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Was ist Tango? Jedenfalls kein "trauriger Gedanke, der getanzt wird", meint der langjährige Tangotänzer Peter Ripota. Aber was dann? In amüsanten Anekdoten und romantischen Erzählungen entwirft der Autor ein vielseitiges Portrait dieses einzigartigen Tanzes, der 2009 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Der Tango ist romantisch, satirisch, poetisch, witzig, und vieles mehr. Er ist vor allem ein Tanz, dessen Geschichte in diesem Buch zum ersten Mal ausführlich erzählt wird.
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Seitenzahl: 227
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Einen besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle noch meiner Frau und langjährigen Tangopartnerin Monika aussprechen. Sie hat das Manuskript Korrektur gelesen und an einigen Stellen ihre weibliche Sicht auf das Tangogeschehen einfließen lassen. Auf Grund ihrer großen Tanzerfahrung, waren ihre Kommentare und Anmerkungen zu Tangoschritten, - Figuren, -Haltung und speziell Tipps zu Tangotechnik eine außerordentliche Hilfe. Etwaige Unfälle auf Grund unkorrekter Erklärungen oder falscher Auffassung meiner Worte gehen natürlich ausschließlich auf mein Konto!
Der Tango wurde 2009 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Die UNO-Kulturorganisation nahm den argentinischen und uruguayischen Tanz in die Liste der schützens- und erhaltenswerten Künste und Traditionen auf. Er steht damit auf einer Stufe mit "immateriellen Kulturgütern" wie der chinesischen Kalligrafie und der indonesischen Batikkunst.
Laut dem UNESCO-Übereinkommen zählen zum immateriellen Kulturerbe "Praktiken, Darbietungen, Ausdrucksformen, Kenntnisse und Fähigkeiten – sowie die damit verbundenen Instrumente, Objekte, Artefakte und Kulturräume –, die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Individuen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen."
In dem Übereinkommen heißt es: "Dieses immaterielle Kulturerbe, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, wird von Gemeinschaften und Gruppen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, ihrer Interaktion mit der Natur und ihrer Geschichte fortwährend neu geschaffen und vermittelt ihnen ein Gefühl von Identität und Kontinuität. Auf diese Weise trägt es zur Förderung des Respekts vor der kulturellen Vielfalt und der menschlichen Kreativität bei." Und zum Tango stellt die UNESCO fest:
"Der Tango entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der einfachen Bevölkerung von Buenos Aires und Montevideo, im Becken des Rio de la Plata. An dem Grenzfluss zwischen den beiden Ländern hatten sich Ende des 19. Jahrhunderts neben den Ureinwohnern europäische Einwanderer und ehemalige Sklaven angesiedelt. Diese Mischung hat Gewohnheiten, Überzeugungen und Rituale hervorgebracht, die sich zu einer unverwechselbaren kulturellen Identität entwickelt haben."
Mehr noch: Papst Franziskus sagt von sich: "Ich liebe den Tango sehr. Er kommt aus meinem Innern." Und Franziskus kennt sich aus. Er ist ein Fan der Sänger Carlos Gardel und Julio Sosa und des Orchesters Juan D'Arienzo. Außerdem bewunderte er die Sängerin Ada Falcon, die aus unglücklicher Liebe zu ihrem Orchesterleiter Francisco Canaro ins Kloster ging, sowie den Komponisten und Interpreten Astor Piazzolla. Die Sängerin Azucena Maizani, eine gute Freundin von ihm, war sogar seine Nachbarin. Natürlich hatte er auch in seiner Jugend getanzt, am liebsten die schnelle Milonga, das entsprach offenbar seinem Lebensstil, dem er bis jetzt treu geblieben ist. Der Tango hat wieder einmal den päpstlichen Segen!
Nachdem ich seit über zwanzig Jahren in der Tangoszene aktiv bin, wollte ich diesen Anlass benutzen und meine Tango-Impressionen vorstellen. Es sind Eindrücke von einem der ungewöhnlichsten Tänze und menschlichen Betätigungen überhaupt. Der Tango ist mehr als ein Tanz; er ist eine Lebensform, eine lateinamerikanische Kulturtradition, eine internationale Sprache, eine Meditation zu zweit, ein Jungbrunnen des Lebens. Mediziner haben gezeigt: Tango (nicht irgendein Tanz: Nur der Tango!) beugt Alzheimer vor, hilft bei Parkinson, bringt das Immunsystem auf Trab und treibt den Testosteronspiegel in die Höhe. Als Tanz ist er für jedes Alter geeignet. Beschränkungen nach unten oder oben gibt es nicht. Eines der harmonischsten Tanzpaare, das ich je sah, waren Antonio und Antonia, beide in weiß gekleidet, er 65, sie 15. Niemand nahm daran Anstoß, warum auch?
Das schreibt auch die in Argentinien bekannt gewordene deutsche Tangotänzerin Nicole Nau-Klapwijk in ihrem Buch "Tango Dimensionen":
"Im klassischen Salon scheint das Alter keine Rolle zu spielen. Mann und Frau bleiben Mann und Frau ein Leben lang. Es gelten andere Gesetze. Man tanzt, egal ob man jung oder schon über 80 ist. Die einen tanzen mit der Erinnerung an ihre Jugend und mit der Reife ihrer Jahre, die anderen noch auf der Suche nach der Zukunft. Die Luft vibriert vom Hauch der Nostalgie der Alten, vermischt mit der sprühenden Neugier der jungen Tänzer, die ihre Blütezeit noch vor sich haben. Die reale Zeit aber, das Datum des Tages, betritt den Salon nie. Diese Zeitlosigkeit ist für mich einer der stärksten Eindrücke des Tanzsalons. Dieses Nebeneinander von Zeiten, Zeitstillstand und Zeitverschiebung. Zu erleben, wie sich die Erinnerung an Vergangenes mit den Träumen der Zukunft umarmt."
Wer mit wem tanzt, ist auch egal. Der Tango ist zwar der sinnlichste aller Tänze, und dennoch findet niemand etwas daran, wenn zwei Frauen oder zwei Männer miteinander tanzen, was durchaus geschieht und über die sexuellen Vorlieben der 'Tangueros' und 'Tangueras' nichts aussagt. Auch wieder Nicole Nau:
"Sie alle haben sich eingefunden und verabredet zu einem Spiel: jeder respektiert die Rolle, die Maske des anderen, zusammen zelebrieren sie den Tangotanz, den nur sie so tanzen können."
Deswegen ist es auch so schwierig, den Tango zu definieren, denn er besteht aus lauter scheinbaren Widersprüchen. Er ist, wie die Logiker sagen würden, paradox. Wer mit so was leben kann, ist mit dem Tango gut bedient. Wer alles in Schubladen stecken muss, sollte lieber Walzer tanzen. Oder Schuhplattler.
Weil der Tango ein sehr emotionaler Tanz ist - er vereint Freude und Leid, Hoffnung und Verzweiflung, Fröhlichkeit und Trauer, Gemeinsamkeit und Einsamkeit, Versonnenheit und Tempo, und noch viele andere Gefühle - handelt dieses Buch auch von Erlebnissen und nicht nur von Erkenntnissen, auch von Gefühlen und nicht nur vom Verstand, auch von der Gegenwart des Fühlens und nicht nur von der Vergangenheit des Denkens. Und manche Erkenntnis wird auch sehr gefühlvoll präsentiert. Viel Vergnügen!
Peter Ripota
Neben dem, was wir hier Tango nennen, gibt es auch noch einen Marsch, der bedauerlicherweise auch diesen Namen trägt. Der "Standardtango", wie er im Standardprogramm der Tanzschulen gelehrt wird, und der "Tango Argentino", wie er in Buenos Aires, in Montevideo und in vielen anderen Städten praktiziert wird, unterscheiden sich in Folgendem:
Hier das Ganze nochmals als Tabelle:
was
Standardtango
Tango Argentino
Rhythmus
strikt 2/4, auf den Punkt
richtet sich nach der Musik und der Laune der Tänzer
wie man ihn tanzt
wie einen Marsch
elegant, sinnlich, individuell
Figuren
exakt vorgeschrieben (Komitee)
variabel
neuer ("falscher") Schritt
Fehler
neue Figur
Charakter
Wettbewerb
individuelle Entfaltung
Choreographie
vorgeschrieben
improvisiert
Haltung
oben weit, unten eng
unten weit, oben eng
Was den Tanz illustriert
Kopf und Arme
Beine
Was man nicht gern sieht
aus dem Takt zu fallen
den Takt exakt einzuhalten
Wie man zum Tanz findet
wie zu allen anderen Tänzen: allmählich
sofort, wie vom Blitz getroffen, wie von einem Virus befallen
Füße
Fersenschritte
Ballenschritte
Die Tangotänzerin Virginia Gift hat es schön ausgedrückt: "Wenn keiner lächelt und alle dreinschauen, als hätten sie Schmerzen, dann handelt es sich um argentinischen Tango." Wie wahr - aber es liegt auch daran, dass sich Herren und Damen enorm konzentrieren müssen. Der Herr muss auf die anderen Tänzer und auf seine Partnerin achten und sich überlegen, welche Figur er als nächstes führt. Die Dame muss die Impulse, Absichten und unausgesprochenen Wünsche ihres Partners erfühlen und darauf reagieren. So bieten Menschen, die im Tango Argentino über das Parkett schlurfen, einen seltsamen Anblick - entrückt, konzentriert, meditativ, in einer anderen Welt - und gar nicht fröhlich, im Gegensatz zu den Salsa-Tänzern. Eine Dame, die beides tanzt, sagte einmal: "Wenn die Tangotänzer ein wenig von der gnadenlosen Fröhlichkeit des Salsa übernehmen würden, und die Salsa-Tänzer ein wenig von der Eleganz des Tango, das wäre schön."
Deswegen reden wir im Folgenden nur vom "Tango" und meinen den Tango, und nicht den Marsch, der bedauerlicherweise von viktorianischen Tanz-Standardisierern auch mit diesem Namen ausgestattet wurde.
Wach nicht auf
aufzuwachen bedeutet die Illusion zu zerstören
und in den Schatten die bittere Wahrheit zu finden.
"Soñar y nada mas" (träumen, nichts als träumen)
Der Tango ist eine echte Sucht mit allen Wohltaten und Übeln einer Sucht. Da gibt es Abende, wo keine mit dir tanzen will, und die paar Damen, die sich doch dazu hergeben, können nichts, laufen davon, grüßen während des Tanzens ihre Bekannten oder sagen, sie hätten schon bessere Partner gehabt. Und alle Männer tanzen besser als du, das ist klar zu sehen.
Am nächsten Abend geschieht dann das genaue Gegenteil. Die Stimmung ist aus irgendeinem Grund anders, und schon die zweite Dame findet einen Schritt toll, den du machst. Sie möchte ihn lernen, ihr übt, erst verwickeln sich die Beine ineinander, dann die Körper. Irgendwie kommt ihr wieder auseinander, und da merkt ihr, wie die Musik von Astor Piazzolla den Saal mit wunderbar melancholischen Klängen übergießt. Der Zauber, den nur der Tango kennt, beginnt zu wirken, die roten und blauen Lichter verschmelzen mit den Klängen des Bandoneons, der Rhythmus fließt wie von selbst in die Beine, die Stimmung der Verlorenheit berührt die Seelen. Vergessen sind Schritte und Figuren, Mühen und Plagen. Zwei Körper gestalten gemeinsam ein Kunstwerk, zwei Seelen verschmelzen wortlos mit der Musik, zwei Herzen pulsieren synchron, und die Umwelt existiert nicht mehr ...
Am nächsten Abend siehst du sie wieder, die Dame, mit der du einen so wundervollen Tango-Abend erlebt hast, und möchtest mit ihr tanzen, ein wenig von dem Zauber des gestrigen Abends entzünden. Doch sie liegt, glückselig lächelnd, in den Armen ihres Liebsten und sieht dich nicht ... Das ist Tango!
Der unvergessliche Hans Moser singt in einem seiner zahllosen Heurigen-Filme: Ich muss in meinem frühern Leben eine Reblaus gwesn sein. So erklärt (und entschuldigt) er seine echt wienerische Vorliebe für den Traubensaft.
Nach dieser Logik muss ich in meinem früheren Leben ein Seemann gewesen sein, wahrscheinlicher noch ein Schiffskater, oder zumindest ein Entwurzelter, der viel unfreiwillige Zeit auf dem Meer verbrachte. Denn mich hat von Kind an die Musik der übers Meer Entführten fasziniert. Davon gibt es drei Exemplare:
den amerikanischen
Blues
der mit Gewalt verschleppten Schwarzafrikaner. Hauptinstrument: die Mundharmonika;
den griechischen
Rebetiko
, der mit Gewalt vertriebenen kleinasiatischen Griechen. Hauptinstrument: die Bouzouki;
den
argentinischen Tango
der in Buenos Aires gestrandeten "Porteños" (Hafenbewohner). Hauptinstrument: das Bandoneon.
Alle drei Volksgruppen wurden verschleppt (Schwarzafrikaner) oder vertrieben (Griechen) oder verließen mehr oder minder unfreiwillig ihre Heimat (Argentinier), um danach einsehen zu müssen, dass sie am falschen Ort sind und nicht mehr zurück können. Alle drei mussten sie eine kleine oder große Schiffsreise unternehmen. Und alle drei Emigrantengruppen entwickelten eine eigenartige Musik, die sich irgendwie ähnelt: Sie verwendeten ein Hauptinstrument, das von den Etablierten verachtet wurde und auch heute noch keinen Eingang in die gehobene Kompositionsgesellschaft erhalten hat. Alle drei singen kleine, zusammenhängende, ebenso unpolitische wie persönliche Balladen von Liebe und Leid, Elend und Ausgenutztwerden, und vom Vergessen im Alkohol, in Drogen - und im Tanz. Denn Griechen und Argentinier entwickelten Tänze, die sich ähneln. Ob allein oder in der Gruppe (wie beim Sirtos oder Hassapiko der Rebeten) oder zu zweit (wie beim Tango oder der Milonga der Porteños): Die Tanzenden sind konzentriert, nach innen gewandt, individualistisch und enorm musikalisch. Komplexe Rhythmen wie die 3/8- oder 7/16-Takte mancher griechischer Tänze setzen sie ebenso gekonnt in Musik um wie die Synkopen und Pausen des Tangos.
Auch Form, Struktur, Inhalt und Stimmung ähneln sich bei Blues, Rebetiko und Tango. Dem unbedarften Betrachter erscheinen die Lieder wie Jammergesänge auf das verlorene Glück oder Anklagen gegen die bösen Frauen & Männer, die ihnen übel mitspielten. Doch hinter den bitteren Balladen stecken weder moralische Verurteilung noch Resignation, sondern ein trotziges "Ich mache weiter", und oft viel versteckte Ironie, auch gegen sich selbst. Das ölige Schmalz der Tangogeigen (herrlich bei Francisco Canaro und bei Juan d'Arienzo) trieft von den Bögen, rinnt auf die Böden, verklebt die Schuhsohlen, verstopft die Ohren und beschichtet die Herzen. Trauer und Mutlosigkeit sind nicht mehr zu spüren, nun endlich können wir fröhlich tanzen.
Dazu kommt, dass fast alle Tango-Texte unpolitisch sind. Wird einer mal politisch - wie der Tango "Cambalache", der erzählt, dass die ganze Welt ein Müllhaufen ist und der Politiker gleich schlecht wie der Verbrecher - dann hat er politische Sprengkraft und wird von den Militärs verboten, genauso wie die Musik der Rebeten von der griechischen Militär-Junta. Aber fast immer erzählt der Tango sehr persönlich von Liebe und Leid, von der verlorenen Heimat und dem vergessenen Glück. Die gesellschaftlichen Verhältnisse erwähnt er nicht, die kennt ohnedies jeder.
Doch ich wollte die Frage zu Beginn beantworten. Sie ist ganz einfach: Ich mochte schon als Kind alle drei erwähnten Musikformen. Bevor ich zum Tango kam, tanzte ich griechische Tänze. Und so fasziniert mich am Tango immer noch am meisten die Musik, jene Verbindung aus weinerlichem Geigenschmalz und trotzigem Bandoneon-Klopfen, aus gutmütigem Kontrabass-Gemurmel und scharfzüngigem Klavier. Ohne Musik lerne ich auch Figuren sehr schlecht, und mit Musik kann ich Sachen, die ich vorher nie gekonnt. Wenn die Musik mich nicht anregt, wird nichts; wenn sie meiner gegenwärtigen Seelenlage entspricht, kann ich kreativ führen und mit Lust tanzen - und das überträgt sich auch auf die Partnerin. Übrigens: Man kann zu jeder Musik Tango tanzen, wenn sie die entsprechende Stimmung rüber bringt und den Körper zum Tanz anregt!
Indes, die Musik allein tut's nicht. All die Entwurzelten blieben nämlich entwurzelt. Die Negersklaven konnten bis heute in den USA nicht Fuß fassen. Die türkischen Griechen kehrten zwar in ihre Heimat zurück, waren jedoch dort nicht willkommen und wurden zu Ausgestoßenen. Und die Italiener, Deutschen, polnischen Juden, Spanier und Russen, die es in die Stadt der Guten Luft verschlug, mussten bald erkennen, dass sie von den reichen Ur-Einwohnern, sprich: den spanischen Eroberern und Großgrundbesitzern, keinesfalls wohlwollend aufgenommen wurden. Auch sie waren Gestrandete, Fremde, Menschen, die nicht mehr zurück konnten und in der Fremde nicht Fuß fassen würden. Oder, wie es ein Kenner der Porteño-Szene einmal knapp ausdrückte: Der Porteño geht niemals wohin, er geht immer fort.
Um also das Tango-Gefühl, das "Sentimiento Tanguero" zu haben, muss der Tänzer oder die Tänzerin sich irgendwie als ausgestoßen, zumindest als nicht zugehörig fühlen. Eine gewisse Traurigkeit ist von Vorteil, auch wenn kein Tanguero und keine Tanguera sagen würde, ihr Lieblingstanz sei "ein trauriger Gedanke, der getanzt wird". Dieser Ausspruch stammt von dem Tango-Komponisten Enrico Santos Discepolo (er hat sich den schon erwähnten Tango "Cambalache" ausgedacht). Doch Discepolo hat nie selber Tango getanzt, weiß also nicht, wovon er spricht.
Immerhin: Ein bisschen Traurigkeit gehört dazu. In der Münchner Tangoszene gibt es einen stets gut gelaunten (und stets weiß gekleideten) Tangotänzer und -lehrer, dessen Stil und Persönlichkeit ich immer bewundert habe. Als ich das mal einer Bekannten beim Zuschauen erzählte, sah sie kurz hin und sagte dann: Der ist zu fröhlich für den Tango. Stimmt. Ein wenig Melancholie oder Düsterkeit braucht der Tango.
Jemandem die Essenz des Tango zu erklären ist genauso schwierig
wie herauszufinden, wann und wo der Tango entstand und welche
Wurzeln er hat. Musikwissenschaftler und Historiker sind sich über
die Ursprünge des Tango ebenso wenig einig wie Tangotänzer
über den richtigen Tanzstil. Deshalb ist diese Darstellung nur ein
unvollkommener Versuch.
Die Urzeit
Die Ursprünge dieses Tanzes verlieren sich im Dunkel der Geschichte. Der Grund: Tango war erst einmal und lange Zeit ein Tanz der unteren Schichten. Diese existierten für die Machthaber nicht, also kümmerte sich auch niemand um sie. Den Tanz selbst konnte man weder fotografierten (dazu müsste man in einem Foto-Atelier posieren, was sich keiner der Tänzer leisten konnte oder wollte) noch videografieren (das gab es damals noch nicht). Auch schrieb niemand die Choreographien des Tanzes auf. Wozu auch: Es gab keine feste Form, der Tanz wurde mit jedem Tanz neu erfunden, die Art des Tanzens wurde durch Anschauung und persönliches Vorbild weitergegeben. Und: In der Frühzeit des Tango gab es auch keine Aufzeichnungen von Musik oder Gesang, denn beides wurde großteils improvisiert.
Allerdings wissen wir: Der Tango entstand in den Hauptstädten an der Mündung des Rio de la Plata, also in Buenos Aires (Argentinien) und Montevideo (Uruguay). Das hat auch die UNESCO erkannt und die in Tangokreisen eher vernachlässigte Hauptstadt Uruguays in ihre Erb-Verpflichtungen mit einbezogen. Deswegen schlagen auch manche Autoren den Begriff "Tango Rioplatense" vor. Der größte Tangosänger aller Zeiten, Carlos Gardel, stammt einer Theorie nach auch nicht aus Toulouse (Frankreich), wie seine offizielle Geburtsurkunde ausweist, sondern aus Tacuarembó (Uruguay).
Dass der Tango in Bordellen entstand und dort bevorzugt getanzt wurde, ist ein Mythos. Allerdings unterschieden sich die Kneipen und Tanzbars nicht sehr von den Rotlichthäusern. Noch in den 1950er Jahren war es für Musiker üblich, bis Mitternacht in einem Salon zum Tanz aufzuspielen, und zu später Stunde in einem anderen Salon als "Vermittler" tätig zu werden. Der Leser soll nicht glauben, dass derartige Tanzsalons Sündenpfuhle par excellence waren. Vor nicht allzu langer Zeit entdeckte man ein geheimes Zimmer in der Pariser Oper, wohin sich reiche Gönner mit den von ihnen ausgewählten Tänzerinnen zurückziehen konnten, in eindeutiger Absicht. Die Pariser Oper ein heimliches Bordell - davon spricht keiner. Nur beim Tango wird das extra erwähnt.
Deswegen gehören Rotlicht und Netzstrümpfe immer noch zum Tango, und eine Veranstaltung wie "Nackter Tango" (in Anlehnung an den Film gleichen Namens) oder "Sinnlicher Tango" findet zunehmend Anklang. Dabei dürfen/können/sollen die Damen sich so kleiden, wie sie (oder die Männer) es gerne haben, während die Männer in Anzug und Fliege Vornehmheit verbreiten. Ein bisschen verrucht soll's schon sein, sonst wird der Tango uninteressant.
Zu den musikalischen Wurzeln des Tango gehört unter anderem die Candombe, die auch heute noch gelegentlich gespielt und als "Milonga" getanzt wird. Sie war ein flotter Tanz der Schwarzen mit Trommelbegleitung. Aus ihm entwickelte sich die schnelle Milonga mit ihrem gleichmäßigen Rhythmus ohne die Möglichkeit zu großen Figuren. Dazu ist sie zu schnell. Dafür ist sie fröhlich und unbeschwert. Sie hat am ehesten ländlich-folkloristischen Charakter und passt am besten in einen Western-Saloon. Dummerweise bedeutet "Milonga" auch eine Tango-Tanzveranstaltung, eine Art informellen Ball.
Die Habanera kommt aus Kuba, fand ihren Weg nach Spanien, dann nach Paris, und von dort auf kürzestem Weg nach Buenos Aires, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie steht rhythmisch dem Tango sehr nahe. Eine typische Habanera finden wir in der Oper "Carmen". Aber auch die Anfangstakte des Uraltschlagers "La Paloma" haben genau diesen Takt. Es klingt schon sehr nach Tango. Von allen Tanz-Vorfahren des Tango ist sie am differenziertesten. Sie lässt Pausen, Synkopen und Rhythmuswechsel zu.
Ab 1890 war der Tango in seiner heutigen Form und mit diesem Namen etabliert, wenngleich von der argentinischen Oberschicht verachtet. Erst als sie ihn in Paris kennen lernten, waren sie begeistert, denn alles, was aus Paris kam, war für die Porteños damals so überlegen wie heutzutage für uns alles, was aus den USA kommt.
La Guardia Vieja - die alte Garde
Die musikalischen Wurzeln des Tango sind vielfältig. Bereits der Ursprung des Worts liegt im Dunkeln. Meist wird der Ausdruck "Tango" in Verbindung mit Musik oder Klang oder Geräuschen gebracht. Manche meinen, in ihm stecke das lateinische Wort "tangere" für "berühren", was sehr gut passen würde. Andere führen seine Bezeichnung zurück auf die spanische Trommel "tambor", die sich über "tambo" zum "tango" wandelte. Wieder andere finden den Ursprung in einer afrikanischen Sprache, da die Sklaven aus Schwarzafrika viel zur Musik Lateinamerikas beigetragen haben: "lango" (ein kongolesischer Tanz), "shango" (ein nigerianischer Gott), "tamgu" (Bantu-Wort für "tanzen"), "tango" (kongolesisch für "geschlossener Ort").
Fakt indes ist, dass zwei Männer die Entwicklung der Tangomusik entscheidend beeinflussten.
Der erste war ein Deutscher: Heinrich Band hatte in Krefeld (Deutschland) eine Fabrik für Concertinas gegründet, das sind achteckige Harmonikas. Eine spezielle Concertina-Konstruktion aus dem Jahr 1856 nannte er nach sich selbst "Bandonion". Unter dem Namen Bandoneón wurde dieses ungewöhnliche und schwer zu spielende Instrument zur Seele des Tango. Doch das Bandoneón ist so schwer zu spielen, dass die Musiker den schnellen Rhythmus der "Milonga", der damals beliebtesten Tanzform, bändigen mussten. So wandelte sich der fröhliche "Negertanz" (der Tango wurde ursprünglich von freigelassenen Sklaven getanzt) zu dem schwermütigen und konzentrierten Tanz, wie wir ihn heute kennen - ein langsamer, intensiver, sehr individueller und zum Großteil improvisierter Paartanz mit ungewöhnlichen Figuren und vielen Pausen.
Trotz der Dominanz des Bandoneons herrscht auch heute noch eine erstaunliche Vielfalt der Instrumentation im Tango; zu seinen Urzeiten war es noch viel bunter. Da begleiteten Sänger sich selbst mit der Gitarre, Flöten spielten auf, Geigen brachten etwas Süßliches in die Musik, das Klavier diente als Melodie- und als Rhythmus-Instrument. Saxofone, Tubas, Harfen - sie alle wurden und werden im Tango verwendet. Nur ein Instrument fehlt seltsamerweise: das Schlagzeug. Weil also niemand den Rhythmus permanent vorgibt, müssen andere Instrumente diesen übernehmen: das Klavier, der Bass, die Geigen (pizzicato), die Gitarre, fast jedes Instrument. Diese Art, sich nicht festzulegen, macht die Musik so vielfältig und faszinierend. Und sie überträgt sich auf den Tanz.
Von den Musikern und Komponisten wissen wir nicht viel. Einer der Tangos aus dieser Zeit heißt "El Choclo" (der Maiskolben, 1903) und bedeutet natürlich etwas Obszönes. Sein Komponist, Angel Gregorio Villoldo, war Fuhrmann, Schlachthof-Angestellter, Zirkusclown und Journalist. Er war Sänger und Gitarrist und spielte auch die Mundharmonika. In seinem Lied heißt es am Anfang selbstbewusst:
Mit diesem Tango,
der spöttisch ist und zuhälterisch,
gab sich der Ehrgeiz meiner Vorstadt Flügel;
mit diesem Tango
wurde der Tango geboren.
Tango Canción - der gesungene Tango
Der zweite Mann, der den Tango wesentlich beeinflusste und über Nacht das Tangolied ("Canzion de Tango") aus der Taufe hob, war der in Toulouse (Frankreich) oder Tacuarembó (Uruguay) 1890 geborene Charles Romuald Gardes. Mit drei Jahren wanderte seine Mutter mit ihm nach Buenos Aires aus - so die Legende - , wo er bald durch seine Gesangskünste glänzte und sich in Carlos Gardel umbenannte. An einem Abend im Januar 1917 besang er im Teatro Esmeralda seine "traurige Nacht" ("Mi noche triste") (die Geliebte hatte ihn verlassen) und wurde mit diesem Lied über eine Nacht sozusagen über Nacht berühmt. Darin heißt es unter anderem:
Du bist verschwunden,
in der Blüte meiner Jahre,
hast meine Seele verwundet
und einen Dorn im Herzen hinterlassen,
wohl wissend, dass ich dich liebte ...
Für mich gibt's keinen Trost mehr,
ich besaufe mich.