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Das Zeitalter, das wir kennen, ist längst vorbei. Wo einmal Europa war, gibt es nur noch drei labyrinthische Städte, die eher gewachsen sind, als daß sie erbaut wurden. Die Welt gehört den Tieren. Cyrus Golden, der Löwe, lenkt den Staat der drei Städte. Als ein übermächtiger Gegner die neue Gesellschaft bedroht, schickt er den Wolf Dimitri als Diplomaten aus – er soll im einstigen Nordamerika einen Verbündeten finden. Die Nachtfahrt über den Ozean führt den Wolf an den Rand seiner Welt, wo er erkennt, »warum den Menschen passiert ist, was ihnen passiert ist«. Die große spekulative Literatur über Niedergang und Wiedergeburt der Zivilisation reicht von Thomas Morus über H. G. Wells und Jules Verne bis hin zu Stephen King und William Gibson. Dietmar Dath schreibt sie mit diesem Roman fort.
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Seitenzahl: 713
Dietmar Dath
Die Abschaffung der Arten
Roman
Suhrkamp
Umschlagfoto: © Pete Dine Photographie
Die Tiervignetten wurden von Daniela Burger gestaltet.
© Daniela Burger / Suhrkamp Verlag
ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
www.suhrkamp.de
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-73370-7
If you can't marry outside your religion fool around outside your species. Lord Julius of Palnu
In quella parte – dove sta memora prende suo stato, – sì formato, – come diaffan da lume
Iz: Also, wer sind wir, wer sind die Gente? Und was trennt uns von den Menschen? Abgesehen mal von der Gestalt ... das könnten ja auch Masken sein, Verkleidungen. Was ist die eindeutigste Veränderung, seit der Befreiung, das Handgreiflichste, Deutlichste?
Cy: Die Sache mit den Gerüchen, denke ich. Der Duft. Daß das überall ist, daß wir damit auf der ganzen Welt jederzeit wissen, was andernorts geschieht ...
Iz: Wegen der Nichtlokalität der Leitfelder des Pherinfonsystems.
Cy: Ja. Nur daß die Menschen natürlich schon von Nichtlokalität gewußt haben. Nimm zwei Elektronen, ein Paar. Sagen wir, ihr gemeinsamer Spin ist Null. Du weißt aber nicht, welchen Spin das einzelne Elektron hat. Die Quantentheorie, die schon die Menschen hatten, sagt, daß man das nicht wissen kann, bevor man es mißt. Also, man schießt sie auseinander, sagen wir, bis das eine so richtig weit weg ist vom andern, uneinholbar. Dann mißt du das eine. Und sobald du das tust, und das Elektron, das du mißt, in einen spezifischen Zustand gezwungen wird, entspricht der Zustand des anderen dem Gegenteil. Augenblicklich. Ohne Übertragung eines Signals. Schneller als Licht findet diese Anpassung statt, schneller als alles. Weil die beiden Elektronen Bestandteile eines verschränkten Systems sind. Der Ausgleich passiert also nichtlokal – es wird keine Strecke zurückgelegt, von irgendeinem Wissen, die Information ist sofort dort, wenn ihr Gegenstück hier ist.
Iz: Weil die beiden Dinger ... verschränkt sind.
Cy: Ganz recht. Und unser Kunstgriff war dann ... na, wir haben einen Weg gefunden, dieses Geschehen, weit unterhalb der Atomgröße normalerweise, an Molekülen sichtbar zu machen, die ...
Iz: An Botenstoffen. An etwas, das man riecht.
Cy: Genau. Schnupperquanten. So haben die Pherinfone angefangen.
Iz: Und heute nutzt man sie sogar für Astronomie, nicht?
Cy: Sicher. Es ist ja alles da, dort draußen ... sogar Alkohol ...
Iz: (lacht)
Aus den Löwengesprächen, IV/65
Während das Rudel die Küste hinunterstrich, blieben vereinzelte Wölfe zurück und ruhten sich aus.
Vier oder fünf Raben, die eine Weile mit ihnen geflogen waren, fingen an, sie zu belästigen. Die Vögel stießen hinab auf den Kopf oder den Schwanz je eines der Wölfe. Der duckte sich erst weg und sprang dann nach ihnen.
Manchmal sah das nach Jagd aus: Die Raben flogen dicht über den Wolfsköpfen, dann hüpfte einer am Boden zu einem der ruhenden Wölfe, pickte nach seinem Schwanz und sprang geschickt zur Seite, wenn der Flinke nach ihm schnappte.
Sobald ein Wolf sich rächen wollte, dem jeweiligen Raben folgte und ihn belauerte, ließ der Vogel ihn auf wenige Meter herankommen und flatterte erst in die Höhe, wenn es fast zu spät war.
Dann landete er ein paar Fuß weit weg und wiederholte den Spaß.
»Wieso«, fragte die Libelle Philomena ihre liebste Freundin, die Fledermaus Izquierda, »ist den Menschen eigentlich passiert, was ihnen passiert ist?«
Das war im Sommer, als über den Hängen des größten Gebirges zwischen den drei Städten tagsüber wolkenlose Fernen blauten, nachts entlegenste Galaxien scharf umrissen blinkten und im Sumpf südlich von Landers wie aus dem Nichts Rohrgewächs emporschoß, obwohl es da vor lauter Hitze kaum noch feucht war.
Schilf ohne Wasser: ein Rätsel.
Während die Pelze der Dachse von der Hitze knisterten und die Schuppenhäute der Leguane schimmerten, als ob darunter Sterne steckten, fragten viele: Wieso war den Menschen passiert, was ihnen passiert war?
Einige, vor allem Affen, hatten noch im Frühjahr geglaubt, es hätte vielleicht etwas mit der Liebe zu tun gehabt: »Das hatten sie nämlich immer am Hals«, erklärte der Affe Stanz seinen Bewunderern vor einem Gemälde, das er zur Illustration dieses Sachverhaltes gemalt hatte, »diesen Schmus mit der Liebe. Nichts als Ärger. Uns plagt das, wenn ich's richtig sehe, nicht.«
Der Löwe hatte dem Affen auf allen Foren widersprechen lassen (durch die Libelle – er war sich längst zu wichtig geworden, selbst vor die Gente zu treten): »Wir haben Liebe, wie wir Sprache haben. Wir nennen's vielleicht anders – wobei die Wölfe es schon wieder Liebe nennen, und warum auch nicht? Es ist derselbe Zug zum Schönen, dieselbe Leidenschaft, derselbe lebensnotwendige, heilige Quatsch.«
Du lieber Himmel, das Schöne, richtig. Soviel mußte auch der Affe Stanz zugeben: Schönheit erzeugte in denen, die nun, nach den Menschen, die Erde besaßen, ganz dieselben blumigen, käsigen und kosmischen Empfindungen und Bewegtheiten, die sie schon in den Menschen erzeugt hatte. Es gab den Rausch der Schöpfung, das Bemühen um den Erhalt des Geschaffenen, die Wertschätzung, das Verlangen, den Drang nach Erwerb des Schatzes, sogar die Lust auf seine Vernichtung (denn die Werte selbst hatten ein Magnetfeld um sich, das auch die Zerstörung anzog).
Wenn es aber die Liebe nicht gewesen war, was die Menschen hatte scheitern lassen, warum war dann ihr lautes, stinkiges, sich alles aneignendes Weltbewohnen so blutig zu Ende gegangen? Hätte das, was sie waren, weiterwachsen können, nachdem die Grundlagen dafür verloren waren, gleichsam als Rohr, das gedieh, wo es nicht feucht war, als Schilf ohne Wasser? Noch stand es, blickte man in die Archive, in einer Art melancholischer letzter Blüte, als Erinnerung in Texten herum. Aber bevor man es ausschnitt, um es an sich zu nehmen, verdorrte es schon. Die Hoffnung der Menschen, das größte Talent der genialen Verwüster, war verloren, ihre Zuversicht war vergangen, ihr Ehrgeiz nur noch Spinnweb auf Büchern, die keiner mehr aufschlagen würde.
Sie hatten sich auf ihr Haus verlassen, aber es hatte nicht standgehalten. Sie waren voll Saft im Sonnenschein gestanden, und die Reiser ihrer Pflanzungen waren hinausgewachsen über ihren Garten. Über Steinhaufen hatten sich ihre Wurzeln geschlungen und sich zwischen Brocken festgehalten. Da man sie aber vertilgt hatte von ihrer Stätte, so verleugnete die sie nun und kannte sie nicht.
Die beste Freundin der Libelle roch nach Lorbeer und Aprikosen, dem damals üblichen Duftgemisch der Gelehrten in allen drei Städten. Ihre Flügel wirkten wächsern im weichen Dämmerlicht des Höhleneingangs. Ein silberner Lichtring spiralte um ihre kupfernen Krallen. Öligschwarzer Honig glänzte, wo die Augen guckten. Die schlaue Alte lächelte, zeigte ganz spitze Zähnchen. Dann rief sie an der Wandung der Kaverne einen kurzen, stummen Film auf, den sie der Libelle erläuterte, während er flimmerte: »Das da, dieses Blasige, erkennst du's? Das ist ein Schimmelpilz.«
»Sieht aus wie Schleim«, sagte die Libelle.
Sie war skeptisch: Was sollte da deutlich gemacht werden? Die Freundin schmatzte, setzte sich auf trockenen Flechten zurecht und sagte: »Ist es auch. Eine sehr besondre Sorte allerdings. Der alte Name lautet dictyostelium discoideum. Ein hochinteressanter Lebenszyklus, paß nur auf.«
Die Farben des Films sahen verlebt aus; was da so seltsam zuckte, wirkte zerlaufen, zerkocht. Die Libelle bsste leise: Skepsis wich vorsichtigem Interesse.
Unterhalb der wulstigen Höhlenschwelle machten sich Arbeiterinnen daran, Leitern und Trittflächen für Gente zu installieren, die nicht fliegen konnten. Man lag noch artig in der Zeit, die Einrichtung der Plattformen und Endstellen würde in wenigen Wochen abgeschlossen sein. Geübte Gruppen kleinster Krabbler hatten schon vor Monaten die Wespenfabrik zwischen Rispengrasfeld und höherem Wald demontiert, um die Träger fürs neue Baugerüst im Höhleninnern zu nutzen. Das machte sich jetzt bezahlt.
Fast alle Wespen waren unterdessen Richtung Landers fortgezogen.
Die Libelle Philomena hörte, während sie sich Izquierdas Film ansah, die Arbeiterinnen und Arbeiter, Molche und Erdmäuse bei der Arbeit lachen, auch singen, Witze reißen. Das hatte es früher nicht gegeben, in der ersten Zeit nach der Befreiung. Jetzt arbeitete man heiter; das war gut.
Es wurde überhaupt alles immer besser, bald sollte man vom Sonnenlicht allein leben können.
»Die Menschen«, fuhr die beste Freundin der Libelle fort, »haben das, was du hier siehst, erst spät entdeckt, gegen Ende ihrer Herrschaft. Verstanden haben sie es nie. Jetzt – schau hin, die Vergrößerung: Das ist die vegetative Phase des Lebenszyklus. Einzelne Zellen. Ein zufälliges Kollektiv unverbundener Monaden.«
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