Der Untergang Österreichs - Peter Ripota - E-Book

Der Untergang Österreichs E-Book

Peter Ripota

0,0

Beschreibung

Was wäre, wenn: - Die Perser Griechenland zerstört hätten? - Jesus begnadigt worden wäre? - Der Erste Weltkrieg nicht stattgefunden hätte? - Im Zweiten Weltkrieg Hitler der Sieger gewesen wäre? Nach seinem Buch über die persönlichen Auswirkungen von Zeitreisen in die Vergangenheit stellt der Wissenschaftsjournalist Peter Ripota hier die Frage nach den geschichtlichen Auswirkungen von Eingriffen in den (mehr oder minder) natürlichen Ablauf der Geschichte. Dabei werden auch Fragen geklärt wie: - Ist die Geschichte vorherbestimmt? - Kann man sie vorausberechnen? - Welchen Einfluss haben sogenannte Große Männer? Bei all den ernsthaften Überlegungen kommt die Entspannung nicht zu kurz: Ein paar satirische Zukunftsentwürfe (siehe Titel!) beschließen den Exkurs in alternative Welten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 251

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Vorwort

ALLGEMEINES

Was ist Geschichte? Daten gegen Muster

Wie verläuft Geschichte? Kosmos gegen Chaos

Wie kann man Geschichte vorausberechnen?

Der Gymnasiallehrer: Oswald Spengler

Der Science-Fiction-Visionär: Isaac Asimov

Der Formel-Manipulierer: Peter Turchin

Der Vereinfacher: Wilhelm Fucks

Der Planetenforscher: John Townley

Ein Gesetz der Psycho-Historik: Demokratie contra Diktatur

Welchen Einfluss haben Handlungen? Trends gegen Helden

Die Spielregeln

SPEZIELLES

Urknall ohne Regeln: Eine Welt ohne Leben

Erde ohne Mond: Die kosmische Kollision fand nicht statt

Saurius sapiens: Der Chicxulub-Komet verfehlt die Erde

Eva lässt sich nicht verführen: Menschen, Göttern gleich

Antike ohne Demokratie: Die Perser siegen bei Salamis

Alexus ante portas: Alexander zieht gegen Rom

Christentum ohne Christus: Weltreligion oder jüdische Sekte?

Jesus als Mensch

Religionsgemeinschaften der Juden

Die frühen Christen

Paulus

Christus wird begnadigt

Braucht das Christentum einen Märtyrer?

Jesus wird König der Juden

Der Kaiser von Amerika: China erobert die Welt

Die finstere Zeit: Die Spanier erobern England

Das sprachlose Land: Die Südstaaten gewinnen den amerikanischen Bürgerkrieg

Der Kaiser lächelt: Der Anschlag auf den Thronfolger misslingt

Der Kaiser ist tot: Der Anschlag auf den Kaiser gelingt

Hitler-Szenarien

Hitler stirbt 1930: Weimarer Verhältnisse

Hitler stirbt 1937: Würdigung eines großen Staatsmannes

Hitler wird verrückt: Ein Kinderlied macht's möglich

Hitler stirbt 1944: Sowjet-Deutschland oder Atomwüste?

Hitler triumphiert: Hätte er?

Sieg über Sowjetrussland: Die unterjochten Völker machen mit

Sieg über den Westen: Die deutsche Atombombe wird rechtzeitig fertig

Sieg über Eurasien: Die Nazis beherrschen die Alte Welt

Wie Europa geeinigt wurde: Putin als Friedensbringer

INTERESSANTES

Die Welt in hundert Jahren

Die Zeitmaschine: Ein Science-Fiction-Rätsel

AMÜSANTES

Der Untergang Österreichs

Die Verurteilung der Anna Maria Celesta

Als Österreich zu Bayern kam

Meine Zeit als Waffenträgerin

LITERATUR

Vorwort

In meinem Buch über Zeitreisen habe ich dargestellt, was Physiker und Literaten zu diesem Thema zu sagen haben. In diesem Buch wird das Thema spezialisiert: Es geht um historische Ereignisse, die auch anders hätten stattfinden können - mit weitreichenden Folgen. Solche Überlegungen zu alternativen Geschichtsverläufen werden zunehmend auch von ernsthaften Historikern durchgeführt. Denn: Geschichte verstehen, heißt: ihre inneren Ursachen, Dynamiken, Parameter und Verläufe zu kennen. So definiert auch Wikipedia "Geschichte":

Unter Geschichte versteht man im Allgemeinen diejenigen Aspekte der Vergangenheit, derer Menschen gedenken und die sie deuten, um sich über den Charakter zeitlichen Wandels und dessen Auswirkungen auf die eigene Gegenwart und Zukunft zu orientieren.

Und das geht am besten durch die Vorstellung von alternativen Entwicklungen.

Geschichte verstehen heißt aber auch: Entwicklungen, die ins Verderben führten, in Zukunft vermeiden. Da sich Geschichte nie wiederholt, lernen die wenigstens daraus. Immerhin, einmal haben Politiker vermieden, was sie in einer entscheidenden Phase der europäischen Geschichte falsch gemacht haben. Nach dem Ersten Weltkrieg, als Deutschland darnieder lag, hat man es noch getreten, gedemütigt, finanziell ausgeblutet, zerstört. Ergebnis: Hitler, ein noch viel schlimmerer Krieg. Nach Ende dieses Krieges erinnerten sich die Politiker tatsächlich an ihre Untaten und taten das Gegenteil: Deutschland wurde hochgepäppelt, seine Untaten mehr oder minder vergessen, seine Finanzen geordnet, sein Volk geachtet. So wurde nicht nur ein neuer Krieg vermieden, es wurde mit Deutschland auch ein Stabilitätsanker wirtschaftlicher und politischer Natur im Zentrum Europas geschaffen. Wie gesagt: Manchmal lernen auch Politiker.

Wie wichtig alternative Geschichtsentwürfe sein können, beschreibt Hans-Peter von Peschke in seinem Buch "Was wäre wenn". Da stellt er folgende Ereignisse vor, die offensichtlich nicht stattfanden:

Im Frühjahr 2015 hat die linksgerichtete SYRIZA unter Alexis Tsipras die Wahl mit dem Versprechen gewonnen, sich auf keinem Fall dem ,,Finanzdiktat“ der Gläubigerstaaten zu beugen. Kaum ist sie im Amt, ruft sie den Notstand aus, verbietet alle Geldflüsse ins Ausland, verstaatlicht alle Banken und führt eine neue Währung ein. Soldaten und Polizisten marschieren auf, um Unruhen im Keim zu ersticken. Streiks sind verboten, alle Mitglieder des öffentlichen Dienstes werden zu einer Art Miliz zwangsverpflichtet. Danach erklärt die griechische Regierung dem Ausland, ihre Schulden auf keinen Fall zu begleichen.

Fiktion? Gewiss, aber mit Folgen. Denn dieses Szenario stammt von dem bekannten amerikanischen Ökonomen James Galbraith. Kurz nach der gewonnenen Wahl in Griechenland beauftragte der neue Finanzminister Varoufakis den Wissenschaftler, einen Notfallplan auszuarbeiten für den Fall, dass es wirklich zu einem Grexit käme. Viel spricht dafür, dass diese fiktiv-alternative Geschichte die Regierung Tsipras so beeindruckte, dass sie einen möglichen Austritt aus dem Euro-Raum nun ablehnte und sich den Bedingungen der Gläubiger beugte, obwohl eben diese Bedingungen gerade in einer Volksabstimmung abgelehnt worden waren. Wie man sieht: Die Beschäftigung mit Alternativwelten ist nicht immer rein literarischer Natur.

In diesem Buch stellen wir uns, von allgemeinen Fragen abgesehen, unter anderem folgende Szenarien vor (in chronologischer Reihenfolge):

Der Urknall ging daneben

Der Planet Theia traf die Erde nicht, es gab (und gibt) keinen Mond

Der große Komet vor 65 Millionen Jahren schrammte an der Erde vorbei.

Eva ließ sich nicht verführen

Die Perser vereinnahmten Griechenland.

Hannibal besiegte die Römer.

Jesus wurde begnadigt

Die Chinesen eroberten Amerika.

Die Armada siegte vor England.

Die Südstaaten gewannen den amerikanischen Bürgerkrieg.

Die Attentate auf Kaiser Franz Josef von Österreich waren erfolgreich

Das Attentat in Sarajewo ging daneben, es gab keinen Krieg, Österreich-Ungarn überlebte. Oder aber: Es wurde alles noch viel schlimmer!

Hitler starb früh oder eroberte Moskau (und andere Szenarien).

- Putin hörte auf seine Ratgeber

Bei der Vorstellung dieser und anderer alternativer Welten mache ich keinen Unterschied zwischen Fachleuten (Historiker) und Literaten (Science-Fiction-Autoren). Erstere kennen die harten Fakten, müssen sich aber an die Regeln ihrer Profession halten (und auch auf ihren Ruf achten). Letztere leben von Einfällen, ungewöhnlichen Welten, und sie haben keine Angst vor ihrer Fantasie. Bei aller Ernsthaftigkeit des Themas: Viel Spaß bei diesen (mehr oder weniger wahrscheinlichen) Gedankenspielen!

Ich danke Nadja Fischer und Lucia Ripota für ihre redaktionelle Hilfe und die vielen wertvollen Hinweise.

ALLGEMEINES

Was ist Geschichte? Daten gegen Muster

Der Ausdruck "Geschichte" ist im Deutschen (und in anderen Sprachen) doppeldeutig. Zunächst bezeichnet er Zahlen, Fakten und Daten aus der Vergangenheit, chronologisch geordnet. Was mich an meinen Geschichtsunterricht erinnert, der noch trockener war als die Aufzählung von Ländern, Hauptstädten und großen Flüssen in der Geografiestunde. Doch als wir einen neuen Lehrer bekamen, wurde es spannend: Er schilderte nicht Geschichte, er erzählte Geschichten.

Bild 1 zeigt Geschichte, wie sie oft gelehrt wird: eine Anhäufung unzusammenhängender Daten, die alles Mögliche bedeuten kann. In Bild 2 ist schon zu erkennen: Es handelt sich um etwas Bekanntes, in diesem Fall: um ein Gesicht. Aber ob Hitler (mit dem Bärtchen in der Mitte) oder Einstein (mit den abstehenden Haaren), das ist nicht klar. Erst ab Bild 3 sehen wir, um wen es sich handelt. Die Daten haben Gestalt angenommen. Wenn wir aber im Zustand 1 stecken bleiben, wie es in der Geschichtsforschung oft der Fall ist, dann konstruieren wir uns diese Gestalt nach unseren Vorstellungen. So entstehen Mythen, und die wahre Geschichte bleibt verborgen.

Und ohne die geht es nicht. Aber, wie wir wissen: Jede Geschichte, die wir unseren Kindern zur guten Nacht erzählen oder als Hollywoodschinken genießen, ist subjektiv, ausgedacht, unwahr. Wie also sind diese beiden Ansprüche der Geschichtswissenschaft - nüchterne Realität plus erzählerische Zusammenfassung - miteinander zu vereinbaren? Wenn das Erzählen von Geschichten aus der Geschichte so wichtig ist - zu unserem Verständnis - was bleibt dann von den echten Fakten? Was sind überhaupt Fakten? Und können diese nicht auch anders gedeutet werden?

In der Tat, das können sie und das werden sie. Die allwissende Wikipedia meint dazu:

Mitunter wird vorgeschlagen, die Darstellung der Ergebnisse und Zusammenhänge als eine künstlerische Tätigkeit zu betrachten. Der Historiker soll dem Leser auf eine nachvollziehbare, objektive und überzeugende Weise den Gang der Ereignisse sowie deren Ursachen und Wirkungen, ein alltagsweltliches Geschichtsbewusstsein präsentieren.

Mehr noch: Die Geschichtsphilosophie versucht, den Gang der Handlungen in einen übergeordneten Zusammenhang, ein Geschichtsbild, zu bringen.

Und dazu gibt es ein eigenes Kapitel, "Geschichte als Konstruktion".

Nun könnten wir uns auf das Urteil der Fachleute, also der Historiker verlassen, aber die sind genauso verlassen, wenn die Quellen fehlen oder einander widersprechen. Das ist beispielsweise bei Jesus der Fall (keine echten Fakten), oder bei Nero (nicht-römische Berichte stellen ihn sehr positiv dar). Wozu noch kommt, dass wir selbstverständlich die Handlungen früherer Herrscher nach unseren Maßstäben beurteilen: Wir loben sie (Karl der Große), wir verdammen sie (Thomas Müntzer), oder wir machen beides (Napoleon). "Der Historiker Fernand Braudel" schreibt Wikipedia, "beschrieb Grenzen der Objektivität, denen alle unterliegen, die Geschichte darstellen, einmal so: „In der Tat tritt der Historiker niemals aus der Dimension der geschichtlichen Zeit heraus; die Zeit klebt an seinem Denken wie die Erde am Spaten des Gärtners. Trotzdem träumt er davon, sich ihr zu entziehen.“"

In unserem Thema - alternative Geschichte - kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Kann man die Geschichte voraussagen? Das muss der Fall sein, sonst hat es wenig Zweck, sich über nicht-faktische Verläufe Gedanken zu machen. Das aber ist nur möglich, wenn wir von bloßen Ereignissen absehen und versuchen, die zugrunde liegenden gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und vielleicht auch spirituellen Strömungen zu erkennen, zu benennen und zu bewerten. Solche verborgenen Flüsse lassen sich indes kaum quantifizieren. Da sind Intuition, Fantasie und ein Gefühl für die Strömungen der Zeit erforderlich. Was alles nicht sehr nach Wissenschaft klingt.

Wie verläuft Geschichte? Kosmos gegen Chaos

Es gibt zwei grundsätzliche, extreme Auffassungen darüber, was Geschichte ausmacht, wie sie verläuft, welches ihre wahren Ursachen sind.

Verläuft die Geschichte geordnet und vorausberechenbar, wie das Vieleck links - oder unerwartet und chaotisch, wie das Fraktal rechts?

Auf der einen Seite (eher rechts von der Mitte) stehen Männer wie HEINRICH VON TREITSCHKE (1834-1896). Er war der Meinung: Männer machen Geschichte. Keine Frauen, auch keine Juden, sondern eben echte (germanische) Männer. Frauen hatten in der wirklichen Welt, also der Welt der Männer, nichts zu suchen: „Die deutschen Universitäten sind seit einem halben Jahrtausend für Männer bestimmt, und ich will nicht dazu helfen sie zu zerstören.“ Juden erst recht nicht: Sein Essay „Die Juden sind unser Unglück“ wurde zum Lieblingszitat der Nazis, zusammen mit seiner Vorstellung vom "gesunden Volksempfinden" der Germanen.

In einer solchen Welt ist kein Platz für Entwicklungen, Gesetze, Vorausschau oder gar Verständnis, schon gar nicht für kontrafaktische Überlegungen. Große Männer machen Geschichte; wann sie auftauchen, was sie tun, was sie bewegt - wer weiß das schon. Es genügt, dass wir diese Menschen im Nachhinein kennen - Alexander von Makedonien, Cäsar aus Rom, Karl der große Franke, Kaiser Napoleon, der Führer (den die Vorsehung ja für Großes vorgesehen hatte). Geschichte bleibt eine Sammlung heroischer Geschichten ohne inneren Zusammenhang, dem Zufall ergeben, dem Verständnis entzogen.

Sehr schön ausgedrückt hat diese Idee der Science-Fiction-Autor WARD MOORE (1903-1978) in seinem Alternativweltenroman "Der große Süden" ("Bring the Jubilee", 1953):

Das Buch des Lebens ist ein Wirrwarr durcheinandergefallener Sätze, eine Geschichte, die ein Idiot stammelt, voller Lärm und Wut, aber ohne Bedeutung. Es gibt keinen Plan, keine Synopse, die mit frommen Hoffnungen und scheinheiligen Handlungen erfüllt werden könnte. Es gibt nichts als eine ungeheure Leere im Universum.

Zurück zu den Wissenschaftlern. Treitschkes Entsprechung in der Biologie heißt CHARLES DARWIN (1809-1882). Im Gegensatz zur landläufigen Meinung hat Darwin die Idee der Evolution allen Lebens keineswegs erfunden, nicht einmal publik gemacht. Die war schon lange bekannt und anerkannt. Der Geologe ROBERT CHAMBERS (1802 - 1871) hatte sie in seinem ungeheuer erfolgreichen Buch "Vestiges of the Natural History of Creation" ("Spuren der Naturgeschichte der Schöpfung") 1844 bekannt gemacht. Darwin fügte in seinem 1859 erschienenen Werk "Über den Ursprung der Arten durch natürliche Auslese, oder die Bewahrung begünstigter Rassen im Kampf ums Überleben" nur die Idee des Ökonomen THOMAS MALTHUS hinzu: Die Erde wird bald ihre Bewohner nicht mehr ernähren können, weil sich die Armen zu sehr vermehren, was verhindert werden sollte, indem man sie systematisch verhungern lässt. Das braucht der Mensch aber nicht zu tun, das macht Natur selbst mit ihrer natürlichen Auslese und ihrem Kampf ums Dasein. Dazu schaffte Darwin Gott ab sowie eine Entwicklung zu Höherem, und anstelle des liebevollen Zusammenwirkens aller Lebensformen bei Chambers propagierte er den Kampf ums Überleben, in dem nur die "Fittesten" überleben, also diejenigen, die ihre rassischen Muskeln in einem biologischen Fitnessstudio gestählt haben. Dass er von Frauen ähnlich dachte wie Treitschke überrascht dann nicht mehr wirklich: "Auf Grund der Vererbungsgesetze erscheint es mir sehr schwierig, dass Frauen jemals das geistige Niveau der Männer erlangen." (1881)

Auf der anderen Seite (eher links von der Mitte, aber nicht nur) finden wir Männer wie GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL (1770-1831, "These, Antithese, Synthese", oder "Idee - Natur - Geist") und seinen geistigen Schüler KARL MARX (1818-1883, "Historischer Materialismus"), aber auch OSWALD SPENGLER (1880-1936, "Der Untergang des Abendlands") und seinen geistigen Schüler ARNOLD TOYNBEE (1889-1975, "Der Gang der Weltgeschichte"). Für sie war Geschichte ein Entwicklungsprozess "nach oben", der unweigerlich zu einem bestimmten Ziel führte:

bei Hegel zur Manifestation des Weltgeists mit dem Ziel der Freiheit von Geist und Menschheit,

bei Marx zur Auflösung der Klassen und zur Herrschaft des Proletariats durch die gesetzmäßig bestimmte Entwicklung der menschlichen Gesellschaft auf Grund wirtschaftlicher Faktoren,

bei Spengler zur Entwicklung und zuletzt zum Untergang aller Kulturen auf Grund innerer (biologischer) Wachstumsgesetze,

bei Toynbee zu einem Weltstaat, einen Wunsch, den er mit seinem Landsmann H. G. Wells ("Umriss der Geschichte", ab 1920) teilte.

Spengler, Lehrer für Mathematik und Physik, erklärt den Unterschied zwischen ewigen Gesetzen und aktuellen Manifestationen so:

Die Geschichte trägt das Merkmal des Einmalig-tatsächlichen, die Natur das des Ständig-möglichen. Solange ich das Bild der Umwelt daraufhin beobachte, nach welchen Gesetzen es sich verwirklichen muss, ohne Rücksicht darauf, ob es geschieht oder nur geschehen könnte, zeitlos also, bin ich Naturforscher, treibe ich eine echte Wissenschaft. Es macht für die Notwendigkeit eines Naturgesetzes - und andere Gesetze gibt es nicht - nicht das geringste aus, ob es unendlich oft oder nie in Erscheinung tritt, d.h., es ist vom Schicksal unabhängig. Tausende von chemischen Verbindungen kommen nie vor und werden nie hergestellt werden, aber sie sind als möglich bewiesen und also sind sie da.

Den Blick in die Zukunft fordert Spengler ausdrücklich:

Geschichte aber ist gegenwärtiges Geschehen mit dem Zug in die Zukunft und einem Blick auf die Vergangenheit.

Aber welche Bedeutung haben dann die Einzelpersonen, von denen die Geschichtsbücher so eloquent berichten? Der französische Historiker FERNAND BRAUDEL (1902-1985) hat in seinen Werken die Geschichte mit einem Meer verglichen und dabei drei Schichten der Entwicklung aufgestellt:

Die unterste Schicht des historischen Meeres wird gebildet von einer langsam fließenden Geschichte, in der Veränderungen kaum wahrnehmbar sind, hauptsächlich bestimmt durch Geografie und Klima.

Die zweite Schicht weist langsame Rhythmen auf; sie entspricht den Beziehungen zwischen Herren und Bauern, zwischen den Städten und den Landgütern.

Ganz an der Oberfläche, sozusagen in Wellengekräusel und Schaumkronen, finden wir die Geschichte der Ereignisse. Sie orientiert sich an der traditionellen Geschichtsschreibung mit ihrer Betonung der politischen und militärischen Ereignisse, wobei Braudel immer wieder die Bedeutung individueller menschlicher Handlungen relativiert. Personen haben nicht viel zu bedeuten, denn die menschlichen Ereignisse erscheinen wie bloße Wellen auf der Oberfläche des Stroms der Geschichte, ohne deren tieferen Grund zu berühren.

Fassen wir diese Gegensätze so zusammen:

Geschichte

Einzelpersonen

Trends

Biologie

Zufall

Notwendigkeit

Mathematik

Chaos

Kosmos

Philosophie

Kausalität (Karma)

Teleologie (Endzeit)

Physik

Diff.-Gleichung Quantenphysik

Fermatsches Prinzip Blockuniversum

Technik

Magie

Wissenschaft

Science-

Fantasy

Psychohistorik

Fiction

Mensch

Individuum

Masse

Geschichte

Treitschke

Hegel / Spengler

Literatur

Hale, Bradbury, Moore

Asimov, Leiber, Blish

Dazu ein paar Erläuterungen:

Die diversen Auffassungen bezüglich des Ablaufs der Geschichte haben wir schon besprochen. Nochmal der Unterschied: Entweder die Welt hängt ab von den Handlungen einzelner, oder die Masse bestimmt, wo's langgeht, indem sie Trends erschafft, aufnimmt, verstärkt oder beseitigt.

In Philosophie und Religion gibt es zwei gegensätzliche Meinungen: Entweder alles ist von dem bestimmt, was hier und jetzt geschieht. Das bedeutet auch: Jede meiner Handlungen hat Auswirkungen bis in die ferne Zukunft, eine Auffassung, die dem Konzept des "Karma" zugrunde liegt. Dabei beeinflussen meine Handlungen sogar mein nächstes Leben, während sie im Christentum bestimmen, wo ich den Rest der Ewigkeit verbringen werde. Viel schärfer drücken die schrittweise Kausalität griechische Mythen aus: Was immer du tust, die Götter reagieren sofort darauf, meist negativ. Ödipus handelte blind, die Folgen waren schrecklich, er blendete sich zuletzt selbst.

Andrerseits gibt es die teleologische Auffassung einer "prästabilierte Harmonie" (Leibniz), eines Endziels der Heilsgeschichte, wie sie vor allem das Christentum vertritt: Die Zeit, also die Entwicklung der Welt, geht irgendwann zu Ende. Im Christentum folgt darauf die Auferstehung des Fleisches, in der wissenschaftlichen Kosmologie der Kältetod.

Die Mathematik, die strengste aller Geistesdisziplinen, halb Wissenschaft, halb Kunst, hat das "deterministische Chaos" entdeckt. Selbst wenn wir alles genau zu wissen meinen, selbst wenn die Regeln so streng wie irgendmöglich sind - es gibt immer Prozesse, deren Zukunft wir nicht voraussagen können. Sonst müssten wir nämlich die "Anfangsbedingungen" mit unendlicher Genauigkeit kennen, was unmöglich ist. Also herrscht in manchen Bereichen geordnetes (vorausberechenbares) Chaos, was sich auch rein bildlich in der Struktur des berühmten "Apfelmännchens" ausdrückt.

Auch die Physik kennt den Gegensatz individuell/unberechenbar gegen gesetzmäßig/vorherbestimmt. In der Quantenphysik herrscht der Zufall; wir wissen nicht, welcher Zustand sich im nächsten Augenblick manifestiert, auch wenn wir dessen Wahrscheinlichkeit berechnen können. Prognosen sind nur statistisch möglich, Retrognosen, also die Rekonstruktion der Vergangenheit, praktisch gar nicht. Ganz anders in der klassischen Mechanik, insbesonders im "Blockuniversum" von Einstein (Physiker) und Minkowski (Mathematiker): Hier wird die Zeit auf eine bloße Raumdimension reduziert. Alles ist vorherbestimmt, der Blick reicht ungestört ins Unendliche, in beide Richtungen.

Auch die von Physikern verwendete Mathematik drückt diesen Gegensatz aus. Physiker rechnen einerseits mit Differentialgleichungen, wo sich die Wirklichkeit sozusagen von Augenblick zu Augenblick in die Zukunft hangelt. Andrerseits kennen sie Prinzipien, die vom Ende - sozusagen vom Ziel eines Prozesses - ausgehen und daraufhin den Weg dorthin berechnen, meist mit Hilfe der Integralrechnung. Zum Beispiel mit dem Fermatschen Prinzip: Der Weg des Lichts durch diverse Medien verläuft so, dass die Gesamtzeit am kürzesten ist.

Die Technik, also die Manipulation der Umgebung, geschah früher durch Magie, was bedeutet: Man ruft irgendeine Gottheit an, bittet um deren Hilfe zum Erreichen eines gewünschten Ziels, und hofft, dass die dann auch kommt. Dagegen stützt sich die Anwendung der Wissenschaft auf Naturgesetze, deren Anwendung üblicherweise immer zum berechneten Ziel führt.

Die Biologie ist so eine Art "Geschichte light": Neben langfristigen, mehr oder minder vorausberechenbaren Entwicklungen gibt es punktuell Mutationen und äußere Ereignisse, die den vorbestimmten Ablauf völlig durchbrechen können.

Die Literatur, die wir hier "fantastisch-utopisch" nennen wollen, ähnelt dem, was wir unter "Technik" gesagt haben. Sie schafft Welten, in denen alles möglich ist, nichts vorhergesagt werden kann, wo offenbar auch keine Gesetze herrschen: die Fantasy. Dagegen postuliert die "ernsthafte" Literatur in diesem Bereich eine Ausgangssituation, aus der logisch, wissenschaftlich begründbar, und konsequent die Handlung folgt - die "harte" Science-Fiction.

Angenommen, die Auffassung, Geschichte ist vorherbestimmt, trifft zu. Wie kann dann ebendiese Geschichte vorausberechnet werden? Dazu mehr im nächsten Kapitel!

Wie kann man Geschichte vorausberechnen? Fünf Vorschläge

(1) Der Gymnasiallehrer: Oswald Spengler. "Der Untergang des Abendlands"

Um sich alternative Geschichtsentwürfe ausdenken zu können, muss man die Geschichte in irgendeiner Weise (nicht unbedingt numerisch) vorausberechnen können. Das aber gelingt nur mit Hilfe einer Methode. Einer der ersten, der sich eine solche Methode ausdachte, war OSWALD SPENGLER (1880-1936). Für ihn repräsentierte jede Kultur ein Lebewesen, vergleichbar einem Baum, mit Entstehung, Jugend, Reife, Alter, Tod. Weil bei ihm alle Kulturen auf die gleiche Weise altern - wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit - sind Vergleiche von beispielsweise unserer Kultur mit vergangenen Kulturen möglich. Also stellte Spengler das römische Reich dem Abendland gegenüber (richtig als Tabelle) und definierte als erstes die Spätphase einer jeden Kultur:

Cäsarismus nenne ich die Regierungsart, welche in ihrem inneren Wesen gänzlich formlos ist. Alle Institutionen sind von nun an ohne Sinn und Gewicht. Bedeutung hat nur die ganz persönliche Gewalt, welche der Cäsar durch seine Fähigkeiten ausübt. Es ist die Heimkehr aus einer formvollendeten Welt ins Primitive, ins Kosmisch-Geschichtslose.

Sollten wir statt "kosmisch" vielleicht "komisch" sagen? Irgendwie beschreibt Spengler damit ziemlich genau die Populisten unserer Tage. Mehr noch: Er berechnet die Zeit, in der diese Phase das Abendland überschwemmen wird. Sein Ergebnis: 2000-2020! So definiert er diese Zeit als

... von zunehmend primitivem Charakter der politischen Formen. Innerer Zerfall der Nationen in eine formlose Bevölkerung. Deren Zusammenfassung in ein Imperium von allmählich wieder primitiv-despotischem Charakter. ... Das Reich der Bücher versinkt in Vergessenheit. Von nun an werden Heldenschicksale im Stil der Vorzeit wieder möglich.

Er sieht auch voraus, wie die Bürger die so mühsam errungenen Freiheiten und Vorzüge einer Demokratie ohne äußeren Zwang aufgeben:

Aufgabe der Demokratie war es, Rechte zu erkämpfen. Jetzt sind diese Rechte erobert, aber die Enkel sind selbst durch Strafen nicht mehr zu bewegen, von ihr Gebrauch zu machen. Schon zur Zeit Cäsars beteiligte sich die anständige Bevölkerung kaum noch an Wahlen. Nero konnte auch durch Drohungen die Ritter nicht mehr zwingen, zur Ausübung ihrer Rechte nach Rom zu kommen. Das ist das Ende der großen Politik, die einst ein Ersatz des Krieges durch geistigere Mittel gewesen war und nun dem Kriege in seiner ursprünglichsten Gestalt wieder Platz macht.

Auch den Populismus der Internet-Dienste hat er vorausgesehen:

Einst durfte man nicht wagen, frei zu denken; jetzt darf man es, aber man kann es nicht mehr. Man will nur noch denken, was man wollen soll, und eben das empfindet man als seine Freiheit.

Denn: Je allgemeiner das Wahlrecht, desto geringer wird die Macht einer Wählerschaft. Und: Jede Demokratie führt zur Aufhebung von sich selbst.

Traurige Aussichten.

(2) Der Science-Fiction-Visionär: Isaac Asimov. "Foundation"

Der erste, der eine Methode vorschlug (aber nicht ausarbeitete), die Zukunft der Menschheit in galaktischem Rahmen vorauszuberechnen, war der amerikanische Science-Fiction-Autor ISAAC ASIMOV (1920-1992). Ab 1942 entwickelte er zusammen mit John W. Campbell, dem Herausgeber des damals wichtigsten Science-Fiction-Magazins Astounding, ein welten- und zeitenumspannendes Galaktisches Imperium, mit einem Kaiser in der Hauptstadt Trantor, das vom Verfall gekennzeichnet ist und demnächst in eine 30.000 Jahre währende Barbarei abzurutschen droht.

Asimovs Ideen sind so genial, sie haben zudem so viele Wissenschaftler angeregt, dass ich sie hier ausführlich schildern werde.

Der Mathematiker Hari Seldon sieht die Gefahr und stellt sich die Frage: Kann man die Geschichte vorausberechnen, eine wesentliche Voraussetzung dafür, sie auch beeinflussen zu können? Nach mühevoller Suche scheint ihm das gelungen zu sein. Er nennt seine Wissenschaft Psychohistorik. Welche Variablen in die zugrunde liegenden Formeln eingehen, sagt Asimov nicht, aber ein eigener Band seiner umfangreichen Romanserie zu dem Thema schildert Seldons Suche nach diesen Parametern.

Da die Entwicklung größerer Ensembles von Individuen - Elementarteilchen, Zellen, Ameisen, Menschen, Sterne, Galaxien - zwar nach bestimmten Gesetzen verläuft, zwischendrin aber immer wieder durch unberechenbare, chaotische Zeitabschnitte aus dem Gleichgewicht gebracht wird, obliegt es dem psychohistorisch rechnenden Mathematiker, diese Zeitpunkte herauszufinden und ihnen sinnvoll gegenzusteuern. Durch seine Berechnungen kommt Seldon zur Überzeugung: Man kann die Zeit der Barbarei auf tausend Jahre verkürzen.

Dabei ist aber ein wichtiges Gesetz zu beachten, das wir aus der Quantenphysik kennen: Ein Beobachter stört die vorausberechnete Entwicklung. Beobachtet der Mensch sich selbst, kennt er gar seine eigene Zukunft, wird er handlungsunfähig, und die ganzen Rechnereien werden sinnlos. Es ist wie beim Tausendfüßler, der, sich seiner komplexen Bewegungen bewusst werdend, nicht mehr kriechen kann. Also darf die Menschheit nicht wissen, was ihr bevorsteht, eine kleine Elite von Wissenschaftlern aber schon. Denn irgendwer muss ja im richtigen Zeitpunkt eingreifen und die Geschicke der Menschheit sanft und unauffällig steuern.

Diese Aufgabe übernimmt eine Stiftung, englisch Foundation, daher der Name der Serie. Die Stiftung ist am Rand der Galaxis angesiedelt, auf dem Planeten Terminus, weit ab von den üblichen Handels- und Kommunikationszonen. Sie widmet sich nur der Wissenschaft, entwickelt aber keinerlei Waffen, ist also irgendwelchen Eroberern schutzlos ausgeliefert. Doch die Männer der Stiftung wissen: Es kann ihnen nichts geschehen, die Mathematik schützt sie.

Als dann ein ehrgeiziger General sich daran macht, den Planeten Terminus zu erobern und die Stiftung unter seine militanten Fittiche zu nehmen, parliert er vorher kurz mit den Stiftungsleuten, um ihnen die Kapitulation nahe zu legen. Doch die denken nicht daran. Ihr Argument: Wir haben den besten Schutz gegen alle Waffen der Galaxis, nämlich die Mathematik. Hari Seldons Formeln machen uns unbesiegbar, ohne Waffen, scheinbar ohne Macht, ohne Gegenwehr.

Der General hält dies natürlich für Hirngespinste und startet den Angriff. Vergeblich - bevor er richtig vorankommt, ist schon wieder alles zu Ende. Hari Seldon hatte das vorausgesehen. Aber was war geschehen? Zwei Männer der Stiftung, die (überflüssigerweise und natürlich vergeblich) versuchten, in Trantor am Kaiserhof zu intervenieren, schildern die Vorfälle in einem Dialog:

Eine tote Hand schob uns alle weiter, den mächtigen General und den großen Kaiser, meine Welt und Ihre Welt - die tote Hand Hari Seldons. Er wusste, dass ein Mann wie Riose [der Galaktische General] versagen musste, weil sein Erfolg seinen Fall bedeutete, und je größer der Erfolg, desto sicherer der Fall.

Ein schwacher General hätte keine Gefahr für uns dargestellt, ebensowenig ein starker General in der Zeit eines schwachen Kaisers, denn der hätte seine Arme nach einem sehr viel lohnenderen Ziel ausgestreckt. Also kann nur die Kombination von starkem Kaiser und starkem General der Stiftung schaden, denn ein starker Kaiser ist nicht leicht zu entthronen, und ein starker General ist gezwungen, jenseits der Grenzen tätig zu werden. Aber was hält den Kaiser stark? Er ist stark, weil er keine starken Untertanen zulässt. Ein Höfling, der zu reich, ein General, der zu beliebt wird, ist gefährlich.

Riose erzielte Siege, also wurde der Kaiser misstrauisch. Riose hatte eine Bestechung abgelehnt? Sehr verdächtig! Dann gab es also tiefer liegende Motive. Es ging nicht um das, was er tat; jede Handlung wäre gegen ihn ausgelegt worden. Deshalb war das, was wir planten und durchführten, unnötig und überflüssig. Sein Erfolg machte Riose verdächtig. Deshalb wurde er zurückberufen, angeklagt, verurteilt und umgebracht.

Und der Mann von der Stiftung schließt:

Sehen Sie, es lässt sich keine Kombination von Ereignissen vorstellen, die nicht im Sieg der Stiftung resultiert hätte. Er war unvermeidlich, Riose mochte tun, was er wollte, und wir mochten tun, was wir wollten. Ich sagte Riose einmal, die ganze Kraft des Imperiums könne die tote Hand Hari Seldons nicht ablenken. (Isaac Asimov: "Der Galaktische General")

Aber so einfach ist die Sache natürlich nicht, und deswegen installiert Asimov eine zweite Stiftung, welche die Geschicke der ganzen Galaxis im Hintergrund unauffällig in die richtigen Bahnen lenkt. Leider reicht das auch nicht, und so müssen die Männer und Frauen dieser zweiten Stiftung noch besondere Fähigkeiten der telepathischen Manipulation besitzen. Leider reicht das immer noch nicht, und so müssen unsterbliche Roboter ...

In der deutschen Übersetzung im Heyne-Verlag ("Die Foundation Trilogie", 2006) gibt es einen Anhang "Einführung in die Psychohistorik" mit bisher entdeckten Gesetzen.

(3) Der Formel-Manipulierer: Peter Turchin

Es geht hier nicht um die Einzelheiten, es geht um Ideen. Und die sind, in Asimovs Darstellung, so gut, dass einige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie der Wissenschaft sie als Beispiel und Vorbild nahmen. So sagte beispielsweise der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger PAUL KRUGMAN: „Ich wollte keiner dieser muskelbepackten Helden auf einem Weltraumabenteuer sein. Ich wollte Hari Seldon sein und mein Wissen um die Berechenbarkeit des menschlichen Verhaltens dazu benutzen, unsere Zivilisation zu retten.“ Und ein anderer Wissenschaftler, PETER TURCHIN, weniger bekannt, aber nicht minder erfolgreich, ein russischer Emigrant wie Asimov, nahm sich Hari Seldon direkt als Vorbild und entwickelte seine Version der Psychohistorik, die er Cliodynamik nannte, nach Clio, der Muse der Geschichte. Turchin hat sich explizit den Asimovschen "eigenbrötlerischen" Mathematiker Seldon zum Vorbild genommen. In einem Interview aus dem Jahr 2020 propagiert er sogar eine Art Foundation für Politiker, wenn er meint: Ich könnte mir eine Asimovsche Agentur vorstellen, die wegweisende Indikatoren berechnet und den Politikern entsprechende Ratschläge gibt.

Hat Turchin die Seldonschen Formeln entdeckt? Er versucht es. Wie er dabei vorgeht, zeige ich an einem Beispiel, wo Turchin den Zeitpunkt des Untergangs von Saudi-Arabien berechnet.

In dem Artikel "Ibn Khaldun meets Al Saud" aus dem Jahr 2003 (korrigiert 2006) knüpft Turchin an einen arabischen Gelehrten namens ABD-AR-RAHMAN ABU ZAID IBN MUHAMMAD IBN MUHAMMAD IBN KHALDUN (1332-1406) an. Der hatte langfristige politische Zyklen festgestellt, die etwa so verlaufen: Bauern schließen sich zusammen, bilden einen wehrfähigen Staat, vermehren sich, aber auch ihren Wohlstand, und es geht allen gut. Dann aber wächst die Elite (Beamte, Priester, Adelige) schneller als neue Posten für Staatsdiener geschaffen werden. Sie werden unzufrieden, der Staat zahlt den Eliten noch mehr und beutet dafür die Bauern aus. Es kommt zu Unruhen, die von den Nomadenvölkern am Rande ausgenutzt werden. Sie erobern den Staat, alles beruhigt sich, aber dann fängt der Zyklus von vorne an.

Warum hat sich Turchin für seine mathematische Studie gerade den Wüstenstaat Saudi-Arabien vorgenommen, und warum soll dieser untergehen? Weil die soziale, politische und wirtschaftliche Struktur dieses Staates relativ einfach ist. Wirtschaft: fast nur Öl. Staat: religiöse Monarchie ohne innere Entwicklung. Gesellschaft: eine Menge Drohnen, nämlich die rund 10.000 Mitglieder des Königshauses, die verschwenderisch ihr Dasein genießen, aber zum Wohlstand des Landes nichts beitragen. Der Rest der Gesellschaft lebt allerdings nicht in Armut, ist aber infolge diverser Rahmenbedingungen auch nicht sonderlich aktiv.

Turchin verwendet für seine Berechnungen folgende Variablen:

das Minimum (an Bezahlung), was die Elite noch akzeptiert (es steigt im Lauf der Zeit, da die Leute immer anspruchsvoller werden);

das Minimum (an Bezahlung), was die normale Bevölkerung noch akzeptiert (es steigt ebenso);

Umfang und Wachstumsrate der Eliten;

Umfang und Wachstumsrate der "Gemeinen" (der gewöhnlichen Bevölkerung);

die Zahlungsfähigkeit des Staats (sie sinkt in Saudi-Arabien, wenn die Ölpreise fallen oder wenn zu viele Eliten durchgefüttert werden müssen):