Der Wahn mit der Bürokratie - Andreas Dripke - E-Book

Der Wahn mit der Bürokratie E-Book

Andreas Dripke

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Beschreibung

Die überbordende Bürokratie behindert unsere Demokratie, zerstört unsere Gesellschaft und beeinträchtigt unser Leben in einem schier unerträglichen Maße. Egal, wohin wir blicken, vom Deutschen Bundestag bis zu den Vereinten Nationen: Die Regulierungswut einer ausufernden Bürokratie scheint nicht mehr zu bremsen. Jede noch so gute Idee wird in einem Wust von Vorschriften, Formularen und kleinlicher Überwachung zermürbt, bis von der einstmals grandiosen Vision - egal, ob es um die Parlamentarische Demokratie oder den Weltfrieden geht - kaum noch etwas zu sehen ist. Doch die Autoren dieses Buches kritisieren nicht nur, sondern zeigen auch Wege auf, dem Wahn mit der Bürokratie zu entkommen. Das Buch ist gespickt mit einer Vielzahl aberwitziger Beispiele für Behördenwahn, zeigt jedoch weit darüber hinausgehend die dahinter steckenden strukturellen Probleme auf und unterbreitet Lösungsvorschläge.

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Widmung

Dieses Buch ist dem Songwriter Reinhard Mey gewidmet, der mit seiner 1977 erstmals veröffentlichten Ballade über den „Antrag auf Erteilung eines Antragformulars zur Bestätigung der Nichtigkeit des Durchschriftexemplars, dessen Gültigkeitsvermerk von der Bezugsbehörde stammt, zum Behuf der Vorlage beim zuständ'gen Erteilungsamt“ dem Wesen der Bürokratie so nahe kam wie es nur möglich ist.1

Die Autoren hätten ihr Werk auch Thomas Mann („Der Untertan“) oder Franz Kafka („Der Prozess“) widmen können, aber keiner dieser beiden hat sich dem Thema dieses Buches so humoristisch genähert wie Reinhard Mey. Und die Autoren vertreten die feste Überzeugung, dass Humor das beste Mittel ist, die geradezu unglaublichen Wucherungen der Bürokratie zu ertragen.

Im Unterschied zu Thomas Mann und Franz Kafka findet Reinhard Meys Irrweg durch die Behörden übrigens ein glückliches Ende. Immerhin heißt es in dem Lied: „Heute geh' ich weltmännisch auf allen Ämtern ein und aus. Schließlich bin ich auf den Dienstwegen so gut schon wie zu Haus.“

Inhalt

Vorwort

Die Anfänge: Volkszählungen

Geld und die Kampfstärke der Bevölkerung

Volk, Beruf, Gebäude, Wohnungen, Arbeitsplätze

Die Herrschaft der Verwaltung

Bürokratie ist nichts Neues

Theoretische Bürokratie

Aristoteles, Platon und die Entbürokratisierung

Deutschland befindet sich im Reformstau

Mehr Parlamente, mehr Gesetze

Der Fisch stinkt vom Kopf

Vielfalt der Parlamente

Niemand weiß, wie viele Gesetze es gibt

XL-Bundestag seit 2021

Im Schneckentempo zum schnellen Internet

Behörden-Bildung auf halbem Niveau

Der Bürger als Bittsteller und Kunde

Radwege auf dem Papier und in der Realität

Erbarmungslose Bürokratie

Tod in der Arbeitsagentur

„Die machen auch nur ihren Job“

60 verschiedene Geschlechter

Der Bürger als Kunde

Von der Kameralistik zum Neuen Steuerungsmodell

Große Verwaltungsreform seit 31 Jahren überfällig

Die Bürokratie stolpert über sich selbst

Der Bürger will die Bürokratie kontrollieren

Bauen, Verkehr, Digitales, Soziales

3.700 Normen für das Bauen in Deutschland

Ordnung im Straßenverkehr

Schilder wie Schilda

Neue Beschilderungen seit 2021

e-Government: Bürokratisches Chaos digitalisiert

Überkomplizierter E-Mail-Dienst für Behörden

Bürokratie der sozialen Wohltaten

Bedingungsloses Grundeinkommen

Unbürokratischer Weg: Irrweg oder Ausweg?

Beamten-Deutsch

Amtliche Lebensberechtigungsbescheinigung

Verkaufsoffener Sonntag im Amtsdeutsch

Der Amtsschimmel wiehert – aber warum?

Amtsdeutsch von der Künstlerkasse

Die Mercedes-Zentrale liegt in Schilda

Der Staat regelt alles – alles!

Wir wollen unser Schicksal selbst bestimmen

Wir sind dumm, schwach und voller Vorurteile

Das RKI warnt vor Corona, Raclette und Fondue

Moralischer Zeigefinger über den Tod hinaus

„S wie Siegfried“ wird zum Nazi

Steuerhölle Deutschland

Bonpflicht beim Bäcker

Das Finanzamt isst mit

GoBD: Einstieg in die digitale Finanzüberwachung

Ein Lehrstück aus der Praxis der GoBD

Die Finanzverwaltung der dreisten Trickser

Datenhehlerei zwischen Knast und Belobigung

Der größte Lump im ganzen Land

Früher war alles besser – oder doch nicht?

Der Bundesfinanzhof verteilt Ohrfeigen

Warum sich ein Steuerberater lohnt

Rätselraten für die Bürger

Prüfer setzt Steuerberaterin unter Druck

Das Finanzamt droht sozialen Wohnungsvermietern

Kaiser Wilhelm regiert bis heute

Vom Unternehmen zum Amt

Allgemeine Geschäftsbedingungen der Banken

Familie muss der Sparkasse Notsituation beweisen

Finanzbranche droht am Bürokratismus zu ersticken

Das Regelwerk der Deutschen Post

Tesla verzichtet auf Fördermilliarden

Autohersteller: Kundenservice mit Bürokratiefaktor

Bürokratie auf moderne Art

Die größte Bürokratie der Welt: UNO

Die Anfänge der UNO: Eine Vision, viel Bürokratie

Die Unverbindlichkeit eines Papiertigers

Grundlage für eine bessere Welt

Das UNO-Hauptquartier als Symbol der Bürokratie

Das Finanzsystem der UNO finanziert die Bürokratie

Rahmenplan zur „Umwandlung unserer Welt“

Das Europa der Bürokraten

Die EU-Kommission als europäische Regierung

Von der Vision zum Bürokratie-Monster

EU: Weltmacht der Regulierung

„Wie mache ich mich am unbeliebtesten“

Die Mär vom Brüsseler Beamtenapparat

Bürokratie-Monster Datenschutz

Die Visitenkartenfalle

Lizenz gelesen – wirklich?

Umfassendster Datenschutz der Menschheit

Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht

Meta/Facebook erdreistet sich

Mittelstand und Vereine lahmgelegt

Datenschutz wichtiger als Leben

Gesetzes-Ungetüm irrsinnig in der Praxis

Toaster mit Privatsphäre

Zustimmungsorgie voraus

Wann kommt das e-Privacy-Chaos?

Der entfesselte Staat: Corona

Familienregeln zu Weihnachten

Härtefälle: Kinder und Familien

Kinder in den Knast

G-Regeln für jede Lage

Gibt es ein Leben nach Corona?

Freiheiten mit Einschränkungen

Wovor will uns der Staat noch schützen?

Balance zwischen Sicherheit und Freiheit

Digitaler Überwachungsstaat auf dem Vormarsch

Versprechungen der Politik

Totalstopp für das öffentliche Leben

Der Staat führt uns an der Nase herum

Wankelmütigkeit der Politik

Verfassungswidrigkeit mit Befristung

Flucht in die Expertokratie

Damen und Herren gegen die Verfassung

Die digitale Herrschaft

Dem Menschen ebenbürtige Intelligenz

Ethik für Künstliche Intelligenz und Bürokratie

Auf dem Weg ins perfekte Chaos

Der Fall Jeanne Pouchin

Plädoyer für Vereinfachung

Was die Politiker von Steve Jobs lernen können

Die Bierdeckel-Rechnung des Friedrich Merz

Die 25 Prozent-Regel des Paul Kirchhof

Auf dem Weg zur Digikratie

Welche Unendlichkeit die größte ist

Über die Autoren

Andreas Dripke, Publizist

Hubert Nowatzki, Steuerberater

Bücher im DC Verlag

Über das Diplomatic Council

Quellenangaben und Anmerkungen

Vorwort

Die überbordende Bürokratie behindert unsere Demokratie, zerstört unsere Gesellschaft und beeinträchtigt unser Leben in einem schier unerträglichen Maße.

Viele Amtshandlungen schweben irgendwo im Raum zwischen den Streichen aus Schilda und Kafkas „Josef K.“, gegen den ein Prozess anhängig ist und der bis zu seiner Hinrichtung nicht einmal den Grund der Anklage erfährt. Ort der Handlung von Kafkas Werk „Der Prozess“ ist eine fiktive deutsche Großstadt – und die Erfahrungen mit der heutigen Bürokratie lassen den Schluss zu: Es könnte jede beliebige Stadt sein. Anders ausgedrückt: Die ebenso fiktive Stadt Schilda steht überall in Deutschland, aber das Ausmaß der heutigen Schildbürgerstreiche ist durch die moderne Bürokratie geradezu ins Monströse gewachsen.

Ein historisch gut belegtes Beispiel stellt der Prozess gegen Jesus Christus dar, bei dem Jesus zunächst vom Hohepriester Kaiphas zum römischen Statthalter Pontius Pilatus geschickt wurde, von diesem zum König Herodes Antipas und dann wieder zu Pilatus zurück, der schließlich das Todesurteil vollstrecken lässt. Mehr als 2000 Jahre später steht die Redensart „jemanden von Pontius zu Pilatus schicken“ immer noch als Synonym dafür, jemanden zwecklos hin- und her zu schicken. Und die Erfahrung zeigt: Niemand kann das besser als Behörden. Der Duden (Band 11) schreibt als Beispiel für die Anwendung dieser Redewendung äußerst trefflich „Im Finanzamt haben sie ihn von Pontius zu Pilatus geschickt, bis er alle Unterlagen zusammen hatte.“2

Der Bogen vom Ursprung des Christentums bis zum Deutschen Bundestag gelingt mühelos: In dem seit 2021 amtierenden 20. Deutschen Bundestag sitzen mehr Abgeordnete als jemals zuvor.3 Die Befürchtungen, dass der XL-Bundestag auch mehr Gesetze und Verordnungen hervorbringen wird als jemals zuvor, sind wohl gerechtfertigt. Schließlich sind die Abgeordneten gewählt worden, um sich neue Regelungen zum Wohle des Volkes auszudenken. Daran, Regelungen abzuschaffen, wird wohl niemand denken, steht zu befürchten.

Egal, wohin wir sehen, vom Deutschen Bundestag bis hin zu den Vereinten Nationen und zurück: Die Regulierungswut einer ausufernden Bürokratie scheint nicht mehr zu bremsen. Jede noch so gute Idee wird in einem Wust von Vorschriften, Formularen und kleinlicher Überwachung zermürbt, bis von der einstmals grandiosen Vision – egal, ob es um die Parlamentarische Demokratie oder den Weltfrieden geht – kaum noch etwas zu sehen ist.

Andreas Dripke

Hubert Nowatzki

Die Anfänge: Volkszählungen

Die Bürokratie ist keine Erfindung der Neuzeit. Vor allem Volkszählungen waren schon frühzeitig bei „den Herrschenden“ sehr beliebt. Ermittlungen von Bevölkerungszahlen lassen sich bereits um 2700 v. Chr. in Ägypten nachweisen. Auch den Zweck hat die Altertumsforschung zutage befördert: Es ging darum, Steuern einzutreiben.

Geld und die Kampfstärke der Bevölkerung

Der Wunsch der herrschenden Klasse, seine Untertanen zu kennen und daraus seinen Nutzen zu ziehen, ist also nicht – oder jedenfalls nicht nachweislich – so alt wie die Menschheit, aber immerhin bis zu den „Alten Ägyptern“ zurückzuverfolgen. Anhand von Tonscherben lässt sich auch für die Zeit um 1700 v. Chr. eine lokale Volkszählung in Mesopotamien für militärische Zwecke belegen. Aus den früheren Epochen sind ferner Zählungen in China (2 n. Chr.) sowie in Persien und Griechenland bekannt. Bemerkenswert ist in Ägypten unter Amasis (569 v. Chr.) und in Israel unter König David (1000 v. Chr.) ein Dekret über die Erfassung der Einkommen. Man beschränkte sich dabei oft auf die Erfassung der waffenfähigen Männer. Mit anderen Worten: Für die frühen Herrscher ging es bei Volkszählungen entweder um Geld oder um die Kampfstärke der Bevölkerung. Heute geht es immer noch in weiten Teilen der Bürokratie ums Geld – und um die Einhaltung im wortwörtlichen Sinne unzähliger Vorschriften, die erlassen, verwaltet, eingehalten, überwacht und bei Verstößen geahndet werden wollen.

Im Römischen Reich gab es seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. alle fünf Jahre Volkszählungen und Erhebungen über die Einkünfte der römischen Bürger. Für den Zensus – der Fachbegriff für eine „Volkszählung“ – und die Steuerschätzungen war der Censor, ein altrömischer Beamter, verantwortlich. Er legte die Höhe der Steuer fest, die jeder Bürger zu zahlen hatte und war dem Senat verantwortlich. Die Censoren waren sehr einflussreich und genossen hohes Ansehen. Ersteres mag auch heute noch je nach Hierarchie für Verwaltungsbeamte gelten, letzteres eher nicht.

Im Mittelalter gab es in Europa nur wenige Volkszählungen; meist wurden die Feuerstellen registriert, doch waren die erhobenen Daten oft ungenau, sodass Angaben zur Bevölkerung in der Regel nur Hochrechnungen darstellten. Von Bedeutung bei der Erfassung der Bevölkerung waren kirchliche Aufzeichnungen der Pfarren, weil die Pastoren Bücher über die „Seelen“ führen mussten. Der russische Schriftsteller Nikolai Gogol hat in seiner literarischen Groteske Die toten Seelen den damaligen Bürokratismus sehr trefflich beschrieben. Der Protagonist reist in der Bürokratie-Satire durch das zaristische Russland, um Großgrundbesitzern ihre „toten Seelen“, die Namen kürzlich verstorbener Leibeigener, abzukaufen, und diese teuer zu verpfänden. Dreh- und Angelpunkt von Gogols beißender Satire ist die Tatsache, dass dieses „Geschäftsmodell“ überhaupt möglich war. Allerdings ließ der Beamtenapparat den Spaß auf seine Kosten nicht durchgehen. Mit der Begründung „Die Seele ist unsterblich; eine tote Seele gibt es nicht.“ erteilte die Zensurbehörde dem Werk eine Absage. Dennoch gelang es Gogol zumindest den ersten Teilband seines Werkes drucken lassen; der zweite ist Fragment geblieben.4

Die erste Volkszählung in Deutschland fand 1816 im Königreich Preußen statt. Zwischen 1834 und 1867 führte der Deutsche Zollverein regelmäßig alle drei Jahre Volkszählungen in den Mitgliedsländern des Nord- und Süddeutschen Bundes sowie Preußen und Österreich durch.5 Ermittelt wurde die sogenannte „Zollabrechnungsbevölkerung“. Zur Durchführung wurde ein Zeitpunkt gewählt, zu dem zu erwarten war, dass sich der größte Teil der Bevölkerung zu Hause aufhalten würde. Der Zollverein legte den 3. Dezember als Datum fest.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden im Dezember 1945 in der sowjetischen Besatzungszone, im Januar 1946 in der französischen Besatzungszone und im Oktober 1946 in allen vier Besatzungszonen Deutschlands unter Verantwortung der Besatzungsmächte Volks- und Berufszählungen durchgeführt. Dies geschah insbesondere, um die Kriegsverluste und die zahlreichen Ströme von Flüchtlingen, Umsiedlern und Heimatvertriebenen zu erfassen. Nach Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1949 fanden jeweils mehrere Volkszählungen statt.6

Volk, Beruf, Gebäude, Wohnungen, Arbeitsplätze

Die in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1950 und 1987 durchgeführten Zählungen waren gleichzeitig Volks-, Berufs-, Gebäude-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählungen. Die Zählungen von 1961 und 1970 erfolgten als Volks-, Berufs- und Arbeitsstättenzählungen. Während der Gebäude- und Wohnungszählung von 1956 wurde auch die Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik gezählt („kleine Volkszählung“). Die Veröffentlichung der Daten aller Zählungen in der Bundesrepublik Deutschland, ab 1994 auch der Ergebnisse der Volkszählungen in der DDR, erfolgte vom Statistischen Bundesamt.7

Die 1987 durchgeführte Volkszählung in der Bundesrepublik Deutschland war ursprünglich bereits für das Jahr 1981 geplant gewesen. Sie war in den Augen der Bundesbehörden notwendig geworden, um die Infrastruktur einem veränderten sozialen Gefüge anzupassen und entsprechend neue Maßnahmen einzuleiten. Dies galt für Verkehrsplanung ebenso wie für die soziale Versorgung und anderes. Die Verzögerung um sechs Jahre hatte einen für unser Thema bemerkenswerten Hintergrund: Es gab Widerstand in der Bevölkerung.8 Man könnte sogar von Boykott sprechen, angestachelt von einem breiten Bündnis verschiedener sozialer und politischer Gruppen und vom „Koordinierungsbüro gegen den Überwachungsstaat“ im Bonner Büro der Jungdemokraten, der ehemaligen Jugendorganisation der FDP, organisiert. Auch die damalige Partei „Die Grünen“, zu der Zeit seit etwa vier Jahren im Bundestag vertreten, gehörte zu den Kritikern der Volkszählung und sie beteiligte sich mit vielen ihrer Mitglieder an der Kampagne. „Boykott-Ratgeber“ waren damals groß in Mode. Vom Büchlein „Was Sie gegen Mikrozensus und Volkszählung tun können“ für 5 Mark wurden in nicht einmal vier Monaten eine viertel Million Exemplare ausgeliefert; jede Woche ließ der Frankfurter Verlag Zweitausendeins 2.000 Bücher nachdrucken. Der Verlagsgeschäftsführer Lutz Kroth analysierte damals: „Das Thema berührt die Menschen offenbar ganz intim und ganz privat.“9 Einen vergleichbar reißenden Absatz erlebte der Verlag zuvor nur bei dem 1980 erschienenen Umwelt-Report „Global 2000“, der die Zerstörung der Umwelt als Lebensgrundlage für die Menschen thematisierte. Das staatliche Ausspionieren der eigenen Privatsphäre gleichauf mit der Vernichtung der Erde – bemerkenswert!

Die Regierung hatte den möglichen Widerstand offenbar vorausgesehen und drohte im Gesetz mit einer Höchststrafe von 10.000 Mark als Bußgeld für Verweigerer, die den Zählungsfragebogen nicht oder nicht wahrheitsgemäß ausfüllten. Abgefragt wurden mit insgesamt 18 Fragen das Geburtsjahr, das Geschlecht, der Familienstand, die religiöse Zugehörigkeit, die Staatsangehörigkeit, die Wohnungsnutzung, die Erwerbstätigkeit, das Bildungsniveau und die Nutzung von Verkehrsmitteln. In unserer heutigen Zeit lässt sich übrigens aus beinahe jedem Facebook-Profil mehr herauslesen als der damalige Fragebogen erfasste. Dennoch war der Boykott damals durchaus erfolgreich. So ändern sich allem Anschein nach die Zeiten.

In Folge der Proteste gegen die Volkszählung formulierte das Bundesverfassungsgericht mit dem historisch bedeutsamen Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 erstmals das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das sich aus der Menschenwürde des Artikels 1 des Grundgesetzes (GG) und dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Artikel 2 Absatz 1 GG ableitet.10 Daher musste die Befragung teilweise neu konzipiert werden, indem personenbezogene Angaben von den Fragebögen getrennt und die Fragebögen überarbeitet wurden, um die Anonymität der Befragten besser zu gewährleisten. Das Bundesverfassungsgericht wehrte damals die Erfassung allzu privater Daten von der Bevölkerung ab. Es wäre wünschenswert, wenn das oberste Gericht der Bundesrepublik Deutschland künftig noch aktiver eingreifen würde, um das Drangsalieren des Volkes durch die Bürokratie zurückzudrängen. Einige Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus der jüngeren Zeit lassen den Schluss zu, dass sich diese Institutionen auch in dieser Hinsicht ihrer Aufgabe sehr wohl bewusst ist. Wenn schon die Politik den Amtsschimmel nicht zum Verstummen bringen kann, bleibt die Hoffnung, dass wenigstens das Rechtswesen an der einen oder anderen Stelle das Wiehern etwas einzudämmen vermag.

Der Zensus 2022 diente als erneute Volkszählung der Erfassung der Bevölkerungs- sowie Wohnungsdaten.11 Vorsichtshalber hatte der Gesetzgeber eine Auskunftspflicht angeordnet.12

Die Herrschaft der Verwaltung

Bürokratie heißt nichts anderes als „Herrschaft der Verwaltung“. Wikipedia nennt es „die Wahrnehmung von Verwaltungstätigkeiten im Rahmen festgelegter Kompetenzen innerhalb einer festen Hierarchie“.13

Doch wenn wir von Bürokratie sprechen, meinen wir eigentlich Bürokratismus, eine „bürokratisch überzogene Handlungsorientierung, die die Vorschrift über den Menschen stellt und ihn weitgehend als Objekt behandelt“, wie der US-amerikanische Kulturanthropologe David Rolfe Graeber in seinem Werk „Bürokratie: Die Utopie der Regeln“ formulierte.14

Der umgangssprachliche Begriff „Papierkrieg“ zur Bewältigung der Bürokratie spricht Bände: Es ist tatsächlich eine Art „Krieg“ gegen die Herrschaft der Verwaltungsvorschriften. Bürokratische Strukturen und Verfahren werden in der Regel besonders häufig der Öffentlichen Verwaltung unterstellt, doch es gibt sie auch bei Unternehmen. Seit den 1940er Jahren nimmt die Bürokratie zu – ein Ende ist kaum absehbar. Wobei der „Papierkrieg“ insofern doch bald ein Ende finden wird, als die Erledigung der Verwaltungsaufgaben allmählich digitalisiert wird. So wird aus der „Bürokratie“ sozusagen eine „Digikratie“, eine „Herrschaft der digitalen Abläufe“.

Bürokratie ist nichts Neues

Die Bürokratie ist keine Erfindung der Neuzeit. Meyers Konversationslexikon definierte bereits 1894 „Büreaukratie“ folgendermaßen:

Büreaukratie (franz.-griech., „Schreibstubenherrschaft“), Bezeichnung für eine kurzsichtige und engherzige Beamtenwirtschaft, welcher das Verständnis für die praktischen Bedürfnisse des Volkes gebricht. Auch eine solche Beamtenschaft und ihre Angehörigen nennt man Büreaukratie. Der Boden der Büreaukratie ist der Absolutismus. Das bürokratische Regiment kennzeichnet die Zeit des Polizeistaates, der polizeilichen Bevormundung des Volkes während des 19. Jahrhunderts.15

Diese Zeit ist doch vorbei, mag man meinen. Tatsächlich heißt es in besagtem Lexikon aus dem Jahre 1894:

Die Begründung der konstitutionellen Regierungsform, das freie Vereins- und Versammlungsrecht, die Bedeutung der Presse für die öffentliche Erörterung der Staatsangelegenheiten, die Anerkennung des Selbstverwaltungsrechts der Gemeinden und höheren Gemeindeverbände sind Momente, welche ein bürokratisches Regiment in der Gegenwart ausschließen.

Schön wär’s, möchte man sagen. Diese 1894 „eigentlich“ für beendet erklärte „Gegenwart“ hält bis heute an.

Theoretische Bürokratie

Es gibt unzählige Theorien, Modelle und Erklärungen zum Funktionieren von Bürokratien, die durchweg eins gemeinsam haben: Sie sind theoretisch, man kann auch sagen, abstrakt. Eine umfassende Abhandlung über Bürokratiemodelle würde den Rahmen des vorliegenden Werks bei Weitem sprengen. Daher sei dieser Abschnitt auf einige wenige Anmerkungen beschränkt.

Der prominente Soziologe Max Weber hat Bürokratie als die „rationale“ Form der „legalen Herrschaft“ bezeichnet und analysiert. Sein Bürokratieansatz zählt zu den sogenannten klassischen Organisationstheorien; er beschreibt sie in seinem 1922 postum erschienenen Werk Wirtschaft und Gesellschaft als Erscheinungsform eines Rationalisierungsprozesses. Er definierte darin unter anderem folgende Bürokratiemerkmale:

Trennung von Amt und Person,

Regelgebundenheit,

„Unpersönlichkeit“ bzw. Neutralität des Verwaltungshandelns,

Hierarchieprinzip,

Schriftlichkeit und Aktenkundigkeit der Verwaltung,

Arbeitsteilung und Professionalität.

Woran erinnert diese Beschreibung? Richtig, an einen mechanischen Apparat, eben den Verwaltungsapparat. Diese Betrachtung veranlasste den Soziologen und Organisationsanalytiker William H. Whyte zu der These, dass die Bürokratie die Bereitschaft zum Konformismus fördert. In seinem 1956 erschienenen Buch The Organization Man prognostizierte er, dass die Gesellschaft künftig von großen bürokratischen Organisationen beherrscht würde und kritisierte den dadurch drohenden Verlust von Individualität und Kreativität.16 Wer heute die Öffentliche Verwaltung oder auch große Unternehmen unter diesem Aspekt betrachtet, erkennt, dass Whytes Prognose ins Schwarze getroffen hat. Allerdings hat sie in vielen anderen Bereichen unseres Lebens die Individualität und die Kreativität nicht ausgelöscht. Vielmehr sind es gerade diese beiden Merkmale, die uns in Wut versetzen können, wenn sie mit dem sturen, mechanisch arbeitenden Verwaltungsapparat konfrontiert werden. Wir verstehen uns als Individuum, aber für die Verwaltung sind wir nur eine Nummer.

Siegeszug der Bürokratie, Lichtblick e-Government

Ihren Siegeszug trat die Bürokratie nicht nur, aber eben auch in Deutschland in den 1960er- und 1970er-Jahren an. Auf Basis immer neuer staatlicher Aufgaben im Zuge des Aufbaus einer von der Sozialforschung unterstützten Leistungsverwaltung glaubte man, durch Prognosen staatliches Handeln planen und das Verhalten der Bürger rational lenken zu können. Diese sogenannte „Planungseuphorie“ ließ Verwaltungen und Vorschriften geradezu aufblühen. Zwar wurde man sich alsbald des ausufernden Bürokratiewahns bewusst und bereits in den 1980er-Jahren begann man gegenzusteuern; weit reichende Reformen wurden allerdings in Deutschland bis heute nicht durchgesetzt.

Ende der 1990er begann sich das sogenannte „e-Government“ als Lichtblick im Kampf gegen den „Papierkrieg“ herauszukristallisieren. Die Idee: Der Bürger kann am heimischen Computer über das Internet alle Belange weitgehend selbst erledigen und sich somit langwierige Behördengänge im wahrsten Sinne des Wortes ersparen. Gut 30 Jahre später, in den 2020ern, beginnt diese Idee allmählich Konturen anzunehmen; einzelne Fälle der Realisierung sind im Gange, von einer breitflächigen Ausdehnung kann noch nicht die Rede sein. Doch die Fortschritte etwa in der Finanzverwaltung sind unübersehbar; dort ist die Digitalisierung seit einigen Jahren angekommen und hat tatsächlich auf beiden Seiten – also Unternehmen versus Finanzämter – zu Vereinfachungen, jedoch auch zu neuen Pflichten geführt. Positiv ist die Tatsache, dass man Steuererklärungen und Umsatzsteuervoranmeldungen nicht mehr ausdrucken und per Post an das Finanzamt schicken muss, sondern mit einem Mausklick direkt abgeben kann. Als negativ empfunden wird jedoch zum Beispiel die Pflicht zur Abgabe einer E-Bilanz, welche ganz speziell zusätzlich für das Finanzamt aufbereitet und digital übermittelt werden muss. Die Aufbereitung ist ein erheblicher Mehraufwand, für den man seinen Steuerberater zusätzlich bezahlen muss. Denn inzwischen genügt die Bilanz aus Papier nicht mehr: Die E-Bilanz wird sogar mit Zwangsgeldern eingetrieben.

Dort, wo die Digitalisierung dazu dient, den Bürger besser zu kontrollieren und gegebenenfalls mehr Geld eintreiben zu können, ist sie also durchaus vorangekommen. In anderen Bereichen der Öffentlichen Verwaltung ist das Vordringen der Digitalisierung auffallend langsam. Eine wesentliche Ursache dürfte darin liegen, dass eine sinnvoll umgesetzte Digitalisierung zu einem deutlichen Personalabbau in der Öffentlichen Verwaltung führen würde. Und – man kann es ja irgendwie verstehen – welche Behörde schafft sich schon gerne selbst ab?

Aristoteles, Platon und die Entbürokratisierung

Durch generelle Normen lässt sich die Vielfalt des Lebens nicht erfassen, haben schon die Philosophen Aristoteles und Platon in heute noch gültiger Weise dargelegt. Daher macht das Schlagwort von der Entbürokratisierung schon seit Jahrzehnten die Runde, vor allem bei den Wahlversprechungen von Politikern jedweder Couleur. Doch so gut die Forderung nach Bürokratieabbau klingt, in der Realität ist davon kaum etwas zu spüren. Der Grund dafür liegt vor allem im Hang zur Verrechtlichung.

In einem Rechtsstaat darf die Verwaltung nicht gegen Gesetze verstoßen (Vorrang des Gesetzes) und nicht ohne gesetzliche Grundlage in Rechte des Einzelnen eingreifen (Vorbehalt des Gesetzes). Das führt dazu, die Grundlagen und Grenzen bürokratischen Handelns durch Gesetze, das heißt, durch generelle Vorschriften, zu schaffen bzw. zu ziehen. Doch unter genereller Normierung leidet häufig die Einzelfallgerechtigkeit – siehe Aristoteles und Platon. Um dieser Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen, finden sich in einem Rechtsstaat viele Ausnahme- und Sonderregeln für staatliches Handeln und ein immer komplizierteres System von Rechtsvorschriften. Das führt indes zu einer Spirale der Verselbstständigung der Bürokratie, die sich immer schneller zu drehen scheint, nach immer neuen gesetzlichen Regelungen verlangt, um immer neuen Fällen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Am Ende gibt es so viele Vorschriften, dass selbst Fachleute den Überblick über den Normenkomplex verlieren. Dieses „Ende“ ist indes schon lange erreicht, der Überblick längst verloren gegangen, der „Wahn mit der Bürokratie“ ist zum Alltag geworden. Deutschland befindet sich im Reformstau.

Deutschland befindet sich im Reformstau

Nehmen wir als Beispiel das Thema Steuern, von dem jeder betroffen ist. Die letzte Steuerreform ist mehr als 20 Jahre her: Der damalige Finanzminister Hans Eichel reformierte die Einkommen- und Körperschaftsteuer. Der Eingangssteuersatz sank von 25,9 auf 15 Prozent, der Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent. Auch bei der Körperschaftsteuer gingen die Sätze deutlich nach unten – von 40 auf 25 Prozent und schließlich auf 15 Prozent, was sich jedoch bei genauer Betrachtung als Etikettenschwindel herausstellte, weil seit dem Jahr 2009 gleichzeitig die 15 Prozent Gewerbesteuer nicht mehr als Betriebsausgabe abgezogen werden durften. Anfang 2022 lag der Spitzensteuersatz für Einkommen nicht etwa irgendwo dazwischen, sondern bei satten 45 Prozent. Die Mehrwertsteuert hat sich seit damals von 16 auf 19 Prozent erhöht.17

Doch es sind keineswegs nur stetig steigende Steuern, sondern es ist weit darüberhinausgehend der ebenso stetig steigende Bürokratiewahn, der immer mehr Bürger in Rage bringt. Anfang 2021 ging ein Video des Rügener Unternehmers Marco Scheel im Internet viral, welches das Dilemma exemplarisch darstellte. Scheel betreibt die Firma Nordwolle, die aus der Wolle des Pommernschafes Kleidung fertigt, ein besonders nachhaltiges und umweltschonendes Geschäft. Doch als der Unternehmer die Fertigung erweitern wollte, machte ihm der Bürokratenapparat einen Strich durch die Rechnung. Auf seinem Grundstück stand ein verfallendes Gebäude mit kaputtem Dach, früher ein Stall, der nunmehr als Produktionsstätte genutzt werden sollte. Die dazu notwendige Umnutzung, ein Kreuzchen auf dem Bauantrag, wurde jedoch abgelehnt. Vielmehr hatte zunächst das zuständige Amt einen neuen Flächennutzungsplan zu erstellen, dann musste die Gemeinde einen Bebauungsplan entwerfen, dann konnte erst der Bauantrag gestellt werden. Dazu ereiferte sich der Unternehmer im Video: „Und die ganzen Planer, die soll ich bezahlen – das kann ich aber nicht. Und dann haben die mir einen Verwaltungslotsen zur Seite gestellt, der mich durch die Stromschnellen der unteren Verwaltungsbehörde lotsen soll, hören die sich eigentlich mal selber zu?“ 18 Wahrscheinlich nicht; die Bürokraten sind sich der Absurdität ihrer Vorschriften und ihres Handelns in der Regel eher nicht bewusst.

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ heißt es in Artikel 20, Absatz 2, im Grundgesetz.19 Die Staatsdiener sind also eigentlich Volksdiener. Doch davon ist im Behördenalltag gelinde gesagt wenig zu spüren.

Typisch hierfür steht die Digitalisierung der Öffentlichen Verwaltung. Im internationalen Vergleich gehört Deutschland dabei zu den unteren (!) 10 bis 15 Prozent.20 Schätzungen zufolge hinkt Deutschland bei der Digitalisierung der Öffentlichen Hand rund 40 Jahre hinterher.21

Mehr Parlamente, mehr Gesetze

Wer die Regulierungswut des Staates beklagt, sich über die Auswüchse der Bürokratie aufregt und auf Vorschriften stößt, die wie ein missratener Witz klingen, der muss sich klarmachen: Der bürokratische Irrsinn, der uns häufig im Alltag begegnet, basiert im Allgemeinen auf Gesetzen, die von Parlamenten nach demokratischen Regeln beschlossen wurden. Die Menschen in den Parlamenten, die Parlamentarier, haben wir alle gewählt, damit sie Gesetze beschließen, die uns – den Bürgern – helfen, unser Zusammenleben besser zu organisieren und uns soweit wie möglich vor Unbill zu schützen.

Der Fisch stinkt vom Kopf

„Der Fisch stinkt vom Kopf“ lautet ein altes deutsches Sprichwort. Das hat einen handfesten Grund: Da sich im Kopf des Fischs das leicht verderbliche Hirn befindet, verdirbt der Kopf zuerst und dort entwickelt sich der unangenehme Geruch.22 Was heißt das für unser Thema?

Nun, der Ausgangspunkt aller bürokratischen Regelungen ist der Gesetzgeber, also in der Bundesrepublik Deutschland das Parlament, genauer gesagt die 17 Parlamente – der Deutsche Bundestag und die 16 Parlamente der 16 Bundesländer, die Landesparlamente. Die Parlamentarier werden häufig auch Abgeordnete genannt, womit ausgedrückt werden soll, dass sie von den Bürgern ins Parlament abgeordnet wurden, um sie dort zu vertreten. Der Begriff Volksvertreter fällt in diesem Zusammenhang ebenfalls des öfteren. Wir, die Bürger, das Volk, wählen die Parlamentarier, damit sie in unserem Auftrag und zu unserem Wohl tätig werden.