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Der interessierte Leser ist dazu eingeladen eine Geigerin zwei Monate lang auf ihrem Lebenswege zu begleiten und an ihren Erlebnissen und Gedanken zu nippen. Eine Real-Doku.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 187
Meinem lieben Onkel Hartmut zu seinem 75. Geburtstag
Franziska (Kika) mit ihrer Violine – fotografiert von ihrer lieben Freundin Ute Bott aus Rottweil.
„Wenn ich dereinst verstorben bin, so schweigt auch meine Violine!“ so denkt sie.
Und drum bringt Franziska alle vier Wochen ein schlankes bis vollschlankes Taschenbuch heraus.
Erzählt werden Geschichten aus ihrem Leben, die von erhöhtem Interesse sein dürften.
Jeden vierten Dienstag um 18.05 wird das fertige Manuskript in die Umlaufbahn entsandt.
Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis Hier die engste Familie vorweg:
Opa, (*1909) Opa mütterlicherseits
Oma Ella (*1913) Omi väterlicherseits
Buz, mein Papa (*1938)
Rehlein, meine Mutter (*1939)
Ming, mein Bruder (*1964)
Vorwissen:
Das Jahr 2001 schreitet weiter voran. Im März macht sich Franziska als Haushälterin für ihren Papa Buz, dem großen Geiger und Pädagogen mit seiner magischen Sogwirkung auf Frauen, nutz..
Im April reisen Rehlein und Buz nach Bad Tatzmannsdorf um eine Woche lang Urlaub in den Thermen zu machen. Franziska hat sich erboten, derweil auf den greisen Opa – den Dichter Pannonius – aufzupassen
März 2001
Donnerstag, 1. März
Freitag, 2. März
Samstag, 3. März
Sonntag, 4. März
Montag, 5. März
Dienstag, 6. März
Mittwoch, 7. März
Donnerstag, 8. März
Freitag, 9. März
Samstag, 10. März
Sonntag, 11. März
Montag, 12. März
Dienstag, 13. März
Mittwoch, 14. März
Donnerstag, 15. März
Freitag, 16. März
Samstag, 17. März
Sonntag, 18. März
Montag, 19. März
Dienstag, 20. März
Mittwoch, 21. März
Donnerstag, 22. März
Freitag, 23. März
Samstag, 24. März
Sonntag, 25. März
Montag, 26. März
Dienstag, 27. März
Mittwoch, 28. März
Donnerstag, 29. März
Freitag, 30. März
Samstag, 31. März
April 2001
Sonntag, 1. April
Montag, 2. April
Dienstag, 3. April
Mittwoch, 4. April
Sonntag, 8. April
Montag, 9. April
Dienstag, 10. April
Mittwoch, 11. April
Donnerstag, 12. April
Freitag, 13. April
Samstag, 14. April
Sonntag, 15. April
Montag, 16. April
Dienstag, 17. April
Mittwoch, 18. April
Donnerstag, 19. April
Freitag, 20. April
Samstag, 21. April
Sonntag, 22. April
Dienstag, 24. April
Mittwoch, 25. April
Donnerstag, 26. April
Freitag, 27. April
Samstag, 28. April
Sonntag, 29. April
Montag, 30. April
Personenverzeichnis
Aurich / Ostfriesland
Sonnig bis bewölkt
Am Morgen übte ich so klug ich nur konnte an Bachs d-moll Partita herum.
Buz nächtigte im Zimmer unter mir, und durch seine Ohren mitverfolgt schien es mir, als würde meinen Argusohren nicht das geringste Detail dieses überkritisch unzufriedenen Übens entgehen.
Man beharkt das Werk mit Skepsis, plättet die Phrasen, um jeglich falschen Zungenschlag zu eliminieren, und zu diesen Gedanken sah ich, wie sich die Stephanie, das Fräulein aus dem spekulatiusartigen Doppelhaus von gegenüber wie allmorgendlich ins Auto zwängte, um zur Arbeit zu fahren.
Als sie sich meinen Blicken wieder entsogen hatte, dachte über das Violinspiel von Anne-Sophie Mutter nach. Gestern hatte man im Radio den letzten Satz von Beethovens G-Dur Trio gesendet, und an vereinzelten Stellen schwappt ihr ansonsten hervorragend und durchaus leidenschaftlich-sinnliche Spiel ins schweizerisch-Aggressive ab, und dies scheint mir doch nicht so ganz zu Beethoven zu passen, der womöglich eher ein Typ wie Buz gewesen sein dürfte, zumal er auf manch einem Bild den Ausdruck eines zornigen Wickelkindes auf dem Gesichte trägt, wie Ingmar Bergman so treffend beschrieben hatte.
Buz lag noch ofenwarm im Bett.
„Schlaf ruhig weiter, du süßer Schatz!“ sagte ich warm, - grad so als habe ich die Schirmherrschaft über die Gestaltung von Buzens weiterem Lebensweg übernommen.
Am Vormittag blieb ich sehr lange aushäusig, weil die Zeit die ich mitgenommen hatte so schnell dahinrieselte.
„Mit jeder verronnenen Minute, wird es schwieriger, überhaupt wieder nach Hause zu gehen!“ wärmte ich mir im Geiste bereits Worte für Frau Saathoff auf, die als Teegast bei uns erwartet wurde.
Es handelt sich bei ihr um die pensionierte Sekretärin der Musikschule, die sich erboten hatte, sich ehrenamtlich um Buzens Büroangelegenheiten zu kümmern.
Am Kiosk studierte ich wie alle Tage interessiert die Überschriften.
Ein Thema unserer Tage schien einzuschlagen wie ein Blitz: Zwischen Boris & Sabrina sei es aus, und der Boris fühle sich – laut BILD - wieder zu seiner Exe „Babs“ hingezogen!
Seitdem er ihre warmherzigen Interviews gelesen hat, liebt er sie wieder leicht, und die Sabrina an seiner Seite verkümmerte in seinen Blicken immer mehr zu einem Blödchen, das im Grunde nicht so recht zu ihm passen will.
Und vielleicht hat ja auch Mutter Elvira ein Wörtchen mitzureden?...(frug sich das Blatt.)
Daheim wartete Frau Saathoff.
Buz hatte sein Bett gemacht, sein Zimmer gelüftet, auf daß es seine neue Privatsekretärin schön habe, und Tee gekocht.
Ich erfuhr, daß Frau Saathoff jetzt eigentlich „Frau Friese“ heißt, denn von ihrem Mann „Saathoff“, dem Sportlehrer, ist sie bereits seit 35 Jahren geschieden, und darüber hinaus ist er außerdem auch schon gestorben.
80 Jahre wurde er alt, und in die dichtgewobenen Teegespräche zwischen Buz und Frau Saathoff hätte ich so gerne einiges, vielleicht nicht ganz Passendes hineingestreut. Zum Beispiel: “Ich bin traurig, daß Herr Saathoff gestorben ist!“ (Wo er doch einmal mein Lehrer gewesen ist.) Wohlwissend, daß diese wenig ergiebige Aussage von einer gesunden Unwirsche beiseite gewischt würde.
Der Saathoff war nur eine Episode in Frau Saathoffs Leben. Eine Episode, die zudem längst abgeschlossen ist.
Doch will man eine Sache sagen, so wird sie von einer anderen Aussage überlappt, die auch ausgesprochen werden will.
Die Geschichten waren weitergezogen, um nun vor der zerrupften Familie Berke Halt zu machen. Buz scherzte, daß Frau Berke ihrer Art gemäß jetzt wahrscheinlich überall herumposaunen würde, sie sei an BSE erkrankt.
„Zumindest ihr großer Zeh ist davon betroffen!“ spaßte Buz auf seine bezaubernde Art.
Hahaha! Hier an dieser Stelle lachte man laut und erheitert.
Man erinnerte sich an heitere, aber auch weniger heitere Episoden. Z.B., daß Frau Berke eine andere Dame mit Namen „Frau Wylenzek“ auf einer Feier einmal völlig ignoriert habe, und dabei hat Frau Wylenzek ihr, als sie einmal krank war, ein Süppchen gekocht, selbiges durch einen Schneesumpf zu ihrem Hause hingetragen, und war dabei durch Spitzenstores beobachtet worden.
Und einmal vergaß die Großfamilie Berke die Meerschweinchen im Keller, und flog in die Ferien! Etwas, was einem erst einfiel, als man bereits unumkehrbar über den Wolken schwebte.
„Man könnte das Generalproblem dieser Welt auf einen Nenner bringen: Die Tage sind zu kurz für die jungen Leute, und für die Senioren sind sie zu lang!“ bemerkte ich.
Hernach verlor man sich in medizinischen Horrorgeschichten.
Ein jeder von uns dreien sprach gern darüber, und doch hatte man dabei ein undefinierbar schlechtes Gewissen, daß man solch unerquickliche Themen ausdappt, und Frau Saathoff rief gar zwiefach aus: “Was wir für Themen haben!“
Es ging um Zahnproblematiken – bis hin zu dem schrecklichen Tag in Herrn Berkes Leben, an dem ihm sämtliche Zähne gezogen wurden. Ein bodenständiger ostfriesischer Buschzahnarzt hatte zu diesem radikalen Schritt geraten.
Einmal lieh Frau Saathoff Herrn Berke zehntausend Mark. Die brauchte er dringend, da er sich die an anderer Stelle gepumpt hatte, und der Bepumpte auf Rückgabe drängte.
Doch Frau Saathoff bekam alles auf Heller und Pfennig wieder zurück.
Leider strengt mich die Freizeitgestaltung fast am meisten an. Ich saß so da, knabberte an der Zeitung, und schaute gleichzeitig einen Film über Senta Berger, deren Frisur (zart luftig) mir gefiel. Dann schrieb ich an Mings Sommerromanze weiter, die ich ihm zum Geburtstag schenken will.
Ich stellte mir vor, wie Boris Becker deswegen mit der Sabrina Schluß gemacht hat, weil seine Mutter das so wollte.
Abends kommt er, nach außen hin ein wenig gestreßt, in Leimen an.
„Übrigens, Mutter“ sagt er betont beiläufig, da das Thema für ihn abgeschlossen ist. „Ich habe Schluß gemacht. Du hattest recht: Ein dummes Ding. Sprechen wir nicht mehr darüber.“
Der Presse gegenüber erklärt Boris mit der größten Selbstverständlichkeit:
“Schöne Mädchen gibt´s wie Sand am Meer. Aber man hat nur eine Mutter. Sie ist mir einfach wichtiger…“
Ich sprach eine höchst international anzuhörende Ansage auf unseren Anrufsbeantworter. Mit starkem deutschen Akzent, der sich jedoch höchst angestrengt dem amerikanisch-Geölten entgegenreckte, sagte ich: “The König-familiy greets Lothar Schneider and all the other callers…“
*Lothar Schneider: ein schwäbischer, unerschrockener Herr, der dreimal angerufen hatte, um sich für unseren „Musikalischen Sommer“ zu empfehlen
Zum Schluß sprach Buz nach langer Ziererei eine Ansage auf rheinisch auf, und davon wurde er lustig und übermütig und machte gleich noch eine.
Leichtes Geschnei. Dann Duplicatus-Bewölkung. Mittags leuchtete kurz die Sonne auf
Beim Gang durch die Glupe, einer Seitenstraße der Graf-Enno Straße. Ich hatte mir Lakritz-Dragées für den Heimmarsch gekauft, und lutschte eines nach dem anderen, während ich mich schon auf Buzen vorfreute.
Daheim gab ich mich meinem neuen Hobby hin: Eine Bekanntschaftsliste für meine Leser anzufertigen, denn ich tät mich ja bedanken, wenn ich beispielsweise Tagebuchblätter von Onkel Dölein zugesandt bekäme, auf welchen es vor lauter unbekannten „Ron“s und „James“s nur so wimmelte?
Höre ich einen amerikanischen Herrennamen, so leuchtet augenblicklich die Barbiepuppe „Kent“ in meinem Inneren auf.
Unzählige Bekannte kommen allein in jenen zehn Tagen zwischen dem 5. und 15. August 2000 vor, und in meiner Fantasie hatte ich sie alle viel lustiger beschrieben, als sie jetzt so auf dem Papiere standen, - an stümperhaft ausgeschnittene Papierfiguren eines mäßig begabten Kindergartenkindes erinnernd.
Bei der Arbeit fühlte ich mich sekretärinnenhaft an.
Hinzu schob sich nun auch noch der leise Riegel des Zweifels drüber, der womöglich aus einer gewissen Verlegenheit heraus resultierte, Onkel Dölein könne denken: „Ja, wer soll denn dies um Himmels Willen alles lesen?“
Neben dem Computer lag ein Buch mit dem Titel „Erotikgeschichten mit Biß“ und als ich Buzen verwundert darauf ansprach, stürzte es ihn in leichte Verlegenheit.
Buz verrenkte sich verbal, und meinte, es gehöre nicht ihm, sei ein befremdliches Geschenk einer Dame und läge schon ganz lange hier.
„Aber wenn es ein Geschenk war, so gehört es juristisch gesehen ja doch Dir!“ wunderte ich mich.
Wer ihm solch pikante Geschichten allerdings geschenkt haben soll – daran vermochte Buz sich nicht zu erinnern.
Wie eine erfahrene Kriminalbeamtin schlug ich das Buch auf und bemerkte fachkundig, daß es erst vor kurzem erschienen ist.
Buz wurde lustig, lenkte gekonnt vom Thema ab, und unter freudigem Gelächter, - an einen süßen Sechsjährigen mit Milchzähnchen erinnernd - erzählte er, wie er sich in der letzten Prüfung absichtlich ganz dumm gestellt habe.
„Die Etüde hat mir aber nicht gefallen!“ habe er gesagt, und dabei handelte es sich um die erste Bach Suite, schülerhaft dargeboten, die ihm somit wie eine Etüde ins Ohr gekrochen war!
Ich erzählte Buz von der kleinen Edith, die immer so ein Vergnügen dabei empfindet, durch einen Strohhalm in ein gefülltes Glas hineinzupusten, so daß es blubbert.
Eine Freude, gegen welche die meisten Erwachsenen schon leicht abgestumpft sind.
Dann sprach ich noch das an, was ein bißchen in der Luft liegt: Daß Frau Saathoff eventuell von einem späten Glück an der Seite Buzens träumt?
„Ein sehr spätes Glück!“ bemerkte Buz gleichmütig, und bezog das „sehr“ zu 100% auf Frau Saathoff, die allerdings immerhin dreieinhalb Jahre älter ist, als Buz.
Am Nachmittag besuchten wir das Zentral-Café.
Wir bedienten uns am Illustriertenstapel, und im völlig leeren Caféhaus-Ashram mit den schönen Lämpchen an den Tischen schlug ich frei von wertendem Beiklange vor, uns an verschiedene Tische zu setzen, weil wir uns auseinandergelebt hätten.
Doch dann saßen wir doch an einem Tisch, und der Kaffee schmeckte einfach abscheulich.
Buz las mit tiefstem Ernst und gerunzelter Stirn in den Illustrierten, während ich sie alle ganz schnell durchblätterte, und Schmähworte gegen die „Bunte“ mit ihren ganzen Banalitäten von mir gab.
Buz und ich sind beide anonyme Journaloholiker (je von der Omi geerbt), und nun saßen wir uns mit unseren Illustrierten gegenüber, und gaben Dinge von uns wie: „Daß erwachsene Menschen solch einen Unsinn lesen können?? Dies verwundert nun doch!
Ich könnte das nie…“
Doch was, wenn die freudlose Bedienerin, die immer wie ein Geist dort herumschwebt und keine Ungereimtheiten vertragen kann, an unseren Tisch tritt und sagt:
“Darf ich mich da ejm woul mal einmischen? Sie sitzen doch ganze Nachmittage hier und lesen! Und Sie auch!“
Und unser guter Ruf voreinander stürzt wie ein Kartenhaus in sich zusammen!
Am Abend stieg ich in mein schönes rotes Kostüm, sprach die ganze Zeit übermütig, und hinzu friesisch getönt auf Buzen ein, und benützte gar jene Worte, die mir ein friesischer Konzertbesucher im Sommer fragend in den Mund gelegt hatte. Er wollte wissen, ob es wohl mal passieren könne, daß ich Worte wie diese von mir gäbe: “Vaddah! Das hättest du woul besser machen können!“
Und genau diese Worte sagte ich nun voll Übermut auf, und schon war´s passiert. Tatsächlich: Es kann vorkommen, daß ich dererlei zu Buzen sage.
Gemeinsam reisten wir zu einem Konzert in der „Villa Basse“ nach Leer.
Es hieß, es spiele ein Geiger namens „Mann“ und ich assoziierte konzertgemäß einen jungen, noch unfertigen Künstler.
Doch es kam anders.
Den ganzen Abend über fühlte ich mich so, als sei ich Buzens Ehefrau.
Besonders entzückend fand ich Frau Brinkhaus, 70 Jahre jung, am Klavier, eine plattdeutsche Variation von meiner lieben Freundin Frau Picker in Linz.
Zuerst spielte der Nick auf seinem Cello die Variationen „Bei Männern welche Liebe fühlen“ und Buz raunte mir auf chinesisch zu:
“Ur hön tao yenn nö gö Tschüüü ds!“ („Ich hasse dieses Werk“)
Danach raschelte es ein bißchen, und auf der Bühne hatte sich ein Geiger aufgestellt. Ein uraltes Männlein, erinnernd an jenes aus dem Loriot-Sketsch in der Badewanne.
Von Buzen auf Mitte 80 geschätzt, musizierte er vom Publikum leicht abgewandt die Kreutzer-Sonate, und da es sich leider um einen Hobbygeiger handelte, der hinzu sehr dilettantisch spielte, mußten sich die Leute die ganze Zeit das Lachen verbeißen. Und während ich so da saß, und all dem lauschte, malte mir aus, wie´s wohl so ist, wenn Buz in 15 Jahren, 77-jährig ebenfalls die Kreutzer-Sonate spielt? Begleitet vom Tone am Klavier, und ich blättere um?
Denn heut blätterte der Tone. Heute noch der Blätterer, morgen bereits der Interpret.
In der Pause küßte und beschmuste ich mich so herzlich mit Tone und Nick, und nach der Pause spielte der Nick mit Frau Brinkhaus Brahms´ F-Dur Sonate.
Vom Nick sind zumindest die Damen alle hin und weg.
Entzückensgemurmel aus dem Publikum, und demzufolge wurden zwei Zugaben geboten.
Währenddessen versuchte Buz sich die Zeit damit zu vertreiben, ein zusammengerolltes Marzipanpapierchen durch eine Öffnung zu werfen, und fast hätte er dabei Frau Basse, die Gastgeberin, die ihren Kopf nach einer kurzen Flüsterei mit einer Dame wieder zurückbog, am Kopf getroffen. Nein, dies wäre ein dummer Scherz gewesen.
Nach dem Konzert:
Eine gelöste Stimmung breitete sich aus. Ehrenamtliche Mitarbeiter kredenzten Sekt, und Buz befreundete sich mit dem 77-jährigen Geiger Herrn Dr. Harald Mann, und beplauderte ihn den ganzen Abend über sehr vergnügt.
Und während die Herren lachend plauderten, frug mich Frau Basse, ob sich mein Papa wohl über ein Stückchen Kuchen freuen würde?
„Der ißt immer nur Hälften!“ verriet ich, und so brachte sie ihm eben ein halbes Kuchenstück.
Ich saß neben Frau Brinkhaus, und Frau Brinkhaus erzählte, daß sie sich gerne Melodramen anschaut, und sich dann freut, unverheiratet geblieben zu sein. (Genau wie ich)
Dünne weiße Wolkendecke. Schnieselnd, bleich
Heute schöpfte ich fast gierig, wie mit der Kelle, Schlaf nach, und erinnerte mich dabei ein wenig an Frau Brinkhaus, die – begierig danach, ein anerkanntes Mitglied der musizierenden Bevölkerung in Ostfriesland zu sein – mit der Kelle Notenansammlungen von Beethoven und Brahms in ihren Kopf hineinschöpft.
Dann erhob ich mich.
Buz freute sich auf einen Frühstücksgast vor:
Den Nick, der für Buz ja schließlich fast so etwas wie ein Sohn ist, den er ein paar Jahre lang an seinem künstlerischen Busen genährt hat.
(Bildlich gesprochen.)
Der Nick kam auch fast augenblicklich, nachdem Buz höchst motiviert zum Brötchenkauf entschwunden war.
Wie alle Tage trug der Mann, der derzeit, oder auch allzeit nichts rechtes verdient – da die meisten Cellisten „kleine Brötchen backen“ müssen – wenigstens einen schicken Hut. Nach Art eines Bräutigam einen gechmackvollen Hochglanz-Zylinder.
Ich öffnete in einer leicht öligen Röllchenfrisur die Tür, und aus einer gespielten Verlegenheit heraus zog ich meinen Pullover über den Kopf, und der Nick wiederum setzte seinen Zylinder drauf, so daß ich wie ein Gespenst ausschaute.
Da kehrte Buz mit der Brötchentüte zurück, und wir setzten uns zu einem behaglichen Frühstück zu Tische.
Der Geiger gestern habe ihn an Einstein erinnert, begann Buz die Frühstückskonversation, und fügte ein köstliches Anekdötchen an: Ein Komiker mußte zu Einsteins Darbietung auf der Violine so lachen! Einstein hörte auf und sagte: „Bitte lachen Sie doch nicht. Ich lache doch auch nicht über ihre Darbietungen!“
Der Nick ist gezwungen bei seiner Schwiegermutter zu logieren, doch dort fühlt er sich unwohl und hinzu gänzlich fehl am Platze.
Und nun habe er sich dort schon bald zum Mittagessen einzufinden, das grad wie in einem Altenheim viel zu früh aufgetragen wird: Schon um kurz nach elf!
Als der Nick sich empfehlen wollte, dachten wir uns ein Späßle aus:
„Sag der Schwiemu, daß ein Gentest ergeben habe, daß Du gar nicht ihr echter Schwiegersohn bist, und demnach auch nicht zum Mittagsessen zu erscheinen hast.“
Der Nick verließ die Frühstückstafel, und entschwand auf unbestimmte Zeit unserem Leben, während Heidi Abel zur Violinstunde „stramm stand“.
Mir selber war freie Hand in der Lebensgestaltung gegeben, die ich natürlich unter der Bannglocke dessen abhielt, daß Buzens neuer väterlicher Freund, Herr Schüt, am Abend stilgerecht bewirtet werden mußte. Hierzu rief ich Rehlein an, um einen Rat zu erbitten, was man dem alten Herrn wohl vorsetzen könne, und bei diesem Telefonat fühlte ich mich dem aufmerksamen Rehlein so nah!
Rehlein dachte aktiv und intensiv für mich, daß man ihm Krautfleckerln zubereiten könne, und diktierte mir aufs liebevollste das raffinierte Rezept.
Doch nicht genug damit: Später faxte Rehlein es mir auch noch zu!
Ich verließ das Haus um meine Einkäufe zu erledigen, und brachte meiner Sekretärin Frau Münch eine satte Provision von 86 Mark.
Viel ist´s ja nicht, doch es reicht vorerst, um sich einen bunten Hut mit einer Feder drauf zu kaufen, und auf´s Haupt zu stülpen, - damit auf den Jahrmarkt zu gehen und ein paarmal im Karussell mitzurotieren. Und wer weiß, was sich daraus noch erwüchse?
Als ich zur Mittagsstund´ von meinen anstrengenden Einkäufen zurückkehrte, war der süßeste Buz so warm zu mir.
Es erhellte Buzens Gemüt, daß er für das bißchen Unterrichterei 350 Mark bekommen hatte, und zum Abendessen wünschte sich der warmgestimmte Buz etwas Fleischliches.
Ich hatte das Gefühl, daß sich der bezaubernde Buz unbändig auf Herrn Schüt vorfreute.
Ich erzählte Buzen, daß Herr Schüt kein Fleisch äße, um gleich hintangeschmiegt an diese Worte das Gegenteil dessen zu berichten: Daß Herr Schüt nämlich am morgigen Sonntag bei seiner Tochter zum Sonntagsbraten erwartet würde.
Herr Schüt am Telefon hatte gesagt: „Ich esse ja eigentlich nie Fleisch. Aber bei meiner Tochter da muß ich woul!“
Und seine Tochter Jutta meint wiederum: „Wir essen ja sonst kein Fleisch, aber wenn Vater kommt, dann muß ich ja schon etwas Deftiges auf den Tisch bringen!“
Gewissenhaft übte ich am Nachmittag Bach´s h-moll Partita, doch mein Üben war nicht von Dauer.
Dann kochte ich los.
Zum Schluß half mir der süße Buz, indem er den Kohl klein schnitt.
Plötzlich verkokelte die Rote Beete, die den ganzen Nachmittag auf dem Herd so vor sich hingeköchelt hatte. Das Wasser war aufgebraucht, und Rehleins schöner Topf war ganz schwarz geworden.
Dann verbrannte ich mir auch noch zwei Finger meiner Geigenhand.
Dies alles geschah, kurz bevor Herr Schüt kam, und dann war er auch schon da.
Mit schönen Blumen, so jedoch ohne seine Kusine Erika, auf die wir doch schon freudig eingestimmt waren, zumal wir beide eine Schwäche für Frauen namens Erika haben.
Und dennoch entwob sich dem Tagesfortsatz ein sehr netter Abend.
Das Essen mundete allgemein, und Herr Schüt hatte ein Körbchen dabei, in das er u.a. viele Fotos seiner verstorbenen Frau Grete für uns eingepackt hatte.
Sie, die heute auf dem Friedhof den Einjährigen feiert, und die kennenzulernen uns leider nicht vergönnt war.
Nachdem die Fotos ausgiebigst bewundert worden waren, erzählte er uns von St. Petersburg, und berichtete, daß er abends Bücher zu lesen pflege, weil er ein Vergangenheitsbewältigungstrauma habe.
Das dritte Reich, die Hitlerzeit – all dies knabbert schmerzlichst in dem gefühlvollen Junggreisen. Themen und Erfahrungen verwoben sich, und Buz legte die erste Brahms-Symphonie unter Wilhelm Furtwängler auf, eine Aufnahme aus dem Kriege. Hernach sprachen die Herren über Goethe.
Buz vertrat die These, daß Goethe berühmt sei, obwohl ihn keiner liest, und in der Tat denkt ja fast ein Jeder im Laufe seines Lebens: „Ich müßte mal den Goethe lesen – aber nicht heut!“
In jedem ernstzunehmenden Bücherschrank steht das Gesamtwerk von Goethe, und die vereinzelten Bände scheinen auf interessierte Hände zu warten, von denen sie hervorgezogen und aufgeklappt werden. Wache Augen richten sich auf das Buchstabenbeet, das sich in pures Gold verwandeln möchte.
Der Alkohol hatte Herrn Schüt fröhlich und übermütig gestimmt, und so fuhr er nicht ohne ein gewisses Risiko mit dem Auto nach Hause, auch wenn ich ihn doch gern zum übernachten bzw. ausnüchtern eingeladen hätte.
Er und mit ihm sein weiteres Schicksal entwand sich unserem Leben in die Nacht hinaus.
Zunächst ganz schön. Dann lag eine gewisse, spillerig zart ausgeformte Blässe flächendeckend über der Schönheit
Wieder schlief ich so gierig und lang. (Im Grunde abstoßend!)
Dann erhob ich mich, um mit Buzen zu frühstücken. Dadurch, daß wir nun keine Puffergäste mehr hatten, kam gleich eine leichte Verlegenheit in jenem Sinne auf, daß man nicht weiß, was man so reden solle?
Buz fröstelte, und ich schlug vor, daß er doch mal in ein ganz fernes Land reisen könne? Z.B. nach Neuseeland? Buz müsse nur im Internet nachforschen: „Wer in Neuseeland möchte mit mir in Ostfriesland drei Monate lang das Haus tauschen?“
In Buzens verlockendem Angebot wäre hinzu noch eine nette Haushälterin inbegriffen – nämlich ich!
Spaziergang im Ihlower Forst.
Wir liefen durch ein Moorgebiet.
„Stell dir nur vor, du sänkest ein, und spürst ganz deutlich wie sich eine riesige Hand um Deine Knöchel krallt!“ versuchte ich Buz zu beschaudern, doch Buz hörte nicht groß auf mich.
„In Deutschland gibt es zirka 60 000 Frauen, die zu dir passen würden!“ philosophierte ich den schweigsam Dahinpromenierenden an.