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Zwei Unbekannte. Eine Reise durch den Sommer. Und plötzlich ist alles anders ... Nach einem heftigen Streit mit ihrem Verlobten will Romy nur noch weg. Als sie Valentin, dem sie am Tag zuvor auf einer Kunstauktion begegnet ist, vom Parkplatz rollen sieht, schalten ihre Beine auf Autopilot – und dann steigt sie einfach zu ihm ein. Mit einem ersteigerten Gemälde im Kofferraum, das Valentin seinem Auftraggeber in Italien liefern soll, beginnt ein Roadtrip der besonderen Art. Und während die Luft nach Thymian und Pinien zu duften beginnt, kommen sich die beiden immer näher. Aber auf Romy wartet immer noch ein Verlobter. Und welches Geheimnis hütet Valentin? Der neue Roman von SPIEGEL-Bestsellerautorin Mina Teichert! Komm mit auf eine Reise der besonderen Art, erlebe den trubeligen Strandtourismus Riminis, den hektischen Straßenverkehr Neapels und rieche den Duft von Meer in den Gassen Capris.
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Seitenzahl: 387
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nach einem heftigen Streit mit ihrem Verlobten will Romy nur noch weg. Als sie Valentin, dem sie am Tag zuvor auf einer Kunstauktion begegnet ist, vom Parkplatz rollen sieht, schalten ihre Beine auf Autopilot – und dann steigt sie einfach zu ihm ein. Mit einem ersteigerten Gemälde im Kofferraum, das Valentin seinem Auftraggeber in Italien liefern soll, beginnt ein Roadtrip der besonderen Art. Und während die Luft nach Thymian und Pinien zu duften beginnt, kommen sich die beiden immer näher. Aber auf Romy wartet immer noch ein Verlobter. Und welches Geheimnis hütet Valentin?
Mina Teichert
Roman
In der Liebe tanzen wir, um den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Ich sitze am fein gedeckten Tisch im Außenbereich des Hotels, in dem wir mit meinem Freund Henry, meiner ältesten und allerbesten Freundin Lilly, ihrem Mann und meinen Eltern meinen Geburtstag feiern wollen. Es war ein Tipp von Lilly, eine alte Brennerei, die zu einem herrschaftlichen Eventspot umgebaut wurde und mit allerlei Besonderheiten aufwartet. Etwa mit Whiskeytastings, Promihochzeiten oder Kunstausstellungen im Nebengebäude. Ich war von Beginn an begeistert von den Backsteingebäuden, den hohen luftigen Räumen, die allerlei Relikte vergangener Zeiten beherbergen, und dem Garten mit seinen Eichen und dem ruhig dahinfließenden Bach. Henry, der übers Wochenende in Hamburg bleibt, hat uns für die Nacht die Honeymoon-Suite gebucht und überlässt nichts dem Zufall, was das leibliche Wohl der Gäste angeht. Ein perfekter Gastgeber eben. Lilly ist begeistert von dem Mann, den ich seit einem Jahr date, und hat mit ihm zusammen alles geplant. Und Henry ist tatsächlich der erste Mann, mit dem ich mir vorstellen kann, einmal zusammenzuleben.
»Auf dich, Romy«, zwitschert Lilly selig. »Die Konstante in meinem Leben, die mich durch die schwierigste Zeit brachte.« Sie holt tief Luft, Schampus schwappt über den Rand des Kelches und tropft auf das Gedeck. »Ihr wisst, was ich meine: die Pubertät.« Ich muss kichern, lasse meine Nikon ein wenig sinken, mit der ich Schnappschüsse mache, vielleicht Material für meinen nächsten Bildband, man weiß ja nie.
»Ohne dich wäre ich verrückt geworden.«
Ich winke ab, mir ist es fast unangenehm, so im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, und dass Henrys verliebte Blicke nur auf mir ruhen, macht es nicht besser.
»Ich weiß noch, wie du mit mir zusammen das Auto meines Schwarms, der mich fies abserviert hatte, in der Nacht aus Rache mit Damenbinden vollgeklebt hast«, schwelgt Lilly in Erinnerungen.
»Hast du nicht getan!«, wundert sich Henry kurz, und seine Miene verrät nicht, was er darüber denkt.
»Doch das hat sie, weil der Typ mich mit den Worten: ›Hast du deine Tage, oder was bist du so anstrengend‹, abserviert hatte und ich stundenlang geheult habe«, plaudert Lilly weiter aus dem Nähkästchen. »Weißt du noch, was du gesagt hast, Romy? Es gibt viele Fische im Meer, angle dir nicht den angeberischen Lachs mit Egoproblemen. Und siehe da, ich habe mir bald darauf meine große Liebe geangelt.« Sie wirft einen Handkuss in Richtung ihres Mannes Piet, der definitiv liebevoll und kein Angeber ist. Für mich wäre er nichts, aber für meine Lilly ist er der schönste Mann der Welt. Und sie führen seit zehn Jahren eine glückliche Beziehung.
»Oh, oh«, fällt Lilly noch etwas ein, das sie herausposaunen will. Ich frage mich, was sie Henry alles erzählt hat, bevor ich gekommen bin. »Weißt du noch damals, als wir das nagelneue Elektrorad von deinem Papa geklaut haben, um auf die angesagteste Party des Jahres zu fahren?« Sie grinst diabolisch, und ich verschlucke mich prompt am Champagner. Er kratzt in meiner Luftröhre, und ich muss husten.
Ich bemerke den Blick von Papa, der nur leise seufzt bei der Erinnerung an die Polizei, die uns am frühen Morgen volltrunken mit seinem ramponierten Rad ablieferte.
»Du schuldest mir noch die Reparatur«, wirft er ein, ganz der Sonnenschein, der er ist, und Mama reagiert sofort.
»Ach, Dieter, Töchter kosten eben Geld, so ist das nun mal«, sagt sie und zwinkert mir neckend zu. Sie hat eindeutig die Hosen an zu Hause. Früh hat sie mir erzählt, wie Männer ihrer Meinung nach funktionieren und wie man die richtigen Knöpfe drückt, um an ein Ziel zu kommen. Und ich muss zugeben, mittlerweile beherrsche ich diese Art Spiel in einer immer noch männerdominierten Welt ganz gut und nutze mein eigenes Kapital. Ein Lächeln hier, ein wenig Koketterie dort, und so manches männliche Exemplar lässt sich gekonnt um den Finger wickeln. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, denn auf solch eine Weise hat Mama sich den besten Zahnarzt ganz Hamburgs geschnappt, wie sie nie müde wird zu erzählen.
»Papi, ich liebe dich, und ich werde immer deine kleine finanzielle Belastung bleiben«, scherze ich in seine Richtung, und etwas in seiner Haltung lässt mich innehalten. Wieso guckt er Henry so komisch an? Und weshalb schmunzelt der, als hätte ich einen Witz nicht verstanden? Die heiße Spätsommerluft nimmt mir einen Moment den Atem und Lilly plaudert weitere Anekdoten aus unserer Jugend aus. Sie ist mir etwas zu mitteilungsfreudig, denn ich bin mir sicher, manches ist nicht für die Ohren eines Mannes bestimmt. Besonders nicht Periodenunfälle mit weißen Hosen und Rettungsmanöver zu deren Verschleierung.
»Und unter uns, meine liebe Romy: Ich bin stolz auf dich, dass du so viel erreicht hast. Das eigene Studio, eine bemerkenswerte Karriere als Fotografin und nun auch eine ernst zu nehmende Beziehung.« Mit diesen Worten dreht Lilly sich zu Henry, der sich plötzlich von seinem Stuhl neben mir erhebt. »Ich bin sehr einverstanden mit deiner Wahl, und ich bin mir sicher, du rockst das«, flüstert sie über den mit Kerzen und Blumenarrangement gedeckten Tisch, und mir wird plötzlich ganz heiß, was geht hier vor sich?
»Romy, Schatz«, höre ich Henry zu mir sagen, und mein Blick weitet sich, als er ein winziges blaues Kästchen aus der Hosentasche seines Armani-Anzuges zieht. »Würdest du mich zum glücklichsten Mann aller Zeiten machen und meine Frau werden?«
»Internetverbot, wie kreativ«, reagiere ich auf Mias Schimpftirade über ihre Eltern am Telefon und muss ein bisschen lachen. Meine Nichte Mia-Florentine ist mit ihren dreizehn Jahren bereits eine exzentrische Persönlichkeit, und ich liebe es, wenn sie sich so aufregt. Das konnte sie schon als Dreijährige gut. Sie bekam dann immer dieses Blitzen in den Augen und redete so schnell, dass man kaum noch etwas verstand.
Sie ist ganz anders als meine Schwester Nathalie oder meine Eltern. Und das finde ich zauberhaft und mehr als erfrischend. Wer kommt in dem Alter schon darauf, sich wie Marie Antoinette oder wie eine Rokoko-Kokotte zu kleiden und so in die Schule zu gehen, ohne sich auch nur im Geringsten von den Mitschülern, die das Ganze zum Schreien komisch finden, verunsichern zu lassen? Ich an Nathalies Stelle wäre stolz auf meine Tochter und hätte ganz sicher nicht mit Internetverbot versucht, die Flügel meines eigenen Kindes zu stutzen, weil sie sich gegen einen Mobber wehrte. Mit umherfliegenden Äpfeln, die zugegeben, als Wurfgeschosse missbraucht für Schaden sorgten und einen Mitschüler empfindlich in den Weichteilen trafen. Meine Schwester ließ sich von den Lehrern, die eine Nulltoleranzpolitik fahren, was Gewalt angeht, sofort einwickeln und schlug sich bedauernswerterweise auf die Seite des Systems. Mich wundert das nicht, denn meine Schwester ist ein Paradebeispiel des zum Sklaven erzogenen und nicht selbstständig denkenden Schablonenbürgers.
Und ich als Patenonkel der schlechte Einfluss auf ihre pubertierende Tochter.
»Aber weißt du, was?«, fragt sie.
»Ich höre.«
»Die weiß gar nicht, wie man das WLAN ausstellt. Also guck ich heimlich weiter TikTok und Miss History«, haucht sie verschwörerisch in den Hörer.
Mich freut es, dass ich sie mit meiner Leidenschaft für Geschichte anstecken konnte, wie einst mein Onkel mich. Pietro fehlt mir sehr, er ist vor vier Jahren von uns gegangen und riss eine große Lücke in mein Herz. Verlust tut weh, manchmal ist er kaum zu ertragen. Aber so ist es eben. Nur der Tod und die Liebe schaffen es, die Welt aus den Angeln zu heben und neu zu ordnen.
Ich beschleunige meine Schritte, passiere einen Tabakladen in der Ludwigsvorstadt, klemme das Handy zwischen Schulter und Ohr und sortiere Geldscheine in meinem Geldbeutel. Das kleine Foto von Mia darin erwacht dabei vor meinem inneren Auge zum Leben. Ich kann beinahe sehen, wie sie mich mit vor Empörung halb geöffnetem Mund anschaut, den etwas schief stehenden Schneidezahn enthüllend, den eine Zahnspange versucht zu unterwerfen.
»Na dann, ist doch alles gut. Worüber regst du dich dann auf? Spar dir deine Energie lieber für deine nächste kreative Phase auf«, rate ich ihr und nehme mir vor, sie bald zu besuchen. Sie mit in ein Museum oder auf einen Trödelmarkt zu nehmen, was wir lange nicht mehr gemacht haben. Das letzte Mal fand sie für mich ein gut erhaltenes Modellauto, einen 190er Mercedes in Rot von der Firma Schuco aus den 50ern, den ich in meinen Bestand als Kunsthändler aufnahm.
»Über Ungerechtigkeit, Onkelchen. Un-ge-rech-tig-keit«, betont sie, und ich nehme das Handy wieder in die Hand, nachdem ich das Portemonnaie verstaut habe.
»Principessa«, sage ich und nenne sie nur allzu gerne auf Italienisch Prinzessin. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich sie das erste Mal in meinen Armen hielt. Sie war so winzig, und ihre großen braunen Augen hatten mich bereits da schon so keck angefunkelt und verrieten das italienische Feuer, das durch unsere Adern fließt. »Gewöhne dich besser jetzt schon mal dran. Die Welt ist kein gerechter Ort.« Traurigkeit darüber huscht mir durch die Eingeweide, bevor Mias Kichern den Knoten in meiner Brust wieder löst. Ihre fröhliche Art schafft es immer, mich den Ernst des Lebens vergessen zu lassen.
»Ich weiß das schon. Sonst wäre Marie Antoinette nicht so grausam ermordet worden«, sagt sie altklug, und es wird einen Moment still am anderen Ende.
Ich weiche einem Passanten aus, alle Läden sind bereits geschlossen, und ich werde schneller. Ich bin nicht sonderlich gern hier in der Gegend, einige Straßen weiter tummeln sich oft verlorene Seelen und Junkies.
»Ich muss dir noch was erzählen«, säuselt Mia nun geheimnisvoll.
»Na, dann mal raus damit.« Ich trete durch eine schief in den Angeln hängende Eisenpforte in einen Hinterhof. Mülltonnen laufen über, ein fauliger Geruch wabert in der Sommerhitze zu mir herüber.
»Ich hab jetzt einen Freund.« Fast verschlucke ich mich. Das ist mal eine Neuigkeit. Kommt es nur mir so vor? Oder werden die Kinder immer früher groß?
»Ist nicht wahr. Weiß deine Mutter davon?«, rutscht mir prompt die Frage heraus, die ich mir auch selbst hätte beantworten können. Denn Mia ist für meine Schwester ein Buch mit sieben Siegeln, ein Mysterium, das unmöglich ihrem Uterus entsprungen sein kann. Sie liebt ihr Kind, keine Frage, aber nennt sie ihre unlösbare Aufgabe, und das vor Mia, was ich beunruhigend finde. Man sollte seinem Kind nicht das Gefühl geben, nicht verstanden zu werden.
»Bist du verrückt?«, fragt die Kleine, die sich jetzt für Jungs interessiert.
»Sie würde sich bestimmt für dich freuen.«
»Kennst du meine Mutter?«
»Okay, vergiss das. Und erzähl mal, wie ist denn der Kerl so, den du datest?«
»Er ist super süß und heißt Marvin. Und wir haben uns geküsst.« Okay, das gefällt mir gar nicht, und ich spüre, wie mein Magen sich zusammenzieht.
»Wie alt bist du noch mal?«, hake ich nach und erinnere mich nur zu gut an ihren Geburtstag, wo es Eistorte gab und ich unbedingt beim Sackhüpfen mitspielen musste und gegen die zehn Mädchen, alle im selben Alter, haushoch verloren und mir fast das Steißbein gebrochen hätte. Automatisch verziehe ich das Gesicht über den fiesen Schmerz. Mit sechsunddreißig ist man eben nicht mehr der Jüngste.
»Dreizehndreiviertel? Du solltest wissen, wie alt ich bin. Du bist mein Patenonkel. Du warst es, der mich ins Wasser getunkt hat.« Das Gebrüll, das damals ertönte, ist legendär.
»Und du solltest besser mit Puppen spielen und keinen Freund haben«, erwidere ich und bekomme ein glockenklares Lachen zur Antwort.
»Du bist lustig, weißt du das? Vielleicht solltest du dich auch mal wieder verlieben. Ist ganz nice eigentlich.«
»Touché.« Wie lange bin ich jetzt Single? Auf Anhieb weiß ich es nicht mal, und ich bemühe mich, nicht an meine Ex Eve zu denken. Als ich sie das letzte Mal auf Facebook stalkte, erfuhr ich, dass sie geheiratet hatte. Schön für sie, ich gönne ihr alles Glück der Welt und mir meine Ruhe.
»Im Ernst, Onkelchen. Du solltest dir eine Frau suchen, sagt Mama auch.«
»Und seit wann sind wir Mamas Meinung?«, kontere ich und verlangsame meine Schritte. Ich habe mein Ziel, die Hintertür eines Sonnenstudios, erreicht. Ich kenne Fred, den Besitzer, nicht besonders gut, eher seinen kleinen Bruder, mit dem ich vor einer Ewigkeit zur Schule ging. Aber ich weiß, dass ich mich in gewissen Belangen auf ihn verlassen kann.
»Du musst doch einsam sein, so ganz allein«, höre ich Mia erneut auf diese altkluge Weise sagen und muss zugeben, dass sie mir prompt ein bisschen auf den Keks geht.
»Süße, ich muss jetzt auflegen«, sage ich also und lasse das Handy ein wenig sinken.
»Immer, wenn es um dich geht, willst du nicht mehr reden. Ist dir das schon mal aufgefallen?«
»Nein, gar nicht«, lüge ich, und mein Mundwinkel zuckt. »Und halt mich ja auf dem Laufenden, was deinen Marvin angeht. Er soll schön anständig bleiben, sonst kauf ich ihn mir.« Das meine ich ernst. Mia kichert erneut.
»Na gut, dann arbeite nicht so viel und besuch mich bald. Ich werde sonst noch verrückt hier.«
»Versprochen.« Es klickt, Mia ist weg, und ich verstaue mein Handy in der Hosentasche. Na, dann wollen wir mal.
Ich öffne die Tür, stecke vorsichtig den Kopf ins Innere des ranzig riechenden Flures und rufe nach Fred. Weiter vorne summen die Sonnenbänke, auf denen sich Kunden in Kabinen die passende Dosis Vitamin D und Sonnenbrand holen.
Es dauert nicht lange, und Freds hagere Gestalt taucht im Türrahmen des Büros auf. »Du bist spät«, brummt er. Ich folge ihm nach drinnen. Immer, wenn ich ihn sehe, trägt er diesen labberigen grauen Pullover, als hätte er nichts anderes. Egal ob Sommer oder Winter. Ich nehme mir vor, ihm das nächste Mal einen neuen mitzubringen. Vielleicht einen schwarzen, der nach dem tausendsten Waschen das gleiche Grau hat wie dieser.
»Ging nicht früher. Hast du ihn hinbekommen?«
Fred grinst breit, zeigt seine beachtliche Zahnlücke.
»Was denkst du denn?«
Ich bin froh, dass ich im Dark Web nicht nach dubiosen Angeboten für gefälschte Ausweise suchen muss, sondern einen direkten Ansprechpartner habe. Online angebotene Ausweisfälschungen sind meistens Scans, mit denen man super in einen Club kommt oder als Teenager Zigaretten kaufen kann. Den Scan eines italienischen Passes gibt es bereits für kleines Geld. Deutsche Pässe sind aufgrund der Sicherheitsmerkmale um einiges komplizierter nachzuahmen. Sie gehören zu den sichersten Identifikationsdokumenten der Welt. Und Fred ist Profi darin, sie bis ins kleinste Detail zu kopieren, bis jetzt hatte ich nie Probleme, mit seinen Zauberwerken Bankkonten zu eröffnen oder Grenzen zu überqueren.
»Hier haben wir dein Schätzchen«, flötet er. »Schau es dir an, es ist die beste ID, die ich zurzeit anbiete«, erklärt Fred voller Stolz und zeigt mir meinen neuen Ausweis. Er sieht genauso originalgetreu aus wie die abgelaufene Version davon. Mein Wunschname: Valentino Russo. Ich bin zwei Monate jünger als im echten Leben. Die holografische Replik des Passbildes, das ich ihm zur Verfügung gestellt habe, ist gut gelungen. Täuschend echt.
»Gute Arbeit«, lobe ich Fred, der sich selbst auf die Schulter klopft. Und ich freue mich über die lange Gültigkeit des Passes und darüber, dass meinem neuen Auftrag nichts mehr im Wege steht. Prinzipiell bräuchte ich dafür keinen gefälschten Ausweis, denn ich ersteigere ganz legal ein Gemälde. Aber mein Kunde bewegt sich in eher zwielichtigem Milieu, und Valentino Russo ermöglicht es mir, inkognito zu bleiben.
»Nicht wahr, deshalb bekomme ich jetzt auch achthundert Tacken von dir. Freundschaftspreis.« Fred wackelt mit seinen dürren Fingern, und ich ziehe mein Portemonnaie aus der Hosentasche und bezahle ihn ohne weitere Worte. Anschließend bin ich zufrieden, beinahe beschwingt, dass ich diesen Ort verlassen und zu Hause meinen Koffer packen kann.
Ich weiß nicht, weshalb mein plötzlich übervolles Hirn in Bildern reagiert. Schlagartig erscheinen vor meinem inneren Auge Fotografien, die ich mal gemacht habe, und laufen in Millisekunden ab wie ein Film. Feuerwerk am schwarzen Himmel; Glas, das auf einer Treppe zerspringt; Schneeflocken, die wie Sternschnuppen am Fenster eines Autos vorbeiziehen; ein Blitz, der vom Himmel zuckt; Feuer, das ein Haus verschlingt.
»Du bist so süß …«, höre ich mich sagen und stehe ebenfalls auf, aber mit sehr wackligen Beinen. Lilly fasst sich ergriffen ans Herz, mein Papa hält die Luft an, und meine Mutter, nun, sie blinzelt nicht mal mehr.
»Was sagst du, Schatz, wirst du meine Frau?«, hakt Henry nach, und ich weiß nicht mehr, wie man spricht. Warum sollten wir etwas, das so gut funktioniert, ändern wollen? Wir treffen uns jedes zweite Wochenende und haben eine tolle Zeit. Wir sind nicht eines dieser Paare, die im Alltag untergehen, sich streiten oder langweilen. Oder?
Alle Augenpaare lasten auf mir und Henry spricht weiter. »Ich will dich ganz und gar.« Mit Haut und Haaren, geht es mir durch den Kopf. »Ich hatte noch nie eine so harmonische Beziehung, und das will ich für mein ganzes Leben, Romy.«
»Okay«, hauche ich, als dieser stattliche Kerl auch noch auf die Knie geht und das Kästchen vor mir öffnet.
Ich blicke auf das herzförmige Funkelding und schaue in Henrys verschleierten Blick. Liebe ist Blitz und Donner, eine Flamme im Dunkeln, sagte Lilly mal, und tatsächlich fühle ich mich wie vom Donner gerührt und von Blitz und Feuer verglüht. Würde ich heiraten wollen? Ich meine so per se? Jemals? Die Frage lag für mich noch in weiter Ferne. Lilly hat bereits Kinder, für sie war das immer ihre Traumvorstellung, ihr Lebensentwurf. Aber ich? Henry und ich haben zwar darüber geredet, aber wir haben uns doch gefühlt erst kennengelernt.
»Henry, ich …«
Ich sehe, dass er zu schwitzen beginnt. Feine Perlen bilden sich unter seinem gegelten Pony. Mein Blick wandert hinunter zu dem zauberhaften Ring. Es ist ein Brillant, klassisch und funkelnd in Herzform. Henry hat nicht gegeizt, und ich liebe Großzügigkeit bei einem Mann, das muss ich zugeben. Ich lächle und fühle mich inmitten des Gartens mit seinem italienischen Flair und diesem perfekten Mann, der vor mir kniet, wie in Trance. Alles ist wie in einem Bohemien-Traum, ganz nach meinem Geschmack. Weiße Lampions baumeln über den Tischen, zaubern weiches Licht, eine Girlande spannt sich zwischen zwei Bäumen, und Kerzen flackern im sachten Windhauch. Das Blumenbouquet aus rosafarbenen Wildrosen und Kamille hat Lilly selbst zusammengestellt und die verspielte Tischdecke aus Häkelkunst ist von ihrer Oma.
Lilly sieht mich erwartungsvoll an. Sie hat Henry bei jeder Gelegenheit sehr genau unter die Lupe genommen. So wie ihr Mann Piet bei mir durch den TÜV musste, so untersuchte Lilly auch Henry mit akribischer Genauigkeit auf Nieren- oder Herzfehler, und sie findet wohl, ich müsste jetzt Ja sagen. Für immer und ewig.
»Ja«, hauche ich also und erlöse Henry damit. Er steckt mir den Ring an den Finger, beinahe etwas grob. Ich fürchte, ich bekomme ihn nie wieder runter, da er mir doch etwas eng scheint.
Lilly sieht höchst zufrieden aus, drückt ihrem Piet einen dicken Schmatzer auf die Stirn. Seitdem sie Mutter von Zwillingen ist, hat sich die Beziehung zwischen den beiden verändert. Mir entgeht so etwas nicht. Die Leidenschaft, die beide einst wie ein Flammenmeer vor sich hergetrieben hat, ist etwas anderem gewichen. Es ist nicht minder intensiv, aber unauffälliger. Die Frage, ob sich Liebe halbiert, wenn man sie mehreren Personen schenkt, schießt mir augenblicklich durch den Kopf. Und ob das unweigerlich geschieht, wenn Paare Eltern werden. Oder ist Liebe doch das Einzige, was nicht weniger wird, wenn man es teilt? Henry drückt mich fest an sich, haucht leicht vorwurfsvoll: »Du wolltest es wohl dramatisch halten, wie?«
Ich verstehe nicht, was er meint. Starre auf Lillys Tattoo mit dem Geburtsdatum der zweijährigen Zwillinge. Die Gefühle, die Lilly für sie hegt, sind groß. So riesig, dass sie alles andere in den Schatten zu stellen scheinen. Oft versuche ich, diese Art Liebe zu begreifen, wenn ich sie mit ihren Kindern beobachte. Ich schaue zu meiner Mutter. Sie war immer liebevoll und hat dafür gesorgt, dass ich alles bekam, was ich brauchte. Und dennoch war diese Innigkeit eine andere als die, die ich bei Lilly und ihren Kindern beobachte. Denn die Liebe meiner Eltern ist ruhig wie ein Fluss.
Lilly redet schon wieder. Einiges bekomme ich gar nicht mit, erst als sie ihre Rede mit den Worten: Ich liebe euch beide, also macht das Beste draus, schließt, nehme ich meine beste Freundin fest in den Arm. Sie riecht so unfassbar vertraut, nach Calvin Kleins Eternity, unserem Lieblingsparfüm, das an ihr immer eine andere Note entfaltet als bei mir.
»Hast du davon gewusst?«, frage ich, und Lilly wirft mir nur einen freudestrahlenden Blick zu, während ein Gespräch zwischen meinem Vater und Henry zu mir durchdringt.
»Wo werdet ihr eigentlich wohnen, ich hoffe doch, Romy wird mir in Hamburg erhalten bleiben?« Henry und ich haben über solche Sachen bisher nur am Rande gesprochen. Und die Art, wie diese offene Frage plötzlich laut widerhallt, gefällt mir genauso wenig wie seine Antwort.
»Ich habe ein Haus in Berlin gekauft«, sagt Henry. Ich blinzle verwirrt und erinnere mich vage an ein Gespräch, das ich für harmlose Herumalberei gehalten hatte. Wie es scheint, war es für Henry doch nicht so harmlos.
»Was?« Ich setze mich ungelenk. Lillys Blick saugt sich an mir fest, bekommt einen leicht vorwurfsvollen Ausdruck, Piet grinst, und mir wird übel, während Henry voller Stolz weiter ausholt und meine Mutter den Mund gar nicht mehr zubekommt.
»Eine Villa, acht Zimmer, Garten, Pool. Platz für ein Fotoatelier, damit sich mein Schatz verwirklichen kann.« Er zupft dabei an seinem Revers und sagt zu mir: »Alles für meine Königin.«
»Wow, das ist …«
»… eine Überraschung«, beendet Lilly meinen Satz, und ich schlucke schwer. Meine Brauen wandern nach oben, wie sie es immer tun, wenn meine Gedanken einen Salto schlagen.
»Also, ich habe mal gelesen, dass das Leben wie ein Buch ist. Mit vielen spannenden Kapiteln, die gelesen werden wollen«, höre ich mich selbst plappern und versuche, die Contenance zu wahren. »Aber Schatz, in diesem Fall wäre ein kleiner Spoiler angebracht gewesen.« Grillen zirpen, Geschwätz vom Nebentisch weht zu uns herüber, Kerzen flackern. Ich streiche meine schweißnassen Hände am dünnen Wollstoff meines Bohokleides ab. »Weißt du, deine Königin hätte gerne mitentschieden, wo wir leben werden«, rede ich weiter.
»Süße, wir haben doch darüber geredet, und du weißt, dass ich die Firma, die ich leite, schlecht nach Hamburg verlegen kann, oder?«, erwidert mein plötzlich Verlobter überraschend selbstsicher, als würde das seinen Alleingang erklären. Und als hätte mir klar sein müssen, was kommt, wenn ich Ja sage. Und ich bereue es.
»Nun, mein Atelier ist allerdings in Hamburg, und ich habe mir in der Branche gerade erst einen Namen gemacht«, erinnere ich ihn an meinen mühsamen Weg, als Fotografin selbstständig zu werden.
»Das ist nur Fotografie, Romy. Das kann man von überall …« Henry verstummt, als er Lillys scharfes Einatmen wahrnimmt. Ihr Glas schwebt auf halbem Weg zu ihren mit rosafarbenem Gloss geschminkten Lippen. Meine Mutter wirkt nun ebenfalls angespannt, nestelt an der Tischdeko, taxiert mich mit warnenden Blicken.
»Sicher, vielleicht, aber …« Ich suche nach den richtigen Worten, um anzudeuten, dass ich vielleicht nicht bereit bin, alles sofort hinter mir zu lassen. Was kommt als Nächstes? Kinderplanung?
Henry ist dreiundvierzig, sein Kinderwunsch deutlich. Vielleicht habe ich unterschätzt, wie eilig er es haben könnte. Und nun ja, mit zweiunddreißig tickt meine biologische Uhr natürlich auch nicht mehr ganz so leise. Gedanklich prüfe ich mit dem großen Zeh die Temperatur des kalten Wassers, in dem ich baden soll, und zucke zurück.
»Ich dachte, du freust dich.« Henrys Stimme bekommt diesen feinen Unterton, den er immer dann hat, wenn er Probleme mit Firmenangestellten bespricht. Dominant, aber freundlich.
»Romy, da will dir ein Mann die Welt zu Füßen legen und du beschwerst dich? Also, Lilly hätte sich über eine Villa gefreut.« Piet lehnt sich zurück, mit Disharmonie kam er noch nie gut klar. Lilly und er wohnen außerdem immer noch in einer Dreizimmerwohnung in der City und leiden unter chronischem Platzmangel.
Und Henry stand die Rolle des Prinzen auf dem weißen Pferd von Beginn an recht gut.
»Liebling, vielen Dank für das Privileg, in einer Villa wohnen zu dürfen, aber verrätst du mir, was du noch so Hübsches für uns geplant hast?«, frage ich nun ganz ruhig und forsche in seinem perfekt rasierten Gesicht nach Antworten. Ist mir eigentlich schon mal aufgefallen, dass dieser Mann anscheinend seine Augenbrauen zupft?
»Wir heiraten im Herbst, du verkaufst deine Wohnung und ziehst zu mir. Dann schauen wir, wie oft wir uns lieben müssen, bis du schwanger wirst.«
»Bloß kein Druck«, platzt Lilly heraus, und unsere Blicke verbinden sich miteinander. In Anbetracht des Tonfalls sollte es von Henry vielleicht ein wenig scherzhaft gemeint sein. Leider kommt es bei mir nicht so an. Und Lilly wirkt nun auch irritiert.
»Aber es ist bereits August«, stelle ich fest. Ende August, um genau zu sein. Herbst ist schon sehr bald.
Mein Stuhl schabt laut über Terrakottafliesen. Die Lichterketten und Lampions über mir entwickeln ein Eigenleben, und mir wird schummrig.
Ich habe das Gefühl, alle anderen Gäste auf der romantischen Terrasse starren mich an, was natürlich Quatsch ist. Das Klimpern und Klappern von Besteck wird ohrenbetäubend und kratzt mich so sehr auf, dass ich aus der Haut fahren will.
»Stimmt etwas nicht?«, fragt Henry.
Und meine Mutter sagt: »Setz dich wieder hin.« Ein Befehl, der mir den Rest gibt. Meine Brust zieht sich zusammen, Lilly will ebenfalls aufstehen, wird von ihrem Mann zurückgehalten. Er flüstert ihr etwas zu.
Und ich – ich muss hier sofort weg!
»Romy, wir können über alles reden. Setz dich wieder«, bittet Henry mich eindringlich, aber ich entziehe ihm meine Hand.
»Ja, werden wir, Schatz. Ich geh mir nur mal kurz die Nase pudern«, behaupte ich und flüchte wie Aschenbrödel durch die Tischgruppen und anschließend eine Treppe hinab. Ich renne durch das ganze Restaurant und an den Toiletten vorbei, den Ausgang des Hotels im Visier, und presche kurzerhand hinaus. Beinahe höre ich meine Mutter mahnend mit mir sprechen: Romy, du kannst dich nicht immer entziehen, wenn es ernst wird. So haben wir dich nicht erzogen. Reiß dich zusammen!
Meine Beine tragen mich am Hotel entlang in Richtung Parkplatz. Ich weiß nicht, wohin mit mir, will wieder zurück und weg zur gleichen Zeit. Und laufe irgendwann einfach durch den Nebeneingang des Gebäudes. Nur peripher bekomme ich mit, dass hier eine Ausstellung zu einer Auktion stattfindet. Ich strande in einer herrschaftlichen Halle mit Vitrinen und Gemälden an den Wänden. Meine Gedanken sind wild, drehen sich um ein Leben in Berlin als Hausfrau. Abhängig von einem Mann, der viel arbeiten wird. Einem Mann, den ich meine zu lieben. Aber was ist Liebe denn schon, wenn nicht eine Abfolge biochemischer Prozesse, die den Fortbestand der Menschheit sichern sollen?
Lilly spricht bei sich und Piet von schicksalhafter Liebe. Sie haben sich nur kennengelernt, weil Lilly die Handtasche gestohlen wurde, und Piet ihr half, ohne Geld nach Hause zu kommen und Anzeige zu erstatten. Sie wusste sofort, dass sie füreinander bestimmt sind. Aber Henry und ich? War das ebenfalls so etwas wie Fügung, weil ich meinen Kaffee über seinen Anzug geschüttet hatte?
Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Ich weiche einer Gruppe Männer aus, die sich über ein Collier in einer der Vitrinen unterhalten. Ich drehe mich sofort um, weil ich Angst habe, dass ich heulen muss, weil ich mich so furchtbar fühle und mir gleichzeitig so undankbar vorkomme.
Das Leben meint es doch gut mit mir, ist der O-Ton meiner Mutter. Du hast dir diesen Mann doch ausgesucht.
Mein Blick bleibt an einem Gemälde hängen, wandert an den Außenrändern des Prunkrahmens empor und heftet sich auf ein blasses Gesicht. Ich starre das Porträt einer jungen Frau an, die so verklärt den Betrachter mustert, dass es bis ins Herz geht. Ich lese die Informationen zum Bild: La Ragazza di Capri, 1932 von Frederico Milo. Startgebot 40000 Euro.
Darunter ein Zitat von Oscar Wilde: Nur Liebe vermag überhaupt jemanden am Leben zu erhalten. Und ich frage mich, was mich gerade am Leben erhält.
Gerade noch rechtzeitig erreiche ich das Hotel, in dem die Auktion stattfinden soll. Es sind wertvolle Minuten bis zum Start, und ich kann die Lage wie gewohnt sondieren und mir das Klientel, das hier herumstreunt, genauer anschauen. Schnell ist klar, dass sich hier heute Abend nur die üblichen Verdächtigen tummeln, um italienische Kunstexponate und Artefakte von historischem Wert zu ergattern. Die meisten interessieren sich für das Collier der Principessa di Roma und nicht für das Porträt, für das ich von meinem Kunden aus Pesaro hergeschickt wurde. Gut so, es muss ja nicht mehr kosten, als es wert ist. Und obwohl mein Kunde betont hat, dass er jeden Preis zahlen würde, bin ich mir sicher, er wird zufrieden sein, wenn es nicht ausufert.
Ich liebe meinen Job als Kunstexperte und Händler. Dazu gehören Expertisen ebenso wie die Dienstleistung, im Auftrag meiner Kunden Auktionen zu besuchen.
Ich betrachte die Männer auf der anderen Seite der Halle. Zwei der anderen Kunsthändler kenne ich. Ich weiß, welche Kunden sie vertreten und wie weit diese finanziell gehen werden. Bei den Privatpersonen, die anwesend sind, bin ich mir nicht sicher. Den hageren Engländer habe ich irgendwann einmal in der Schweiz ausgestochen, als es um ein Gemälde eines holländischen Malers ging. Es sollte ein Leichtes werden, den Auftrag zu erfüllen und das Wunschobjekt nach Italien zu bringen. Ich muss zugeben, ich kann es kaum erwarten, wieder im Geburtsland meines Vaters zu sein. Dort zwischen dem Duft von Thymian und Jasmin und dem Zauber der Zitronenhaine liegen meine schönsten Kindheitserinnerungen. Gemächlich begebe ich mich auf die Suche nach dem Objekt meiner Begierde und entdecke es an der Wand, die zur Verbindung zum Hotelbetrieb liegt. Tatsächlich kann ich sehr gut verstehen, weshalb Francesco Bianchi, ein reicher und etwas zwielichtiger Kaufmann, das Porträt unbedingt haben will. Das Porträt ist einfach ein Traum, atemberaubend schön.
»Wahnsinn«, höre ich eine Frau neben mir überwältigt flüstern. Ihre Stimme ist so dünn wie Papier, und ich stimme ihr zu, ohne den Blick vom Kunstwerk abzuwenden.
»Das ist es, wahnsinnig schön.« Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, während ich die feinen Linien der Pinselführung bewundere, den Ausdruck des jungen Mädchens, das porträtiert wurde, und die Farben. Der neapolitanische Stil des Malers ist unverkennbar, ebenso seine ganz persönliche Handschrift, die diesen ganz bestimmten Hauch von Romantik zeigt. Dieses Mädchen mit dem auffallend liebevollen Blick könnte jederzeit blinzeln und aus dem Bild steigen, so lebendig wirkt es. Ein leises Lächeln auf vollen Lippen, das so verführerisch wie sanft ist. Ganz zu schweigen von den braunen Rehaugen, in denen man versinken möchte.
»Es ist wirklich beeindruckend«, haucht die Frau neben mir, und mein Blick huscht zur Seite. Sie ist schmal, trägt ein cremefarbenes Kleid, ja was, Häkeloptik? Ich muss mich schon wundern, dass bei einem solchen Event offenbar überhaupt kein Dresscode mehr gilt.
»Ist heute Welttopflappentag? Das wäre beindruckend«, kommt es mir etwas zu schnell über die Lippen.
»Nein, ganz sicher nicht«, sagt die junge Frau jetzt mit etwas festerer Stimme. »Es ist nämlich Welttag der Klugscheißer, das haben Sie gerade bewiesen.«
Schlagfertig ist sie. Ich schmunzle.
»Erzählen Sie mir, was Sie an diesem Werk am beeindruckendsten finden?«, frage ich neugierig.
»Die Farben. Es wirkt wie eine analoge Fotografie …«
»Sie meinen, wie mit einem Farbfilm fotografiert? Wer tut sich das denn heutzutage noch an?«
»Die Haptik und Wärme von analogen Bildern kriegt man digital nicht nachgebaut. Mit keinem Preset, keinem Tutorial. Film bringt einfach seine Farbe, seine eigene Geschichte mit. Und dieses Gemälde erinnert mich irgendwie an diese Kunst. Einfach atemberaubend«, erklärt sie ausführlich, und ich stimme ihr mit einem knappen Nicken zu, während mich das Bild vor mir einmal mehr bannt.
Ich betrachte die Meereslinien im Hintergrund und die dunklen Schattierungen, die ein Unwetter ankündigen. Das Licht der Sonne verfängt sich im Haar des Models und zaubert Lichtpunkte auf das weiße Kleid.
»Es ist, als hätte man die Sonne Italiens eingefangen und aus ihr ein Mädchen geformt. Dazu das neapolitanische Handwerk«, denke ich laut.
»Hübsch gesagt«, stellt sie fest. »Und so fachspezifisch.«
»Das sollte ich können als Kunstexperte.«
»Experte, soso.« Sie hört sich spöttelnd an, und ich löse widerwillig meinen Blick von dem Bild und wende mich der Fremden zu. Ihre Haare sind halblang, blond, ganz klar gefärbt, ihre Augen ausdrucksstark, braun und tief. Wir sehen uns an, die Blicke vorsichtig einander abtastend, und schließlich fragt sie mich: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Für etwa eine Millisekunde kommt mir die Muttersprache abhanden, und ich starre sie einfach nur weiter an. Wie ein Trottel.
»Natürlich, ich bin in bester Ordnung.«
Ihr Blick wird intensiver, bohrt sich herausfordernd in meinen.
Mich überrascht nicht vieles, diese Begegnung durchaus. Denn wenn ich mir optisch eine Traumfrau backen würde, wäre sie die Form dafür.
»Gucken Sie mich doch bitte nicht so an.« Die Lippen der Frau kräuseln sich missbilligend, und ich ordne meine Gesichtszüge.
»Wie denn genau?« Ich war noch nie ein Mann, der einer Frau zu nahegetreten ist. Habe ich sie mit meinem Starren bedrängt?
»Als wäre ich ein Kuriosum in einer Freakshow«, sagt sie halb belustigt, halb besorgt.
»Oh, auf diese Weise habe ich Sie ganz sicher nicht angesehen. Versprochen.« Fast möchte ich über ihre Worte lachen. Denn falls ich sie angestarrt haben sollte, dann weil sie all das verkörpert, was mich an einer Frau reizt. Bis auf das Häkelkleid.
»Gut«, sagt sie und neigt den Kopf, lässt ihrerseits den Blick über mich wandern. Und die Art, wie sie das tut und dabei eine Strähne ihres Haares hinter das rechte Ohr mit den auffallenden Libellenohrringen klemmt, macht mich beinahe nervös.
»Kennen Sie sich wirklich mit Kunst aus?«, fragt sie und lächelt halb. Ihre Lippen sind rot geschminkt, und erst als sie erneut spricht, löse ich meinen Blick von ihrem Mund. »Sie scheinen mehr über dieses Porträt zu wissen.«
»Das sollte man meinen. Ich bin Kunsthändler und werde das Porträt für einen Kunden aus Italien kaufen«, verrate ich ihr leichtsinnigerweise und hoffe, dass sie es nicht selbst ersteigern will und den Preis unnötig in die Höhe treibt. Es bricht bereits Unruhe aus, die Sicherheitskräfte bereiten alles für die Auktion vor. Und ich habe mir schließlich ein leichtes Spiel erhofft.
»Wow, es kostet ja nur mindestens vierzigtausend Euro. Ein Schnäppchen.« Sie verlagert ihr Gewicht auf das andere Bein, ihr Kleid umschmeichelt dabei ihre Figur, und ich stelle mir vor, sie würde anstatt dieses Häkeldings ein Kleid aus Seide tragen.
»Sehen Sie den Blick dieses Mädchens?« Ich neige den Kopf, und sie nickt.
»Er ist voller Liebe für den Künstler. Hinter diesem Werk steckt eine tragische Liebesgeschichte. Das Model, Cara Marcipane, die Tochter eines Hoteliers auf Capri, ging eine Beziehung mit dem neapolitanischen Maler Frederico Milo ein. Schlussendlich riss man die Liebenden auseinander, was beide das Leben gekostet hat«, umreiße ich die Ereignisse, die mir bekannt sind. Ich hätte meiner Großmutter, die auf Capri lebt, besser zuhören sollen, denn sie weiß von Zeitzeugen so einiges mehr über die damaligen Ereignisse. Aber der bedeutendste Künstler Italiens war Frederico Milo nun mal nicht. Ich kenne niemanden außer Francesco Bianchi aus Pesaro, der so versessen auf seine Bilder ist. Und der beinahe jede Summe zahlen würde, um seine Sammlung mit La Ragazza di Capri zu komplettieren.
»Das Leben gekostet? Wie das?« Mit unbewegter Miene sieht sie mich an.
»Gebrochene Herzen.«
»Daran stirbt man doch nicht.«
»Manche Menschen schon.«
»Was genau ist denn geschehen?«, fragt sie mit plötzlichem Nachdruck. Offensichtlich macht dieses Thema etwas mit ihr.
»Das weiß ich gerade nicht.«
»Das wissen Sie gerade nicht.« Die Art, wie sie das sagt, kitzelt mein Ego. Als müsste ich als Kunstexperte alles wissen. Na gut, über ein Gemälde, das ich gerade ersteigern möchte, vielleicht. Mist.
»Ich kann gut verstehen, dass man es besitzen möchte. Es trägt so viele Emotionen in sich.«
»Wie Italien an sich. Waren Sie schon mal in Italien?«
Sie nickt zögerlich. »Als Jugendliche. Und ich hatte mal einen sizilianischen Freund, zählt das?« Nachdenklich legt sie den Kopf schief und mustert mich.
»Wenn ich es richtig verstanden habe, sind Sie Fotografin?«
»Ja, Romy WinterArt, schon von mir gehört?«
Meine Lippen kräuseln sich. »Nein, scusi.«
»Wie bedauerlich«, witzelt sie.
»Was ich sagen wollte, wenn Sie gerne Landschaften fotografieren, dann müssen Sie das unbedingt in Italien tun. Sie werden es lieben.«
»Ich shoote vor allem Menschen. Wollen Sie mir Modell sitzen?«
Sie beißt sich auf ihre Unterlippe, hält meinem Blick stand, und ich spüre, wie mein Puls sich beschleunigt. Dio mio, was macht sie mit mir?
»Eher nicht. Ich bin nicht fotogen«, wehre ich ab.
»Ich gebe Ihnen meine Nummer. Wenn Sie es sich anders überlegen, können Sie sich bei mir melden«, sagt sie und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich angle mein Handy aus der Hosentasche, öffne das Menü und lasse sie selbst den Kontakt einspeichern. Ihre Finger sind flink, ihre Fingernägel kurz und sauber gefeilt. Verdammt, hat sie schöne Hände. Sie reicht mir das Handy zurück.
»Und falls Sie mal Tipps für eine Reise nach Italien, ins Land der Liebe, brauchen, ich kann damit dienen«, sage ich.
»Ich dachte, Frankreich wäre das Land der Liebe?«, entgegnet sie.
»Ein weitverbreiteter Irrtum. Italien und seine Menschen sind eine Symphonie aus Herz und Historie. Ein Gedicht, das in der Kehle brennt, um ausgesprochen zu werden, und einlädt, große Gefühle zu empfinden, die Liebe«, zitiere ich meine Nonna Maria und sehe sie dabei vor mir, wie sie Liedtexte murmelnd am Herd steht und ihr Ragù alla bolognese kocht. Sie fehlt mir, nachdem ich das Gemälde abgeliefert habe, sollte ich mir überlegen, bei ihr einen Abstecher zu machen, vielleicht sogar ein paar Tage Urlaub einzuplanen.
»Liebe, was ist das schon«, reißen mich Romys Worte plötzlich aus meinen Gedanken. »Nur Anziehung, basierend auf einem biochemischen Prozess, der romantisiert wird.«
»Interessante These – für eine Frau. Sollte man nach dem Klischee gehen, heißt es, ihr wärt das romantische Geschlecht«, sage ich, und sie atmet ein und langsam wieder aus.
»Wussten Sie, dass eine Frau mit nur einem Kuss entscheiden kann, ob ein potenzieller Partner genetisch zu ihr passt?«
»Nein, das wusste ich nicht.« Ich kann nicht vermeiden, dass ich auf ihre schön geschwungenen Lippen starre. Plötzlich ruft jemand ihren Namen. Sie wirbelt herum. Ein imposanter Kerl im Anzug hat den Raum betreten. Ihre Augen weiten sich, als erwachte sie aus einem Traum und stellte erst jetzt ihren Blick wieder für die Realität scharf.
»Ich muss gehen, mein …« Sie macht eine Pause. »… Verlobter braucht mich.«
Ich kann dem plötzlichen Impuls, sie zurückzuhalten, gerade noch widerstehen, und fädle stattdessen meine Finger ineinander. Da stehe ich nun wie versteinert. Sie schaut sich über die Schulter zu mir um. »Viel Spaß beim Bieten«, sind ihre letzten Worte, und sie verschwindet wie ein Geist. Ich brauche eine ganze Weile, um diese Begegnung zu verarbeiten, und bin froh, als die Auktion endlich beginnt und meine Aufmerksamkeit bindet. Es geht schnell und ohne nennenswerte Probleme. Ein Londoner Sammler bietet ebenfalls auf La Ragazza di Capri, steigt aber bei 55000 Euro aus, und ich bekomme den Zuschlag. Somit ziehe ich mich gegen 23 Uhr entspannt auf mein Zimmer zurück, das Gemälde ist bis zum Morgen in den sicheren Händen des Auktionators, und informiere meinen Kunden über den Erfolg.
»Buonasera, Signor Francesco«, spreche ich ins Handy und schlüpfe aus den unbequemen Schuhen und streife die Hosenträger ab. Ich bin müder, als ich dachte.
»Sono felice di sentirti«, freut er sich, von mir zu hören, und seine Stimme bekommt einen melodischen Klang. »Hast du es?«
Ich schiebe die Gardinen zur Seite und schaue über die Lichter der Stadt.
»Naturalmente«, bestätige ich und fummle mit einer Hand an den obersten Knöpfen des Hemdes herum. »Ich werde es wie geplant übermorgen liefern.«
»Perfetto. Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen.« Ich richte meine Aufmerksamkeit teils auf einen Streit im Flur, bei dem jemand die Stimme erhebt und eine Tür hart ins Schloss fliegt. Gleichzeitig setzt Regen vor dem Fenster ein, ein Sommergewitter, und ich sehne mich umso mehr nach der Sonne Italiens.
»Es ist mir eine Freude, Sie glücklich zu machen, Francesco. Und Sie einmal wieder persönlich zu treffen. Wie geht es den Kindern?«, frage ich höflich nach den beiden verwöhnten Teenagersöhnen.
»Ach, hör mir auf, Valentino. Kinder rauben einem die Nerven. Ich rate dir, kauf dir lieber ein schönes Auto.« Er lacht.
»Ich werde Ihren Ratschlag beherzigen«, antworte ich, und es knistert in der Leitung. Fast denke ich, er hat aufgelegt, da senkt er die Stimme und spricht weiter. »Valentino, ich brauche deine Expertise, wenn du hier bist. Eine neue Ware wird eintreffen.« Das ist definitiv keine Überraschung.
»Worum geht’s?«
»Ein Stück vom Regenbogen mit einem Topf voll Gold darunter, amico mio.« Ein Gemälde, unbezahlbar vermutlich.
»Verstehe. Ich werde mich beeilen, und wir unterhalten uns dann ausgiebig.« Ich bin gespannt, was er ausfindig gemacht hat. In Gedanken jongliere ich schon mit Kontakten, die einem Handel nicht abgeneigt sind.
»Bene. Also, gute Reise, Valentino. Und pass mir auf miaRagazza di Capri auf, ich kann es kaum erwarten, sie endlich zu bewundern.«
»Ciao«, verabschiede ich mich und beende das Telefonat, gehe ins Bad und ziehe mich um. Dann sehe ich auf mein Smartphone, schicke meiner Mutter einen kleinen Gruß, damit sie sich keine Gedanken macht, und schaue mir ein Foto an, das Mia mir geschickt hat. Ein Selfie mit ihrem Marvin, wie sie gemeinsam im Park spazieren gehen, und ich erinnere mich an meine erste Liebe. Damals spielten wir ein Spiel namens Himmel und Hölle, bei dem man Orakelfragen stellt und so seine Zukunft sehen kann. Laut dieser Prophezeiung müsste ich bereits zwei Kinder haben, einen Hund, zwei Häuser und mit Posh-Spice verheiratet sein. Hat offensichtlich nicht funktioniert, und ich bin froh darüber. Denn ich bin für solch eine Existenz nicht geeignet, und mein Lebensentwurf schon gar nicht.
Ich wandere im Zimmer umher, löse den Blick vom Bildschirm, richte meine Aufmerksamkeit auf das Geschehen der immer noch befahrenen Straße vor dem Hotel. Leute laufen durch den Regen, streiten sich um ein Taxi, und ich frage mich, ob Romy Gast in diesem Hotel oder längst Kilometer weit weg ist. Ich schließe den schweren Vorhang, lasse mich aufs Bett sinken und manifestiere ihren Anblick vor meinem inneren Auge. Das Kissen in meinem Nacken ist herrlich weich, ich schließe die Augen, lasse mein Handy aus der Hand gleiten. Rekapituliere unser Gespräch. Prompt fallen mir hundert redegewandtere Antworten auf ihre Fragen ein, die mich besser hätten dastehen lassen. Und beinahe kommt Ärger darüber in mir hoch. Habe ich es mir nur eingebildet oder war da eine Anziehung zwischen uns beiden gewesen? Das Phänomen zwischen zwei Menschen, das Romy so hervorragend in wenigen Worten deformierte und als Biochemie abtat? Mir ist bewusst, dass es eigentlich keine Rolle spielt, da sie bereits vergeben ist. Und ich würde nie einem anderen Mann in die Quere kommen. Niemals.
Henry nimmt mich beinahe unfreundlich in Empfang. »Was machst du hier?«, will er wissen und manövriert mich um die Ecke. »Ich hab dich eine Ewigkeit gesucht. Du hast mich einfach im Stich gelassen.«
»Übertreibst du nicht ein kleines bisschen?« Meine Finger deuten eine Maßeinheit an, und ich versuche, die Situation mit einem Lächeln zu entschärfen. »Aber es ist schön, dass du mich so schnell schmerzlich vermisst«, sage ich ernst gemeint und bekomme ein Schnaufen zur Antwort. Henrys Coolness scheint Feuer gefangen zu haben.
»Alle warten auf uns, Romy«, raunt er. »Den Abend hatte ich mir anders vorgestellt.« Ich entziehe ihm meinen Arm, um den sich seine Hand gelegt hat. »Und nebenbei, Romy, deine Eltern haben sich ebenfalls über deinen Abgang gewundert.«
Meine Beine tragen mich weiter neben Henry her, Kellner balancieren Tabletts an uns vorbei, und wir biegen mit ihnen in den Saal des Restaurants und anschließend hinaus auf die mit Lichterketten erhellte Terrasse.
Lilly dreht ein Glas Martini in der Hand und winkt mir erfreut zu, als sie mich entdeckt.
»Da bin ich wieder, ich musste einmal kurz durchatmen«, sage ich, setze mich an den Tisch und greife nach dem Weinglas.
»Ich hatte Angst, dir geht es nicht gut. Wo warst du? Ich dachte schon, du wärst ins Wunderland abgetaucht«, plaudert Lilly drauflos. Sie ist mir promillemäßig eindeutig voraus. »Du weißt schon, damals, als wir Kinder waren? Du hast ständig nach Kaninchenlöchern Ausschau gehalten«, erinnert sie mich an meine spleenige Art.
»Keine Sorge, Lilly. Ich werde dir den Spiegel ins Wunderland irgendwann zeigen«, verspreche ich ihr und bestelle beim Kellner einen Martini auf Eis.
»Ich bestehe darauf«, antwortet sie. Piet neigt sich zu Henry und sagt: »Jemanden zu haben, der all die Marotten und Launen wortlos erträgt, ist ein Geschenk des Himmels.« Er macht eine dramatische Pause. »Oder er liegt geknebelt und gefesselt in der Ecke, das zeigt sich erst während der Ehejahre.«
Henry kann nicht darüber lachen, Lilly umso mehr, und ich nehme einen großen Schluck aus meinem Glas. Stunden vergehen, in denen meine Gedanken sich selbstständig machen und zum Kunsthändler und der Frage, was Liebe eigentlich genau sein mag, wandern. Ich schätze, Liebe ist für jeden Menschen etwas anderes und trägt auch immer eine Prise Schmerz bei sich. Ich schaue zu Henry, der sich angeregt mit meinem Vater zuerst über Zahnbleaching fürs perfekte Lächeln und dann über Finanzen unterhält. Mir fällt dabei auf, was für ein bitterer Zug sich auf Henrys Gesicht legt, während er über Ertragskurven referiert. Warum ist mir das noch nie aufgefallen?
Es ist spät und ich bin definitiv angetrunken, als wir uns verabschieden, um aufs Zimmer zu gehen. Lilly hat eine schwere Zunge und säuselt mir ins Ohr: »Hab jetzt wilden und richtig geilen Sex mit deinem Verlobten.«
Meine Eltern verabschieden sich wie gewohnt recht förmlich von uns. Mama nimmt mich nur kurz zur Seite und mahnt mich, es nicht zu vermasseln. Was auch immer sie damit meint.
»Puh, das wäre geschafft«, sage ich erleichtert, als sie weg sind, und fühle mich plötzlich uralt. Ich hatte vergessen, wie anstrengend ich meine Eltern finde.
»Es geht doch erst los, mein Herz«, antwortet Henry, und ich bemerke leider, dass er sich keinesfalls abgeregt hat. Offenbar kann er es gar nicht abwarten, mich in die Mangel zu nehmen.