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Das Glück liegt in den Vierlanden Maike Matthiesen muss immer die Wahrheit sagen. Nach einem Sturz verspürt die sonst so distanzierte Hotelmanagerin einen unerklärlichen Zwang, jedem auf den Kopf zuzusagen, was sie gerade denkt - auch ihren Gästen. Ein berufliches Desaster! Vor dem Zorn ihres Chefs flieht die 48-Jährige in ihre Heimat, die Vierlande. Doch dort erwarten Maike nicht nur Windmühlen und Blumenfelder, sondern auch eine alte Liebe und jede Menge Konflikte. Vor allem mit Stiefmutter Rosa, mit der sie seit Jahren nicht gesprochen hat. Erst langsam beginnt Maike zu begreifen, wie hart Rosas Leben als junge Frau auf einem Vierländer Hof gewesen sein muss. Jetzt da Maike selbst in einer Krise steckt, kann sie Rosa plötzlich verstehen und fragt sich, ob sie die Frau, die sie immer abgelehnt hat, eigentlich kennt ... Die unterhaltsame und warmherzige Geschichte einer Frau, die sich der Vergangenheit stellt und dabei die Liebe findet.
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Das Buch
Ausgerechnet am Brunnen der Vierländerin in Hamburg verletzt sich die ehrgeizige Hotelmanagerin Maike Matthiesen bei einem Sturz am Kopf. Die 48-Jährige kommt erst im Krankenhaus wieder zu sich, und zum Glück ist ihr nichts Ernsthaftes passiert. Allerdings spürt sie seitdem den unerklärlichen Zwang, anderen Menschen stets die Wahrheit zu sagen. Ein Fluch und Segen zugleich. Maike fühlt sich plötzlich wie befreit. Gleichzeitig eckt ihr neues Verhalten gehörig an, nicht nur bei ihrem Freund Robert, sondern auch bei den Hotelgästen. Als ihr vom Chef eine Auszeit nahegelegt wird, beschließt sie, zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder in ihre Heimat zu fahren, die Vierlande. Doch auch dort warten nicht nur grüne Deiche und eitel Sonnenschein auf sie. Maikes Jugendliebe erscheint plötzlich auf der Bildfläche, und die alten Konflikte mit ihrem Vater und vor allem mit ihrer Stiefmutter Rosa schwelen noch. Erst allmählich wird Maike klar, dass auch ihre Stiefmutter keinen leichten Stand hatte. Rosa kam einst in die Vierlande, um auf dem Hof ihres Onkels zu arbeiten – ein hartes Los für eine junge Frau Anfang der sechziger Jahre. Langsam beginnt Maike zu verstehen, dass die Vergangenheit ihrer Familie noch immer ihr Leben bestimmt, und sie beschließt, herauszufinden, was ihr wirklich wichtig ist.
Die Autorin
Brigitte Janson heißt eigentlich Brigitte Kanitz und wurde 1957 in Lübeck geboren. Viele Jahre war Hamburg ihre Wahlheimat, wo sie als Journalistin arbeitete. Heute lebt sie in den italienischen Marken.
Von Brigitte Janson sind in unserem Hause bereits erschienen:
Die Tortenbäckerin · Der verbotene DuftWinterapfelgarten · Holunderherzen
BRIGITTE JANSON
WIND-MÜHLEN-TRÄUME
ROMAN
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1642-0
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: Getty Images / © Anton Petrus
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Alle Rechte vorbehalten
Für meine Stieftöchter Raffaella und Francesca. Ihr habt das Beste aus eurem Schicksal gemacht, und dafür bewundere ich euch.
Südwerder, Vierlande, 1984
Sie legte den Kopf in den Nacken, kniff die Augen zusammen und schaute nach oben. Kurz wurde ihr schwindelig, und die runde Außenwand tanzte in ihrem Blickfeld hin und her.
Aber dann fasste sie sich wieder. Letzte Sonnenstrahlen trafen auf mattgrüne Farbe und tauchten sie in warmes, lockendes Licht.
Die junge Frau begriff, sie musste sich beeilen. Wenn erst die Dämmerung über das weite, flache Land fiel, war es zu spät. Dann würde sie nicht mehr erkennen können, wonach sie sich so sehnte. Die Weite. Die Ferne.
Schon kroch die Feuchtigkeit des schweren, fruchtbaren Bodens heran, von der Elbe mit ihren zwei Seitenarmen geschickt, um die Nacht in Besitz zu nehmen. Am Tag ließ der warme Sommer die Menschen vergessen, dass sie auf Gedeih und Verderb dem Wasser ausgeliefert waren. Nachts gehörte das Land den Flüssen und Prielen, den Bächen, Teichen und Gräben.
Manch einer war umgekommen, weil er im Dunkeln in einen Wasserlauf gestürzt war, viele hatten ihre Existenz verloren, wenn der große Strom sich zurückholte, was die Menschen ihm über Jahrhunderte mühsam abgetrotzt hatten.
Die Frau am Fuß der metallenen Leiter packte die unterste Sprosse, zog sich hoch, setzte den linken Fuß darauf und kletterte los, den Blick fest in den Himmel gerichtet.
Hie und da war eine Sprosse rostig, und die Frau konnte nur hoffen, dass sie nicht abstürzte.
Hundert Meter Luftlinie entfernt stand die große Windmühle von Südwerder, der alte Holländer. Noch lieber wäre sie dort raufgeklettert, denn er war viel höher. Doch sie wäre nicht unbemerkt geblieben. Vor kurzem hatte in der Mühle ein Café geöffnet, und es herrschte reger Betrieb.
Hier auf dem Hof hingegen war alles ruhig. Ihr Mann war nach Lüneburg zu einer Landwirtschaftsschau gefahren, ihre Tochter verbrachte den Tag mit einer Freundin in Hamburg.
Niemand konnte sie aufhalten.
Auf halber Strecke hielt sie einen Moment inne, um Atem zu schöpfen. Sie hatte nicht bedacht, dass es so anstrengend sein würde. Und so weit. Mehr als dreißig Meter ging es senkrecht in die Höhe. Ein Zittern lief ihr durch Arme und Beine. Aber sie würde nicht aufgeben, denn sie wusste, sie wurde reich belohnt, wenn sie erst einmal oben war. Mit einem Blick, so weit, dass sie vielleicht die Hamburger Türme sehen konnte. Mit diesem Gefühl von Freiheit, das sie nur dann spürte, wenn sie ein Dach oder einen Baumwipfel erklommen hatte.
Der Futtersilo, an dem sie hochkletterte, war erst vor zwei Tagen bis oben hin mit frischem Weizenschrot gefüllt worden. Ihr Mann hoffte, das Vieh damit durch Herbst und Winter zu bringen. Er hatte gestöhnt über die explodierenden Kosten, hatte gesagt, er müsse wohl bald die zwanzig Schwarzbunten abstoßen. Es lohne sich nicht mehr, Milch zu produzieren. Mit all den neuen Gesetzen könne niemand überleben. Die achtziger Jahre würden den Niedergang der Landwirtschaft bedeuten, und dann könnten die feinen Herren in Brüssel zusehen, dass sie ihre eigenen Papierberge fraßen.
Wie immer hatte sie nur mit halbem Ohr zugehört.
Sie interessierte sich nicht für seine Probleme.
Endlich war sie oben und hockte sich erschöpft auf die geschlossene Einfüllluke. Dann schaute sie sich um und genoss den Ausblick über das Land.
Ein Geräusch lenkte sie ab. Ein leises Knacken. Noch bevor sie verstand, was geschah, brachen die verrosteten Scharniere der Luke durch.
Sie schrie auf, als sie in den Rundsilo stürzte. Ihre Beine tauchten in die weiche, körnige Masse ein, sie schnappte entsetzt nach Luft, als ihr Körper weiter und weiter versank, nach unten gezogen wie von Treibsand.
Das Getreide bedeckte schon ihre Schultern, als sie das entsetzte Gesicht ihres Mannes über sich sah.
Hamburg, Gegenwart
Die Vierländerin schaute gleichmütig in die Ferne und bewegte sich nicht fort. Seit Jahrzehnten stand sie dort auf dem Hamburger Hopfenmarkt – ein Denkmal für die Gartenbauern und Grünhöker ihrer Heimat, geschützt von einem Himmel aus Gusseisen.
An diesem ersten Samstag im Oktober lief ein stetiger Nieselregen vom Baldachin ab und plätscherte in den Brunnen am Fuß der Statue.
Wie jeden Morgen senkte Maike den Blick, als sie an dem Denkmal vorbeilief. Wenn sie aufschaute, das wusste sie, umschwirrten sie die Erinnerungen wie ein Schwarm kreischender Möwen von der nahen Elbe.
Also beschleunigte sie ihren Schritt, sah stur zu Boden und hörte nur noch einen Warnruf, bevor sie umgestoßen wurde.
Sie hatte keine Chance. Zwar versuchte sie noch, auszuweichen, aber sie war nicht schnell genug.
Ihr Kopf knallte gegen den steinernen Brunnenrand des Denkmals, und die Welt um sie herum wurde mit einem Mal schwarz.
Maike spürte den Regen nicht, der ihr ins Gesicht lief, und weder hörte sie die aufgeregten Stimmen der Passanten noch die Sirene des Krankenwagens.
»Frau Matthiesen«, sagte eine fremde Männerstimme. Es klang, als käme sie von weit her.
Eine lange Zeit musste verstrichen sein, als sie das Bewusstsein wiedererlangte. Sie lag nicht mehr auf dem Platz, so viel begriff sie. Ihr war warm, und sie war trocken.
»Frau Matthiesen, können Sie mich hören?«
»Oh Gott!«, rief jemand anderes. Diese Stimme kannte sie. Da war sie sich ziemlich sicher. Die Stimme gehörte einer Frau, sie …
Maike runzelte nachdenklich die Stirn. Augenblicklich grub sich ein scharfer Schmerz wie ein Pflug in ihren Kopf und trieb ihr die Tränen in die Augen.
»Verdammt!«, stieß sie aus.
»Sie ist wieder da«, sagte die Männerstimme, die professionell, fast ein wenig unbeteiligt klang. Ein Arzt, dachte sie.
»Unmöglich«, gab die Frau zurück. »Sie halluziniert. Maike flucht nicht.«
»Verdammt!«
»Anscheinend doch.«
Sie spürte, wie der Mann sich ihrem Bett näherte und sich über sie beugte. Dann hob er erst ihr rechtes und dann ihr linkes Lid an und strahlte ihr mit einem grellen Licht in die Augen. Schon rollte eine neue Schmerzwelle über sie hinweg.
»Verdammt!«, rief sie zum dritten Mal.
»Frau Matthiesen, drücken Sie bitte meine Hand, wenn Sie mich verstehen.«
Sie langte zu, sie war eine Vierländerin, sie hatte Kraft in den Händen. Wer jeden Tag nach der Schule Unkraut gezupft, mit Kuhmist hoch beladene Schubkarren fortbewegt und dicke schwarze Erde umgegraben hatte, war gewiss kein Schwächling. Außerdem war sie sauer auf diesen Kerl, der ihr so weh tat.
»Aaaah! Aufhören!«
Die fremde Hand wurde ihr entzogen, der Mann stöhnte noch eine Runde.
»Sie Weichei«, murmelte Maike, noch immer mit geschlossenen Augen.
»Du hast recht, Gesine«, sagte eine zweite Männerstimme. Die kam ihr ebenfalls vertraut vor, sehr vertraut sogar. Ein warmes, angenehmes Gefühl breitete sich in ihrer Herzgegend aus. Direkt darunter lauerte ein Unwohlsein, das sie nicht definieren konnte. »Sie ist nicht bei Verstand. Unsere Maike beleidigt keine Leute.«
»Genau. Sie ist schizophren oder so«, antwortete die Frau namens Gesine. »Sie war seit gestern früh weggetreten, und jetzt flucht und pöbelt sie rum. Doktor Kessler, Sie müssen sie noch einmal gründlich durchchecken. CT, MRT und wie das alles heißt. Und es ist mir egal, dass heute Sonntag ist.«
»Nicht nötig. Frau Matthiesen ist aus dem Koma erwacht und wird sich vollständig erholen. Vertrauen Sie mir.«
Koma?, dachte sie voller Angst.
Koma?
Das durfte nicht wahr sein!
»Was … ist passiert?«, flüsterte sie.
Die warme, liebevolle Stimme kam dem Arzt zuvor. »Reg dich bitte nicht auf. Du hattest einen kleinen Unfall und liegst in der Uniklinik Eppendorf. Sei ganz ruhig, Maike, alles wird gut.«
»Was für einen … Unfall?«
»Ein Fahrradkurier hat dich umgefahren. Auf dem Hopfenmarkt. Er behauptet, du hättest zu Boden gestarrt und ihn nicht gesehen, als er mit seinem Rad auf dem nassen Laub ausgerutscht ist. Jedenfalls – du bist mit dem Kopf ziemlich übel gegen das Denkmal gestoßen.«
»Welches Denkmal?« Sie versuchte, sich zu erinnern, doch es gelang ihr nicht.
»Das von der Vierländerin«, mischte sich die Frau ein. »Du weißt doch, diese Statue von der Gemüsefrau in der alten Tracht, die du so hasst.«
Maike hörte, wie der Arzt sich verabschiedete und den Raum verließ. Sie hatte die Augen noch nicht geöffnet, aber nun nahm sie den typischen Geruch nach aufgewärmtem Essen und Desinfektionsmitteln wahr.
Im Krankenhaus, dachte sie. Ich bin tatsächlich im Krankenhaus. Und wenn ich das richtig verstanden habe, schon seit gestern früh.
Unterdessen hatte Gesine offenbar weitergesprochen.
»… hast du immer gesagt, dass der glücklichste Tag deines Lebens derjenige war, an dem du Südwerder verlassen hast.«
Südwerder, der kleine Ortsteil von Kirchwerder in den Vierlanden, der es nie geschafft hatte, ein eigenständiges Dorf zu werden. Ein Bild stieg vor ihr auf. Bauernhäuser aus Fachwerk und roten Ziegeln, eine ehemalige Stellmacherei, in der mittlerweile Fahrräder an Touristen verliehen wurden; die alte Windmühle, genau wie alle anderen Gebäude und die schmalen Straßen erhöht gebaut, damit eine Überschwemmung keinen Schaden anrichten konnte. Tiefer gelegen hingegen die Gemüsefelder, daneben ein wogendes Meer aus Blumen und Gewächshäusern, die das Sonnenlicht zurückwarfen; dann die Obstplantagen und Deiche, überall Deiche, wohin der Blick auch fiel. Südlich davon die Elbe, nördlich ihre Seitenarme, erst die Gose- und dann die Dove-Elbe.
Das Bild wurde unscharf, als versänke die Idylle im Nebel.
Idylle, dachte Maike. Ha!
Sie hatte es verabscheut! Schon immer.
Nein, dachte sie im nächsten Moment. Nicht schon immer. Erst seit … Gnädig kehrte die Ohnmacht zurück und schenkte ihr Ruhe.
Als sie das nächste Mal erwachte, hörte sie keine Stimmen. Alles war ruhig, nur draußen auf dem Gang erklang das energische Geräusch von Gummisohlen auf Linoleum, von klappernden Medizinwägelchen, von schlurfenden, zaghaften Pantoffelschritten der Kranken.
Dann jedoch vernahm sie ganz in ihrer Nähe ein ruhiges Atmen, begleitet von einem leisen Umblättern, und öffnete die Augen. Auf einem Stuhl direkt an ihrem Bett saß ein Mann und las in einem Buch.
Sie wusste sofort, wer er war. Erleichtert stellte sie fest, dass ihr Kopf wieder funktionierte. Robert wirkte entspannt. Nur eine Falte über der Nasenwurzel verriet, dass er sich Sorgen machte.
Weil er nicht aufschaute, hatte Maike Zeit, ihn zu betrachten. Sein grauschwarzes Haar brauchte dringend einen Schnitt, und wie üblich war er nachlässig rasiert. Er trug ein kariertes Baumwollhemd, das an den Ellenbogen durchgescheuert war, und eine Jeans, deren Löcher kein Modestatement waren.
Robert Wedemann war einundfünfzig Jahre alt und seit zwei Jahren Maikes Freund.
Es hatte an dem Tag begonnen, an dem er eine Kiste knackigen Feldsalat und dazu mehrere Bund frische Kräuter ins Hotel geliefert hatte. Über so gute Ware freue sich der Küchenchef immer, hatte Maike gesagt. Sie wollte unbedingt wissen, wer seine Lieferanten waren, doch er schwieg sich aus. Also drang sie nicht weiter in ihn.
An jenem Tag hatte er sie zum Essen eingeladen, und sie hatte zugesagt, obwohl das sonst nicht ihre Art war. Doch etwas an ihm zog sie auf unerklärliche Weise an. Vielleicht, so dachte sie manchmal, hatten die Kräuter den Ausschlag gegeben. Ihr Anblick weckte Erinnerungen an alte, glückliche Zeiten. Oder es war der Blick aus Roberts dunkelbraunen Augen gewesen, so ungewöhnlich warm und freundlich.
Eine Bewegung neben dem Bett ließ sie aufmerken. Robert hatte den Kopf gehoben und schaute sie an.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er.
»Ganz gut, glaube ich.«
»Kopfweh?«
»Ein bisschen.«
Schon war Maike wieder erschöpft und schloss die Lider.
»Schlaf nur«, sagte Robert leise.
Aber sie schlief nicht, sondern erinnerte sich an ihr maßloses Staunen bei ihrem ersten Treffen mit ihm. Der ungepflegte Mann war frisch rasiert und in einem Maßanzug von Armani erschienen und hatte sie in eines der besten Lokale Hamburgs ausgeführt. Damals verriet Robert ihr, dass er in seinem ersten Leben, wie er es nannte, ein erfolgreicher Banker in der Hamburger City gewesen sei. Bis er genug gehabt und innerhalb weniger Monate noch einmal ganz von vorn begonnen hatte. Als Händler für biologisch angebautes Obst und Gemüse.
Maike war von ihm fasziniert, allerdings wünschte sie sich manchmal insgeheim, er möge immer noch der Banker sein, stets gut gekleidet und respektiert – ein Mann, der etwas hermachte. Mit dem Grünhöker, wie die Obst- und Gemüsehändler in ihrer alten Heimat genannt wurden, konnte sie nicht so viel anfangen.
Nachdenklich sah sie ihn an. Wäre sie ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte sie vielleicht zugegeben, dass es ihr völlig gleich war, ob er Latzhosen oder einen Maßanzug trug. Denn Robert war ein wunderbarer Mann, liebevoll und geduldig mit ihr, die ihre Zuneigung nicht zeigen konnte. Doch Maike war viel zu sehr in ein Geflecht aus verdrängten Erinnerungen und unterdrückten Gefühlen verstrickt, um so klar zu sehen, wie es nötig gewesen wäre. In diesem Augenblick, im Krankenbett mit Robert an ihrer Seite, erkannte sie voller Schrecken, dass sie einen solchen Mann nicht verdient hatte.
Ihr Blick verschleierte sich. Mit aller Kraft musste sie den Wunsch unterdrücken, ihm durchs Haar zu fahren. Schnell schloss sie wieder die Augen. Die sich überstürzenden Gedanken konnte sie jedoch nicht aus ihrem Kopf verbannen.
Manchmal bildete sie sich ein, sein jetziges Dasein zeige sogar sein wahres Ich, und der Banker war einige Jahre lang nur eine Rolle gewesen, die er gespielt hatte. Doch wenn sie ihn darauf ansprach, wenn sie wissen wollte, woher er eigentlich stammte, wurde der sonst so redselige Mann plötzlich schweigsam und meinte nur, er spreche nicht gern über seine Kindheit. Das müsse sie doch verstehen, da sie selbst sich so zugeknöpft gebe.
Maike konnte nie etwas dagegen einwenden, aber da sie einander vieles nicht erzählten, fehlte es an Vertrauen zwischen ihnen. Und so blieb ihre Beziehung zwanglos, was Robert zu bedauern schien, was Maike aber ganz recht war. Sie war sowieso nicht der Typ fürs Heiraten. Das, so erklärte sie ihm einmal, hätte sie als junge Frau tun sollen, nicht mehr heute mit achtundvierzig Jahren.
Er wirkte betroffen, sagte aber nichts, und akzeptierte es weiterhin, dass Maike bestimmte, wie eng, oder besser: wie locker ihr Verhältnis sein sollte. Dennoch glaubte sie manchmal, er liebte sie. Dann schaute er sie mit einem besonderen Ausdruck an, voller Wärme und Zärtlichkeit. So wie eben.
»Robert«, flüsterte sie.
Eine raue Hand legte sich auf ihre und drückte sie sanft. »Brauchst du etwas? Ein Glas Wasser? Oder soll ich nach der Krankenschwester klingeln?«
Ganz leicht schüttelte Maike den Kopf. Wie gern hätte sie ihm etwas Freundliches gesagt, doch in ihrem Innern herrschte ein großes Durcheinander, und so blieb sie lieber stumm.
Langsam zog er seine Hand zurück und ließ Maike ruhen. Wie schon oft fragte sie sich, was er bloß an ihr fand.
Okay, sie sah gut aus, da kam sie ganz nach ihrer Mutter. Mittelgroß, zierlich, mit Rundungen an den richtigen Stellen, blonden, welligen Haare, die bis auf die Schultern fielen, und meereshellen Augen. Prompt musste sie an ihre Mutter Christine denken, und aus der Vergangenheit stieg ein großer Kummer in ihr hoch. Sie schluchzte leise auf, biss sich dann schnell auf die Lippen.
Nicht schnell genug.
»Liebling, warum weinst du? Sei nicht traurig.« Diesmal legte er ihr die Hand an die Wange. »Alles wird gut. Ich verspreche es dir.«
Kurz schmiegte sie ihr Gesicht in seine warme Handfläche. Dann riss sie sich zusammen und setzte sich auf.
»Warte, nicht so schnell. Du bist ganz blass.« Rasch erhob er sich und stopfte ihr zwei Kissen in den Rücken.
Seine Nähe war ihr auf einmal unangenehm. »Wieso bist du so verflucht fürsorglich?«
Er wirkte geschockt und schwieg, brachte nur wieder Abstand zwischen sie.
Erneut fragte sie sich, warum er sie gernhatte. Mochte sie auch schön sein, ihr Charakter war eindeutig schrecklich.
Oder?
Plötzlich lachte sie. So laut schallend, dass Robert zurückzuckte. Das brachte sie noch mehr zum Lachen. Sie hielt sich den Bauch, wollte sich entschuldigen, bekam jedoch kein Wort heraus. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis sie sich wieder beruhigte.
»Tut mir leid«, sagte sie dann und unterdrückte mit einiger Mühe einen Schluckauf. »Ich wusste nicht, dass ich dir so leicht Angst einjagen kann.« Sie hielt die Luft an, hickste aber noch ein paar Mal.
Robert ließ sich auf seinen Stuhl zurücksinken. »Das hast du nicht. Es kam nur so überraschend.«
»Was?«
»Dein Lachen. Es ist … wundervoll.«
Sie schaute ihn aus großen Augen an. »Wie meinst du das?«
»Ich habe dich noch nie lachen gehört. Jedenfalls nicht so – so von innen heraus.«
»Aha.«
Maike konnte damit nicht viel anfangen. Sie war einfach nur glücklich. Es ging ihr gut, die Kopfschmerzen waren zwar nicht verschwunden, aber erträglich. Der dumme Unfall hatte keine Spuren hinterlassen. Und ihr Lachen? In der ersten Sekunde hatte es sich fremd angefühlt, aber dann war eine Erinnerung in ihr aufgestiegen, zum Glück eine von den schönen: ein junges, hell kicherndes Mädchen. Sie selbst mit dreizehn oder vierzehn.
Frische Energie durchströmte sie. »Wann kann ich hier raus? Ich will mit diesem Weichei von Arzt reden, damit er mich gehen lässt.«
Roberts Augenbrauen wanderten in die Höhe. Fast bis zum Haaransatz. »Ich weiß nicht, Liebling. Vielleicht solltest du erst noch ein paar Untersuchungen machen. Du bist so anders.«
»Inwiefern anders?«
»Schwer zu sagen. Ich denke, es ist dein Gemüt. Du wirkst auf mich offener, freier und … irgendwie glücklicher als sonst.«
»Na ja, wäre nicht das Schlechteste.«
»Nein, nur ein bisschen unheimlich.« Er grinste schwach. »Mir gefällt es aber. Du gefällst mir.«
Maike schenkte ihm ein Lächeln, das ihn schon wieder aus der Bahn warf. Sie bemerkte, wie sein Blick unsicher wurde, so als könne er nicht glauben, was er sah.
Mit einiger Mühe kämpfte sie gegen einen weiteren Lachanfall an.
»Wer war die Frau? », fragte sie. »Irgendwann war doch eine Frau hier.«
»Gesine«, erwiderte er. »Deine beste Freundin. Weißt du das nicht mehr?«
»Doch, jetzt ist alles wieder da.«
Gesine Kiehl, die kleine, brünette Rechtsanwältin mit dem teuren Modegeschmack und der scharfen Intelligenz. Fast zehn Jahre jünger als sie selbst und eine treue Freundin, obwohl sie sich nur selten sahen, weil beide hart an ihren jeweiligen Karrieren arbeiteten.
Bevor Maike noch etwas zu Robert sagen konnte, wurde die Tür zum Krankenzimmer aufgestoßen, und Gesine trat ein. Ihr hellbraunes, kinnlanges Haar umrahmte ein herzförmiges Gesicht, in dem allein der ausgeprägte Unterkiefer von Charakterstärke und Durchsetzungsvermögen zeugte. Wie immer war sie zu stark geschminkt. Sie hatte Maike mal erklärt, das Make-up sei für sie wie ein Schutzschild. Je mehr, desto besser. Desto weniger fühlte sie sich angreifbar.
»Wie gerufen«, bemerkte Robert. Er schien erleichtert, nicht mehr allein mit ihr zu sein. Oder enttäuscht.
War schwer zu erkennen, fand Maike.
»Hey!«, rief Gesine. »Unsere Komapatientin ist wieder unter uns.«
Sie stellte einen Kosmetikkoffer auf einem freien Stuhl ab und kam zum Bett. »Na, bist du wieder normal?«
Maike musste schon wieder lachen, woraufhin Gesine genau wie Robert eben zurückzuckte. Das erheiterte sie noch mehr.
»Eher nicht«, sagte die Freundin mit fester Stimme. »Du hast definitiv einen gehörigen Dachschaden. Das ist das Lachen einer Irren. Bist du noch mal in die Röhre gekommen?«
»Nicht nötig«, erklärte Maike. »Mir geht es gut. Hab nur noch einen leichten Brummschädel. Robert, sei ein Schatz und such jemanden, der mich entlässt.«
Der Schatz wirkte schon wieder äußerst verwirrt. Er war es nicht gewöhnt, so genannt zu werden. Aber er stand folgsam auf. »Mach ich.«
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ Gesine sich auf die Bettkante sinken und musterte Maike misstrauisch. »So, und jetzt mal ehrlich. Geht es dir wirklich wieder gut?«
»Klar doch.« Sie strahlte ihre Freundin an, erntete aber bloß einen weiteren zweifelnden Blick.
»Irgendwie bist du anders. Aber wenigstens auf nette Art. Na, egal, Zeit für ein bisschen Verschönerung. Und wehe, du weigerst dich wieder. Keine Frau verlässt ungeschminkt ein Krankenhaus.«
»Nichts dagegen«, sagte Maike fröhlich.
»Im Ernst? Du benutzt sonst höchstens eine getönte Tagescreme und einen pfirsichfarbenen Lippenstift.«
»Dann will ich es heute anders. Mach nur.«
Gesine schüttelte zwar noch den Kopf, tat dann aber wie ihr geheißen. Sie behandelte Maikes blondes Haar mit Trockenshampoo und bürstete es sorgfältig aus. Anschließend trug sie auf ihrem Gesicht eine Grundierung auf. Während sie mit flinken Fingern arbeitete, erklärte sie, was sie tat. »So, ein sanfter goldener Schimmer, jetzt der Kajalstrich – stillhalten! –, etwas Lidschatten, Mascara – nicht blinzeln! –, Rouge, nicht zu knalliger Lippenstift … Voilà! Du siehst umwerfend aus. Wenn es dir wieder besser geht, darfst du mir auf Knien danken.«
Im Handspiegel ihrer Freundin erblickte Maike ein ihr beinahe fremdes Gesicht. »Wow!«
»Hoffentlich habe ich dich endlich bekehrt.«
»Ich denke schon«, erwiderte Maike. »Du musst mir bloß zeigen, wie ich das selbst so hinkriege.«
»Du machst Witze.«
»Nein, wieso?«
»Ach, ich versuche nur seit ungefähr fünf Jahren, dich zu überreden, dich besser herzurichten.« Sorgfältig packte Gesine ihre Schminkutensilien wieder ein. »Wenn das jetzt die Folge deines Unfalls ist, war der vielleicht gar nicht schlecht.«
»Hauptsache, ich sehe dann nicht so krass angemalt aus wie du.«
Beiden Frauen wurde schlagartig klar, dass die Folgen des Sturzes möglichweise viel tiefer gingen als gedacht.
Zögernd blieb Maike zehn Meter vor dem Eingang stehen und schaute an der modernen Glas- und Betonfassade nach oben. Das Hotel war schmal und fünfstöckig, verfügte über fünfundzwanzig Zimmer und gehörte zur gehobenen Kategorie.
An diesem strahlenden Montagmorgen glitzerte der moderne Bau hell und sauber in der Sonne. Der Nieselregen vom Wochenende war von einer frischen Nordseebrise vertrieben worden. Zurück blieb himmelblaues Herbstwetter.
Der »Brauerhof« verdankte seinem Namen einer alten Hamburger Tradition. Einst hatten die Bierbrauer hier auf dem Markt ihren Hopfenbedarf gedeckt. Im Zweiten Weltkrieg war das Viertel dann wie ein Großteil der Hansestadt zerstört worden, und nur das Mahnmal der ehemaligen Hauptkirche St. Nikolai erinnerte noch heute an jene schreckliche Zeit.
Seitdem hatten sich der Hopfenmarkt und die angrenzenden Straßen zu einem florierenden Geschäftsviertel entwickelt, mit der schnellen Ost-West-Straße im Süden, mit Firmensitzen rund um den Marktplatz, mit Büroangestellten, die wenig Zeit zur Muße hatten. Selbst der beliebte Wochenmarkt war vor einigen Jahren abgeschafft worden, und so erinnerte nur noch das Denkmal der Vierländerin an das einst rege Treiben auf dem großzügig angelegten Platz.
Maike atmete tief ein und aus. Sie hatte darauf bestanden, heute wieder zur Arbeit zu gehen, obwohl Robert und Gesine ihr dringend davon abgeraten hatten: Robert noch wie hypnotisiert von ihrer offenen, freundlichen Art, Gesine tief beleidigt, aber dennoch um ihr Wohl besorgt. Sie müsse sich noch erholen, hatten beide argumentiert. Sie sei noch nicht ganz wiederhergestellt.
Was genau sie damit meinten, hatte keiner von ihnen verraten, aber Maike wusste, sie war ihnen nicht geheuer.
Doch sie ließ sich nicht beirren. Seit zwanzig Jahren arbeitete sie im »Brauerhof«, und seitdem hatte sie maximal ein oder zwei Tage wegen Krankheit gefehlt.
Nach ihrem Studium des Hotelmanagements war sie zunächst in anderen Hamburger Häusern angestellt gewesen, bis ihr hier die Stelle der stellvertretenden Geschäftsführerin angeboten wurde.
Schon drei Jahre später war sie zur ersten Managerin aufgestiegen, und diesen Posten hatte sie seitdem zur Zufriedenheit des Hotelbesitzers ausgefüllt. Rolf Wichert hatte mehrmals freiwillig ihr Gehalt erhöht, denn er wusste genau, eine derart tüchtige Kraft würde er so schnell nicht wieder finden. Kühl, effizient, emotionslos.
Na, wenigstens bis gestern, dachte sie. Ein Kichern stieg in ihrer Kehle hoch, sie unterdrückte es mit einiger Mühe.
Endlich gab sie sich einen Ruck und trat auf den Eingang zu. Die automatische Tür surrte zur Seite, und Maike schaute sich aus alter Gewohnheit prüfend im Empfangsbereich um. Die beiden Sitzgruppen rechts und links waren verwaist, nur an der Rezeption stand ein Ehepaar und ließ sich von der Empfangsdame beraten.
Laura König sah ihre Chefin eintreten und zupfte nervös an ihrer dunkelblauen Uniformjacke. Maike Matthiesen war bei den Angestellten gefürchtet für ihren scharfen Blick. Und nicht nur dafür. Sie galt überhaupt als äußerst strenge Chefin.
Seltsam, dachte sie. So bin ich doch eigentlich gar nicht.
Oder? Unsicher geworden, trat sie an die Rezeption.
Das Ehepaar war mittleren Alters und brachte zusammen mindestens zweihundert Kilo auf die Waage. Die legere Kleidung verriet die Urlauber.
Laura König empfahl ihnen gerade das hoteleigene Restaurant. »Wir bieten einen ausgezeichneten Mittagstisch mit typisch Hamburgischen Gerichten an«, sagte sie. »Krabbensuppe, Gefüllter Schweinebauch, Matjespastete, Götterspeise und Backpflaumentorte.«
»Na, ich weiß nicht«, erwiderte die Frau mit deutlich bayerischem Akzent. »Das klingt ziemlich deftig. Eigentlich wollten wir dieses Wochenende mal ein bisschen leichter leben.«
Wie zur Bestätigung rieb ihr Mann sich über den stattlichen Bauch. »Aber«, meinte er dann, »ein paar landesübliche Gerichte haben noch keinem geschadet, meinst du nicht auch, Schnucki?«
Schnucki nickte zögernd. Laura König bot an, ihnen einen Tisch für zwölf Uhr zu reservieren, aber bevor das Ehepaar antworten konnte, sagte Maike: »Das ist keine gute Idee.«
Laura riss die Augen auf, die beiden Touristen drehten sich zu ihr um, und Maike schlug sich die Hand vor den Mund. Half bloß nicht viel.
»Ich denke, statt eines schweren Mittagessens würde Ihnen ein strammer Spaziergang einmal um die Außenalster gut bekommen.«
Jetzt sah Laura aus, als wollte sie gleich in Ohnmacht fallen. Sie wurde blass und musste sich an der Kante des Empfangtresens festhalten.
»Frau … äh … Matthiesen. Sie sind … wieder da«, stammelte sie.
»Wer ist diese Person?«, fragte der Mann, der inzwischen hochrot angelaufen war.
»Gestatten, Maike Matthiesen, die Hotelmanagerin. Und regen Sie sich bloß nicht so auf. Das ist ein wirklich wohlmeinender Rat.«
Der Mann wurde noch ein bisschen röter, obwohl das kaum möglich schien.
»Unverschämtheit!«, schrie er. »So eine Unverschämtheit!«
Seiner Frau hatte es hingegen die Sprache verschlagen, sie schaute nur von einem zum anderen und wirkte geradezu apathisch.
Maike fühlte sich innerlich wie zerrissen. Einerseits genoss sie die Situation. Es war ja so herrlich erfrischend, endlich mal die Wahrheit zu sagen. Andererseits war sie entsetzt über sich selbst. Was sie da tat, war hochgradig geschäftsschädigend!
Das »Brauerstübchen« kämpfte um jeden Gast. Die Angestellten aus den Büros rund um den Hopfenmarkt aßen entweder in der eigenen Mensa, oder sie holten sich einen schnellen Imbiss beim Thailänder oder beim Japaner um die Ecke. Da blieben oft nur die hoteleigenen Gäste übrig, und jeder Mitarbeiter hatte die strikte Anweisung, das Restaurant wärmstens zu empfehlen.
Nun hatte die Managerin höchstpersönlich gegen eines der heiligen Gesetze verstoßen.
Und doch – sie fühlte sich wie befreit.
Laura König fing sich als Erste. Maike fand es bewundernswert, wie die Concierge in ihre professionelle Rolle zurückschlüpfte.
»Bitte«, sagte sie einschmeichelnd zu dem Ehepaar. »Üben Sie Nachsicht mit meiner Chefin. Sie hatte vorgestern einen bösen Unfall und ist noch nicht wieder ganz genesen. Vielleicht darf ich Sie zu einem kostenlosen Mittagessen einladen? Ich werde alles arrangieren, und wenn Sie von Ihrem Ausflug zum Hafen zurück sind, werden Sie ein köstliches Mahl vorfinden.«
Das »köstliche Mahl« beruhigte die Gemüter.
Die Frau kam wieder zu sich, der Mann wechselte zu einer fast normalen Gesichtsfarbe. »Ausnahmsweise werde ich keine Beschwerde einreichen«, sagte er. »Komm, Schnucki.«
Dann verließen die beiden das Hotel, sorgsam darauf bedacht, der Verrückten bloß nicht zu nahe zu kommen.
Maike lachte, als die beiden verschwunden waren, was von ihrer Angestellten mit noch weiter aufgerissenen Augen quittiert wurde.
»Hammer«, murmelte sie.
Rasch ging Maike um den Tresen herum, fasste Laura an den Schultern und gab ihr rechts und links ein Küsschen auf die Wange. »Das war’s wert, finden Sie nicht? Das Gesicht des Dicken werde ich im Leben nicht vergessen.«
»Frau Matthiesen – bitte – was ist mit Ihnen?«
»Was soll schon sein? Ich hatte einen Unfall, und jetzt bin ich wieder da.«
»Ja, aber Sie sind so anders.«
Maike amüsierte sich köstlich. Sie ließ ihre Angestellte los und trat einen Schritt zurück.
»Inwiefern?«
»Sie … na ja … Sie sind geschminkt.«
»Stimmt. Aber das meinen Sie nicht.«
»Nein«, gestand Laura leise.
»Meine Freunde sagen auch, ich sei komisch. Ist wohl eine Folge meines Sturzes. Aber ich fühle mich gut, wirklich. Ausgezeichnet sogar. Das Leben ist schön.«
»Das Leben ist schön?«, kam es sehr leise zurück.
»Ja, finden Sie nicht?«
Laura zuckte mit den Achseln. »Sicher. Ich dachte nur, dass Sie … Na ja, dass Sie es vielleicht nicht so sehen …«
»Der Mensch kann sich ändern.«
»Möglich.«
Maike entdeckte jedoch den tiefen Zweifel im Blick der Empfangsdame. Für Laura König kam diese Veränderung zu plötzlich. Genau wie für Robert und Gesine. Für sie selbst ja auch. Ein Angstschauer rieselte ihr über den Rücken.
Nein, sie durfte nicht über das nachdenken, was mit ihr geschah. Sie würde vielleicht noch einmal einen Spezialisten aufsuchen. Einen Neurologen. Bald. Bestimmt bekam sie dann zu hören, es bestünde kein Grund zur Sorge. Und bis dahin würde sie das Beste aus der Sache machen.
Schließlich wandte sie sich ab. »Wenn mich jemand sucht, ich bin im Büro. Es gibt Arbeit nachzuholen.«
Sie musste die Buchungen der vergangenen zwei Tage kontrollieren und einen Plan für die Belegung während einer bevorstehenden Messe ausarbeiten.
»In Ordnung«, sagte Laura in ihrem Rücken, und Maike hörte ganz genau ihren erleichterten Seufzer.
Kurz schüttelte es sie, als sie den kleinen, funktional eingerichteten Raum direkt hinter dem Empfang betrat, der ihr als Büro diente. Möbel aus Metall, nackte weiße Wände, Computer und Kopierer. Keine Zimmerpflanze, kein einziger persönlicher Gegenstand, nichts, was dem Büro einen Hauch von Wärme eingeflößt hätte. Bislang hatte sie das nie gestört. Jetzt schon.
Maike musste daran denken, dass sie sich gestern Abend ganz ähnlich gefühlt hatte, als sie ihre Wohnung am Kleinen Burstah betreten hatte. Beste Lage im fünften Stock mit Blick bis hinüber zum prächtigen Hamburger Rathaus. Aber kalt, geradezu steril. Zwar waren die Möbel aus hellem Holz, und es gab ein paar Farbtupfer mit bunten Sofakissen und einem gehäkelten Teppich, aber auch hier fehlte jede persönliche Note.
Abgesehen von einer alten Fotografie ihrer Mutter auf dem Bücherregal existierten keine Familienbilder. Wen hätte sie auch einrahmen sollen? Ihren Vater, zu dem sie den Kontakt abgebrochen hatte? Oder etwa die schreckliche Rosa?
Es fehlten auch bunte Souvenirs von Reisen, die Maike nie unternommen hatte. Es fehlten die Spuren von lustigen Partys, zu denen sie nie eingeladen hatte. Es fehlten die Hinweise auf den Mann in ihrem Leben, weil Robert nicht einmal eine Zahnbürste bei ihr ließ. Maike wollte das nicht.
Einen Moment lang hatte es sie echte Überwindung gekostet, die Wohnung zu betreten. Es fühlte sich an, als sei sie bei einer fremden Frau zu Besuch.
Seltsam, hatte sie gedacht, dass ihr das früher nie aufgefallen war. Sie lebte doch schon seit Jahren so. Warum hatte es sie nie gestört? Und warum störte es sie auf einmal doch?
Genauso ging es ihr auch jetzt. Nur zögernd betrat sie ihr Büro und setzte sich hinter den penibel aufgeräumten Schreibtisch. Dann fuhr sie den Computer hoch und öffnete die Tabelle mit den Buchungen.
Eine Stunde später saß sie immer noch dort und starrte auf den Monitor, ohne mit den Eintragungen etwas anfangen zu können. Es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren, zu sehr war sie damit beschäftigt, sich einzureden, dass mit ihr alles in Ordnung sei. Eine weitere Stunde später gab sie es auf. Sie musste darauf vertrauen, dass Laura König, die zugleich ihre Stellvertreterin war, alles im Griff hatte.
Maike verspürte plötzlich Hunger und machte sich auf den Weg in die Hotelküche. Dort waren die Vorbereitungen für das Mittagessen in vollem Gange. Auf dem großen Herd köchelten zwei Suppen, frische Nordseeschollen wurden paniert, Kartoffeln gestampft und Gemüsebeilagen blanchiert.
Küchenchef Martin Frey kommandierte seine Untergebenen mit gewohnt strenger Hand. Er sah die Managerin nicht kommen, während er einen Hilfskoch anblaffte, weil dieser die Zucchinistreifen zu grob geschnitten hatte.
»Ist doch halb so wild«, sagte Maike. »Merkt keiner.«
Martin Frey wirbelte zu ihr herum. »Was?«
Entspannt deutete sie auf die hellgrünen Streifen. »Kein Grund, so einen Stress zu machen.«
Plötzlich herrschte Totenstille in der Küche. Nur ein leises Blubbern und Zischen war noch zu hören. Aller Augen waren auf die beiden Menschen gerichtet, die im »Brauerhof« nur allzu oft Angst und Schrecken verbreiteten.
Martin Frey sah aus wie ein Dampfkochtopf. Er plusterte die Backen auf, machte sich in der Brust breit, kniff die Lippen fest zusammen. Jeden Moment konnte er explodieren. Maike Matthiesen hingegen wirkte wie die Ruhe in Person. Sie lächelte sogar.
Heftiges Getuschel setzte ein. Konnte sich jemand daran erinnern, die Hotelchefin jemals so gut gelaunt erlebt zu haben? Niemand. Nicht mal auf der Weihnachtsfeier für die Belegschaft war dies beobachtet worden.
»Lieber Herr Frey, bitte verzeihen Sie, dass ich so hereinplatze. Ich wollte Sie nicht bei der Arbeit stören.«
Der Druck unter der hohen Kochmütze ließ spürbar nach, der verkrampfte Mund lockerte sich.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Matjes«, sagte Maike.
»Wie bitte?«
»Ich habe einen Bärenhunger. Auf Matjes mit Pellkartoffeln, Zwiebelringen und dieser leckeren Quarksoße mit Dill und gewürfelten Äpfeln.«
»Sie … möchten … essen?«
Allgemeines Staunen auch bei den Hilfsköchen. Die Managerin war bekannt dafür, dass sie sich von winzigen Portionen ernährte. Ein bisschen Salat, etwas Pasta ohne Soße, vielleicht mal ein wenig Sushi. Aber kräftige norddeutsche Hausmannskost? Im Leben nicht.
»Ist das so schlimm?«, fragte sie jetzt.
Martin Frey bewies heldenhafte Contenance, als er ruhig erwiderte: »Keineswegs, Frau Matthiesen. Setzen Sie sich gern in den Speisesaal, wir bringen Ihnen gleich das Gewünschte. Darf es auch ein kühles Blondes dazu sein?«
»Leider nein. Die Ärzte haben mir Alkohol verboten.«
»Aber Matjes nicht.«
Kurz war Maike unsicher. Machte der Mann sich lustig über sie? Nein, er wirkte ganz ernst.
»Matjes nicht«, bestätigte sie und verließ die Küche.
Eine junge Kellnerin servierte kurz darauf das Essen. Kaum hatte sie den Teller vor ihr abgestellt, verließ sie fluchtartig den Speisesaal. Maike bemerkte es kaum. Sie machte sich über die zarten Heringsfilets her und fand, dass sie im Leben noch nie etwas Köstlicheres gegessen hatte.
Weitere Zwischenfälle gab es nicht. Nach dem Mittagessen ging Maike mit Lauras Hilfe den Belegungsplan durch, arbeitete anschließend eine Weile allein und verließ dann früher als gewohnt das Hotel.
Sie fühle sich noch nicht ganz wohl, sagte sie zu ihrer Stellvertreterin. Obwohl das nicht stimmte. Körperlich war sie in bester Verfassung, nicht der leiseste Kopfschmerz war zurückgeblieben. Dennoch verspürte sie das dringende Bedürfnis, allein zu sein. Sie musste nachdenken über das, was mit ihr geschah. Begreifen, was es bedeutete. Es war ja nicht nur so, dass sie freundlicher und fröhlicher war. Etwas anderes machte ihr viel mehr zu schaffen. Einen Vorgeschmack darauf hatte es schon gegeben, als sie am gestrigen Abend mit Gesine und an diesem Vormittag mit dem bayerischen Ehepaar gesprochen hatte.
Maike hatte das schreckliche Gefühl, diese Neigung werde von Stunde zu Stunde stärker, und sie wusste nicht, was sie dagegen tun sollte. Auch fragte sie sich, ob ihr ein Neurologe wirklich helfen konnte. Die Tests im Krankenhaus hatten ja keinerlei Auffälligkeiten gezeigt. Vielleicht war ein Psychiater die bessere Wahl.
»Aber ich bin nicht verrückt«, sagte sie laut, als sie den Hopfenmarkt überquerte. Sie vermied wie gewohnt den Blick auf die Vierländerin, schaute sich im Übrigen aber gründlich um. Ein zweites Mal wollte sie nicht umgefahren werden.
»Ich bin ganz normal.«
Eine junge Mutter starrte sie an und zerrte dann ihr Kind von ihr fort.
Maike grinste schwach. »Mehr oder weniger normal.«
In ihrer Wohnung angekommen, ließ sie sich auf das hellgrau bezogene Sofa fallen und blickte an die Decke.
Im nächsten Moment musste sie eingeschlafen sein, denn sie kam erst wieder zu sich, als jemand gegen die Wohnungstür hämmerte.
Sie gähnte ausgiebig, ging öffnen und sah Robert vor sich. Einen sehr aufgeregten Robert.
»Was ist denn los?«
»Das fragst du MICH?«
»Äh, ja, wen sonst?«
Sie trat zur Seite und ließ ihn ein.
Robert folgte ihr zum Sofa, setzte sich aber nicht neben sie, sondern hockte sich auf die Lehne, angestrengt bemüht, sich abzuregen.
»Maike«, sagte er langsam und betonte jedes Wort. »Du hast vor vier Stunden das Hotel verlassen. Seitdem hat niemand etwas von dir gehört. Die Empfangsdame sagte, du hättest dich nicht wohl gefühlt. Daraufhin habe ich dich gesucht. Du hast weder auf Anrufe reagiert noch die Türglocke gehört. Ich war kurz davor, die Polizei zu benachrichtigen. Und Gesine wollte schon anfangen, alle Krankenhäuser abzutelefonieren.«
»Das ist ja lustig. Was kümmert es euch, wie ich meine Zeit verbringe?«
Sie war entsetzt über sich selbst, weil sie so amüsiert klang. Sie wollte Robert um Verzeihung bitten, ihn umarmen und ihm sagen, wie lieb sie ihn hatte, vielleicht gemeinsam mit ihm lachen, weil sie Dinge aussprach, die womöglich der Wahrheit entsprachen, aber besser ungesagt blieben. Stattdessen kamen aus ihrem Mund nur noch mehr Worte, die ihn verletzten. »Seit wann muss ich irgendwem darüber Rechenschaft ablegen, wo ich bin und was ich mache?«
»Das verlangt ja niemand von dir«, sagte Robert, bevor sie sich weiter aufregen, oder, schlimmer noch, ihn auslachen konnte. »Aber seit deinem Unfall sind wir in Sorge um dich.«
»Entschuldige. Ich war gemein.« Immerhin, sie brachte auch etwas Nettes zustande. »Und ich sollte froh sein, dass ich so gute Freunde habe.«
Robert wirkte kaum besänftigt. Offenbar passte es ihm nicht, nur ein guter Freund zu sein. Aber er nickte ihr immerhin zu.
»Vier Stunden?«, hakte sie dann nach. »Ich war vier Stunden weg vom Radar? Ist ja ’n Ding! So viel schlafe ich sonst in einer ganzen Nacht nicht.«
Maike litt schon seit so vielen Jahren unter Schlaflosigkeit, dass ihr dieser Zustand ganz normal vorkam. Vier volle Stunden tiefer Schlummer auf dem Sofa grenzten an ein Wunder. Wieder gähnte sie und schaute aus dem Fenster. Tatsächlich, es war Abend geworden. Über den Dächern der Hansestadt wölbte sich ein klarer, blauschwarzer Himmel. Sterne waren im Schein der tausend Großstadtlichter nicht zu entdecken. Nur ein fahler Halbmond leuchtete tapfer gegen die künstliche Konkurrenz an.
Zu ihrer Überraschung stellte Maike fest, dass sie sich danach sehnte, einen hellen Sternenhimmel zu sehen.
Sie wandte sich wieder zu Robert um. »Tut mir echt leid. Ich habe es nicht klingeln hören. Aber es geht mir gut, wirklich.«
So langsam beruhigte er sich. »Du siehst besser aus. Was machen die Symptome?«
»Welche?«
»Na, diese neue Fröhlichkeit an dir.«
Sie horchte kurz in sich hinein. »Das Leben ist schön«, gab sie zur Antwort. Dasselbe hatte sie auch zu Laura König gesagt. Wie seltsam, dachte sie. Aber es fühlte sich nicht fremd an, eher vertraut, ähnlich wie ein lang vergessenes Lied, dessen Melodie einem plötzlich wieder einfiel.
Ein breites Lächeln erschien auf Roberts Gesicht. »Alles klar.«
»Aber da ist etwas anderes, das mir Angst einjagt.«
»Was denn?«
»Du siehst unmöglich aus in dieser Latzhose. Wie ein alt gewordener Öko-Fuzzi.«
Robert sprang auf.
»Wenn du mich beleidigen willst …«
Maike erhob sich ebenfalls und legte ihm begütigend eine Hand auf den Arm. Den Kopf hielt sie gesenkt. Sie konnte ihn unmöglich anschauen, wenn sie ihm gestand, was mit ihr los war.
»Das will ich nicht. Aber genau das meinte ich eben.«
Er begriff nicht, sie musste deutlicher werden.
»Ich fühle diesen inneren Zwang, die Wahrheit zu sagen«, sagte sie endlich.
Robert legte ihr zwei Finger unters Kinn und hob ihren Kopf, damit sie ihm in die Augen sah. »Du meinst, als hätte dir jemand ein Wahrheitsserum gespritzt? So wie in einem mittelmäßigen Spionagefilm?«
»Sehr witzig.«
»Sorry.«
Sie ging nicht weiter darauf ein, sondern sagte: »Ich habe eher das Gefühl, als wäre es ein Teil meiner Persönlichkeit, der bis jetzt gut versteckt war und plötzlich rauskommt.«
Er schien sich nicht sicher zu sein, ob er ihr Glauben schenken sollte.
Maike holte tief Luft. »Ich hasse deine Bartstoppeln. Davon kriege ich Pickel. Warum kannst du dich nie vernünftig rasieren?«
Seine Stirn umwölkte sich. Okay, er glaubte ihr. Er ließ ihr Kinn los und rieb sich über die Wangen. »Du hast es nie zuvor erwähnt.«
Sie setzte sich wieder, und Robert ließ sich neben sie fallen. Allerdings achtete er auf einen gewissen Abstand zwischen ihnen, was sie auf ungewohnte Weise schmerzte.
»Was willst du dagegen unternehmen?«, fragte er nach ein, zwei Minuten des Schweigens.
»Ich … muss mich wohl untersuchen lassen. Von einem Psychiater.«
»Aber du bist nicht verrückt.«
»Nein.«
»Du fühlst dich gut.«
»Ja.«
»Bist nur ein bisschen durchgeknallt.«
Sie stieß ihm den Ellenbogen zwischen die Rippen.
»Aua.«
Dann lachten sie beide, und es fühlte sich wunderbar an. Maike fragte sich, ob sie einander je so nahe gewesen waren. Eher nicht, überlegte sie. Nicht einmal, wenn sie sich geliebt hatten. Sie betete, dass sie ihn nicht noch mehr würde kränken müssen. Irgendwie sollte sie diese verflixte Wahrheitsliebe doch in den Griff kriegen!
Maike unterdrückte ein Seufzen. Ihre Lage war aber auch zu vertrackt! Einerseits liebte sie ihr Leben und die Menschen, die ihr nahestanden, mehr denn je, andererseits war sie gezwungen, genau diesen Menschen weh zu tun.
»Vielleicht solltest du ein wenig warten«, schlug Robert dann vor.
»Warum?«
»Möglicherweise lassen die Symptome ja bald von selbst nach. Und so schlimm finde ich sie nicht. Was mich betrifft, bin ich gern bereit, ein paar Fiesheiten einzustecken, wenn du dafür so fröhlich und positiv bleibst.«
»Im Ernst?«
Er nickte und lächelte sie wieder an.
Sie war ihm unendlich dankbar. Er verstand sie, und er wollte ihr Hoffnung machen. Nur zu gern hätte sie ihm geglaubt. Doch es fühlte sich anders an.
»Im Moment glaube ich eher, dass die Symptome stärker werden«, gestand sie.
Robert legte ihr einen Arm um die Schultern und zog sie an sich. »Abwarten.«
Sie kuschelte sich in seine Armbeuge und fühlte sich gut.
Etwas grummelte.
»Was ist das?«, fragte Robert.
»Mein Magen, fürchte ich.«
»Dein Magen?«, kam es verblüfft zurück.
»Ja, wieso?«
»Ich dachte, dieses Organ besitzt du nicht.«
Sie löste sich ruckartig von seinem Arm und funkelte ihn an. »Nur weil du wie ein Scheunendrescher frisst, heißt das noch lange nicht, dass normale Leute nicht auch mal Hunger haben können.«
Oh Gott!, dachte sie. Jetzt wird er mich verlassen. Ich bin so gemein!
Aber Robert grinste nur. »Was für ein Glück, dass ich nicht dick bin. Bei deiner neuen Ehrlichkeit wäre ich echt schlecht weggekommen.«
Maike schwieg beschämt.
»Aber mal im Ernst«, fügte Robert hinzu. »Ich kenne keinen schlechteren Esser auf der ganzen Welt als dich. Wenn jetzt ein gesunder Appetit zurückkommt, finde ich das wunderbar.«
»Danke. Es ist ja auch schon Stunden her, seit ich die Matjes gegessen habe.«
»Matjes? Wirklich?«
»Ja, was ist so schlimm daran?«
»Äh … nichts. Aber sonst hast du es immer gehasst, wenn ich mal deutsche Küche vorgeschlagen habe.«
»Sorry.«
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