Der Stern des Seth - Amalia Zeichnerin - E-Book

Der Stern des Seth E-Book

Amalia Zeichnerin

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Beschreibung

England, 1885. Lord Eavesfield erteilt einen Auftrag für eine Expedition: Ein Erfinder, ein Wissenschaftler, ein Archäologe, eine Journalistin und ein kriegsversehrter Sergeant sollen für ihn ein altägyptisches Artefakt finden – ausgerechnet im Sudan, der von einem Bürgerkrieg zerrüttet wird. Doch was für Pläne hat ihr Auftraggeber mit diesem Artefakt?

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Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

Über dieses Buch und die Autorin

Landkarte

Die Hieroglyphen des Seth

Dramatis Personae

Kapitel 1 - Eine Einladung aufs Land

Kapitel 2 - Im Eavesfield Mansion

Kapitel 3 - Die Séance

Kapitel 4 - Die Reise beginnt

Kapitel 5 - Eisenbahn und Schaufelraddampfer

Kapitel 6 - In den Tempeln am Berg Barkal

Kapitel 7 - Tech-Nomaden

Kapitel 8 - Das Artefakt

Kapitel 9 - Rätselhaft

Kapitel 10 - Wieder im Eavesfield Mansion

Kapitel 11 - Im Totenreich

Kapitel 12 - Die Jagd beginnt

Kapitel 13 - Im Tempel des Seth

Kapitel 14 - Sprengkraft

Kapitel 15 - Die Gedenkfeier

Nachwort und Danksagung

Impressum

Amalia Zeichnerin

Der Stern des Seth

 

Steampunk-Abenteuer-Roman

 

 

überarbeitete Neuauflage

© Amalia Zeichnerin 2018

 

Inhaltswarnungen zu diesem Roman

Gewalt gegen Tiere und Menschen, Ansätze einer posttraumatischen Belastungsstörung, Tod, Leichen

Über dieses Buch

England, 1885. Lord Eavesfield erteilt einen Auftrag für eine Expedition: Ein Erfinder, ein Wissenschaftler, ein Archäologe, eine Journalistin und ein kriegsversehrter Sergeant sollen für ihn ein altägyptisches Artefakt finden – ausgerechnet im Sudan, der von einem Bürgerkrieg zerrüttet wird. Doch was für Pläne hat ihr Auftraggeber mit diesem Artefakt?

 

Über die Autorin

Amalia Zeichnerin lebt mit ihrem Mann in der Hansestadt Hamburg. Sie schreibt vor allem Phantastik und Historisches. Amalia spielt gern Pen & Paper Rollenspiel und Liverollenspiel, außerdem schreibt sie gelegentlich Artikel für das deutsche Steampunk Online-Magazin „Clockworker“. Weiteres über ihre Bücher gibt es hier: https://amalia-zeichnerin.net/veroeffentlichungen/

Der Name des Seth in Hieroglyphen

(eine von mehreren Schreibweisen, aus dem Mittleren Reich,

ca. 2137 bis 1781 v. Chr.)

 

Dramatis personae

Hauptcharaktere

Immanuel Goldstein – ungarischer Erfinder und Ingenieur

Gemma Hawthorne – junge britische Journalistin

Doctor Frederic MacAlistair – britischer Wissenschaftler im Bereich Humanmedizin, Biologie und Chemie

Ian Huntington – junger britischer Archäologe

Vincent Wright – ehemaliger britischer Soldat im Range eines Sergeants, Kriegsveteran

Lord Wilbur George Eavesfield – ein Earl, adliger Unternehmer

 

weitere Charaktere

Leah Mitchell – Doctor MacAlistairs Assistentin

Edith Goldstein – Immanuels Ehefrau

Jonah Goldstein – Immanuels Sohn

Aadil – ein älterer Nomade und Erfinder

Nacera – eine Nomadenkriegerin

Najat – Heilerin des Nomadenstammes

Jasina – eine ältere Nomadin

Zahira – eine Ägypterin

Cartridge – der mechanische Diener des Earls, ein Prototyp

Green und Wallace – zwei menschliche Diener des Earls

Rasul und Altair – zwei mechanische Falken

Tahir – ein sudanesischer Fremdenführer

Arthur Conan Doyle – ein Arzt und Schriftsteller

 

Die Muscleteers, eine Söldnergruppe

Peter Dwain – Engländer, der älteste der Söldner und ihr Hauptmann

Bill Barrow – Afroamerikaner aus Colorado

Michael ,Mad’ Hatter – ein leicht verrückter Brite

Dylan und Maureen McGrath – Zwillinge aus Irland

Jai Patel – ein Sikh aus Indien

Jesper Lindström – ein Schwede

Irina Malkova – eine Russin

Frank Bell – aus Kanada, Dwains Stellvertreter

Kapitel 1

Eine Einladung aufs Land

 

Montag, 9. Februar 1885, London

 

„Und wann werde ich mit diesem Wunderwerk der Technik etwas greifen können?“, fragte Vincent Wright den Erfinder Goldstein.

Der hochgewachsene, breitschultrige Sergeant hatte von letzterem gerade eine Prothese als Ersatz für seinen linken Unterarm und die Hand erhalten. Die verlorenen Gliedmaßen schmerzten noch immer höllisch – Phantomschmerz nannten es die Ärzte. Doch Wright lehnte es ab, weiter Morphium zu nehmen, weil das Zeug süchtig machte und ihm die Sinne vernebelte.

Seine Arm- und Handprothese bestand außen aus Edelstahl und Lederriemen, welche mit punzierten Ornamenten verziert waren. Die Finger wurden aus Edelstahlteilen gebildet, verbunden mit feinen Scharnieren. Im Inneren befanden sich künstliche Nervenfasern.

„Diese Art zählt zu den Besten, welche man heute bekommen kann. Sie ist ihren Preis wert”, erklärte der Erfinder.

„Ja, dafür habe ich mich in Schulden gestürzt“, murmelte Wright. „Mit einer herkömmlichen Prothese hätte ich nicht mal meine Finger mehr vernünftig bewegen können. Wie sollte ich dann gut arbeiten können?”

„Dann hoffe ich, dass Sie bald wieder arbeiten und Ihre Schulden abbezahlen können”, erwiderte Goldstein. „Wie ich Ihnen ja bereits bei unserem ersten Gespräch sagte: Der obere Teil der Prothese verfügt über künstliche Synapsen, welche sich mit den Nervensträngen in Ihrem verbliebenen Arm verbinden. Dadurch verschmilzt die Prothese gewissermaßen mit Ihrem Körper und der Nerventätigkeit darin. Ich habe mit mehreren Ärzten zusammengearbeitet, um diese Effekte zu erreichen. Das bedeutet, dass Sie die Prothese bald so gut wie Ihren anderen Arm und die rechte Hand steuern können werden. Alle Fingergelenke sind ebenfalls über künstliche Nervenstränge und Synapsen mit den Nerven in Ihrem Oberarm verbunden. Die Finger werden daher alle einzeln frei beweglich sein, sobald Sie die Kontrolle darüber gelernt haben.”

Der Erfinder tippte auf das Gebilde. „Im Inneren der Prothese befindet sich außerdem ein mechanisches System mit Zahnrädern, das für die Bewegungen der einzelnen Teile sorgt. Aber keine Sorge, Sie müssen den Mechanismus nicht aufziehen, das macht er automatisch, sofern die Prothese täglich in Bewegung ist. Übrigens, Sie können bei Bedarf auch noch etwas in den Prothesenarm einbauen lassen, er ist ja innen teilweise hohl.”

„Was meinen Sie damit?”, fragte Wright.

„Na ja, das kommt darauf an, was Sie brauchen. Eine kleine Taschenlampe oder ein Werkzeug passt hinein – ein Messer oder auch andere Dinge.”

„Hmm, klingt praktisch. Darüber werde ich noch nachdenken. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich mich entschieden habe. Und wie lange wird es dauern, bis ich das Ding steuern kann, Mister Goldstein?“ Vor seinem inneren Auge sah Wright schon endlose Stunden und Tage, welche er nun mit Übungen verbringen würde, um den künstlichen Arm bewegen zu lernen.

„Wenn Sie sich jeden Tag ein paar Stunden Zeit nehmen und genügend schlafen – mit der Prothese, versteht sich – schätze ich, dass Sie in etwa zwei Wochen die grundlegenden Bewegungen ausführen können sollten. Ich gebe Ihnen einige Seiten mit, auf denen ein Paar spezielle Übungen erklärt werden. Solange Sie nicht gerade Klavier spielen möchten oder andere feinmotorische Tätigkeiten unternehmen wollen...”

Wright winkte ab. „Zwei Wochen, ehrlich? Das wäre phantastisch. Scheint ja ein echtes Wunderding zu sein.“

„Danke für die freundlichen Worte. Lassen Sie mal von sich hören, wie es voran geht”, erwiderte der Erfinder.

Wright nickte. „Das mache ich.”

 

***

 

Frustriert stieß Gemma Hawthorne einen Stein vom Gehsteig auf ihrem Weg nach Hause. Seit anderthalb Jahren arbeitete sie sich nun schon in der Redaktion des London Telegraph die Finger an ihrer Schreibmaschine wund. Doch noch immer hing sie fest bei den Seiten für die „young folks“, die Zwanzig- bis Dreißigjährigen. Für gesellschaftlichen Klatsch und Tratsch war sie zuständig, für die neueste Mode, Frisuren und anderen oberflächlichen Kram, der sie nur am Rande interessierte. Von echter journalistischer Arbeit konnte da in ihren Augen kaum die Rede sein. Doch auch das heutige Gespräch mit dem Chefredakteur hatte ihr nicht das gewünschte Ergebnis gebracht.

„Ich möchte endlich echte Ereignisse recherchieren und nicht nur schreiben, welches Kleid die Adlige Sowieso auf dem Ball Irgendwo getragen hat“, hatte sie ihm gesagt; nicht zum ersten Mal.

Aber Robert M. Fielding, ein Urgestein unter den Journalisten Londons, fand leider nach wie vor, sie sei bei den Boulevardseiten genau richtig und immerhin habe sie dadurch regelmäßig Zutritt zu angesagten Gesellschaften, Bällen und Veranstaltungen – ob das etwa nichts sei? Miss Hawthorne hatte ihre spitze Antwort hinuntergeschluckt.

Jetzt kam sie nach Hause in die Pension der Mrs Maitland. Die rundliche Vermieterin öffnete der schlanken, brünetten Frau die Tür. Sie deutete auf die Kommode im Korridor. „Guten Abend, meine Liebe. Da ist ein Brief für Sie.“

„Danke, Mrs Maitland“, nickte sie ihr zu und griff nach dem Brief. Mrs Maitland sah sie erwartungsvoll an. Aber Miss Hawthorne kannte das neugierige Wesen ihrer Vermieterin. „Ich wünsche Ihnen einen guten Abend“, sagte sie nur, bevor sie sich abwandte und mit raschelnden Röcken die Treppe hochstieg.

„Möchten Sie denn nicht zu Abend essen?“, rief ihr Mrs Maitland hinterher.

„Nein danke, heute nicht!“, erwiderte Miss Hawthorne auf der Treppe. Mrs Maitlands gemurmelten Kommentar über junge Damen, die sich halb zu Tode hungerten, um sich noch enger einschnüren zu können, hörte sie noch, lächelte aber nur missmutig darüber.

Der Brief überraschte sie; kein geringerer als Earl Wilbur George Eavesfield lud sie ein, ihn am kommenden Wochenende in seinem Herrenhaus in der Grafschaft Essex zu besuchen, denn er wollte ihr ein Angebot unterbreiten. Welcher Natur dieses Angebot war, erläuterte sein Schreiben nicht näher. Er schrieb außerdem, dass er ihr die Reisekosten erstatten würde.

Gemma Hawthorne kannte den Earl nicht persönlich; seinesgleichen verkehrte nicht gerade mit einfachen Journalisten, doch sie erinnerte sich, vor kurzem erst einen Bericht über ihn gelesen zu haben. Sie ging zu ihrem Bücherschrank und durchsuchte einen Stapel Zeitschriften.

„Da haben wir ihn...“, sagte sie schließlich, als sie den Artikel wiedergefunden hatte. Lord Eavesfield war zum einen von altem Adel, zum anderen ein erfolgreicher Unternehmer in der Stahlindustrie. Der sechsundvierzigjährige Junggeselle zeichnete sich darüber hinaus durch seine Philanthropie aus. Mehr als eine Stiftung und diverse soziale Projekte gingen auf sein Konto. So hatte er zum Beispiel ein Waisenhaus und eine Schule für Arbeiterkinder gegründet. Oft sah man ihn außerdem auf Benefizveranstaltungen und auf Gesellschaften der High Society, worüber dann natürlich auch die Boulevardpresse berichtete. Mehr als eine Dame hatte schon versucht, den wohlhabenden Earl mit ihrer Tochter im heiratsfähigen Alter zu verloben, doch Lord Eavesfield gefiel sein Junggesellendasein offenbar so sehr, dass er sämtlichen Versuchen, eine Ehe anzubahnen, bisher widerstanden hatte.

Gemma Hawthorne hatte zwar keine Ahnung, warum er ausgerechnet sie einlud, und sie wunderte sich auch, woher er ihre Adresse hatte, doch sie war – ihrer Vermieterin nicht unähnlich – von Natur aus neugierig. Die Aussicht, einmal ein hochherrschaftliches Herrenhaus auf dem Lande zu besuchen, gefiel ihr sehr. Also setzte sie sich an ihren Schreibtisch, griff nach Feder und Tinte und schrieb eine schriftliche Zusage.

 

***

 

Die Tische in der Werkstatt des Immanuel Goldstein waren mit Werkzeugen aller Art übersät: Zahnräder, Scharniere, Röhren, Kupferdraht. Dazwischen fand sich auch ein Lötgerät, welches der Erfinder und Ingenieur nun in die Hand nahm und einschaltete. Eine blaue Flamme wurde sichtbar. Goldsteins Augen waren hinter einer Schweißerbrille verborgen, als er ein Kupferrohr mit einer Platte verlötete.

Er hörte das Schrillen der Haustürklingel. Goldstein arbeitete weiter, denn sein Butler Herman würde dem Besucher öffnen. Nachdem der Erfinder eine Dreiviertelstunde später einen weiteren Teil seines neuen Werkes vollendet hatte – einen automatischen Stiefelschnürer – nahm er die Schweißerbrille ab und räumte sein Werkzeug beiseite. Er zog seinen Arbeitskittel aus und schaltete das Licht in der Werkstatt aus.

Im Flur begegnete er seinem Hausdiener, welcher ihm ein Schreiben überreichte. „Ein Brief für Sie, Sir.”

„Danke, Herman”, Goldstein überflog die wenigen Zeilen. „Sieh an, der gute Wilbur lädt mich ein! Wunderbar, wir haben uns so lange nicht mehr gesehen. Herman, antworten Sie ihm bitte, dass ich seine Einladung gern annehme.“

„Sehr wohl, Sir. Das Abendessen steht für Sie im Salon bereit. Ihre Frau erwartet Sie dort“, erwiderte der Butler.

„Vortrefflich, mein Bester.“ Goldstein strich sich über die schwarzen Haare. Der Erfinder hatte olivfarbene Augen, einen eher dunkleren Teint und ein kantiges Kinn. Häufig wurde er gefragt, ob er aus Italien, Spanien oder Frankreich stamme. Doch er war gebürtiger Ungar und seine Familie kam aus Budapest. Nun begrüßte er seine Frau Edith im Salon mit einem Kuss auf die Wange. Er betrachtete ihr noch immer zartes, herzförmiges Gesicht liebevoll. „Du siehst heute ganz besonders bezaubernd aus, meine Liebe.“

„Und du bist ein Schmeichler, mein Lieber“, sagte sie lachend. Edith trug an diesem Abend ein veilchenblaues Kleid, das hervorragend zu ihren dunklen Locken passte und ihre vornehme Blässe unterstrich. Der Kragen des Kleides war mit kupfernen Zahnrädern verziert – ein großer Trend aus Frankreich, zurückgehend auf eine Kollektion des berühmten französischen Modemachers Etiénne Paradis, die auch in anderen Ländern hundertfach kopiert worden war.

Goldstein berichtete seiner Frau beim Aperitif von der Einladung seines alten Freundes und fügte hinzu, dass diese nur für ihn galt.

„Das ist mir recht. Ich besuche am Valentinstag Tante Ruth. Ach ja, und Jonah hat ein Telegramm geschickt, er kommt am Valentinswochenende nicht nach Hause, weil ihn sein Freund Benedict eingeladen hat, diese Tage bei seiner Familie zu verbringen.”

„Wie schön, dass unser Sohn nach so kurzer Zeit bei der Armee schon Freunde gefunden hat”, erwiderte Goldstein.

„Und davon einmal abgesehen, wollt ihr Männer doch gewiss gern einmal unter euch sein – da ihr euch so lange nicht mehr gesehen habt.“

„Meine Liebe, du triffst wieder einmal den Nagel auf den Kopf”, antwortete Goldstein lachend. Dann stellte er mit einem Blick auf ihr Kleid fest: „Ah, du trägst wieder mal Zahnräder. Ich denke ja immer noch, Zahnräder gehören in Uhrwerke und Maschinen, und nicht auf Kleidung oder in Ohrringe...“

„Etiénne Paradis’ Kollektion Das Rädchen im Getriebe mit den Zahnrädern ist hier und auf dem Kontinent eingeschlagen wie eine Bombe”, entgegnete seine Frau. „Und er soll dazu gesagt haben: ,Der Mensch ist nur ein Rädchen im großen Getriebe der Welt und der Zeit.’ Und die Zahnräder auf der Kleidung und im Schmuck sollen daran erinnern.“

„An diesem Modemacher ist wohl ein Philosoph verloren gegangen”, erwiderte er lächelnd.

 

Dienstag, 10. Februar 1885, London

 

„Hey Doctor, hier ist ein Brief für Sie.“ Frederic MacAlistairs Assistentin, Miss Mitchell, kam in das Forschungslabor, warf mit Schwung die Tür zu und schwenkte einen Briefumschlag vor seiner Nase.

„Vorsicht, nicht gegen den Tisch stoßen! Die Mischung ist noch nicht stabil. Und wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen die Tür nicht zuknallen?“ Doctor MacAlistair wischte sich ein paar verirrte rote Haarsträhnen aus dem sommersprossigen Gesicht und rückte seine Brille zurecht, während er seine Assistentin mit einem strafenden Blick bedachte.

„Muss ich mir jetzt Sorgen machen, dass uns das Labor gleich um die Ohren fliegt?“, fragte sie und schien nur mühsam ein Kichern zu unterdrücken.

„Ja, in der Tat, das sollten Sie... Scherz beiseite, geben Sie mir endlich den Brief.“

Miss Mitchell wedelte noch einen Moment lang mit dem Briefumschlag herum, aber MacAlistair griff danach und riss ihn auf. Er überflog das Schreiben auf dem feinen Büttenpapier und machte ein paar Mal „Hmm ... aha, so so ...“

„Darf ich erfahren, worum es geht?“

„Ein gewisser Lord Eavesfield lädt mich ein, ihn auf dem Land zu besuchen. Er kommt für die Reisekosten auf und will mir ein Angebot unterbreiten.“

„Mensch, Doctor, davon haben Sie doch immer geträumt – ein Mäzen, der Ihre Forschungen unterstützt!“, rief Miss Mitchell begeistert.

Doctor MacAlistair hatte Chemie, Biologie und Humanmedizin studiert und forschte seitdem über verschiedene Themen. Mittlerweile hatte er schon mehr als eine Entdeckung von wissenschaftlichem Interesse gemacht und entsprechende Texte in Wissenschaftsmagazinen veröffentlicht. Mehrere Universitäten hatten ihm Angebote gemacht, bei ihnen zu forschen und zu lehren, doch er zog es vor, unabhängig zu arbeiten. Deshalb hatte er sich hier ein eigenes Labor eingerichtet.

Vor Miss Mitchell hatte er bereits vier andere Assistenten gehabt, doch entweder hatten diese gekündigt, oder er hatte sie hinausgeworfen, weil sie in seinen Augen nichts taugten. Mit ihr war es etwas anderes, denn die beiden kannten sich noch aus Studientagen und hatten sich angefreundet. Sie war eine der wenigen, die mit seinen schnellen Gedankengängen und -sprüngen kaum Probleme hatte, was er sehr schätzte.

„Mäzene gibt es doch nur für Künstler“, erwiderte er nun. „Wenn irgendwelche Leute Forschungsprojekte unterstützen, dann bestimmt nicht aus gemeinnützigen Interessen. Ich kenne diesen Earl nicht einmal. Was will der also von mir?“

„Fahren Sie hin und finden Sie es heraus“, meinte seine Assistentin. „Ein Tapetenwechsel würden Ihnen ohnehin einmal gut tun, wenn ich das so sagen darf. Sie kommen viel zu selten heraus aus dem Labor und sind schon ganz blass um die Nase.“

„Jetzt klingen Sie wie meine Mutter“, erwiderte er kopfschüttelnd. Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe. „Na ja, wenn dieser Eavesfield Interesse an meinen Forschungen hat, sollte ich vielleicht wirklich hinfahren. Finanzielle Unterstützungen kann ich immer gut für meine Forschungen gebrauchen.”

Miss Mitchell nickte. „Soll ich ihm schreiben, dass Sie sich geehrt fühlen und die Einladung gern annehmen?“

Doctor MacAlistair hatte sich bereits wieder seiner Versuchsanordnung zugewandt und erwiderte ein wenig geistesabwesend: „Wie? Also ... ja ... aber lassen Sie das mit dem ,Geehrt-fühlen’ weg.“

Kapitel 2

Im Eavesfield Mansion

 

Sonnabend, 14. Februar 1885

 

Es regnete an diesem Valentinstag und der Wind hatte aufgefrischt, als Immanuel Goldstein aus dem Zug stieg. Er kämpfte eine Weile mit seinem Regenschirm, der aber vom Wind so herumgezerrt wurde, dass er es bald aufgab und ihn wieder schloss. Immerhin würde ihn sein Zylinder und der schwere Wollmantel ein wenig vor dem Regen schützen. Er wartete nicht erst auf einen Kofferträger, den es in diesem Provinzbahnhof wahrscheinlich ohnehin nicht gab, sondern ging rasch mit seinem Koffer in die kleine Bahnhofshalle.

Dort stand ein mannsgroßer, mechanischer Diener, der ein Schild vor der Brust hielt, auf dem „Lord Eavesfield“ stand. Hinter den Augen des Automatons – zwei einfachen runden Gläsern – leuchtete ein blaues Licht, während sein „Gesicht” aus poliertem Messing bestand. Auf der Stirn war außerdem eine Art Lampe eingebaut. Er steckte in einem offensichtlich teuren dunkelblauen Anzug, ganz wie ein Gentleman. Nur die wohlhabendsten Mitglieder der Oberschicht konnten sich einen mechanischen Diener leisten. Goldstein selbst hatte keinen, denn er interessierte sich weniger für prestigeträchtige Statussymbole dieser Art, sondern eher für praktische, alltagstaugliche Dinge, die sich auch Menschen aus der Mittelschicht leisten konnten. Die Prothesen, welche er gelegentlich für Veteranen und andere Versehrte baute, lagen bereits am oberen Rand des finanziellen Spektrums, welches er mit seinen Erfindungen abdeckte.

Er sah eine junge Dame ebenfalls aus dem Zug steigen und zu seiner Überraschung ein bekanntes Gesicht: Sergeant Wright. Er nickte ihm freundlich zu und wandte sich an den mechanischen Diener. „Guten Tag. Ich hatte eigentlich Mister Winter erwartet, den Butler des Earls.”

„Guten Tag, Sir. Mein Name ist Cartridge”, erwiderte der mechanische Diener mit schnarrend metallischer Stimme. „Ich bin der neue Butler von Lord Eavesfield.”

„Sehr erfreut. Was ist denn aus Mister Winter geworden?”

„Mister Winter ist kurz vor Weihnachten 1884 in Rente gegangen”, berichtete Cartridge mit monotoner Stimme.

„Ah, verstehe...”, antwortete Goldstein.

Nun stellte sich der Sergeant dem Diener vor. „Guten Tag, ich bin Vincent Wright. Ich habe eine Einladung von Lord Eavesfield erhalten. Mister Goldstein – schön, Sie wiederzusehen.”

„Ebenso, Sergeant Wright”, erwiderte er lächelnd.

Die Dame trat auf die beiden Männer und den mechanischen Diener zu. Bevor sie etwas sagen konnte, sprach Cartridge sie an: „Ich nehme an, Sie sind Miss Hawthorne, die Journalistin vom London Telegraph?“

„Die bin ich.“

„Sehr erfreut, Miss“, erklärte der Diener. „Dann warten wir nur noch auf Doctor MacAlistair.“

Doch die Bahnhofshalle hatte sich längst geleert; an diesem Abend waren nur wenige Fahrgäste hier ausgestiegen. Auch ein Blick auf den Bahnsteig zeigte, dass Doctor MacAlistair offenbar nicht unter den Reisenden war.

„Nun, ich nehme an, Doctor MacAlistair verspätet sich”, sagte Cartridge. „Vielleicht kommt er mit einem späteren Zug. Folgen Sie mir bitte.“

Er nahm der Journalistin ihr Gepäck ab. Kurz darauf stiegen sie alle in ein großes, elegantes Automobil, welches von einem jungen Chauffeur gefahren wurde, der sie freundlich begrüßte. Das Gefährt glitt erstaunlich leise durch den strömenden Regen.

„Wie haben Sie Ihre Hand verloren, Mister Wright – wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich Miss Hawthorne.

Er verzog das Gesicht und krempelte seinen linken Mantelärmel hoch. Darunter kam auch der Prothesenarm zum Vorschein. „Es war auch der Arm – ein schwerer Fall von Wundbrand. Ich hab eine Kugel abgekriegt, die nicht gleich entfernt werden konnte. Kann froh sein, dass die nicht im Brustkorb eingeschlagen ist, sonst säße ich jetzt nicht hier. Das war vor einigen Wochen im Sudan, die Schlacht von Abu Klea, am 17. Januar.”

„Oh, davon habe ich gelesen”, erwiderte die Journalistin. „Tausendfünfhundert britische und ägyptische Soldaten, die eine Überzahl von zehntausend Mahdisten geschlagen haben.”

„Wegen der besseren technischen Ausrüstung”, ergänzte Wright. „Die Mahdisten hatten keine Dampfgewehre, und viele waren nur mit Schwertern, Dolchen oder Speeren bewaffnet.”

„In welchem Regiment waren Sie eigentlich, Wright?”, erkundigte sich Goldstein.

„Das Kamel-Corps unter Generalmajor Herbert Stewart, bei der berittenen Infanterie. Guter Mann, dieser Stewart. Wurde für seine Leistungen auch zum Knight Commander of the Order of the Bath ernannt. Ist leider vor wenigen Tagen gefallen, wie ich hörte.” Wright blickte einen Moment lang mit gequältem Blick aus dem Fenster, ehe er fortfuhr. „Jedenfalls, als ich zurück nach England kam, mussten mir die Ärzte den Arm unter dem Ellenbogen abnehmen. Damit ist meine Karriere beim Militär wohl beendet – auch wenn diese Prothese wirklich gut ist, Goldstein. Sicher, ich könnte noch am Schreibtisch arbeiten, aber das habe ich mir nie gewünscht...”

Der Regen prasselte an die Fensterscheiben des Automobils. Der Sergeant schwieg.

„Es tut mir sehr leid, was Sie alles durchgemacht haben“, sagte Miss Hawthorne.

Wright machte eine abwehrende Geste. „Na ja, immerhin bin ich noch am Leben. Ich sollte dankbar sein...“

Goldstein erzählte der Journalistin, was er Wright bereits bei ihrem ersten Treffen berichtet hatte. „Ich war früher auch beim Militär, beim Devonshire Regiment. Ich habe 1880 in Südafrika im Burenkrieg gekämpft. Ich bin auch froh, dass ich dort lebend herausgekommen bin.“

Sie nickte. „Gewiss, Mister Goldstein. Ist es nicht schrecklich, wieviele kriegerische Konflikte es allein in den letzten Jahren gegeben hat?“

„Da gebe ich Ihnen recht. Ich jedenfalls habe 1881 meinen Dienst beim Regiment quittiert und mich als Erfinder selbständig gemacht, zusammen mit einem Teilhaber.“

Kurz darauf wandte er sich an den jungen Chauffeur. „Das ist ein wunderbares Automobil, von der Firma F.H. Royce and Co., nehme ich an?“

Der Chauffeur nickte. „Ja genau, Sir. Lord Eavesfield besitzt übrigens noch ein weiteres Automobil.”

Goldstein fragte ihn: „Arbeiten Sie schon länger für den Earl?“

„Erst seit letztem Herbst, Sir. Vorher hatte er noch keine Automobile.“

„Sind Sie eigentlich beide mit dem Earl bekannt?“, erkundigte sich die Dame.

„Ich kenne ihn recht gut aus meiner Studienzeit in Eaton“, erwiderte Goldstein. „Wir haben uns ein Zimmer geteilt und waren damals gut befreundet. Er hat Geschichte und Betriebswirtschaft studiert, und ich Ingenieurswissenschaften und Technik. Aber wir haben uns schon länger nicht mehr gesehen. Ich habe zwei Jahre in Wien gearbeitet und bin erst vor drei Monaten wieder nach London zurückgekehrt.”

„Ich kenne den Earl noch nicht persönlich – ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel, warum er mich eingeladen hat“, sagte der Sergeant. „Und wie steht es mit Ihnen, Miss Hawthorne?“

„Mir geht es wie Ihnen, Mr. Wright. Ich frage mich ebenfalls, womit ich die Ehre seiner Einladung verdient habe. Sein Schreiben war recht vage.“

„Genau wie das meine“, erwiderte Wright.

„Sie werden lachen, das geht mir genauso, obwohl wir uns ja von früher kennen“, sagte Goldstein. Warum hatte sein alter Freund wohl diese Journalistin und den Sergeant eingeladen, obwohl beide gar nicht mit ihm bekannt waren? Und warum diese Gruppeneinladung?

Das Fahrzeug rollte nun langsam über die lange, von stattlichen Bäumen gesäumte Allee, welche durch den weitläufigen Park bis vor das Herrenhaus Eavesfield Mansion führte. Wie ein graues Bollwerk ragte das stattliche Gebäude aus dem Regen hervor, genau wie Goldstein es in Erinnerung hatte.

Beim Aussteigen knallte Wright versehentlich mit dem Prothesenarm gegen das Automobil. „Verdammt noch mal!”, rief er. „Entschuldigen Sie, Miss“, wandte er sich im nächsten Moment an Miss Hawthorne. „Man sollte ja nicht fluchen in Anwesenheit von Damen, aber ich habe dieses Ding erst seit drei Wochen und dazu kommt, dass ich immer noch Schmerzen im Arm habe – auch wenn er gar nicht mehr vorhanden ist. Außerdem bereiten mir viele Bewegungen immer noch Schwierigkeiten.“

Sie schüttelte den Kopf. „Bitte machen Sie sich keine Gedanken deswegen.“

Goldstein versuchte, den Sergeant zu beruhigen. „Gedulden Sie sich, Wright. In ein paar Wochen wird der Phantomschmerz gewiss verschwunden sein und Sie können die Prothese ohne Probleme verwenden.”

Wright sah ihn zweifelnd an. „Das hoffe ich sehr.“

Derweil nahm Cartridge die Koffer und Taschen der Gäste aus dem Kofferraum. Dabei war ihm ein junger menschlicher Diener behilflich, der mit einem ebenfalls menschlichen Kollegen aus dem Herrenhaus herbei geeilt war. Der Chauffeur parkte inzwischen das Automobil irgendwo hinter dem Gebäude. Cartridge wies den zweiten Diener an: „Green, führen Sie die Gäste des Earls bitte nach drinnen und zeigen Sie ihnen ihre Zimmer. Sicherlich möchten sich die Dame und die Herren nach ihrer Reise frisch machen.“

Goldstein fiel auf, dass er auch diese beiden Diener nie zuvor gesehen hatte...

 

***

 

Eavesfield Mansion war eine Augenweide, fand Miss Hawthorne, während sie und die anderen drei dem Diener Green folgten. Der Korridor, durch den er sie führte, war mit elektrischen Lampen ausgestattet.

Immanuel Goldstein deutete darauf. „Sehen Sie sich nur diese Glühlampen an. Es ist ein komplettes Edison-Beleuchtungssystem. Dieses hier wird mit einem ziemlich teuren Dampfmaschinen-Dynamo betrieben, der im Keller steht. Soweit ich weiß, hat Thomas Edison diesen höchstpersönlich hier installiert.”

Miss Hawthorne betrachtete die edle Mahagoniholzvertäfelung an den Wänden und die vielen Bilder – Jagdszenen, Portraits streng blickender Damen und Herren bis hin zu avantgardistischen Werken. Sie erkannte den Stil der französischen Impressionisten und ein Werk aus dem Kreis der Präraffaeliten. Dazwischen fanden sich einige fadenscheinige Gobelins, die vielleicht in einem Museum besser aufgehoben gewesen wären und so manche ausgestopfte Jagdtrophäe. Außerdem sah sie mehrere Objekte, die sie hier nicht erwartet hätte: grimmig wirkende Holzmasken afrikanischen Ursprungs, auf einem vermutlich orientalischen Beistelltisch Statuetten im altägyptischen Stil. Ob es Nachbildungen oder Originale waren, konnte sie nicht erkennen.

Auch ihr Zimmer war sehr schön, vor allem im Vergleich mit ihren bescheidenen Räumlichkeiten in Mrs Maitlands Pension. Es verfügte über einen eigenen Kamin, in dem ein dienstfertiger Geist schon ein Feuer entfacht hatte, welches tanzende Schatten an die Wände warf. Diese waren mit dezent gemusterten Stofftapeten bedeckt. Auf dem Boden lagen Teppiche, die auf sie orientalisch wirkten.

Sie bedankte sich bei dem Diener, der ihren Koffer brachte. „Wann werden wir denn unseren Gastgeber sehen?“

„Mein Herr ist noch geschäftlich unterwegs, außerdem erwarten wir noch einen weiteren Gast, der sich verspätet. Ich gehe aber davon aus, dass wir Sie alle in ein oder zwei Stunden zum Abendessen bitten können.“

„Sehr schön. Dürfte ich mich vielleicht solange in der Bibliothek aufhalten?“

„Sicherlich, ganz wie Sie wünschen. Die Bibliothek befindet sich im ersten Stock. Sie ist übrigens auch gut beleuchtet. Wenn Sie sich in die Eingangshalle begeben, die linke Treppe hinauf und dann die vierte Tür auf der rechten Seite.“

Miss Hawthorne lächelte. „Vielen Dank, Sie werden mich dann dort finden.“

„Sehr wohl, Ma’am.“ Der Diener deutete eine Verbeugung an und verließ rückwärts das Zimmer.

Miss Hawthorne wusste nicht recht, ob sie seinen förmlichen Abgang übertrieben finden oder sich darüber amüsieren sollte.

 

Die Bücherregale in der Bibliothek reichten bis unter die mit Stuck verzierte Decke; drei bequeme Sessel luden zum Verweilen ein. Neben einigen Deckenleuchten gab es hier drei Leselampen neben den Sesseln. Draußen hörte sie das Heulen des Windes und den Regen, welcher noch immer gegen die Fensterscheiben prasselte. Sicher kündigte sich damit der Sturm an, von dem morgens die Wettervorhersage in der Zeitung berichtet hatte.

Sie wanderte durch die Bibliothek und sog den typischen Geruch ein, welchen die Bücher verströmten – ein Duft nach altem Papier, Druckertinte und Ledereinbänden.

Sie wollte mehr über ihren Gastgeber herausfinden. Die Bücher eines Menschen vermochten viel über seinen Charakter und seine Interessen zu verraten. Sie schaute sich um – in dieser Bibliothek schien alles versammelt, was literarischen Rang und Namen hatte. Und nicht nur englische, sondern auch französische, italienische und deutsche Dichter und Autoren in Originalfassungen waren hier vertreten. Ganze Bücherregale waren außerdem Sachbüchern gewidmet, von Naturwissenschaften und Geschichte über Technik bis hin zu exotischen Themen wie Parapsychologie.

Schließlich entdeckte Gemma Hawthorne ein ihr vertrautes Gebiet: Bücher über den nahen Osten, den Orient – Reiseberichte, wissenschaftliche Abhandlungen über Archäologie in Nordafrika bis hin zu Bänden aus dem letzten Jahrhundert über das alte Ägypten. Überrascht sah sie einige Bücher in arabischer Sprache.

Mit diesem Thema kannte sie sich aus, seit sie vor mehreren Jahren ihren Onkel David in Ägypten besucht hatte; dieser hatte dort eine archäologische Ausgrabung geleitet. Zu jener Zeit hatte sie gerade die Journalistenschule beendet und auch Aussicht auf eine Anstellung, die allerdings erst ein halbes Jahr später beginnen sollte. Wie es der Zufall wollte, konnte ihr Onkel jede Hilfe bei seiner Ausgrabung gebrauchen. Er hatte ihr angeboten, für circa sechs Monate seine Assistentin dort zu werden.

Damals war sie Feuer und Flamme gewesen angesichts der Aussicht, etwas gänzlich Neues kennenzulernen. In Ägypten lernte sie nicht nur vieles über Archäologie, sondern auch einige altägyptische Hieroglyphen und deren Bedeutung kennen. Leider reichten sechs Monate nicht aus, um auch die dazugehörige alte Sprache verstehen zu lernen.

„Mach dir nichts daraus, meine Liebe“, hatte ihr Onkel sie getröstet. „Ich habe Jahre gebraucht, um das Altägyptische zu lernen. Und ich lerne immer noch dazu...“

Inzwischen war die Ausgrabung in der Nähe des ehemaligen Theben beendet und ihr Onkel zurück in Cambridge, wo er als Professor Archäologie unterrichtete. Durch seine Ausgrabungen hatte er das Britische Museum in London um so manches schöne alte Stück bereichert.

Angesichts dieser Bücher hier in der Eavesfield'schen Bibliothek fragte sie sich, welches Interesse der Hausherr am Alten Ägypten und dem Nahen Osten hatte. Ob er wohl auch Arabisch sprechen konnte?

Kurze Zeit später trat Immanuel Goldstein ein. „Ah, Miss Hawthorne, sind Sie auch auf der Suche nach Lesestoff?“

„Nein, eigentlich versuche ich mehr über unseren Gastgeber herauszufinden.“

„Nach dem Motto: Sag mir, was du liest und ich sage dir, wer du bist? Ich schätze, ich könnte Ihnen eine ganze Menge über meinen guten alten Freund erzählen, aber wo läge das Vergnügen darin? Ich möchte Ihnen Ihre Detektivarbeit nicht verleiden. Schauen Sie sich nur um und erzählen Sie mir dann, was Sie entdeckt haben. Ich bin gespannt...“

Der Erfinder nahm sich nach kurzer Suche ein technisches Sachbuch, machte es sich in einem der Sessel bequem und begann im sanften Schein der Leselampe zu lesen.

Ungefähr anderthalb Stunden vergingen, dann kam der junge Diener in die Bibliothek. „Das Essen wird nun serviert und Lord Eavesfield erwartet Sie im Speisesaal. Wenn Sie mir bitte folgen, Miss, Sir?“

Auf dem Weg zum Speisesaal fragte Goldstein die Journalistin mit einem verschwörerischen Schmunzeln: „Und, was haben Sie nun herausgefunden über Wilbur?”

„Er scheint ein sehr ausgeprägtes Interesse am Orient zu haben, insbesondere am Alten Ägypten. Möglicherweise beherrscht er die arabische Sprache. Und er ist mit Sicherheit umfassend gebildet, wenn er all die Bücher hier gelesen hat. Außerdem habe ich einige Klassiker gefunden, darunter die gesammelten Werke von Shakespeare, Marlowe und Chaucer. Die hat er offensichtlich geerbt, weil in den Exlibris andere Namen stehen.“

„Ich bin enttäuscht, Miss Hawthorne. Um das herauszufinden, hätte ich keine anderthalb Stunden gebraucht.“

„Dafür kennen Sie den Earl ja bereits seit Ihrer gemeinsamen Studienzeit.“

Goldstein lachte. „Auch wieder wahr.“

 

***

 

In Wrights Augen war der Speisesaal ebenso prunkvoll wie der Rest des Hauses. Ein überdimensionaler elektrifizierter Kronleuchter thronte an der Decke über dem langen Esstisch. Die farbenfrohen, floral gemusterten Tapeten stammten unverkennbar aus der bekannten Werkstatt des Künstlers William Morris.

Nun wurden er, Miss Hawthorne und Goldstein von ihrem Gastgeber begrüßt. Lord Eavesfield war eine beeindruckende Erscheinung, dachte Wright im Stillen – und er war nicht leicht zu beeindrucken. Der Earl war ziemlich groß und hielt sich militärisch gerade. Seine graublauen Augen hatten einen stechenden Blick und das dunkle, kurze Haar war an den Schläfen und am Backenbart fast weiß. Er stellte sich nun jedem Einzelnen vor, umarmte seinen Freund Goldstein herzlich und beehrte die einzige anwesende Dame mit einem angedeuteten Handkuss.

Miss Hawthorne knickste, wie es die Etikette verlangte.

„Es freut mich, dass Sie heute alle hier sein können”, sagte Lord Eavesfield. „Bitte setzen Sie sich doch, das Dinner wird gleich serviert.“

In diesem Moment trat ein Mann um die Vierzig mit einem Gesicht voller rötlicher Sommersprossen ein. Seine roten, zerzausten Haare waren nass vom Regen. „Verzeihen Sie die Verspätung, Lord Eavesfield. Ich habe leider einen Zug verpasst“, sagte er atemlos.

Lord Eavesfield nickte ihm zu. „Doctor MacAlistair, nehme ich an?“

„Ja, der bin ich.“

„Sie haben Ihr Eintreffen zeitlich gut abgestimmt, wir wollten gerade mit dem Essen beginnen. Meine Herren, meine Dame, darf ich vorstellen – Doctor Frederic MacAlistair, seines Zeichens Wissenschaftler im Bereich der Biologie, der Humanmedizin und der Chemie.“

Wright betrachtete den Neuankömmling. MacAlistair war blass um die Nase, so als ob er die meiste Zeit in einem Labor oder am Schreibtisch verbrachte. Sieht mir nach einem Bücherwurm aus ... Er schüttelte dem Doctor die Hand, auch die anderen beiden stellten sich vor.

Nach einigem Stühlerücken konnte das Dinner beginnen. Während die Suppe aufgetragen wurde, plauderte der Gastgeber zunächst über Belangloses – wie es üblich war bei Einladungen zum Abendessen. Er sprach über das Wetter, Nachrichten von der Börse in London, die letzten Tee-Duell-Meisterschaften und eine Benefizveranstaltung für Waisenkinder, welche er organisiert hatte. Außerdem erkundigte er sich nach dem Befinden von Goldsteins Frau und dessen Sohn. Von Wright wollte er wissen, wie dieser mit seiner Prothese zurecht kam.

„Ich habe sie vor drei Woche erhalten und Mister Goldstein meinte, es könnte zwei, drei Wochen dauern, bis ich sie steuern kann. Und er hatte recht, sie ist mir mittlerweile eine echte Hilfe”, erwiderte er.

Miss Hawthorne kam auf die Bibliothek des Earls zu sprechen. „Sie haben viele Bücher über den Nahen Osten. Woher kommt Ihr Interesse an dieser Region, wenn ich fragen darf?“

„Oh, das ist eine lange Geschichte. Aber ich erzähle sie Ihnen gern heute Abend, wenn wir noch in geselliger Runde beisammen sitzen.“

„Mit Verlaub, my Lord“, meldete sich der Wissenschaftler zu Wort. „Ich kann nicht allzu lange bleiben, meine Forschungen verlangen meine Anwesenheit in London. Ich möchte mit dem letzten Zug heute zurückfahren.“

„Oh, ist das so?“ Ein Hauch von Irritation stahl sich bei diesen Worten in die Stimme des Earls. Ihr Gastgeber blickte auf die goldene Taschenuhr, die an seiner Weste befestigt war. „Das tut mir leid, Doctor MacAlistair, aber ich fürchte, der letzte Zug ist bereits abgefahren. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Mein Chauffeur wird Sie morgen in aller Herrgottsfrühe zum Bahnhof fahren. Was halten Sie davon?“

Doctor MacAlistair schien alles andere als erfreut. „My Lord, mit Verlaub, wissenschaftliche Forschungen sind keine Briefmarkensammlung, die man nach Belieben aus der Hand legen kann. Erlauben Sie mir, Ihren Fernsprecher zu benutzen? Ich muss mit meiner Assistentin sprechen.“

„Gern, Doctor MacAlistair.“ Lord Eavesfield läutete nach einem Diener.

Sein Butler Cartridge trat ein. „Sie wünschen, my Lord?“

„Cartridge, zeigen Sie Doctor MacAlistair den Fernsprecher.“

Der mechanische Diener nickte. „Sehr wohl, my Lord.“

MacAlistair stand einfach vom Tisch auf, ohne sich bei den Anwesenden zu entschuldigen.

Was für ein ungehobelter Kerl, dachte Wright.

 

***

 

MacAlistair wurde von dem mechanischen Diener in ein kleines Empfangszimmer geführt, in dem sich auch ein Fernsprechapparat befand. Er hoffte, dass Miss Mitchell noch nicht nach Hause gegangen war. Er hatte einen Fernsprecher in seinem Labor installieren lassen, für Notfälle aller Art.

MacAlistair nahm den Hörer auf und sprach in das Mundstück des Fernsprechers: „Vermittlung? Verbinden Sie mich mit London, 548-90712.“

Nach einigem Knacken und Knistern in der Leitung hörte er die Stimme seiner Assistentin. „Leah Mitchell, Labor von Doctor Frederic MacAlistair.“

„Guten Abend Miss Mitchell, hier ist Doctor MacAlistair. Hören Sie, ich komme hier heute nicht mehr weg. Ich bin frühestens morgen um elf Uhr wieder in London. Bitte kümmern Sie sich um die Versuchsanordnung, die wir gestern aufgebaut haben. Sehen Sie um elf Uhr nach, ob sich die Lösung schon verändert hat. Und dann wieder um vier Uhr morgens. Und vergessen Sie nicht, jedes Mal drei Milliliter von dem Liptonid hinzuzufügen.“

Nach kurzem Zögern kam ihre Antwort. „Ja, Doctor. Ich werde hier mein Nachtlager aufschlagen.“

„Ich danken Ihnen. Ach, und Miss Mitchell – entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten.“

„Nicht der Rede wert, Doctor.“ Falls Miss Mitchell genervt war, ließ sie es sich zumindest am Fernsprecher nicht anmerken. Einmal mehr war er froh über seine engagierte und flexible Assistentin.

 

Nach dem mehrgängigen, üppigen Abendessen begaben sich alle in den Blauen Salon. MacAlistair hatte sich ihnen nach seinem Gespräch am Fernsprecher wieder angeschlossen.

Der Salon war durchgehend in Blautönen gehalten, sodass er sich in ein Aquarium versetzt fühlte. Selbst die Lampenschirme waren aus blauem Glas gefertigt. Er war versucht, darüber einen Scherz zu machen, behielt diesen aber doch lieber für sich. Mehr als einmal hatte er die Erfahrung gemacht, dass viele Leute seine Art Humor nicht teilten.

In der Mitte des Salons stand ein Schreibtisch. Lord Eavesfield setzte sich dahinter, während seine Gäste sich davor auf weich gepolsterten Stühlen niederließen.

„Nun, meine werten Gäste, kommen wir zu dem Angebot, das ich Ihnen unterbreiten möchte. Worum es mir geht, ist Folgendes: Ich möchte Sie alle bitten – kurz gesagt – für mich ein historisches Artefakt zu finden, welches aus dem Alten Ägypten stammt. Dieses Artefakt möchte ich der Königlichen Gesellschaft für Antiquitäten und Archäologie als Ausstellungsstück zur Verfügung stellen. Es wäre ein wahres Prunkstück ihrer Sammlung. Ich bin dem Direktor der Gesellschaft einen Gefallen schuldig, daher habe ich ihm angeboten, mich auf die Suche nach diesem sagenumwobenen Artefakt zu machen. Nur sehen Sie, es ist so...“, er breitete die Arme in einer Geste der Hilflosigkeit aus. „Ich kann es mir als Unternehmer nicht leisten, mir längere Zeit freizunehmen und auf Schatzsuche zu gehen, wenn man so will. Also dachte ich mir, ich lade einige Experten aus verschiedenen Gebieten ein, die vielleicht an meiner Stelle gemeinsam auf Expedition gehen möchten. Natürlich komme ich für alle Ihre Kosten auf – Anreise, Abreise, Verpflegung, Ausrüstung und so weiter. Und wenn Sie das Artefakt finden, wartet auf jeden von Ihnen eine großzügige Belohnung.“

„Was um alles in der Welt bist du diesem Direktor schuldig, Wilbur?“, platzte Goldstein heraus. „Ich meine, eine solche Expedition ist doch sehr kostspielig – “

„Und wahrscheinlich auch zeitaufwändig“, ergänzte der Earl. „Aber du weißt ja, dass Kosten für mich kaum eine Rolle spielen. Und auch wenn Zeit Geld ist, kommt es auf ein paar Tage mehr oder weniger auch nicht an.“

Doctor MacAlistair ergriff das Wort: „Aber wie kommen Sie gerade auf uns, my Lord? Wie soll denn beispielsweise ausgerechnet ein Biologe und Chemiker auf einer solchen Expedition von Nutzen sein?“ MacAlistair musste an seine Versuche und Experimente denken, die es ihm nicht erlaubten, London für längere Zeit zu verlassen.

Lord Eavesfield nickte ihm zu. „Dafür habe ich mehrere Gründe. Ich weiß zum Beispiel, dass Sie auch auf dem Gebiet der Medizin bewandert sind und das kann sich in Notfällen als sehr günstig erweisen. Aber nun werden Sie einwenden, dass ich unter diesem Gesichtspunkt auch einfach einen Arzt hätte einladen können. Was aber das Artefakt angeht, so ist davon auszugehen, dass es aus einem sehr alten und empfindlichen Material besteht, das unbedingt richtig behandelt und konserviert werden muss, damit es nicht einfach zu Staub zerfällt, wenn es ausgegraben wird. Ich muss gestehen, dass keine Quellen darüber bekannt sind, aus welchem Material das Artefakt eigentlich geschaffen wurde. Aus diesem Grund erscheint es mir sinnvoll, einen Wissenschaftler an Bord zu haben, der auch auf den Gebieten der Biologie und der Chemie bewandert ist.“

MacAlistair nickte langsam, doch er hatte noch einen Einwand vorzubringen: „Aber niemand von uns ist Archäologe, und das wäre doch das passende Fachgebiet.“

„Ich habe auch einen Archäologen eingeladen, an der Expedition teilzunehmen. Sein Name ist Ian Huntington. Er arbeitet zur Zeit in Kairo. Von dort wird er zu Ihnen stoßen und Sie – sofern Sie mit dabei sind – auf der Expedition mit seinen Fachkenntnissen unterstützen. Er ist Spezialist für das Antike Ägypten und spricht fließend Arabisch.“

„Ich habe übrigens vor einigen Jahren sechs Monate lang bei einer archäologischen Ausgrabung in Ägypten assistiert”, warf Miss Hawthorne ein.

Lord Eavesfield lächelte. „Das ist mir bekannt. Ihr Onkel David hatte nur lobende Worte für Ihre Arbeit dort übrig. Ich habe ihn vor einiger Zeit auf einem Kongress der Königlichen Gesellschaft kennengelernt.“

„Aber ich bin keine Archäologin, sondern Laie auf diesem Gebiet.”

„Nun, wie ich ja bereits sagte, kann ich nicht selbst mitreisen. Ich wünsche mir allerdings einen detaillierten Reisebericht, am besten auch mit Illustrationen und wenn möglich Photographien, damit diese Expedition für die Nachwelt festgehalten werden kann. Und deshalb habe ich mir überlegt, dass eine Journalistin dieser Aufgabe sicherlich am besten gewachsen ist. Ihr Onkel sagte mir auch, Sie beherrschen die Kunst der Photographie.”

„Das ist richtig, ja. Ich habe auch bei seiner Ausgrabung einige Photographien gemacht. Und ein wenig Zeichnen kann ich auch.”

„Hervorragend”, Der Earl lächelte erfreut. „Ich werde Ihnen genügend Geld zur Verfügung stellen, dass Sie sich entsprechend ausrüsten können.”

„Das klingt gut. Sagen Sie, woher kennen Sie eigentlich diesen Mister Huntington?“, fragte Miss Hawthorne.

„Huntington ist mit Ihrem Onkel bekannt. Er hat bei ihm in Cambridge studiert und mit Auszeichnung abgeschlossen. Und Ihr Onkel hat mir sowohl Sie als auch Mister Huntington gewissermaßen empfohlen. Er selbst hat im Moment keine Zeit, aufgrund seiner Vorlesungen an der Universität. Übrigens befindet sich das Artefakt gar nicht mehr in Ägypten, sondern im Sudan, also dem Nachbarland. Ich verfüge über eine mit hoher Wahrscheinlichkeit authentische Quelle, die besagt, dass es in einem Krieg mit diesem Nachbarland verschleppt wurde, schon in der Antike.“

„Was ist es denn eigentlich, dieses Artefakt?“, fragte der Sergeant nun. „Ist es eine Statue, eine alte Waffe, ein Grabstein oder etwas anderes?“

„Ich wünschte, ich wüsste eine Antwort darauf.” Die Augen des Earls wurden einen Moment lang schmal, als er weitersprach. „Das Artefakt wird der Stern des Seth genannt.” Sein Gesichtsausdruck entspannte sich wieder, er hob die Hände in einer Geste der Ratlosigkeit. „Aber es gibt keine Abbildung davon und auch keine genaue Beschreibung. Es könnte alles Mögliche sein. Vielleicht ist es auch einfach ein sternförmiger Gegenstand.“

„Dann habe ich dazu eine Frage: Wie sollen wir ihn denn finden, wenn wir gar nicht wissen, wie er aussieht?“, meinte Doctor MacAlistair. Was ist das für ein verworrener Auftrag?

Lord Eavesfield sah ihn einen Moment lang nachdenklich an, ehe er antwortete. „Der Stern des Seth ist ein sagenumwobenes Artefakt. Man könnte ihn eine Art Stein der Weisen der Archäologie nennen, denn schon viele Altertumsforscher haben versucht, ihn zu finden und sein Rätsel zu lösen. Bisher vergeblich. Doch zu Ihrer Frage: Es geht weniger darum, wonach Sie suchen sollten, sondern wo. Ich habe Hinweise auf den Ort, an welchem er versteckt wurde. Und mit Sicherheit ist der Stern des Seth etwas Imposantes, also ein relativ großer Gegenstand.“

„Zeigen Sie uns doch bitte mal Ihre Quellen, my Lord“, bat die Dame.

„Sicher, hier sind sie.“ Er klappte eine Dokumentenmappe auf, die auf dem Tisch lag, und förderte einige lose Blätter zutage. Es handelte sich offenbar um Abschriften antiker Schriftstücke, denn das Papier war neu.

„Ich werde Ihnen die Übersetzungen der Originaltexte vorlesen“, erklärte der Earl. „Ich fange an mit dem Text der Hieroglyphen: Es heißt, der mächtige Seth selbst habe den Stern angefertigt. Und in seinem Inneren glühte eine mächtige Kraft von nie dagewesener Größe.”

 

Bei diesen Worten ließ der Earl seinen Blick durch die Runde seiner Zuhörer schweifen. Beinahe ... beifallsheischend.Seltsam, überlegte MacAlistair.

 

Der Earl fuhr fort. „Wunderbar war der Stern des Seth und sein Glanz erfüllte jeden, der seiner gewahr wurde, mit Freude und Dankbarkeit. Man sagt, jeder, der den Stern sah, war fortan ein treuer Diener des Herrschers. Der Pharao Amenemhet II. ließ so manche Parade veranstalten. Dabei wurde der Stern des Seth unter die Gläubigen gebracht. Doch im 12. Jahr seiner Regentschaft, als der Pharao Krieg führte gegen die Nubier, da nahm er den Stern des Seth mit sich, auf dass dessen göttliche Macht dem Pharao und seiner Armee Glück bringe.“

Lord Eavesfield hielt kurz inne und erklärte: „Nubien war der damalige Name für den heutigen Sudan.“

Er las weiter. „Doch die Götter waren dem Pharao nicht wohl gesonnen, denn er kam beinahe um in der Schlacht vor der Stadt Napata, und der Stern des Seth ward gestohlen. Und so verschwand der Stern des Seth im Land Nubien.“

Nachdem er geendet hatte, herrschte einen Moment lang Schweigen im Salon. Dann ergriff Wright das Wort: „Schön und gut, my Lord, aber nehmen wir mal an, wir finden dieses Artefakt tatsächlich und kommen auch nicht um dabei – wie sieht es denn mit den Besitzrechten aus? Ich meine, sowohl die Britische Krone als auch die osmanische Regierung des Sudans, die Turkiyah, könnten hier ihren Besitzanspruch anmelden.“

Lord Eavesfield lächelte. „Nun, da ich beabsichtige, den Stern des Seth der Königlichen Gesellschaft für Antiquitäten und Archäologie zur Verfügung zu stellen, übergebe ich ihn ja gewissermaßen der Krone, damit dürfte diese Frage geklärt sein. Natürlich werde ich Ihnen diesbezüglich ein Schreiben mitgeben, das die britischen Beamten im Sudan von meinen Absichten unterrichten wird. Und Sie alle müssen unbedingt dafür sorgen, dass der Stern nicht in die Hände der Mahdisten oder der osmanischen Regierung fällt.“ Er blickte Wright an. „Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum meine Wahl auf Sie gefallen ist. Weil Sie sich zumindest teilweise im Sudan auskennen und wissen, dass mit den Anhängern des Mahdi nicht zu spaßen ist.“

Der Veteran deutete auf seine Armprothese. „Und wie sind Sie auf mich persönlich gekommen, my Lord?“

„Ganz einfach, Sie wurden mir empfohlen von Colonel Arthur Briggs. Er hat Sie im Kampfeinsatz im Sudan gesehen und Ihre Tüchtigkeit und Tapferkeit lobend erwähnt.”

„Ich habe nur meine Pflicht getan“, erwiderte Wright achselzuckend.

„Das ist keine Selbstverständlichkeit, Sergeant Wright“, widersprach ihm der Earl. „Colonel Briggs erwähnte außerdem, dass Sie durch Ihre Verwundung vom Militärdienst vorerst freigestellt wurden, aber liebend gern in den aktiven Dienst zurückkehren würden. Was hoffentlich auch irgendwann dank dieser Prothese möglich sein wird. Durch meinen Auftrag hätten Sie die Möglichkeit, Ihre militärischen Fähigkeiten in einem anderen Zusammenhang einsetzen zu können. Denn da diese Expedition in einem gefährlichen Gebiet stattfinden wird, brauchen die Teilnehmer auch einen ... Beschützer.“

„Sie hätten doch einfach ein paar Söldner anheuern können, my Lord“, entgegnete Wright.

„Nun, ich habe darüber tatsächlich nachgedacht. Aber erstens sind mir keine Söldner bekannt, die im Sudan gewesen sind, und zweitens wollte ich die Expeditionsgruppe so klein wie möglich halten, damit sie weniger... auffallend ist.“

„Also, nichts für ungut, aber in Nordafrika ist ein Weißer mit einer Armprothese doch schon ziemlich auffallend, finde ich“, sagte MacAlistair.

Lord Eavesfield schüttelte den Kopf. „Nicht, wenn Sie sich tarnen. Das werden Sie ohnehin alle tun müssen, bei all den Aufständischen im Land. Mister Huntington meinte, es wäre gut, wenn alle Expeditionsteilnehmer einheimische Trachten tragen – die mit ihren weiten langen Ärmeln auch eine Prothese sehr gut verbergen können, zumindest aus der Ferne. Und ich bin mir sicher, Doctor MacAlistair findet mit seinen Kenntnissen der Chemie eine Möglichkeit, wie Sie sich für die Dauer Ihres Aufenthaltes in Afrika die Haut dunkler färben können.“

„Dermatologie ist zwar nicht mein Fachgebiet“, antwortete MacAlistair, „aber ich werde schauen, was sich da machen lässt. Man kann ja auch mit manchen Pflanzen erstaunliche Färbungen erzielen. Vielleicht wäre hier Walnussextrakt die richtige Wahl, oder indisches Henna...“

Goldstein warf ein: „In meinem Fall wird das nicht nötig sein. Drei Tage in der Sonne und ich bin braungebrannt wie ein Landwirt.“

„Sagen Sie, my Lord, Sie sprachen vorhin von einer Belohnung, die wir alle bei Erfolg der... Mission erhalten”, sagte Wright. „An welche Größenordnung hatten Sie denn dabei gedacht?“

„Nun, ich dachte an einhundert Pfund für jeden von Ihnen.

---ENDE DER LESEPROBE---