in Hamburg und arbeitete fast genauso lange für die Severins. Mit ihrem Mann Szymon wohnte sie in einem kleinen Häuschen in Altona. Mittlerweile hatte sie das Pensionsalter erreicht, schien aber nicht daran zu denken, ihre Stelle aufzugeben.
Olga strahlte Patrick und Tim an. Sie liebte die beiden aus ganzem Herzen. Wann immer Konstantin früher mit Birthe und den Zwillingen zu Besuch gekommen war, hatte sie die Kinder nach Strich und Faden verwöhnt. Das wusste Marle von Wilhelm. Sie hätte sich damals gewünscht, Konstantin würde mit seiner Familie in der Villa leben, doch Birthe hatte davon nichts wissen wollen. Blankenese war ihr zu abgelegen, und sie bestand darauf, im mindestens ebenso vornehmen Harvestehude an der Außenalster zu wohnen.
»Wünschen die jungen Herren vielleicht Pfannkuchen?«, fragte Olga jetzt eifrig. »Die sind ganz schnell fertig. Vielleicht mit meiner selbst gemachten Heidelbeermarmelade?«
Patrick und Tim verdrehten die Augen.
»Nee«, sagten beide wie aus einem Mund.
»Schade.« Olga verzog das rundliche Gesicht und knetete ihre Schürze.
Wilhelm, der es nicht ertragen konnte, wenn jemand enttäuscht war, meinte schnell: »Du könntest sie für Marle und mich zum Mittagessen machen.«
Allein bei dem Gedanken daran drehte sich Marle bereits der Magen um. Olga kochte jedes Gericht mit sehr viel Butter, Schmalz oder Öl. Aber Marle lächelte tapfer.
Auch der Umgang mit der Haushälterin war für sie anfangs nicht leicht gewesen. Zum einen war Marle es gewöhnt, sich allein um ihre Bedürfnisse zu kümmern; zum anderen hatte Olga sie unbewusst dafür verantwortlich gemacht, dass ihre geliebten Zwillinge damals kaum noch zu Besuch kamen. Doch mit der Zeit hatte sie Marle in ihr großes Herz geschlossen, und seit Konstantins Tod bemutterte sie die junge Witwe, wo sie nur konnte.
Nun schaute Olga zweifelnd von Wilhelm zu Marle und wieder zurück. »An euch sind meine Kochkünste verschwendet.« Womit sie nicht unrecht hatte. Allzu oft pickten die beiden bloß in ihren Mahlzeiten herum. Es war, als wäre mit der Trauer auch die Appetitlosigkeit in die weiße Villa eingezogen.
Patrick war mit seinem Frühstück fertig. Er wischte sich den Mund ab und wandte sich an seinen Großvater.
»Alles gut, Opa?«
Wilhelm hob leicht die Brauen. »Nun ja. Ich freue mich, dass ihr da seid. Das ist eine schöne Überraschung. Nicht wahr, Marle?«
»Oh ja!«, sagte sie und merkte selbst, wie übereifrig sie klang. Es gelang ihr nie, im Umgang mit den Zwillingen den richtigen Ton zu treffen. Sie wünschte, sie wäre klüger, gelassener, irgendwas.
Patrick schenkte ihr immerhin ein flüchtiges Lächeln, bevor er sich wieder an seinen Großvater wandte.
»Eigentlich sind wir nicht nur so hier …« Kurz schien er den Faden zu verlieren. Tim verpasste ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen. Wenn es schwierig wurde, ließ er seinen älteren Bruder gern für sie beide sprechen.
»Nur heraus damit«, forderte Wilhelm seine Enkelsöhne auf. »Was habt ihr auf dem Herzen?«
»Ähm …« Patrick räusperte sich und spannte die Kiefermuskeln an. Für ein paar Sekunden ähnelte er auf beinahe unheimliche Weise seinem Großvater. Die Zwillinge waren eineiig und kamen ganz nach der männlichen Linie der Familie: fein geschnittene Gesichtszüge, hellbraunes Haar und haselnussfarbene Augen.
Weil Patrick schwieg, platzte Tim heraus: »Können wir die ›Katharina‹ haben?«
»Du Horst!«, zischte Patrick ihm zu.
»Schisser«, gab Tim ungerührt zurück. Dann fixierte er wieder seinen Großvater. »Du hast uns was Besonderes zum Achtzehnten versprochen!«
Wilhelm war blass geworden, und Marle wollte schon eingreifen, als der alte Mann selbst das Wort ergriff. »Ihr wisst, wie sehr ich an dem Boot hänge.«
Marle unterdrückte ein Grinsen. »Boot« war eine typische hanseatische Untertreibung für eine top ausgestattete, acht Meter lange Segeljacht. Sie lag flussabwärts im Hamburger Jachthafen vor Anker und war ein Geschenk Wilhelms an seine Frau Katharina zum vierzigsten Hochzeitstag gewesen. Als sie nur wenige Monate später starb, verlor Wilhelm seine Freude an der Jacht.
Tim wusste offenbar nicht weiter, also stieß er wieder seinen Bruder an. Patrick war der Feinfühligere von ihnen beiden, und er zögerte eine ganze Weile.
Schon hoffte Marle, die Zwillinge würde das Thema vielleicht fallen lassen. Sie wusste, wie schwer es für Wilhelm sein würde, sich von der Segeljacht zu trennen. Ihm ging es bestimmt wie ihr selbst, und er versuchte, wenigstens die Dinge zu bewahren, wenn er schon die Menschen nicht hatte halten können.
Doch dann überraschte ihr Schwiegervater sie gewaltig.
»In Ordnung. Ich schenke sie euch.«
Den Zwillingen fielen in derselben Sekunde die Unterkiefer herab, Marle riss die Augen auf.
Wilhelm schien nichts Besonderes zu bemerken. »Ihr dürft ja ohnehin schon damit rausfahren, wann immer ihr wollt. Also, warum nicht?«
Was war nur in ihren Schwiegervater gefahren? Erst forderte er sie auf, endlich einen Neuanfang zu wagen, dann verschenkte er die »Katharina«.
Was kam als Nächstes? Vielleicht plante er ja eine Weltreise. Oder er schrieb sich bei einer Partnerbörse für Senioren ein. Diesem alten Mann war auf einmal alles zuzutrauen.
Marle versuchte, Wilhelms Blick aufzufangen, doch der beobachtete seine Enkelsöhne und schmunzelte in sich hinein.
»Ich schlage jedoch vor«, fügte er hinzu, »wir warten mit der Schenkung bis zum ersten August. An eurem Geburtstag bekommt ihr die Besitzurkunde.«
Patrick und Tim sprangen auf und wollten ihn umarmen, aber er hob abwehrend die Hände. »Lieber nicht, Jungs. Ich fühle mich heute ein wenig klapprig.«
Folgsam setzten sie sich wieder. In der Familie Severin galt es als Glücksfall, dass die Zwillinge am selben Tag wie ihr Großvater geboren worden waren, sechzig Jahre nach ihm. Als Kinder waren die Jungs stolz darauf gewesen, das wusste Marle von Konstantin.
»Krass!«, stieß Tim aus. »Mann! Voll krass!«
Wilhelm lachte leise. »Ihr habt wohl gedacht, ich weigere mich?«
»Äh …«, begann Patrick. »Mama meinte …« Er presste schnell die Lippen zusammen, aber es war auch so klar, was er hätte sagen wollen. Birthes Groll schloss auch Wilhelm mit ein, weil er die junge neue Schwiegertochter damals mit offenen Armen empfangen hatte. Wahrscheinlich hatte sie behauptet, der geizige alte Pfeffersack werde sich nie und nimmer von der wertvollen Jacht trennen.
»Ist ja egal«, fügte Patrick schnell hinzu. »Danke, Opa. Du bist der Beste.«
Wilhelm hob kurz die Schultern, als gehöre es zu seinem täglichen Geschäft, Geschenke im höheren sechsstelligen Bereich zu machen. Noch immer vermied er es, über den Tisch hinweg zu Marle zu schauen, und sie gab es schließlich auf.
Es ist in Ordnung, sagte sie sich. Er kann mit seinem Besitz anstellen, was er will. Am Reichtum lag ihr ohnehin nicht viel. Zwar lebte sie gern in der Villa, aber sie wusste, sie wäre mit Konstantin auch in einer Wohnung irgendwo in der Innenstadt oder in einem Häuschen auf dem Land glücklich geworden.
Tim bedankte sich ebenfalls bei seinem Großvater, stieß aber im nächsten Moment einen genervten Laut aus. Da nutzte Wilhelm nämlich die Gelegenheit, um seine Enkelsöhne nach ihren Plänen für die Zukunft zu fragen.
»Ihr müsst doch wissen, was ihr studieren wollt, wenn ihr nächstes Jahr mit der Schule fertig seid. Ich war schon im Alter von zehn Jahren sicher, dass ich meinem Vater in die Bank folgen würde.«
Die Zwillinge tauschten einen schnellen Blick.
»Wissen wir«, sagte Patrick. »Und Papa war kaum aus den Windeln raus, als er sein BWL-Studium angefangen hat.«
Wilhelm hob mahnend den Zeigefinger. »Das ist nicht lustig, Patrick. Ich erwarte etwas mehr Respekt für euren Vater.«
Beide Brüder wurden rot vor lauter Verlegenheit und Frustration.
Erneut fragte sich Marle, ob sie eingreifen sollte. So lieb sie Wilhelm auch hatte, in diesem Augenblick hätte sie ihn gern an den Schultern gepackt und kräftig geschüttelt. Merkte er denn nicht, wie sehr auch Patrick und Tim noch immer um Konstantin trauerten? Er war doch sonst so feinfühlig. Die Jungs mochten laut und unbeherrscht sein – tief im Innern waren sie noch immer unglückliche Kinder, die viel zu früh ihren Vater verloren hatten.
Sie atmete auf, als Patrick sagte: »Sorry, Opa. Aber wir wissen beide wirklich noch nicht, was wir studieren wollen. Es ist nicht so leicht, die richtige Wahl zu treffen. Außerdem haben wir bis zum Abi noch ein Jahr Zeit.«
Marle betete, Wilhelm würde es vorerst dabei belassen. Auf seiner Stirn jedoch stand eine tiefe Falte, und seine Hände auf dem Tisch waren zu Fäusten geballt.
Da hatte sie auf einmal genug. Sie wollte keinem Familienkrach beiwohnen, ihr fehlte die Kraft dazu. Daher fragte sie schnell: »Soll ich euch zum Jachthafen fahren? Ihr wollt doch bestimmt einen Törn machen.«
Drei Paar haselnussbrauner Augen schauten sie überrascht an.
Tim fing sich als Erster. »Kennst du denn den Aufenthaltsort deiner Autoschlüssel?«
Sein Bruder verpasste ihm eine Kopfnuss und sagte zu Marle: »Nicht nötig. Wir sind mit den Mopeds hier. Aber danke. Tschüs denn.«
Er zog seinen Bruder mit sich hoch und verließ mit ihm den Wintergarten durch eine hohe Fenstertür. Auf dem abfallenden Rasen drehten sich beide noch einmal um, und es schien Marle, als würde ihr Patrick zuzwinkern, bevor er mit seinem Bruder um die Hausecke verschwand.
»Nanu«, sagte Wilhelm staunend. »Die waren aber schnell weg.« Er rückte sein Halstuch zurecht, obwohl es perfekt saß. »Diese Planlosigkeit der Jungs ist unerträglich!«
»Ich weiß«, erwiderte sie sanft. »Das muss schwer für dich sein. Aber nicht alle Menschen sind gleich. Die beiden müssen ihren eigenen Weg finden.«
»Das ist mir wohl bewusst. Nur werde ich entscheiden müssen, was aus dem Bankhaus wird.«
Marle erschrak. »Wie meinst du das?«
»Gegenfrage: Warum sollte die Bank im Familienbesitz bleiben, wenn niemand sich dafür interessiert?«
»Aber … du kannst sie doch nicht einfach verkaufen«, erklärte Marle entschieden. Gleichzeitig dachte sie: Oh doch, er kann. Genauso, wie er die Segeljacht verschenkt.