Die Tortenbäckerin - Brigitte Janson - E-Book

Die Tortenbäckerin E-Book

Brigitte Janson

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Beschreibung

Hamburg, 1895: Die junge Greta hat großes Talent zum Kochen, und zwischen Töpfen und Pfannen fühlt sie sich am wohlsten. Als sie ihre Stellung als Hilfsköchin verliert, ist sie verzweifelt. Doch Siggo, ein Fuhrunternehmer, vermittelt ihr Aufträge, und seine Mutter bringt ihr das Konditorhandwerk bei. Bald sind ihre Torten in der ganzen Stadt beliebt, und Greta könnte glücklich sein ? gäbe es da nicht ein großes Geheimnis, das auf ihrer Seele lastet und Siggos Liebe zu ihr unmöglich macht.

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Das Buch

Greta, Anfang zwanzig, liebt das Kochen und hat ihre ganz eigene Art, gute Gerichte noch zu verfeinern. Sie arbeitet als Hilfsköchin in einem vornehmen Haus in Hamburg – und sie ist in Christoph Hansen verliebt, einen Sohn der Familie. Als Christoph nach Deutsch-Ostafrika muss, bricht für Greta nicht nur eine Welt zusammen, sie verliert auch ihre Stellung. Doch zum Glück lernt sie Siggo kennen, der ein marodes Fuhrunternehmen übernommen hat und Gefallen an der patenten jungen Frau findet. Er vermittelt ihr Aufträge als Leihköchin. Greta mag Siggo sehr, aber ihr Herz hängt noch immer an Christoph.

Von Siggos Mutter lernt Greta das Konditorhandwerk, und ihre neue Leidenschaft für die Kunst des Tortenbackens beflügelt sie. Eine hochprozentige Kirschtorte sorgt für ausgesprochen lustige Kaffeekränzchen, und bald kann sich Greta vor Aufträgen kaum retten; der erste Lieferservice ist geboren.

Endlich erkennt Greta auch, dass Siggo ihr mehr ist als nur ein guter Freund. Aber sie hütet ein Geheimnis, das er niemals erfahren darf. Schließlich kommt Siggo ihr auf die Schliche – und er reagiert anders, ganz anders als erwartet.

Die Autorin

Brigitte Janson wurde 1957 in Lübeck geboren. Viele Jahre war Hamburg ihre Wahlheimat, wo sie als Journalistin arbeitete. Heute lebt sie zusammen mit ihren Töchtern in den italienischen Marken. Die Tortenbäckerin ist ihr erster historischer Roman.

Die Website der Autorin: www.brigittejanson.de

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,Speicherung oder Übertragungkönnen zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Die Rezepte stammen aus: »Das Hamburg-Kochbuch«von Claus Silvester und Ilse Sibylle Dörner© 1993 by Husum Druck- und VerlagsgesellschaftmbH & Co. KG, Husum, 5. Auflage 2009

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 20113. Auflage 2011© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011Umschlaggestaltung: HildenDesign, MünchenTitelabbildung: © Apple Dumplings, George Dunlop Leslie/Hartlepool Museum Service, Cleveland, UK/The Bridgeman Art Library

eBook-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in GermanyeBook ISBN 978-3-8437-0783-1

Gewidmet meiner GroßmutterMartha Geilenberg, geborene Semisch(1896 bis 1987), die mir gezeigt hat, dass auchein schweres Leben zu meistern ist.

1

Greta steckte eine Haarsträhne zurück in den Nackenknoten, hob den schweren, gusseisernen Topfdeckel an und schnupperte. Ein Lächeln erschien auf ihrem erhitzten Gesicht, während Dampfschwaden durch die große Küche im Souterrain waberten und den Duft der Nordsee mitten in die Großstadt brachten.

»Mhmm, sie ist genau richtig.« Die Hamburger Krabbensuppe durfte jetzt nur nicht mehr kochen, sonst würde der zarte Spargel darin zerfallen.

Spargel im November! Greta verzog das Gesicht. Welch eine Verschwendung! Aber die Dame des Hauses hatte darauf bestanden. »Für meine Abendgesellschaft nur das Beste«, hatte sie gesagt. Natürlich nicht zu ihr, Greta, sondern zu ihrer Tante Mathilde, die seit zwanzig Jahren für die Herrschaft in ihrer prachtvollen Villa am Harvestehuder Weg kochte. Greta Voss wurde von Freia Hansen bestenfalls übersehen, schlimmstenfalls mit einem ärgerlichen Blick und hochgezogenen Brauen bedacht. Das hatte einen ganz bestimmten Grund, über den Greta aber lieber nicht nachdachte.

Also war sie, ohne zu klagen, in die Vorratskammer gegangen und hatte vom hintersten Regal die letzten fünf Weckgläser mit Spargel geholt.

Jetzt rührte sie die Suppe noch einmal vorsichtig mit einem langen Holzlöffel um, gab ein paar Tropfen in ein Schälchen und probierte mit gespitzten Lippen. »Ein kleiner Schuss Weißwein fehlt noch.«

Mathilde Voss überhörte die Bemerkung. Es ließ sich mit ihrer Ehre als Küchenmamsell nicht vereinbaren, Ratschläge von ihrer Nichte anzunehmen. »Beeil dich«, sagte sie deshalb nur. »Der Rehrücken muss mit dem Pilzfond übergossen werden.«

»Ich mach ja schon.« Greta tupfte sich mit einer Ecke ihrer bodenlangen Schürze ein paar Schweißperlen von der Stirn und öffnete dann die Ofenklappe. Augenblicklich vermischte sich der Meeresduft mit dem erdigen Geruch des Waldes. Die junge Köchin schloss kurz die Augen und schwieg. Mit jedem Küchenduft flogen ihr neue Bilder zu. Schon sah sie ein Rudel Rehe über eine sonnenbeschienene Lichtung laufen. Wie ein Wald genau aussah, wusste sie allerdings nicht, denn die kümmerlichen Bäume, die zu Hause in Altona den Evangelischen Kirchhof nur unzureichend beschatteten, zählten nicht. Aber Oliver, ein Junge aus ihrer Mietskaserne, hatte Greta oft von den Wäldern in seiner Heimat erzählt. Er stammte aus einem Dorf in Holstein und war letztes Jahr mit seinen Eltern in die Nachbarwohnung an der Georgstraße gezogen. Wenn man ihm glauben durfte, gab es auf dieser Welt nichts Schöneres, als an einem kalten Herbstnachmittag durchs Unterholz zu kriechen und nach Champignons und Pfifferlingen zu suchen.

Leni würde das gefallen, dachte Greta und vergaß für einen kostbaren Moment, weshalb sie vor der offenen Ofenklappe hockte. Ihr Herz eilte zu einem kleinen Mädchen mit blonden Locken und hellen, wie verwaschen wirkenden Augen. Viel heller als Gretas Augen, die selbst im strahlenden Mittagslicht an die Farbe erinnerten, die die Nordsee annahm, wenn ein starker Sturm aus Nordwest heranzog.

Greta lächelte in sich hinein. Sie konnte geradezu sehen, wie Lenis schlanke, flinke Händchen sich tief in den Waldboden gruben, auf der Suche nach Käfern oder in dem Wunsch, die kalte, feuchte Erde zu begreifen. Greta musste sie dann schelten, wie es sich gehörte, obwohl sie sich viel lieber neben sie knien und Leni fasziniert dabei zuschauen würde, wie sie die Welt auf ihre ganz eigene Art entdeckte.

»Kind, du träumst schon wieder!« Mathildes energische Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Ich möchte bloß wissen, wo du immer mit deinen Gedanken bist.«

Das willst du nicht, dachte Greta erschrocken. Das willst du ganz bestimmt nicht.

»Der Pilzfond gießt sich nicht von allein über den Rehrücken. Und dann schließ die Klappe, sonst müssen wir noch mehr Briketts nachlegen.«

Greta nickte nur. Der Wald und die kühle Erde verschwanden, einzig Leni sah sie noch eine Weile aus ihren himmelhellen Augen an. Ein wenig vorwurfsvoll, weil sie so gern noch länger in der Erde gegraben hätte.

Dann war auch sie fort. Greta fuhr sich über die Stirn, als könnte sie damit ihre Seelenpein fortwischen, schöpfte sodann mit einer großen Kelle den köchelnden Sud über das Fleisch, schloss endlich die Ofenklappe und starrte eine Weile blicklos vor sich hin.

»Willst du da bis morgen hocken bleiben, oder können wir weitermachen?« Die Stimme ihrer Tante war jetzt so schneidend wie das schärfste Messer in der Küche.

Mit einem leisen Ächzen richtete Greta sich wieder auf. Sie war seit dem Morgengrauen auf den Beinen, und trotz ihrer Jugend spürte sie nach einem langen, harten Arbeitstag jeden Knochen in ihrem schmalen Körper.

»Ich verstehe nicht«, sagte sie, »warum die Herrschaft nicht schon lange einen Gasherd angeschafft hat. Oben im Haus haben sie in allen Räumen Gaslicht. Nur wir hier unten müssen uns noch mit Kohle plagen. Aber in der Beletage wollen sie bald sogar diese neumodische Sache, die Elektrizität, anschaffen.« Sie war stolz darauf, das schwierige Wort einwandfrei herausgebracht zu haben, und merkte zu spät, dass sie einen viel schlimmeren Fehler begangen hatte.

Mathilde, die fünfzig Pfund mehr wog als ihre Nichte und einen ganzen Kopf größer war, stemmte die Fäuste in ihre nur unzureichend geschnürte Taille. »Soso. Und woher willst du so etwas wissen?«

»Habe ich halt gehört.« Greta wandte sich ab und sah, wie die beiden Küchenmädchen Marie und Paula tuschelnd am anderen Ende der Küche die Köpfe zusammensteckten. Sie waren beide blond, und mit ihren runden Gesichtern und rosigen Wangen hätten sie Geschwister sein können, stammten aber aus entgegengesetzten Orten des Kaiserreiches. Marie war vor vielen Jahren mit ihrer Familie aus München nach Hamburg gezogen, Paula stammte aus Königsberg und hatte polnische Vorfahren. Trotzdem verstanden sich die beiden prächtig, vor allem, wenn es darum ging, über die Herrschaft oder wenigstens über die höhergestellten Bediensteten zu tratschen. Im Augenblick waren sie damit beschäftigt, auf dem riesigen Eichenholztisch einen Eisblock in kleine Stücke zu hacken. Marie, die etwas kräftiger war, machte die grobe Arbeit, Paula schaufelte mit rotgefrorenen Händen die Eissplitter in eine Kristallschüssel. Auf die kalte Unterlage kamen später die Dessertschälchen mit roter Grütze und Vanillesoße. Sie waren fleißige Mädchen, aber manchmal bekamen sie das Nudelholz der Mamsell zu spüren, weil sie ihren Mund nicht halten konnten.

Am meisten Gesprächsstoff lieferte ihnen Greta. Die war nur ein paar Jahre älter als sie selbst, tat aber immer furchtbar eingebildet und erfahren. Pah! Nur weil sie die Nichte der Mamsell war, war sie noch lange keine feine Dame. Und sie würde auch nie eine werden! Jeder hier im Souterrain wusste, dass Greta es auf den schönen Christoph Hansen, den Sohn des Hauses, abgesehen hatte. Aber wenn sie wirklich darauf hoffte, eines Tages in die oberen Stockwerke zu wechseln – nun, da hatten die beiden Küchenmädchen eine böse Überraschung für sie parat. Marie warf Paula einen wissenden Blick zu. Sie warteten schon den ganzen Tag auf die passende Gelegenheit, ihre große Neuigkeit loszuwerden. Auf Gretas Gesicht waren sie beide gespannt. Paula blies ihre Wangen auf und vergrub die gefühllosen Finger im Eis. Geduld war nicht ihre Stärke.

Hätte nur eine von ihnen etwas von Gretas großem, ungeheuerlichem Geheimnis geahnt, wären sie alle beide bis ans Ende ihrer Tage mit Gesprächsstoff versorgt gewesen.

Greta wusste nicht, was in den Köpfen von Marie und Paula im Moment vorging, sie ahnte nur, es war nichts Freundliches. Mit einem leisen Seufzen drehte sie sich wieder ihrer Tante zu. »Als Köchin bekommt man so einiges mit«, meinte sie vage und hoffte, die Tante würde es dabei bewenden lassen.

Sie hätte sie besser kennen müssen.

»Erstens«, sagte Mathilde noch eine Spur strenger, »bin ich hier die Köchin und du bloß meine Gehilfin. Und zweitens, mein liebes Kind …«

Greta ließ ihre Tante nicht ausreden. »Ich bin kein Kind mehr, sondern zweiundzwanzig Jahre alt.«

Eines der beiden Küchenmädchen flüsterte kichernd etwas von einer alten Jungfer, aber Greta tat, als hörte sie es nicht. Sollten die beiden doch über sie herziehen! Lieber galt sie als spätes Mädchen, als dass irgendjemand die Wahrheit kannte. Greta begegnete furchtlos Mathildes Blick. »Du hast selbst oft genug gesagt, dass ich inzwischen genauso gut kochen kann wie du. Schließlich hast du mir alles beigebracht.«

Die beiden Frauen standen sich gegenüber wie Faustkämpfer in einem Zirkuszelt auf St. Pauli, dem verrufenen Vergnügungsviertel nahe des Hamburger Hafens. Niemand, der die zwei zum ersten Mal sah, hätte sie für Tante und Nichte gehalten. Mathildes graues Haar wies noch Spuren seiner einstigen feuerroten Farbe auf, die ihr in jungen Jahren den Ruf einer heißblütigen Frau eingetragen hatte. Ihre Gesichtszüge waren eher grobknochig und schlicht, während Gretas herzförmiges Antlitz an die Tuschebildchen der Madonna erinnerte, wie sie die wenigen Katholiken in der Georgstraße manchmal bei sich trugen. Ihr rotbraunes Haar ließ sich nie schicklich in einem Knoten bändigen. Immer wieder lösten sich einzelne Strähnen und umspielten frech ihr hübsches Gesicht. So viel Schönheit konnte einer Deern nur Unglück bringen – genau dasselbe hatte Mathilde schon damals gedacht, als ihr Bruder Fritz ihr seine junge Frau Viola vorgestellt hatte. Ein Mädchen aus dem Rheinischen, hübsch anzusehen, aber von schwacher Konstitution und mit keinerlei praktischer Begabung.

»Die passt nicht zu uns«, hatte Mathilde gesagt. »Sie ist zu zart. Die Frau eines Seemanns muss hart sein.« Aber Fritz war blind vor Liebe gewesen und hatte nicht auf sie gehört. Natürlich nicht. Man schrieb das Jahr 1870, der große Krieg zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich hatte seinen Höhepunkt erreicht. Fritz war auf Heimaturlaub von der Front. Er kam aus der Schlachtenhölle von Lothringen und wollte nun mit der süßen Viola den Himmel auf Erden genießen.

Dass seine Frau ihm überhaupt ein Kind gebar, grenzte schon an ein Wunder, eine weitere Schwangerschaft würde sie umbringen, warnte die alte Hebamme Katharina, die billiger war als ein Arzt und von Frauen und Kindern viel mehr verstand als jeder studierte Mann und die vor allem größten Wert auf Hygiene legte. Mathilde kümmerte sich damals um die winzige Tochter, weil Viola viele Monate brauchte, um sich von der Geburt zu erholen. Greta war ein Miniaturabbild ihrer Mutter, und niemand glaubte wirklich daran, dass sie überleben würde. Zu klein, zu schwach, zu blass, zu still. Aber sie überraschte Mathilde, überraschte ihren Vater, überraschte ihre Mutter. Sie wurde ein Jahr alt, dann zwei, dann drei. Sie blieb kleiner als die anderen, robusten Kinder im Viertel, und ihre Schüchternheit war grenzenlos. Mathilde hörte nie auf, sich Sorgen um die Lütte zu machen. Aber wenn sie mit ihrem Bruder oder seiner Frau darüber sprach, winkten diese nur ab.

»Das wächst sich schon zurecht«, meinte Fritz, und Viola verstand überhaupt nicht, wovon sie überhaupt redete.

Ihr Vater trug Greta stolz auf seinen Schultern zum Hafen hinunter, um ihr den Viermaster zu zeigen, mit dem er schon bald wieder in See stechen würde, Kurs Buenos Aires. Ihre Mutter saß stundenlang mit ihr am Fenster, las ihr Gedichte von Heinrich Heine vor und freute sich an dem aufgeweckten Geist ihrer Tochter. Greta verstand zwar nicht den tieferen Sinn der Lyrik, aber sie weinte an den richtigen Stellen, weil sie Tränen in den Augen der feenhaften Mutter entdeckte. Die Arbeit im Haushalt überließ Viola ihrer in allen praktischen Dingen so gewandten Schwägerin. Damals hatte die Familie in einer hellen Zweizimmerwohnung an der Lohmühlenstraße gewohnt. Das vordere Fenster ging auf einen von jungen Buchen umstandenen kleinen Park hinaus, den Abort im Treppenhaus mussten sich die Vossens nur mit zwei anderen Parteien teilen. Fritz bekam als Maat eine anständige Heuer, und er gehörte nicht zu den Seeleuten, die in fremden Häfen ihr Geld mit Freudenmädchen und billigem Rum durchbrachten.

Mathilde übernahm klaglos alle Pflichten. Sie war mit einem Platz auf dem abgewetzten Sofa zufrieden, stand früh um fünf auf und kam selten vor zehn Uhr am Abend zur Ruhe. Der Tag begann mit dem Anschüren des Feuers im Ofen. Viola fror immer, selbst im Hochsommer. Dann folgte der Gang zum Markt, und erst danach weckte Mathilde die kleine Greta. Das war der schönste Moment des Tages. Wenn die Kleine die Augen öffnete, ihre Tante anstrahlte und sich kurz darauf heiße Milch mit Honig einflößen ließ. Danach rasten die Stunden vorbei, waren angefüllt mit Pflichten, die noch um einiges größer waren, wenn ihr Bruder zu Hause war. Er verlangte besonders herzhaftes Essen, um den Fraß aus gepökeltem Fleisch, Graupen und Schiffszwieback auf dem Segler zu vergessen. Fritzens Kleidung musste gewaschen und geflickt werden, und oft genug galt es, auch noch seine Gäste zu bedienen.

Mathilde versäumte darüber ihr eigenes Leben, versäumte es ohne Bedauern, weil keiner ihrer Verehrer ihr Herz so berührte wie die kleine Greta. Zumindest nicht nach dem einen Mann, den sie wirklich geliebt hatte und der nicht zurückgekehrt war aus dem Krieg.

Zudem war sie frei. In den langen Monaten, in denen Fritz auf See war, führte sie eigenständig den kleinen Haushalt. Kein Mann sagte ihr, was sie zu tun hatte, niemand erteilte ihr Befehle. Mathilde Voss war keine gebildete Frau. Sie las keine Zeitung, hatte noch nie etwas von der bürgerlichen Frauenbewegung gehört, und sie interessierte sich nicht für Kämpfe gegen das sichtbare und das unsichtbare Korsett. Sie war einfach nur zufrieden mit ihrem Leben, so wie es war. Und als Greta fünf wurde, Viola etwas kräftiger war und Mathilde im Haushalt weniger gebraucht wurde, da suchte sie sich Arbeit. Sie hatte Glück, fand eine Stellung in der Küche der Familie Hansen und verdiente bald neun Reichsmark in der Woche. Es waren gute Jahre, die besten im Leben der Mathilde Voss.

Greta wuchs zu einer Schönheit heran, erhielt Unterricht von ihrer Mutter, stahl sich aber immer wieder davon, um von ihrer Tante alles über die gutbürgerliche Hamburger Küche zu lernen. Mathilde liebte es, ihr Wissen an die Nichte weiterzugeben. Allerdings musste sie Greta auch oft genug zur Ordnung rufen. Das Mädchen war für Mathildes Geschmack viel zu experimentierfreudig. Sie stellte Rezepte, die sich seit hundert und mehr Jahren bewährt hatten, einfach in Frage und mischte Zutaten auf eine Art neu zusammen, bei der sich bei Mathilde die Nackenhaare aufstellten. Zu ihrer Überraschung schmeckten die Kreationen manchmal gar nicht schlecht. Zum Beispiel dieser Hecht mit Kaviarsoße, dem Greta einmal zusätzlich ein Mus aus Erdbeeren beigemischt hatte. Erdbeeren zum Hecht! Unerhört! Aber dann hatte Mathilde heimlich einen Löffel voll probiert und war überrascht gewesen. Das war wie … wie … sie fand keine Worte für den Geschmack, aber genügend, um Greta auszuschimpfen. »Wir haben zu kochen, was die Herrschaft befiehlt. Nichts anderes!«

Greta hatte folgsam genickt, aber Mathilde wusste ganz genau, dass ihre Nichte weiter Neues versuchen würde.

Dazu kam noch Gretas ausgeprägte Leidenschaft für das Backen. Sicher, eine Köchin musste sich auch auf diesem Gebiet auskennen, aber besondere Kreationen waren in einem Haushalt wie dem der Hansens nicht gefragt. Und wenn es wirklich einmal etwas Außergewöhnliches sein sollte, dann wandte sich die Herrin an eine Conditorei. Wie sollte eine Köchin es auch schaffen, neben der vielen anderen Arbeit stundenlang Kuchenteige zu rühren und Glasuren anzufertigen? Nein, Mathilde kannte ihre Grenzen, Greta nicht. Immer wieder erwischte Mathilde ihre Nichte, wie sie in einem ruhigen Moment mit Eiern, Mehl, Zucker und anderen Zutaten herumprobierte.

Manchmal dachte Mathilde, Gretas Schüchternheit sei nur eine Maske, hinter der sich ein starkes und tatkräftiges Mädchen versteckte. Aber sie fragte sich, ob diese Stärke jemals zum Vorschein treten würde. Bislang erschien ihr Greta viel zu weich, zu nachgiebig, nicht geschaffen für den harten Lebensalltag.

Mathilde seufzte. Sie dachte an die guten Jahre, als Greta sie oft am Harvestehuder Weg besucht hatte. Damals stand ihr die Welt offen, sie würde eine gute Partie machen, und ihre Fähigkeiten in der Küche würden eines Tages ihrer Familie zugutekommen.

Dann geschah die Tragödie, und nichts war mehr wie zuvor. Auf dem Rückweg von Rio de Janeiro sank Fritz Vossens Schiff vor den Azoren, kein Mitglied der Besatzung kehrte je zurück. Am schlimmsten traf das Unglück Greta. Mathilde hatte gar nicht gewusst, wie sehr das Mädchen am Vater hing, den es doch nur wenige Wochen im Jahr sehen konnte. Aber an einem Tag kam Greta noch in die Villa, am nächsten war sie wie ausgewechselt, weinte um ihren Vati, weinte, als wäre viel mehr geschehen als dieses Unglück. So jedenfalls empfand es Mathilde. Und ein paar Monate später kündigte Greta an, sie müsse für eine Weile fort. Weder ihrer Mutter noch ihrer Tante sagte sie, wohin. Da half kein Betteln und kein Drohen. Und als sie endlich wiederkam, mehr als ein halbes Jahr später, wirkte sie verändert, älter und schmaler, mit einem dunklen Schatten in den Augen, der vorher nicht da gewesen war. Mathilde hatte nie herausgefunden, was in der Zeit ihrer Abwesenheit mit Greta geschehen war.

Inzwischen hatte der Abstieg der Familie begonnen. Alle Ersparnisse waren verbraucht, die schöne Wohnung musste aufgegeben werden, bald gab es nur noch einmal im Monat Fleisch oder Fisch auf dem Tisch. Viola musste frieren, weil das Geld für Feuerholz fehlte, ein Kleid wurde so lange geflickt, bis es auseinanderfiel. Für Greta hatte die Mutter eine höhere Schulbildung erträumt, aber nun musste ihre geliebte Tochter arbeiten gehen. Für Viola Voss war dies die größte Schande, aber Greta empfand es als eine Befreiung.

Das Schweigen zwischen Mathilde und Greta dauerte schon viel zu lange. Selbst die Küchenmädchen waren verstummt.

»Du hast mir doch alles beigebracht«, wiederholte Greta im Flüsterton, trotzdem hallte ihre Stimme in der stillen Küche laut wie ein Echo in den Bergen wider.

Mathildes Augen funkelten – ob vor Zorn oder vor Traurigkeit, vermochte Greta nicht zu beurteilen. »Beim lieben Herrgott, das ist wahr. Ich habe dich zu mir in die Lehre genommen, weil dein armer Vater auf See verschollen ist. Ich glaubte, ich sei es meinem Bruder schuldig, für dich und seine kränkliche Frau zu sorgen. Und das ist nun der Dank! Du machst mir nur Schande.«

Augenblicklich meldete sich bei Greta das schlechte Gewissen. Sie gab nach, schnell und kampflos, wie es ihre Art war. »Verzeih, Tante. Ich wollte gewiss nicht unhöflich sein.«

Mathilde Voss, im Grunde ihrer Seele ein herzensguter Mensch, ließ die Arme sinken. »Nun gut. Aber lass dir einen Rat geben. Halte dich fern vom schönen Christoph Hansen.«

Greta lief dunkelrot an. »Der junge Herr und ich sind nur … wir …«

»Ihr kommt aus zwei verschiedenen Welten, begreif das doch. Christoph ist der jüngste Sohn in einer Dynastie von Bankiers, und du, mien Deern, bist nur die Tochter eines Seemanns aus Altona. Was glaubst du wohl, wohin so etwas führt?«

Greta senkte den Kopf. Ihr war, als hätte die Tante diesmal ihr einen Schlag mit dem Nudelholz verpasst.

2

Brrrr«, rief Siggo laut. »Ganz ruhig, meine Dicken.« Aber Max und Moritz, die beiden Kaltblüter im Geschirr, warfen ihre kräftigen Köpfe hoch und wieherten nervös. Keine zwei Meter vor ihnen donnerte eines dieser Automobile vorbei. In der Zeitung wurde so ein Ding als lärmender, übelriechende Dünste und Staubwolken verursachender Karren bezeichnet, der die öffentliche Sicherheit gefährde.

Siggo war nicht mit allem einverstanden, was in den Altonaer Nachrichten stand, aber in diesem Punkt gab er dem Blatt recht: Automobile waren eine Plage der Menschheit. Wie zum Teufel sollte er vom Hafen heil zurück in die Georgstraße kommen, wenn ihm schon hier an der Palmaille eines dieser knatternden Fahrzeuge begegnete? Er zog fest die Fahrleine an und sprang vom Kutschbock seines Fuhrwerks. Die Pferde schnaubten und rollten mit den Augen.

»Ist ja gut«, sagte Siggo mit fester Stimme. »Euch passiert nichts.« Schon bedauerte er es, nicht die beiden schweren belgischen Kaltblüter angespannt zu haben. Die waren nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Aber Max und Moritz, seine fuchsfarbenen Schleswiger, besaßen mehr Temperament und eigneten sich deshalb besser für einen schnellen, kurzen Transport wie diesen. Zwanzig Sack bester Kaffee aus Brasilien für den Großhändler Müller an der Wilhelmstraße.

»In zwei Stunden muss die Ware am Lager sein«, hatte der Bote ausgerichtet. Er war nur ein magerer Junge, und seine abgerissene Kleidung schlotterte an seinem Körper, aber die Wichtigkeit des Auftrags ließ seine Augen leuchten. »Sonst wendet sich der Herr Kommerzienrat Müller das nächste Mal an Oswald Lohmann, soll ich ausrichten.«

Siggo hatte mit den Zähnen geknirscht. Lohmann war sein schärfster Konkurrent. Auf keinen Fall durfte er einen neuen Kunden wie Müller an ihn verlieren.

»Wird erledigt«, hatte er deshalb zu dem Laufburschen gesagt und war in den Stall gerannt, um Max und Moritz anzuspannen. Der Junge hatte sich auf einen Strohballen gesetzt und ihm zugesehen.

»Das will ich auch einmal werden.«

»Was denn?«

»Kutscher.«

»Ich bin kein Kutscher, sondern Fuhrunternehmer.«

»Ach so.«

»Wie heißt du, Bursche?«

»Oliver. Oliver Kuhn.«

»Hab dich hier noch nie gesehen.«

»Ich wohn da drüben.« Mit einem dreckverkrusteten Zeigefinger hatte der Junge auf das graue Mietshaus am anderen Ende der Straße gezeigt. Dann war er aufgesprungen und davongelaufen, und als Siggo den Pritschenwagen die Georgstraße hinunterlenkte, hatte er ihn bereits vergessen.

Das Automobil fuhr knatternd um die nächste Häuserecke, und Siggo konnte wieder auf den Kutschbock steigen. Er schnalzte mit der Zunge, ließ die Fahrleine einmal kurz auf die beiden Pferderücken fallen, und schon zogen Max und Moritz brav wieder an. Siggo nickte zufrieden. Noch nie hatte er die Pferde mit der Peitsche schlagen müssen. Sein Vater Erik Freesen hatte das allerdings stets als eine dumme Marotte der Jugend abgetan. »Du verdirbst die Gäule«, hatte er oft geschimpft, als er noch am Leben teilnahm. »Und du bist ein Schwächling. Aus dir wird nie ein ganzer Kerl.«

Siggo, damals zehn oder zwölf, war unter den Worten zusammengezuckt. Er wusste, der Vater verachtete ihn, weil er nicht so hart war wie er selbst. Dabei wünschte er sich doch nichts mehr auf der Welt, als vom Vater einmal gelobt zu werden. Nur, die Peitsche sausen zu lassen – das brachte er einfach nicht fertig. Erik Freesen lachte bitter auf. »Ich hab’s gewusst, mein Sohn Siegmar ist ein Feigling.« Schon damals nannte er ihn niemals bei seinem Spitznamen Siggo, und er verzichtete niemals auf die Peitsche, wenn sie seiner Meinung nach nötig war – bei dem weinerlichen Jungen oder bei den ungehorsamen Rössern. Der Junge wurde irgendwann zu groß dafür, überragte den Vater bald um Haupteslänge, aber die Rösser setzten sich nie zur Wehr. Erik Freesen war nicht von Natur aus grausam, aber sein eigener Vater hatte ihn mit Härte erzogen. Von ihm hatte er auch den Umgang mit den Pferden gelernt. Seit jedoch Siggo das Sagen hatte, wurde kein Pferd mehr geschlagen.

Im Stall von Oswald Lohmann ging es anders zu. Der Mann war in ganz Altona berüchtigt dafür, dass er die Kruppen seiner Gäule mit roten Striemen übersäte, aber die Meinung der Leute interessierte ihn nicht. Für ihn zählte nur das Geld, das er scheffeln konnte, und wenn ein Gaul nicht spurte, wurde der erst halb totgeschlagen und dann kam er zum Abdecker. Billigen Nachschub gab es jederzeit. Lohmann unternahm berüchtigte Fahrten übers Land, presste den notleidenden Bauern ihre besten Tiere für einen Hungerlohn ab und verschliss sie dann in wenigen Monaten. Die Kutscher, die für ihn arbeiteten, waren aus demselben Holz geschnitzt. Männer mit einem Gewissen oder gar Tierliebe stellte Lohmann gar nicht erst ein.

Wenn Siggo zufällig Zeuge einer solchen Quälerei wurde, musste er seine gesamte Willensstärke aufbieten, um nicht einzugreifen. Alles in ihm drängte danach, einem geschundenen Tier zu Hilfe zu eilen. Aber er wusste: Lohmann wartete nur auf eine solche Gelegenheit, und dann würde er den verhassten jungen Konkurrenten in die Knie zwingen. Nicht auszuschließen, dass Siggo dann selbst die Peitsche zu spüren bekommen würde. Schlimmer noch: Lohmanns Kutscher, das wusste Siggo aus sicherer Quelle, hatten Anweisung, jeden Mann windelweich zu prügeln, der es wagte, sie anzugreifen. Aus reiner Notwehr würden sie handeln, und ein gewisser Siegmar Freesen sollte dabei nicht unbedingt mit dem Leben davonkommen. Selber schuld, wenn er sich in Angelegenheiten mischte, die ihn nichts angingen. Und Siggo, dieser große starke Kerl, der nichts und niemanden zu fürchten schien, war sich im Grunde seines Herzens nicht sicher, ob er sich tapfer schlagen würde. Zu tief saßen die Schmähungen des Vaters, die er sich seine ganze Kindheit lang hatte anhören müssen.

Die Schleswiger schnaubten zufrieden, warme Atemwolken stiegen von ihren Mäulern auf, die Kruppen wiegten sich im gleichmäßigen Rhythmus. Siggo verdrängte seine trüben Gedanken und rief: »Hühott, meine Dicken, bald habt ihr es geschafft.«

Als hätten sie ihn verstanden, legten sich Max und Moritz mit noch mehr Kraft ins Geschirr. Siggo nickte zufrieden. Seine Art, die Pferde zu behandeln, war die richtige. Davon war er felsenfest überzeugt. Eines Tages, vielleicht im nächsten Jahrhundert, würde kein Tier mehr von Menschen gequält werden, und die Kutscher landauf, landab würden sich an ihm, dem unbedeutenden Fuhrmann Siegmar Freesen aus Altona, ein Beispiel nehmen. Bis dahin musste ihm der Erfolg genügen, den er mit eigenen Augen sehen konnte. Die beiden Schleswiger und die zwei belgischen Kaltblüter waren gute, fleißige Arbeitstiere, die auf ein Zungenschnalzen und eine leichte Berührung mit der Fahrleine reagierten und sich keinem Befehl verweigerten.

Er musste an das halbe Dutzend weiterer Pferde denken, das noch vor fünf Jahren im väterlichen Stall gestanden hatte, und sein Gefühl von Zufriedenheit verschwand. Das war, bevor sich Oswald Lohmann im Viertel breitgemacht hatte und jedes unlautere Mittel anwandte, um Erik Freesen die Kunden wegzunehmen.

Damals war Siggo gerade nach Lüneburg abgereist, um in der alten Salzstadt ein eigenes Unternehmen zu gründen. Er hatte es nicht mehr ausgehalten, an der Seite des Vaters zu arbeiten. Wenn er jemals ein richtiger Mann werden wollte, das war ihm klar gewesen, musste er sich woanders ein eigenes Leben aufbauen. Der Neuanfang in Lüneburg war hart gewesen, und Siggo hatte so manches Mal ans Aufgeben gedacht. Vielleicht hatte der Vater ja recht. Vielleicht war er wirklich nur ein Weichling. Erst nach und nach fasste er Fuß, und mit jedem kleinen Erfolg wuchs sein Selbstbewusstsein. Doch dann hatte die Mutter telegraphiert und ihn zurückgerufen: »Vater vor dem Ruin. Bitte komm.«

Nach einem Zweitagesritt war er hundemüde in der Georgstraße angekommen und hatte eine weinende Mutter und einen vor Kummer gebrochenen Vater vorgefunden. Nichts war mehr übrig von dem strengen, manchmal harten Mann, und das machte Siggo mehr Angst, als er zugeben konnte. Er durfte keine Schwäche zulassen, wenn er verhindern wollte, dass die Eltern im Armenhaus landeten. Schon am nächsten Morgen hatte Siggo das Unternehmen übernommen und hielt seine Familie seitdem gerade eben über Wasser. Nur vier Pferde hatte er behalten können, außerdem den Pritschenwagen, einen Leiterwagen und eine leichte Kutsche.

Zur gleichen Zeit erweiterte Oswald Lohmann sein Geschäft, kaufte Wagen und Pferde dazu, stellte neue Leute ein und verkündete lauthals, er werde nach dem alten Freesen auch den jungen noch vor Jahresfrist aus dem Geschäft drängen. Nun, dachte Siggo, das behauptete Lohmann nun schon seit fast fünf Jahren. Bisher war es ihm nicht gelungen, denn trotz aller Schwierigkeiten hielt sich das Fuhrunternehmen Freesen immer noch im Geschäft.

Siggo fröstelte plötzlich, und das lag nicht an der feuchtkalten Novemberluft, die unter seinen mit Kaninchenfell gefütterten Paletot kroch. Er hatte die Bahnhofstraße passiert und lenkte den Wagen nun über die Allee auf sein Ziel zu. Ein Blick auf Vaters Taschenuhr beruhigte ihn. Kurz vor vier. Er würde seine Ware rechtzeitig abliefern. Der Zwischenfall mit dem Automobil hatte ihn nur wenige Minuten seiner kostbaren Zeit gekostet.

Eine halbe Stunde später erreichte er den Hof der Firma Müller. Der kurze Novembertag ging bereits in die Abenddämmerung über, die erhitzten Pferde zitterten in der heraufziehenden Kälte. Siggo sprang vom Kutschbock, holte zwei alte Decken aus einer Kiste auf der Ladefläche und warf sie über die breiten Rücken. Max und Moritz blieben vorbildlich stehen, kauten auf ihren Gebissen und wieherten leise. Siggo zog seinen Paletot aus, legte ihn sorgfältig zusammen und begann mit dem Abladen. Niemand kam ihm zu Hilfe, und er knirschte mir den Zähnen. Er war Fuhrunternehmer, kein Lastenträger. Aber Standesdünkel konnte er sich in seiner Lage nicht leisten. Und wer wusste schon: Vielleicht wollte ihn der Großhändler auf diese Weise prüfen? Wollte er feststellen, dass ein Siegmar Freesen sich nicht zu fein für eine Knochenarbeit war?

Wie aus dem Nichts tauchte der dünne Junge wieder neben ihm auf.

»Wo kommst du denn her?«, fragte Siggo und ächzte unter einem dreißig Kilogramm schweren Kaffeesack. Der Geruch der ungebrannten Bohnen reizte seine Nase und machte ihn schwindelig.

»Wollte nur sehen, ob du den Auftrag auch erledigt hast«, sagte Oliver und setzte eine wichtige Miene auf. In dem dreckverschmierten spitzen Gesicht wirkten die herabgezogenen Mundwinkel und die nach oben weisenden Augenbrauen aber eher ulkig. Siggo verkniff sich ein Grinsen. Er konnte sich gut daran erinnern, wie man sich fühlte, wenn man von Erwachsenen nicht ernst genommen wurde.

»Wie du siehst, bin ich pünktlich.«

»Vortrefflich«, meinte der Junge. »Meiner Ehre als zuverlässiger Bote ist dies gewiss zuträglich.«

»Red nicht so hochgestochen, sondern finde lieber heraus, wo ich die Säcke hinbringen soll.«

Oliver flitzte davon, verschwand in einem der zwei Lagerhäuser und war schon wenige Augenblicke später wieder da.

»Hab bloß ’nen pennenden Wachmann gefunden«, informierte er Siggo und vergaß ganz seine einstudierte feine Sprache. »Wenn ich meine Arbeit so machen würde wie der, dann wäre ich schon zehnmal verhungert.«

Siggo fand, der Junge sah ohnehin nicht besonders wohlgenährt aus, sagte aber nichts. Wo käme er hin, wenn er sich um jeden zerlumpten Straßenbengel Sorgen machen würde? Die liefen doch zu Dutzenden in Altona herum, hatten manchmal ein Zuhause, manchmal nicht, stahlen wie die Raben und verkrochen sich in den tiefsten Löchern. Hauptsache, sie wurden nicht vom Pastor erwischt oder von den wohltätigen Damen des Weiblichen Vereins für Armen- und Krankenpflege, den vor vielen Jahren die Hamburgerin Amalie Sieveking gegründet hatte. Dann drohte die Einweisung in ein Waisenheim. Lieber hungern und frieren, als die Freiheit aufzugeben, das war ihr Motto. Außerdem war es doch nur noch eine Frage von wenigen Jahren, bis sie groß genug sein würden, um auf einem Schiff anzuheuern. Dann würden sie die Welt umsegeln, in Südamerika einen alten Inkaschatz ausgraben, in den afrikanischen Kolonien des Deutschen Reiches eine Goldmine entdecken oder im fernen China mit dem Handel von Seide und Gewürzen reich werden. Und eines Tages würden sie heimkehren, als wohlhabende Männer, geachtet vom einfachen Volk, aufgenommen in den Kreis der vornehmen Bürger.

Siggo hatte noch nie von einem Jungen gehört, der sich einen solchen Traum tatsächlich erfüllen konnte, aber das hielt keinen davon ab, sich die Zukunft in schillernderen Farben vorzustellen, als sie jede Laterna magica zeigen konnte.

Doch etwas gab es, was Oliver von den anderen Straßenbengeln unterschied. Siggo ächzte unter dem schweren Kaffeesack und kam nicht darauf, was es war. Leicht schwankend folgte er dem Jungen in die Richtung des Lagerhauses.

»Hinter dem schlafenden Wachmann ist Platz genug«, rief Oliver über die Schulter. »Hauptsache, die Ware liegt im Trockenen.«

Siggo stieß ein anerkennendes Brummen aus. Kluges Bürschchen, dachte er.

Noch neunzehnmal musste er die Strecke zwischen Pritschenwagen und Lagerhaus zurücklegen, und bald dampfte er wie vorher seine Pferde. Oliver lief eine Weile neben ihm her, dann kümmerte er sich um Max und Moritz, brachte ihnen Wasser in einem schweren Eimer, den er mehrmals abstellen musste, bis er die durstigen Pferde erreicht hatte. Siggo wollte einen Warnruf ausstoßen, aber es war nicht nötig. Oliver hatte von selbst daran gedacht, das kalte Wasser mit Stroh zu bedecken, damit Max und Moritz nicht zu viel auf einmal saufen konnten. Ihre noch warmen Leiber hätten auf die zu rasche Abkühlung mit Krankheit reagiert.

»Du verstehst was von den Gäulen, mien Jung«, sagte Siggo anerkennend. Der letzte Sack war im Lagerhaus verstaut, er gönnte sich eine kurze Pause.

»Bin auf dem Land groß geworden«, erwiderte Oliver. Dann senkte er den Kopf, nicht gewillt, mehr zu verraten. Einen Moment lang betrachtete Siggo ihn nachdenklich, und auf einmal wusste er, was anders war an Oliver. Er war viel zu jung! All die anderen Burschen waren mindestens zwölf, eher aber vierzehn Jahre und älter. Erst dann waren sie gewitzt genug, den wohltätigen Häschern zu entkommen.

»Wie alt bist du?«, fragte er.

»Im Frühjahr werde ich zehn«, sagte Oliver, streckte sich zur vollen Höhe, was nicht viel war, hob wieder den Blick und sah Siggo aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen an. »Warum willst du das wissen?«

»Nur so.« Bevor er mehr sagen konnte, hörte er in seinem Rücken eine dröhnende Männerstimme nach ihm rufen. Er wandte sich um, sah noch aus den Augenwinkeln, wie Oliver sich verdrückte, und ging dann auf den Mann zu, in dem er seinen Auftraggeber vermutete.

»Prächtig, prächtig!«, rief Kommerzienrat Müller und schlug Siggo auf die breiten Schultern. Er war fast so groß wie der junge Fuhrunternehmer, besaß volles stahlgraues Haar und einen breiten Schnurrbart, gestutzt nach der Mode des Kaisers. Sein runder Bauch und die rote Gesichtsfarbe zeugten von einer Neigung zu Gemütlichkeit und gutem Essen, aber seine hellen, scharf blickenden Augen verrieten ihn. Siggo erkannte sogleich, dass er einen intelligenten und streng kalkulierenden Geschäftsmann vor sich hatte.

»Ein Mann, der sich für keine Arbeit zu schade ist, der ist ganz nach meinem Geschmack.«

Also doch, dachte Siggo. Eine Prüfung.

»Aus Ihnen kann noch etwas werden, Bursche«, fügte Müller jovial hinzu.

Siggo nickte und biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte. Zu gern hätte er dem Kommerzienrat erklärt, dass er der Erbe eines alteingesessenen Unternehmens war, das bis vor kurzem noch floriert hatte. Aber solche Dinge interessierten Müller nicht, vermutete er. Mit Leuten, die über ihre Not lamentierten, wollte er gewiss keine Geschäfte machen.

»Stets zu Diensten«, sagte er daher nur. Müller griff in seine Westentasche, fischte ein paar Münzen heraus und warf sie ihm zu.

Geschickt fing Siggo sie auf. Vier Reichsmark! Das war mehr als großzügig. Hoffnung flammte in ihm auf. Gut möglich, dass von dem Großhändler von nun an mehr Aufträge kämen. Für das Fuhrunternehmen Freesen konnte ein fester Kunde wie Müller die Rettung vor dem Bankrott bedeuten.

Obwohl er noch schwitzte, warf er sich seinen Paletot wieder um die Schultern. Eine Erkältung konnte er sich nicht leisten. Den Pferden nahm er die Decken ab, schwang sich dann auf den Kutschbock und griff nach der Fahrleine. Mehr Aufforderung brauchten Max und Moritz nicht. Sie witterten schon den heimatlichen Stall und zogen den nun leichten Wagen flott durch den dunklen Herbstabend.

3

Im Souterrain der Villa Hansen hatte früher an diesem Abend die junge Köchin Greta mit den Tränen gekämpft. Deutlicher hätte ihre Tante nicht werden können. Und es stimmte ja. Christoph war der jüngste Spross einer vornehmen Hamburger Bankiersfamilie, und sie, Greta, nur die Tochter eines Seemanns aus Altona. Nur? Greta straffte sich, Traurigkeit verwandelte sich in eine Mischung aus Stolz und Trotz. Sie würde sich ihrer Herkunft nicht schämen.

Niemals!

Greta beschwor das Bild ihres Vaters herauf. Lange war es her, seit sie als Kind voller Vorfreude quer durch Altona am Rathaus entlang und über den Marktplatz bis zum Osthafen an der Elbe gerannt war, um auf das Einlaufen des prächtigen Viermasters zu warten. Dort wimmelte es von Schauerleuten, die Ladungen löschten und abfahrende Schiffe beluden. Riesige Tuchballen, Kaffeesäcke oder Rumfässer wurden scheinbar ziellos am Kai hin und her geschleppt, und doch herrschte eine klare Ordnung. Es roch nach dem brackigen Wasser der Elbe, nach fauligem Fisch und nach dem Bierdunst aus den Hafenkneipen. Rauch stieg auf, Pfiffe ertönten, und über allem hing das Kreischen der Möwen und das Knattern der großen Segel im scharfen Wind. Stundenlang hätte Greta dem Schauspiel beiwohnen können. Welch ein Leben! Dieser Wald von Masten. Dieses Gewirr von Tauen. Hier war alles so viel lebendiger als daheim bei ihrer stillen Frau Mutter, die mit der Tochter neuerdings nur noch Französisch parlierte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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