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Nach einer gescheiterten Beziehung hat Anne die Nase voll von der Liebe und hofft auf die heilende Wirkung ihrer Tante. Die eigenwillige Tilly ist das schwarze Schaf der Familie und Annes großes Vorbild. Doch Tilly scheint selbst nicht ganz auf der Höhe zu sein: Ihr Öko-Hof in der Lübecker Bucht ist halb verlassen, einzig ihr Mops Hugo leistet ihr Gesellschaft. Hinter der spröden Fassade ihrer Tante entdeckt Anne eine verletzliche Frau, die oft zerstreut wirkt. Anne beschließt zu bleiben und den wild wachsenden Holunder auf Tillys Hof zur neuen Einnahmequelle zu machen. Dabei wird sie tatkräftig unterstützt vom Fischer Thies, und auch der Landarzt Carsten lässt sich überraschend oft blicken. Vielleicht ist in Sachen Liebe ja doch noch nicht alles zu spät?
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Das Buch
Nach einer gescheiterten Beziehung hat Anne die Nase voll von der Liebe und hofft auf die heilende Wirkung ihrer Tante. Die eigenwillige Tilly ist das schwarze Schaf der Familie und Annes großes Vorbild. Doch Tilly scheint selbst nicht ganz auf der Höhe zu sein: Ihr Öko-Hof in der Lübecker Bucht ist halb verlassen, einzig ihr Mops Hugo leistet ihr Gesellschaft. Hinter der spröden Fassade ihrer Tante entdeckt Anne eine verletzliche Frau, die oft zerstreut wirkt. Anne beschließt zu bleiben und den Holunder auf Tillys Hof zur neuen Einnahmequelle zu machen. Dabei wird sie tatkräftig unterstützt von Fischer Thies, und auch der Landarzt Carsten lässt sich überraschend oft blicken. Vielleicht ist in Sachen Liebe ja doch noch nicht alles zu spät?
Die Autorin
Brigitte Janson heißt eigentlich Brigitte Kanitz und wurde 1957 in Lübeck geboren. Viele Jahre war Hamburg ihre Wahlheimat, wo sie als Journalistin arbeitete. Heute lebt sie in den italienischen Marken.
Von Brigitte Janson sind in unserem Hause bereits erschienen:
WinterapfelgartenDie TortenbäckerinDer verbotene Duft
BRIGITTE JANSON
HOLUNDERHERZEN
ROMAN
List Taschenbuch
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ISBN 978-3-8437-1220-0
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © Fine Pic®, München
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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Für meine Mutter Christa Kanitz (1928–2015). Ich erinnere mich an glückliche Kindertage am Strand der Ostsee.
»Der Fisch ist schon tot«, erklärte Gesa und schnappte sich die Platte mit den Lachsschnittchen. »Der muss nicht mehr schwimmen.«
Anne wollte lachen, aber es kam nur ein Schluchzen aus ihrem Mund. Ihre Tränen flossen auf die Arbeitsfläche aus schwarzem Granit und sammelten sich zu einer erstaunlich großen Pfütze.
»Wie schaffst du das bloß?«, fragte Gesa verwundert. »Andere Leute verdrücken maximal ein paar Tröpfchen, bei dir tritt gleich die Elbe über ihre Ufer.«
Lachen klappte wieder nicht. Das Schluchzen wurde lauter. Anne war das furchtbar peinlich. Normalerweise weinte sie nur, wenn sie allein war. Aber heute war alles anders.
»Ich korrigiere mich«, sagte Gesa, während sie eine Handvoll Blätter von einer Küchenrolle abriss und Annes Tränenflut aufwischte. »Die Niagarafälle stürzen in die Schlucht.«
Anne starrte sie an. »Brauchst dich nicht lustig über mich zu machen.«
»Nee, sorry. Aber kein Mann dieser Welt ist eine solche Flutwelle wert – aua!« Sie rieb sich den Hinterkopf, wo Anne sie mit einem Holzlöffel getroffen hatte. »Deswegen musst du deine beste Freundin und Lieblingsangestellte nicht gleich erschlagen.«
»Du bist meine einzige Angestellte.«
»Klar, weil es sonst keine mit dir aushält.«
Jetzt brach es aus Anne heraus, das Lachen, und auf einmal fühlte sie sich wie befreit.
Gesa beobachtete sie misstrauisch, dann kicherte sie unsicher, schließlich grölte sie los.
»Juhu! Die biblische Sintflut ist besiegt! Das Leben ist wieder schön!«
Sie lagen sich in den Armen, die große schlanke Anne Winkler und die kleine füllige Gesa Heinrich, und für einen Moment war aller Kummer vergessen. Sie bebten vor Lachen, bekamen gleichzeitig Schluckauf und glucksten noch eine Weile vor sich hin, als der schlimmste Anfall vorüber war. Beide trugen sie weiße Kittel, Einmalhandschuhe und auf dem Kopf formlose Plastikhauben.
Anne behauptete gern, in ihrer Arbeitskleidung sähen sie aus wie Scheinzwillinge. Denn abgesehen von den weißen Klamotten hätten sie nicht verschiedener sein können. Während Gesa ein herzförmiges Madonnengesicht mit großen Kulleraugen und schwarze Locken hatte, fand Anne an sich selbst alles einen Tick zu lang. Nicht nur ihren Körper in seiner Gesamtheit, sondern auch die Arme, die Hände und insbesondere die Nase. Ihre Freundinnen behaupteten, Anne habe einen Knall. Sie würden allesamt einen Mord begehen, um ihre Figur zu bekommen, ihre welligen hellbraunen Haare, ihre grau-grünen Augen. Anne wisse gar nicht, wie schön sie sei.
Bis auf die Nase, dachte Anne dann, sagte es aber nicht mehr laut.
Und wie gut sie es habe, wurde hinzugefügt. Eine erfolgreiche Geschäftsfrau, stark, frei und finanziell unabhängig. Einiger Neid schwang dann in den Worten der Freundinnen mit.
Bis auf die Einsamkeit, hatte Anne noch im vergangenen Winter erwidert. Bevor es dann vorbei war mit dem Alleinsein. Bevor die Hoffnung in den ersten Frühlingstagen mit tausend Schmetterlingen in ihr Herz einzog.
»Was wäre ich bloß ohne dich?«, murmelte Anne jetzt.
»Wahrscheinlich eine unglückliche, frisch verlassene Vierzigjährige mit Hang zu nasser Dramatik und ohne eine pummelige Schulter zum Anlehnen«, erwiderte Gesa halb amüsiert, halb mitleidig.
Anne löste sich von Gesa. Sie kam sich jetzt ein wenig albern vor mit ihrem Liebeskummer. Die Freundin hatte schon recht. Kein Mann dieser Welt war es wert, Tränen für ihn zu vergießen. Jedenfalls keiner wie Roland. Auch hysterische Heiterkeitsausbrüche hatte er nicht verdient. Sie drückte die Schultern durch und hob den Kopf. »Lass uns lieber weitermachen. Wir müssen in zwei Stunden ausliefern.«
Gesa warf ihr einen besorgten Blick zu, aber als die Augen ihrer Chefin trocken blieben, nickte sie.
»In Ordnung. Du rollst die Bällchen aus Ziegenkäse, ich schnippele das junge Gemüse und rühre den Kräuterdip an.«
Anne nickte stumm. Es war in Ordnung, wenn Gesa das Kommando übernahm. Sie fürchtete, sie würde nur wieder weinen, wenn sie ein einziges weiteres Wort sprach.
Oder lachen, sich kaputtlachen über das Leben und die Liebe. Beides war im Augenblick zu anstrengend. Also griff sie sich die Schüssel mit dem Ziegenkäse, den sie vor einer Stunde mit Knoblauch, Thymian, Basilikum und etwas Olivenöl vermischt hatte, und zog sich frische Handschuhe an. Dann machte sie sich daran, murmelgroße Kugeln zu formen, rollte sie kurz in zermahlenen Pistazien und arrangierte sie dann auf einer versilberten Platte.
Der Auftrag heute war keine große Herausforderung für die beiden Frauen. Kanapees und Fingerfood für zwei Dutzend Partygäste in einer Villa an der Elbchaussee.
Zum Glück, dachte Anne, während ihre Hände die Arbeit automatisch erledigten. Ein großes Büfett mit mehreren Gängen wäre definitiv über ihre Kräfte gegangen. Sie unterdrückte einen Seufzer und schaute nach draußen. Auf der Alten Königstraße in Hamburg-Altona ging das Leben an diesem sonnigen Freitagnachmittag im August seinen gewohnten Gang. Autofahrer schoben sich ungeduldig durch den Feierabendverkehr, junge Leute saßen lachend und schwatzend vor einem Café, Familien schleppten ihre Wochenendeinkäufe nach Hause. Niemand sah durch das Schaufenster von Annes »Party and more« und begegnete ihrem Blick. Niemand klopfte gegen die Scheibe und rief ihr zu: »Halte durch! Alles wird gut! Der nächste Traumprinz kommt schon auf seinem Schimmel angetrabt!«
O Gott!
Schnell drehte Anne sich weg. Bloß nicht den Verstand verlieren. Es genügte schon, dem Glück in ihrem Leben nicht mehr über den Weg zu trauen. Ihre fünf Sinne musste sie beisammenhalten.
Anne zwang sich, an etwas Positives zu denken.
Hm. Aber an was? Liebevolle Umarmungen, Küsse und massenhaft Streicheleinheiten fielen flach. Der Traumprinz auf seinem weißen Pferd sowieso. Der stürzte in ihrer Phantasie in dieser Sekunde aus dem Sattel.
Dann doch lieber die Arbeit. Da war sie auf der sicheren Seite.
Manchmal staunte Anne selbst am meisten darüber, wie gut sich ihr Partyservice entwickelt hatte. Vor fünfzehn Jahren hatten ihre Eltern in diesen Räumen noch eine typische Hamburger Kneipe betrieben. Mit einfachen Gerichten wie Matjespastete oder Bohnen, Birnen und Speck, mit Bier vom Fass und Schnaps aus der Flasche, mit ein paar Spielautomaten an den Wänden, einer großen Holztheke und fünf Tischen.
Für Helga und Werner Winkler war diese Kneipe ihr Leben gewesen. Reich wurden sie nicht, aber viele Jahre ging das Geschäft gut. Sie hatten einander, und sie hatten ihre Tochter. Und sie waren eine glückliche Familie. Anne jobbte nach der Schule in der Kneipe und später, während ihrer Kochlehre, an jedem freien Tag. Als sie keine gute Anstellung als Köchin fand, übernahm sie mehr und mehr Verantwortung. Bis die große Entscheidung anstand. Bis die Eltern sich zur Ruhe setzten und Anne wählen musste: Alles verkaufen und sich irgendeinen Job suchen oder den großen Sprung wagen?
Sie sprang.
Gesa stach mit einer Karotte nach ihr. »Komm mal wieder zu dir. Hier, Rucola in Serranoschinken einwickeln, danach Tortenbrie auf Pumpernickel platzieren. Ich fülle die Zucchini mit Feta und brate zwei Kilo Riesengarnelen.«
»Tut mir leid«, sagte Anne. Es war ihr nicht aufgefallen, dass ihre Hände nutzlos herunterhingen. Sie wandte ihren Blick vom Fenster ab und schaute sich kurz um, während sie den würzigen französischen Weichkäse auspackte. Die alte schummerige Kneipe hatte sich im Laufe der Jahre in eine einzige große Küche mit erstklassigen Gerätschaften und dem überdimensionalen Arbeitstisch in der Mitte entwickelt. Es war ein langer Weg bis zu diesem topmodernen und florierenden Geschäft gewesen. Anfangs hatte Anne ganz allein in der alten Kneipenküche ein paar kalte Platten angerichtet und in der Nachbarschaft zu Familienfesten gebracht. Aber Jahr für Jahr erweiterte sie ihr Angebot, ließ die nötigen Umbauten vornehmen und gewann im nahen Blankenese mehr und mehr Kunden. Sie ließ eine flotte Website bauen, beschäftigte einen Fahrer für die Lieferungen, stellte je nach Bedarf eine oder gleich mehrere Aushilfskräfte ein und suchte lange nach einer zweiten festangestellten Köchin. Gesa kam an einem Wintertag vor gut fünf Jahren ganz von selbst hereingeschneit.
»Sie brauchen mich!«, erklärte sie ohne Umschweife. »Ich kann kochen, schnippeln, anrichten und so weiter, bla, bla. Außerdem koste ich nicht viel, weil mein Mann gut verdient. Aber ich muss was zu tun haben, und ich wohne ganz in der Nähe, unten an der Palmaille.«
»Sie sind hochschwanger«, protestierte Anne.
»Na und? Ich werde mein Kind schon nicht hier auf dem schön gefliesten Fußboden kriegen. Keine Bange.«
»Ich kann es mir aber nicht leisten, eine Angestellte zu bezahlen, die in Elternzeit geht.«
»Wer will denn so was? Da langweile ich mich ja zu Tode. Nee, keine Sorge. Zwei Wochen nach der Geburt bin ich wieder fit, und meine Mutti kümmert sich dann um den Kleinen. Macht sie bei der Großen auch schon.«
»Aha«, erwiderte Anne schwach und gab sich geschlagen.
Gegen so viel Energie kam sie einfach nicht an.
Sie hatte es nie bereut. Gesa und sie waren ein perfektes Team und wurden gute Freundinnen. Der Partyservice wuchs und gedieh, bald war auch die Ausstattung der Küche komplett.
Vorn an der Eingangstür befand sich noch ein kleiner, mit flämischen Kacheln dekorierter Tresen, an dem jene Kunden, die persönlich hereinschauten, im Prospekt blättern und ihre Bestellungen aufgeben konnten. Dazu bekamen sie eine Tasse besten Espresso oder ein Glas Champagner.
Letzteres war Gesas Idee gewesen, die sich als ungemein verkaufsfördernd herausgestellt hatte.
Anne lächelte ihrer Freundin zu. »Ohne dich wäre ich verloren.«
»Wissen wir, wissen wir. Und nun: hopp, hopp, weiter geht’s, wenn die armen, armen reichen Leutchen nicht verhungern sollen.«
Eine halbe Stunde lang arbeiteten sie schweigend nebeneinander. Die fertigen Gerichte wurden sorgsam in Plastikboxen verpackt und in einen kleinen gekühlten Nebenraum gebracht. Anne achtete stets darauf, dass sich die Düfte der Speisen nicht vermischten. Ihrer Meinung nach verdarb das deren einzigartigen Geschmack. Gesas Meinung nach müsste schon Paul Bocuse persönlich zum Vorkosten erscheinen und bezeugen, dass der geräucherte Thunfisch nach spanischen Salzmandeln schmeckte, nur weil er ein paar Stunden dasselbe Ambiente geteilt hatte. Sonst würde sie das im Leben nicht glauben. Allerdings war Anne hier die Chefin, und so wurde nach ihrer Anweisung gearbeitet.
Nur heute nicht. Sie übersah die Platte mit den Lachsschnittchen, die gefährlich dicht neben der Schüssel mit den frisch gebratenen Garnelen stand, und sie vergaß, den Serranoschinken vor den Bällchen aus Ziegenkäse im Pistazienmantel in Sicherheit zu bringen.
»So langsam wird das wirklich unheimlich«, stellte Gesa leise fest.
Durch Annes Kopf galoppierte gerade ein reiterloser Schimmel. Das war unheimlich. Sie hütete sich, davon zu erzählen, sondern bat stattdessen: »Erzähl mir was. Irgendwas Lustiges.«
»Heute früh hat Ole sein neues Feuerwehrauto im Klo versenkt«, begann die Freundin.
Anne lächelte gequält, tat, als würde sie zuhören, und versuchte, die Ohren zu verschließen.
Selbst schuld. Sie wusste doch, dass Gesa am liebsten von ihrer Familie berichtete. Außer dem zweijährigen Ole gab es noch Leon und Katy, fünf und acht Jahre alt. Dazu den wunderbaren Sven Heinrich, Gesas Mann. Auch er Koch, mit einem guten Job in einem vornehmen Restaurant in Blankenese. Die Familie lebte in einer geräumigen Altbauwohnung, und wann immer Anne zu Besuch kam, ging es dort hoch her.
Jedes Mal war sie froh, wenn sie sich nach ein paar Stunden wieder verabschieden konnte. Nicht, weil sie die Heinrichs nicht mochte, ganz im Gegenteil. Aber es war schwer, so viel geballtes Glück zu ertragen. In letzter Zeit war es etwas einfacher gewesen. Mochte Annes alter Traum von einer eigenen großen Familie auch niemals in Erfüllung gehen, so hatte sie doch einen Mann an ihrer Seite gehabt. Einen, der »in unserem fortgeschrittenen Alter«, wie er es nannte, keine Kinder mehr wollte, der jedoch genau wie sie selbst eine feste Beziehung suchte.
Hatte sie gedacht.
»Nur weil ich vom Klempner schwärme, musst du nicht gleich wieder losheulen«, sagte Gesa.
»Entschuldige.«
»Schon okay. Ich besitze mal wieder null Taktgefühl. Plaudere hier über mein lustiges Familienleben, während du deinem Lover nachtrauerst.«
Sie hielt ihr die Küchenrolle hin, aber Anne schüttelte den Kopf und schluckte ein paarmal krampfhaft Luft, bis der neuerliche Weinkrampf vorüber war. Mit derselben Kraft unterdrückte sie einen Lachanfall. Sie hatte nie gewusst, wie nahe Weinen und Lachen zusammenlagen. Bis heute.
»Roland war nicht bloß irgendein Lover«, flüsterte sie. »Er … hätte alles sein können für mich.«
»Weiß ich, Süße. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass er sich vom Acker gemacht hat.«
»Warum nur?«, fragte Anne leise. »Warum hat er mich verlassen?«
»Vielleicht, weil er ein Vollpfosten ohne Rückgrat ist?«, schlug Gesa vor. Sie machte sich daran, die fertigen Speisen in ihren Boxen zu verstauen, und räumte die Geschirrspülmaschine ein. Anne sank auf einen Hocker vorn am Tresen. Die Arbeit war getan. Es gab nichts mehr, womit sie sich ablenken konnte. Sie mussten nur noch auf Björn warten, den Studenten, der zurzeit den kleinen Lieferwagen fuhr. Ein Service für den Aufbau des Büfetts war diesmal nicht mitgebucht worden.
»Das kriegen wir bestimmt allein hin«, hatte das Geburtstagskind, die Tochter eines steinreichen Hamburger Reeders, gesagt. Womit sie natürlich den Preis gedrückt hatte. Manchmal hasste Anne ihre Kunden. Oft waren es die mit dem meisten Geld, die noch um den letzten Cent feilschten. Dann träumte sie davon, etwas ganz anderes zu machen. Vielleicht ein kleines Lokal zu eröffnen, irgendwo auf dem Land, wo die Zeit ein bisschen stehengeblieben war, wo sie ein paar wenige Gerichte anbieten würde, vielleicht ein, zwei leckere Kuchen dazu, und wo die Gäste noch wirklich dankbar waren für das, was sie ihnen vorsetzte.
Doch einen solchen Ort gab es wohl nicht für sie. Und sie begriff schließlich, dass sie im Grunde nichts anderes erträumte, als in die Vergangenheit zu reisen. Zurück in jene Jahre, als ihre Eltern noch die Kneipe betrieben, als im Gastraum gegessen, gelacht und gelebt wurde, als die Liebe des jungen Ehepaares alles überstrahlte, sogar die Dunstschwaden unzähliger Zigaretten, und als das Kind Anne sicher sein durfte, dass eine so große Liebe auch auf sie wartete, eines schönen Tages, wenn sie nur erst erwachsen wurde. Es war diese feste Zuversicht, nach der sie sich zurücksehnte, und ihre geizigen Kunden von heute hatten eher wenig damit zu tun.
Gesa kam mit einer noch halbvollen Champagnerflasche und zwei Gläsern an den Tresen, doch Anne winkte ab.
»Es gibt nichts zu feiern.«
»Und ob«, erwiderte ihre Freundin, kletterte auf den zweiten Hocker und goss die perlende Flüssigkeit ein.
»Prost. Auf ein Ende mit Schrecken. Und wehe, du verwässerst das teure Gesöff mit einer neuen Sturmflut.«
Anne trank einen Schluck, dann noch einen. Die Luftbläschen kitzelten ihren Gaumen, und sie dachte daran, wie sie manchmal mit Roland Champagner getrunken hatte.
»Stopp!«, rief Gesa. »Du läufst schon wieder über. Denk sofort an was Schönes!«
»Das kann ich nicht. Er ist überall. In meinem Kopf und in meinem Herzen.«
»Höchste Zeit, dass er woanders landet«, gab Gesa zurück. Sie musterte Anne nachdenklich, bis sie endlich sagte: »Also gut, wenn das Sprudelzeug allein nicht hilft, müssen wir härtere Maßnahmen ergreifen.«
»Keinen Alkohol mehr. Dann wird es nur noch schlimmer.«
»Ich dachte eher an eine Teufelsaustreibung.«
Bevor Anne etwas erwidern konnte, traf Björn ein, und sie halfen ihm, die Plastikboxen zu verladen. Als er abgefahren war, bestand Gesa darauf, dass sie sich wieder auf die Hocker setzten.
»Eine halbe Stunde habe ich noch, bevor mich meine Affenbande zu Hause erwartet. Also, was ist am schlimmsten?«
Anne musste nicht lange nachdenken. Roland Wolters, Rechtsanwalt aus dem vornehmen Stadtteil Harvestehude, mit Villa und Kanzlei direkt an der Außenalster, fünfzig Jahre alt, zweimal geschieden, keine Kinder. Doktor Roland Wolters, der ihr gesagt hatte, sie sei die Frau seines Lebens.
»Er hat unsere letzten drei Verabredungen von seiner Assistentin absagen lassen.«
»Feigling.«
Roland, der in den ersten Wochen wie ein starker, unabhängiger Mann gewirkt hatte. Ein Mann, der eine Partnerin auf Augenhöhe suchte.
»Er behauptet, ich hätte nie Zeit für ihn, weil ich mit meiner Arbeit verheiratet bin.«
»Falscher Fuffziger.«
Roland, bei dem ihr erst nach und nach klarwurde, dass ihre eigene innere Stärke ihn verunsicherte.
»Er brauche eine Frau, die sich mehr um ihn kümmert.«
»Fieser … Mist! Jetzt fällt mir kein F-Wort mehr ein, das nicht unanständig ist. Und wenn ich das ausspreche, das mir auf der Zunge liegt, wirst du dich vielleicht von mir entfreunden, sobald du mit dem falschen, fiesen Fuffziger-Feigling wieder zusammenkommst.«
»Niemals!«, rief Anne aus. »Das wird niemals geschehen!« Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und hielt es hoch. »Roland hat mir vor zwei Stunden mitgeteilt, dass es aus ist. Drei Zeilen auf WhatsApp. Hast du so etwas schon mal erlebt?«
»Nee«, erwiderte Gesa und wirkte schwer beeindruckt. »In meiner Zeit vor Sven gab’s noch keine Chats, und die paar Handys, die irgendwelche Wichtigtuer mit sich rumschleppten, waren so groß wie Ghettoblaster. Aber ein Typ hat mal auf einem gelben Klebezettel mit mir Schluss gemacht. Gilt das?«
Anne steckte das Smartphone wieder weg und brütete eine Weile dumpf vor sich hin.
»Ich verstehe es einfach nicht«, sagte sie dann.
Gesa legte ihr eine Hand auf den Arm und wurde auf einmal ganz ernst. »Doch, das tust du, aber du kannst es noch nicht zugeben.«
»Wie meinst du das?«
»Ach, Anne. Du weißt es doch genau. Dein Roland kam nur am Anfang so stark und unabhängig rüber. Letztlich ist er aber nur ein verdammt schwacher Mensch, der es für eine Weile ziemlich toll fand, sich bei dir anzulehnen.«
»Mehr als vier Monate«, warf Anne ein. »Eine ziemlich ausgedehnte Weile.«
»Tja, er hat eben länger gebraucht. Aber am Ende warst du ihm dann doch zu unabhängig. So sind die Männer, Süße. Einige jedenfalls, und mein Sven ist natürlich ausgenommen. Aber einer wie Roland, der will in Wahrheit nur ein Frauchen, das zu ihm aufblickt und ihn groß sein lässt. Dann fühlt er sich wie der König der Welt, und es gibt keinen, der besser, schöner und stärker ist als er.«
»Du bist ja die reinste Psychologin«, sagte Anne bitter. Aber dann schmunzelte sie. »Und meine Männer fallen früher oder später vom Pferd.«
»Was?«
»Ach, nichts. Aber du hast recht.«
Gesa feixte. »Wie immer. Dein Pech ist eben, dass du eine ganze Menge Stärke ausstrahlst. Da fühlen sich diese Typen angezogen wie die Wespen von der Marmelade, bevor sie merken, dass ihr schönes gepflegtes Ego in Gefahr ist.« Sie ließ Annes Arm los und schenkte Champagner nach, ohne auf ihre Einwilligung zu warten.
»Ich kenne dich ja nun schon gute fünf Jahre, und in dieser Zeit habe ich dreimal, nein, viermal miterlebt, wie du auf denselben Typ Mann reingefallen bist. Glaub mir, da habe ich ein geschultes Auge bekommen.«
Anne trank noch etwas Champagner. Er schmeckte wie Spülwasser.
»Meiner Meinung nach«, fuhr Gesa fort, »kannst du dem Kerl dankbar sein.«
»Ach ja? Wieso?«
»Sei ehrlich. Er ist dir nur zuvorgekommen. Noch ein paar Wochen, und du hättest angefangen, mir zu erzählen, dass du seine Nörgeleien nicht mehr hören kannst. Dass er dich erdrückt, weil er mehr und mehr von deiner Zeit einfordert, dass dir kaum noch Luft zum Atmen bleibt. So war es jedenfalls bei den anderen.«
Anne wusste, dass es stimmte, dennoch war die Wunde noch zu frisch, um so einfach mit Roland abzuschließen.
»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte sie zaghaft. »Alle Hoffnung aufgeben?«
»Spinnst du? Du berappelst dich schon wieder. Es gibt immer Hoffnung. Irgendwann wird dein Traumprinz schon kommen.«
»Der schon wieder«, flüsterte Anne. Irgendwo in der Ferne wieherte ein Pferd.
Mitten in der Großstadt?
»Herrgott!«
»Lieber nicht«, unkte Gesa. »Der liebe Gott ist unantastbar. Aber es wird schon jemand auftauchen, glaub mir. Und in der Zwischenzeit machst du das, was du bei solchen Gelegenheiten immer machst.« Die Freundin grinste jetzt breit. »Irgendwann muss ich mal mitkommen und mir den Terminator, den unglaublichen Hulk und Superman himself ansehen.«
»Es wird nicht funktionieren«, erwiderte Anne dumpf. »Diesmal nicht.«
»Olle Pessimistin.« Gesa nahm ihr die Plastikhaube vom Kopf und half ihr, den weißen Kittel auszuziehen. Dann erlaubte sie Anne, sich genau vier Minuten lang im kleinen Bad frisch zu machen, bevor sie ihr die Handtasche reichte und sie auf die Straße scheuchte.
»Wir sehen uns morgen. Und ohne Tränen, bitte.«
Einen Moment lang blieb Anne unschlüssig auf dem Bürgersteig stehen. Dann lief sie los.
Tilly Winkler hob das Gesicht und sog tief die frische, salzige Meeresluft ein. Hugo tat es ihr nach, was ziemlich merkwürdig aussah. Im Gegensatz zu der großen knochigen Frau, die an der Kante der Steilküste stand und weit über die Ostsee blicken konnte, war er bloß ein kleiner dicker Mops, der in den niedrigen Büschen praktisch verschwand und durch seine kurze schwarze Nase niesen musste, weil ihn ein Grashalm kitzelte.
Tilly achtete nicht auf ihn. Sie blickte auf das weite Meer und sah Fähren, Fischkutter, Yachten und große Pötte vorbeiziehen. Sie schaute in den Himmel und beobachtete, wie Uferschwalben und Silbermöwen ihre Kreise zogen, wie luftige Wolkenschiffe in den letzten Strahlen der Abendsonne entlangsegelten und wie eine gespenstisch weiße Mondsichel ihren vorläufigen Platz über dem Horizont einnahm. Ein kräftiger Windstoß ließ sie kurz schwanken und spielte mit ihrem grauen schulterlangen Haar.
Hugo jaulte auf. Etwas hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle gepikst. Flehentlich sah er zu seinem Frauchen hoch. Können wir zurücklaufen?, schienen seine schwarzen Knopfaugen zu fragen. Die Welt hier ist so groß und feindlich, und kalt wird mir auch.
»Der Sommer geht früh zu Ende«, sagte Tilly zu ihm. »Wir haben erst Mitte August, und schon bläst es kräftig aus Nordost. Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir ganz und gar nicht. Du wirst sehen, hinter dem tiefsten Himmelsblau wartet schon das Herbstgrau und …«
Sie brach ab und rieb sich über die Stirn. Himmelsblau und Herbstgrau? Seit wann wurde sie von poetischen Anwandlungen heimgesucht?
Allmächtiger!
Nichts passte weniger zu ihr als Geschwafel.
»Du bist zu viel allein«, erklärte Hugo. »Hast ja jetzt nur mich in deinem Leben. Ich finde, du musst mehr unter Menschen gehen.«
»Nein!«, rief Tilly. »Nein! Nein! Nein! Du sprichst nicht, du bist bloß ein Mops! Und außerdem habe ich die Nase voll vom Rest der Welt.«
Er schaute weiterhin treu und besorgt zu ihr hoch. Tilly sah, dass sich sein Nacken versteifte und ein Zittern über sein kurzes hellbraunes Fell lief.
»Dummer Hund!«
Hugo winselte.
»Hast du etwa Angst vor mir?«
Ja, und wie, schienen seine Augen zu antworten. Du bist nämlich ziemlich groß und kannst echt unheimlich werden.
»Papperlapapp! Dir ist das hier bloß zu viel wilde Natur.«
Tilly kicherte, was Hugo aber nicht sonderlich beruhigte.
»Ein tolles Paar geben wir ab. Ich vergraule alle Leute, und du hast Schiss vor Grashalmen.«
Der Moment der Verwirrung war vorbei. Tilly beugte sich hinunter und nahm Hugo auf den Arm.
»Entschuldige, mein Kleiner, ich hab’s nicht so gemeint. Lass uns heimgehen.«
Hugo schob seine kurze Schnauze in ihre Armbeuge, und sie spürte, dass er sich so leicht wie möglich machte. Eigentlich war er zu schwer, um von Tilly lange getragen zu werden, aber schon der Weg vom Holunderdorf bis hierher war lang und steinig gewesen. Ihm taten wahrscheinlich die kurzen Beine weh, und an den Pfötchen hatte er bestimmt winzige Schnitte, die niemand sehen konnte, die aber höllisch brannten und zwickten.
Diesmal musste Tilly nicht befürchten, dass er mit ihr redete und über seine Erschöpfung klagte. Sie wusste auch so ganz genau, was in seinem Kopf vorging. War ja nicht schwer zu erraten. Im Gegensatz zu Menschen gaben Hunde klare Signale.
Freudiges Sich-im-Kreis-Drehen?
Ich will raus.
Müder Blick, wackelige Beinchen und die kleine Zunge, die immer wieder über eine Pfote fuhr?
Mir reicht’s, ich will nach Hause.
Bei ihresgleichen war das anders. Mit Menschen hatte Tilly in ihren siebzig Lebensjahren schon immer Schwierigkeiten gehabt. Seit jeher kam es ihr so vor, als stünde eine hohe unsichtbare Wand zwischen ihr und dem Rest der Welt und verhindere eine normale Kommunikation. Sie konnte wohl durch diese Wand hindurch sehen, was auf der anderen Seite vor sich ging, konnte die Leute lachen und reden hören, aber sie blieb allein auf ihrer Seite. Manchmal war das schwierig, oft aber fand sie es ganz in Ordnung, und in seltenen Augenblicken konnte sie sich herrlich darüber amüsieren, weil es ihrer Meinung nach eindeutig die anderen waren, die sich merkwürdig verhielten. Nach den Erfahrungen in den vergangenen Monaten war sie wieder einmal fest davon überzeugt, dass sie als Einzelgängerin besser dran war.
»Diese Idioten«, schimpfte Tilly leise, um Hugo nicht noch einmal zu erschrecken. Ihre Gedanken hakten sich an den fünf Menschen fest, die noch bis vor kurzem ihr neues Leben an der Ostseeküste geteilt hatten. »Die sollen sich hier bloß nie wieder blicken lassen. Einfach abhauen und eine arme, hilfsbedürftige alte Frau im Stich lassen. Dass die sich nicht schämen!«
Hätte Hugo über menschlichen Verstand verfügt, so hätte er sich spätestens jetzt schlappgelacht. Niemand ähnelte dem Bild einer hilfsbedürftigen alten Frau weniger als Tilly Winkler.
Sie grinste breit über sich selbst. Stark, streng, manchmal unausstehlich und im Notfall bereit, über Leichen zu gehen. Das traf es wohl eher.
Als sie ein Kind war, hatte es geheißen, sie sei aufmüpfig und unbelehrbar. Als Jugendliche protestierte sie erst mit den und dann gegen die Hippies, war nirgends zu Hause, an keinem Ort, bei keinem Menschen. Aber sie war nicht traurig darüber. Ihre Art zu leben machte sie frei und unabhängig, und lange Zeit glaubte sie fest daran, dass sie nur so glücklich sein konnte. In ihren mittleren Jahren strengte sie sich an, ein normales Leben zu führen. Einfamilienhaus, ein Mann, ein Job im Büro, das waren die Zutaten, mit denen sie eine bürgerliche Existenz aufbauen wollte.
Sie scheiterte und versuchte es nie wieder mit diesem Lebensmodell, das für die meisten Leute offenbar das richtige war. Nun, im Alter, stand die Wand immer noch zwischen ihr und den anderen.
Dabei hatte sie diesmal geglaubt, sie könnte noch einmal einen neuen Versuch wagen.
Hätte ja auch prima klappen können, wenn die fünf Vollidioten sich nicht so angestellt hätten.
Die fünf Vollidioten.
Tilly fand die Bezeichnung äußerst treffend. Sie hatten sich ständig nur beklagt. Erst über die Feuchtigkeit im regnerischen Frühjahr, dann über die Hitze. Über das frühe Aufstehen und die harte körperliche Arbeit. Über den fehlenden Strom und das oft nur tröpfelnde Wasser. Selbst als zumindest teilweise Leitungen und Rohre verlegt worden waren, hatte es ihnen nicht genügt.
Genau. Die fünf Vollidioten!
Es tat ihr gut, so über die Menschen zu denken, die mit ihr gemeinsam ein neues Leben hatten ausprobieren wollen. Der Letzte von ihnen war vor einer Woche getürmt. Buchstäblich bei Nacht und Nebel. Als ob er Angst gehabt hätte, von ihr mit Gewalt festgehalten zu werden.
Pah!
»Ich schaffe es auch allein«, sagte sie laut und deutlich. »Ich brauche niemanden!«
Dazu stieß sie einen Knurrlaut aus. In ihrer Armbeuge antwortete Hugo.
»Still!«, schimpfte sie. »Du hast überhaupt keinen Grund zu meckern. Keinem Hund auf der Welt geht es besser als dir. Gutes Fressen, frische Luft und von früh bis spät meine reizende Gesellschaft.«
Sie ließ ihren Worten ein gackerndes Lachen folgen.
Mit einem solchen Geräusch war Hugo glatt überfordert. Das ließ sich in der Hundesprache nicht imitieren. Also beschränkte er sich darauf, leise zu schnaufen und mit den Ohren zu wackeln.
Tillys Arme wurden langsam schwer, trotzdem hielt sie den prallen Körper fest an sich gedrückt. Sie hätte es vor anderen Leuten niemals zugegeben, aber die Nähe des kleinen Hundes war besonders in diesen Tagen tröstlich für sie. Er war noch jung, keine drei Jahre alt und, abgesehen von dem leichten Übergewicht, ein putzmunteres Kerlchen. Es tat ihr gut, seinen Herzschlag zu spüren, und nachts erlaubte sie ihm neuerdings, in ihrem Bett zu schlafen. Nur ganz am Fußende, versteht sich, und wenn sie morgens erwachte und feststellte, dass er sich bis zu ihrem Bauch geschlichen und dort eingekuschelt hatte, dann tat sie so, als würde sie es nicht bemerken.
Die Klippen lagen jetzt hinter ihr, der schmale Pfad, den sie selbst im Laufe des Frühjahrs und Sommers ausgetreten hatte, verbreiterte sich und ging in einen sandigen Weg über. Nach zwanzig weiteren Schritten wandte sie sich kurz um. Von dem Pfad war schon nichts mehr zu erkennen. Nur wer an dem großen dunkelgrauen Stein zwischen den zwei Weißpappeln genau ins Strauchwerk schaute, konnte vielleicht feststellen, dass hier und dort das Dünengras umgeknickt und ein paar größere Äste aus dem Weg geräumt waren.
Gut so.
Dies war ihr geheimer Zugang zur Steilküste, und sie wollte an ihrem Aussichtspunkt keine Gesellschaft haben.
Mochten die Touristen an diesem ruhigen Abschnitt der Lübecker Bucht den ausgewiesenen Wanderweg am Klippenrand entlang nehmen oder unten am Strand laufen. Dies hier war Tillys kleines Stück vom Paradies. Zwar ging sie selbst auch gern zum schmalen Strandstreifen hinunter und planschte sogar ein wenig im Meer, aber nur, wenn sonst niemand da war. Meistens kurz nach Sonnenaufgang. Sie traute sich nie tief hinein, denn sie konnte nicht schwimmen. Und es wäre ihr peinlich gewesen, wenn jemand sie dabei beobachtet hätte, wie sie bloß bis zu den Knöcheln im Wasser stand und erschrocken zurücksprang, wenn eine Welle es wagte, an ihre Knie zu schwappen. Aber sehr oft machte sie es sowieso nicht, weil ihr die Strecke zu weit war. Sie musste erst ein ganzes Stück auf dem Wanderweg entlanggehen und dann einen steilen, ziemlich gefährlichen Pfad zum Meer hinuntersteigen.
Tilly schaute wieder nach vorn. Die ostholsteinische Landschaft erstreckte sich vor ihren Augen mit sanften Hügeln, abgeernteten Erdbeerfeldern, saftig grünen Wiesen und weiten Stoppelfeldern. Noch im Juni hatte dort der Raps in prachtvoller goldgelber Blüte gestanden, nun wirkten die endlosen Flächen nackt und schutzlos. Begrenzt wurden sie von den typischen Knicks, niedrigen, mit Hecken bepflanzten Wällen, die nicht nur den Grundbesitz der Bauern festlegten, sondern auch das Vieh daran hinderten, zum Nachbarn hinüberzulaufen, und den scharfen Winden Einhalt geboten, bevor diese den wertvollen Ackerboden mit sich forttragen konnten.
Der Weg ging ein ganzes Stück weiter vorn in eine Asphaltstraße über, die nach ein paar Kilometern Richtung Norden, nach dem Ende der Steilküste, in das Städtchen Glückshafen führte. Eine kaum zweitausend Seelen zählende Gemeinde, in der es nur wenige Fremdenzimmer gab. Wo man unter sich blieb und es den großen Zentren wie Travemünde im Süden oder Timmendorfer Strand weiter im Nordwesten überließ, mit den Touristenströmen fertig zu werden. Es verfügte über einen kleinen Fischereihafen und einen Leuchtturm. Der Marktplatz in der Mitte des Ortes konnte durchaus als pittoresk bezeichnet werden, dennoch verirrten sich nur selten Besucher dorthin.
Tilly erreichte einen riesigen Holunderstrauch. Hier musste sie abbiegen und quer über eine brachliegende Wiese laufen, wenn sie nicht den großen Umweg über Glückshafen nehmen wollte. Und das wollte sie ganz gewiss nicht. Die Leute hier mochten sie nicht, hielten sie für eine Verrückte, die den guten Ruf ihrer Gegend in Gefahr brachte.
»Pah!«, stieß Tilly aus.
Hugo, der eingeschlafen war, zuckte zusammen. Sie strich ihm kurz übers Fell und nahm ihn auf den anderen Arm. Er beruhigte sich wieder und schlief leise schnaufend weiter.
Der Holunderstrauch war gute sechs Meter hoch und drei Meter breit. Als Tilly ihn das erste Mal entdeckt hatte, im Mai, als ihr neues Leben wie ein wunderbares Versprechen vor ihr gelegen hatte, da öffnete er seine kleinen elfenbeinfarbenen Blüten und ließ sie ihren betörenden Duft verströmen. Eine ganze Weile war sie damals verzaubert vor ihm stehen geblieben, hatte sich in seiner Nähe seltsam ruhig und zufrieden gefühlt und dann beschlossen, ihr neues Zuhause nach ihrem stummen Freund zu nennen.
Holunderdorf.
Dorf, na ja.
Der Ausdruck war ein wenig übertrieben. Aber der Riesenstrauch hier glänzte auch nicht durch Bescheidenheit. Seine Kollegen auf den Knicks, die in botanischer Eintracht mit Haselnusssträuchern, Schlehdorn und Brombeeren wuchsen, erreichten vielleicht eine Höhe von anderthalb, maximal zwei Metern. Allerdings wurden sie regelmäßig zurückgeschnitten, während der wilde Große hier noch nie eine Heckenschere gesehen hatte. Er war frei, er war stolz, und bald schon würden seine Beeren saftig und schwarz für die Ernte bereit sein. Dann wollte Tilly ihn um seine fruchtige Gabe erleichtern, und sie wusste, er würde sie ihr mit Freuden geben.
Was?
Fassungslos schnitt sie eine Grimasse. Das Leben hier schien ihr nicht zu bekommen. Ein Mops und ein Riesenstrauch waren ihre besten Kumpel geworden. Wo sollte das enden?
Noch einmal verlagerte sie Hugo auf den anderen Arm. Höchste Zeit, heimzukehren, damit sie ihn nicht länger tragen musste.
Plötzlich knurrte der Mops, gleichzeitig vernahm Tilly hinter sich ein Räuspern. Sie drehte sich um und sah einen Mann vor sich, der vielleicht ein paar Jahre jünger war als sie. Aber das täuschte womöglich. Sie musste sich ein Lachen verkneifen, weil er gar zu merkwürdig aussah. Obwohl er ihr kaum bis zur Brust reichte, wirkte er dennoch stark und muskulös. Zumindest im Schulterbereich. In seiner Mitte hingegen rundete sich ein kugelförmiger Bauch, und seine Beine wirkten dünn wie Streichhölzer. Weiter oben sah er auch nicht besser aus. Auf seinem quadratischen Kopf saß ein grauer Haarkranz, und seine Gesichtshaut war zäh wie altes Leder.
»Was schleichen Sie sich hier so an?«, fragte sie barsch. »Macht es Ihnen vielleicht Spaß, alte Damen zu erschrecken?«
Der Mann ließ seinen Blick lange auf ihr ruhen. Sicherlich bemerkte er, dass ihre Jeans fleckig war und der dünne Pulli mehrere Löcher aufwies. Aus unerfindlichen Gründen war sie froh, dass sie wenigstens normal angezogen und nicht in einem Kaftan unterwegs war. Vor Jahren hatte sie sich in Marokko zwei Dutzend dieser leichten bunten Gewänder gekauft, und sie trug sie bis heute zu fast jeder Gelegenheit. Allerdings wurde es jetzt langsam zu kühl dafür, und auf einer Wanderung waren sie ohnehin unpraktisch.
»Alte Damen treiben sich nicht hier draußen rum und beten eine Hecke an.«
Er kam einen Schritt näher, wich aber zurück, als Hugos Knurren tiefer wurde.
»In Gesellschaft eines bissigen Schoßhündchens«, fügte er hinzu.
Tillys Laune sank rapide. Sie konnte es nicht leiden, wenn Hugo beleidigt wurde. Ihr Ton wurde jetzt richtig böse.
»Ich schaue mir den Holunder bloß an. Und kümmern Sie sich gefälligst um Ihren eigenen Kram.«
Der Mann blieb unbeeindruckt. »Das ist der Hollerbusch aber nicht gewöhnt. Wenn Sie den weiter so ankieken, kriegt der es noch mit der Angst zu tun und stürzt sich über die Klippe ins Meer.«
»Witzbold«, brummte sie.
Sie erntete bloß ein Lachen, rau und scharf wie ein kalter Windstoß über dem Meer.
Hollerbusch, Holder, Flieder, Schwarzer Holunder, ging es ihr durch den Kopf, während sie den Störenfried mit einem langen feindseligen Blick bedachte. Sie hatte bereits alles über diese Pflanze gelesen, was ihr in die Hände gefallen war. Und sie kannte noch dunkel eine Geschichte aus ihrer Kindheit. Tilly schloss die Augen, um sich besser zu konzentrieren. Es erschien ihr auf einmal das Wichtigste auf der Welt, sich daran zu erinnern. War es nicht Frau Holle gewesen, die in einem Hollerbusch lebte und Holunderblüten auf die Erde rieseln ließ, wenn sie Betten ausschüttelte?
Ja, Tilly wusste es wieder genau.
Und wie ging der alte Kinderreim?
Ringel, Rangel, Reihe, wir sind der Kinder dreie, wir sitzen unterm Hollerbusch und machen alle husch, husch, husch.
Als sie den Vers in einem Buch entdeckt hatte, glaubte sie wieder zu wissen, dass sie als kleines Mädchen selbst einmal so fröhlich mit ihren Freundinnen getanzt und gespielt hatte. Aber das konnte auch täuschen. Sie wusste oft nicht, was in ihrem Gedächtnis als echtes eigenes Erlebnis verankert war und was sich dort hineingeschlichen hatte – gelesen, gehört, gesehen – und sich im persönlichen Schatz eines gelebten Lebens nun glänzend hervortat. Vermutlich, so schätzte Tilly, ging es anderen Leuten genauso. Ganz gleich, ob sie auf viele oder nur wenige glückliche Momente zurückschauen konnten. Unbewusst schenkten sie sich im Alter auf diese Weise ein wenig Frieden und Dankbarkeit. An diesem Punkt ihrer Gedanken öffnete Tilly die Augen und stellte fest, dass der kleine Mann immer noch vor ihr stand.
Ihre friedvolle Stimmung verflog.
»Warum hauen Sie nicht endlich ab und lassen mich in Ruhe?«
Wie zur Verteidigung hob er seine großen, von unzähligen Narben übersäten Hände.
Angelhaken, schoss es Tilly durch den Kopf. Und wahrscheinlich noch andere spitze Gerätschaften. Sie ahnte, dies waren die Hände eines Fischers. Dazu passten auch die besonders muskulösen Schultern. Auf einmal glaubte sie zu wissen, wen sie vor sich hatte.
»Sind Sie etwa Thies Ahrens? Der alte Fischer, der nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen ist?«
Sie hatte schon so einiges über ihn gehört. Zeit seines Lebens hatte er Makrelen, Heringe und Schollen gefangen, hatte Butt, Seezunge und Aal aus dem Meer gezogen. Mit fünfundsechzig hatte er sich zur Ruhe gesetzt. Seit Jahr und Tag lebte er allein in einer reetgedeckten Kate und galt als Sonderling, weil er nur selten sprach, weil er nie geheiratet hatte, weil er in mancher Nacht noch immer hinausfuhr, tatenlos an Deck seines alten Kutters saß und den Sternenhimmel anschwieg. Ein Fischer, den das Meer nicht mehr losließ.
»Der bin ich. Sehr erfreut. Ich nehme an, Sie sind Frau Winkler?«
Besonders schweigsam ist der aber nicht, überlegte sie.
Seine rechte Hand schoss vor, aber er zog sie schnell wieder zurück, als Hugo seine kleinen Zähne fletschte.
»Sehr erfreut!«, wiederholte Tilly schnaubend. »So einen Mist können Sie sich bei mir sparen. Guten Tag.«
Sie ließ ihn stehen und stapfte quer über das Brachland davon. Ein, zwei Minuten lang spürte sie noch seinen Blick im Rücken, dann schien auch er sich abgewandt zu haben.
»Komischer Kauz«, murmelte sie.
In Glückshafen, das wusste sie, hielt man ihn für verrückt.
Allerdings hatte ihn Tilly in der örtlichen Rangliste der Bekloppten höchstpersönlich auf den zweiten Platz verbannt, nachdem sie in die Gegend gezogen war. War nicht weiter schwierig gewesen.
Nachdenklich lief sie weiter. Die alte Paula von der Poststelle in Glückshafen hatte ihr von Thies erzählt. Sie war so ungefähr der einzige Mensch, mit dem Tilly noch manchmal sprach. Ansonsten machte sie seit einiger Zeit einen großen Bogen um das Städtchen. Es ging ihr einfach auf die Nerven, wenn sie angestarrt wurde, nur weil sie gern mal einen bequemen Kaftan trug. Sie hasste es, wenn sie die Leute tuscheln hörte über die Kommune, die da draußen nahe den Klippen wilde Orgien feierte.
Wilde Orgien.
Ha!
Alternativ ging das Gerücht, Tilly sei das Oberhaupt einer obskuren Sekte, und schon bald werde sie versuchen, neue Jünger zu gewinnen. Als sie das gehört hatte, verspürte sie eine irre Lust, einen orangefarbenen Kaftan anzuziehen und mit einer kleinen Trommel singend durch Glückshafen zu ziehen. Sie hatte sich gerade noch beherrschen können.
Und als ein paar Tage später der Pastor im Holunderdorf aufgetaucht war, hatte sie ihn mit gesetzten Worten davon überzeugen können, dass sie und ihre Mitstreiter ganz normale Leute waren, die nur ein bisschen anders lebten. Der Pastor hatte sich lange umgesehen, hatte eine ganze Menge Fragen nach ihrem Lebenswandel gestellt und war dann mit tiefgerunzelter Stirn, aber doch einigermaßen beruhigt wieder weggefahren.
Also mied Tilly Glückshafen. Sie wusste ja, ihr würden nur böse Blicke folgen, bestimmt gab es kein freundliches Wort und schon gar keine Einladung zu einem Tee und einem netten Klönschnack, wie hier im Norden ein Kaffeekränzchen genannt wurde. Ihr sollte es recht sein. Sie war noch nie der Typ für Plaudereien gewesen.
Aber jetzt wünschte sie sich plötzlich, noch einmal mit Thies Ahrens zu reden. Seine ruppige Art hatte ihr gefallen, wahrscheinlich weil er ihr damit sehr ähnlich war. Es könnte interessant sein, überlegte sie, ihn besser kennenzulernen.
»Weil du sonst nur die alte Paula und mich hast«, brummte Hugo.
»Ach, halt die Klappe!«, rief sie.
Der Mops stieß ein Jaulen aus und verlangte, heruntergelassen zu werden. Seufzend tat sie ihm den Gefallen. Er rannte davon, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, quer über die Wiese bis zu dem Ort, der jetzt seine Heimat war.
Tilly behielt ihn scharf im Blick und beschleunigte ihren Schritt. So ganz hatte sich Hugo noch immer nicht an die neue Umgebung gewöhnt. Es schien ihm zu gefallen, dass er draußen frei herumtollen konnte, und er genoss es regelrecht, dass er nicht mehr minutenlang an der Leine bis zum nächsten Straßenbaum trippeln musste, bis er endlich sein dringendes Bedürfnis verrichten konnte. Aber nur allzu oft kam er jaulend bei ihr angerannt, weil er sich vor irgendetwas fürchtete. Es waren andere Gefahren als jene, die er aus Hamburg kannte. Nur selten verirrte sich ein Auto hierher, und es gab auch keine Menschenmassen, in denen er verlorengehen konnte. Andererseits vermisste er offensichtlich das weiche Kuschelsofa am Kamin, auf dem er ganze Tage verschlafen hatte, das beruhigende Flimmern aus dem Fernseher, das entspannte Verstreichen der Zeit.
Stattdessen durfte er nun herumspringen, soviel er wollte, aber das war verdammt gefährlich.
Eine Katze hatte ihn einmal angegriffen und ihm ein winziges Stück von seinem linken Ohr abgebissen. Dann wollte ihn eine Hummel ins Auge stechen. Tilly konnte sie im letzten Moment verscheuchen. Und einmal hatte er sich Flöhe eingefangen, woraufhin sie ihn ausgiebig mit einem stinkenden Hundeshampoo waschen musste.
Ja, dachte sie jetzt. Hugo konnte mit dem neuen Paradies immer weniger anfangen. Ihm schien die Großstadt zu fehlen. Diese viele frische Luft, dieses Grün, das große Land machten ihn müde.
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