Die Anfänge der heiligen Geschichte - Heinrich W. J. Thiersch - E-Book

Die Anfänge der heiligen Geschichte E-Book

Heinrich W. J. Thiersch

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Beschreibung

Es gibt kaum ein schätzenswerteres Buch, was die Einführung in den prophetischen Sinn der Genesis betrifft, als dieses Werk. Selbst manch gelehrter Theologe wird sich die achtundfünfzig Betrachtungen, in welche das Buch sich gliedert, dankbar zu Nutze machen; am wünschenswertesten wäre es jedoch, wenn sich Geistliche wie Laien fleißig darin vertiefen würden. Sie sind nicht nur insgesamt sehr erbauend und tiefsinnig und behandeln jegliches Thema dieses ersten Buches der Bibel, besonders hinsichtlich des geheimen Sinnes der Genesis, sondern sind auch eine höchst willkommene Einleitung in den Gesamtinhalt der heiligen Bücher.

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Seitenzahl: 665

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Die Anfänge der heiligen Geschichte

 

Nach dem 1. Buch Mose

 

HEINRICH W. J. THIERSCH

 

 

 

 

 

 

 

Die Anfänge der heiligen Geschichte, H. W. J. Thiersch

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783988681034

 

Textquelle: "Edition Albury - Sammlung Peter Sgotzai des Netzwerks Apostolische Geschichte e.V.", bei der wir uns sehr für die freundliche Genehmigung der Nutzung des Textes bedanken.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Vorrede zur ersten Ausgabe. 1

DIE URGESCHICHTE.. 13

1. Die Schöpfung. 13

2. Das Paradies. 20

3. Der Sündenfall25

4. Die Folgen des Falls. 31

5. Adam und Christus. 36

6. Mühe und Leid der ersten Eltern. 41

7. Die alte Welt von Adam bis Noah. 47

8. Die letzten Zeiten vor der Sündflut52

9. Der Glaube Noahs und der Bau der Arche. 57

10. Die Sündflut62

11. Der Bund Gottes mit Noah nach Ablauf der Flut67

12. Noah und seine Söhne nach der Sündflut72

13. Der Babylonische Turmbau. 78

II. DIE GESCHICHTE DER ERZVÄTER, ABRAHAM, ISAAK UND JAKOB83

14. Die Erwählung Abrahams83

15. Abraham als Fremdling im Lande Kanaan. 89

16. Abraham und Sara in Ägypten. 93

17. Abraham und Lot100

18. Abraham rettet seinen Bruder Lot aus der Gefangenschaft105

19. Melchisedek und sein Priestertum... 110

20. Abrahams Gnadenstand und die Gerechtigkeit aus dem Glauben. 116

21. Abrahams Opfer und der Bund des HErrn mit ihm... 122

22. Ismaels Geburt129

23. Die Erneuerung des Bundes mit Abraham und die Beschneidung. 135

24. Der HErr erscheint dem Abraham im Hain Mamre. 141

25. Die Fürbitte Abrahams. 147

26. Die Zerstörung Sodoms152

27. Isaak und Ismael157

28. Abimelech der König von Gerar und Abraham... 163

29. Die Aufopferung Isaaks. 168

30. Die Aufopferung Isaaks als Vorbild. 173

31. Tod und Begräbnis der Sara. 180

32. Eliesers Sendung nach Mesopotamien. 184

33. Laban, Rebekka und Isaak. 190

34. Isaak und seine ungleichen Söhne. 195

35. Esaus Geringschätzung seiner Erstgeburt200

36. Isaaks Glaube und Geduld. 205

37. Jakobs trügerisches Verfahren zur Erlangung des Segens. 210

38. Esaus Betrübnis und Zorn. 214

39. Jakobs Flucht und sein Traumgesicht220

40. Die Himmelsleiter224

41. Jakobs Erwachen und sein Gelübde. 230

42. Jakob und Laban. 235

43. Jakobs Heimkehr243

44. Jakobs und Esaus Versöhnung. 249

45. Der Fall der Dina und der Zorn der Brüder254

46. Jakobs Rückkehr nach Bethel. Das Königreich Edom... 259

III. JOSEPH.. 268

47. Josephs Träume und der Neid seiner Brüder268

48. Joseph als Vorbild unsers HErrn Jesu Christi275

49. Josephs Prüfungen in Ägypten. 282

50. Josephs Geduld und seine Erhebung aus dem Gefängnis. 290

51. Pharaos Träume. 296

52. Josephs Strenge gegen seine Brüder302

53. Joseph gibt sich seinen Brüdern zu erkennen. 307

54. Joseph lässt seinen Vater nach Ägypten kommen. 315

55. Jakob und seine Hausgenossen in Ägypten. 322

56. Jakobs Weissagung über seine Söhne. 327

57. Josephs Treue gegen seine Brüder336

58. Jakobs und Josephs Lebensende - Die Hoffnung der Erzväter340

Vorrede zur ersten Ausgabe

Die Auslegung der heiligen Schriften ist eine vielseitige Aufgabe, und Sie erfordert ein Zusammenwirken verschiedenartiger Kräfte. Es gilt die Sprachen des Grundtextes immer genauer zu erforschen und den geschichtlichen Zusammenhang, dem die einzelnen Bücher angehören, so weit wie möglich zu ergründen.

Diesen Bemühungen bin auch ich nicht fremd geblieben; aber es liegt noch eine andere Aufgabe vor, und diese ist es, auf die ich mich diesmal beschränke. Es ist die Aufgabe, die göttlichen Wahrheiten, die in der Schrift niedergelegt sind, aufzuzeigen und sie zur Erleuchtung und zur Heiligung für die christliche Gemeinde anzuwenden.

Nicht nur das Neue Testament, auch das Alte ist zu solchem Gebrauch bestimmt, und im Alten Testamente sind es nicht allein die Psalmen und die Schriften der Propheten, die uns zur Erbauung dienen sollen, sondern auch die geschichtlichen Bücher und ganz besonders das altertümlichste und wunderbarste unter denselben, die Genesis. Sie ist dem Volke Israel als ein Schatz echter Überlieferungen und göttlicher Offenbarungen anvertraut, und von den Juden samt den anderen heiligen Schriften des Alten Bundes sorgfältig bewahrt und der christlichen Kirche unverfälscht übergeben worden. Diese hat von Christus und den Aposteln gelernt, die heiligen Schriften des Alten Bundes als eine unverbrüchliche Urkunde göttlicher Offenbarung aufzunehmen, sie mit Ehrfurcht zu betrachten und ihren Aussagen völliges Vertrauen zu schenken. Mt 5,1719; Lk 16, 17; 24, 44.45; Joh 10, 35. 2 Tim. 3, 16. 17.

Die Bücher des Alten Testaments sind der Gemeinde Christi als eine unerschöpfliche Quelle für ihre Erbauung geschenkt. Sie sollen in der heiligen Versammlung der Christen gelesen und ausgelegt werden. So geschah es von Anfang an, und in der Liturgie der alten spanischen Kirche findet sich noch die altertümliche Einrichtung, dass an jedem Sonntag der Epistel und dem Evangelium eine Lektion aus dem Alten Testamente vorausgeht. Wenn die christliche Gemeinde, wie es ihre Pflicht ist, sich Tag für Tag vor dem Angesicht Gottes versammelt, so kann und soll in diesem täglichen Gottesdienst auch das ganze Alte Testament, mit Ausnahme weniger Abschnitte, vorgelesen und zur Erbauung angewendet werden. Dies muss mit Gebet, im Aufblick zu Gott, im Geiste der Ehrfurcht und mit Verlangen nach Heiligung geschehen. Der Geist Gottes, unter dessen Eingebung und Leitung die heiligen Bücher geschrieben worden sind, will ihren Inhalt für die christliche Gemeinde klar und lebendig machen, und alles, was Er ihr zu sagen hat, will Er an die heiligen Schriften anknüpfen.

Auch mir ist die Aufgabe geworden, der christlichen Gemeinde durch erbauende Auslegung der heiligen Schriften Alten Testaments zu dienen. Aus dem Bemühen, dieser Pflicht nachzukommen, sind diese Betrachtungen hervorgegangen. Was mir an Licht und heilsamen Aufschlüssen über das älteste biblische Buch gegeben worden ist, das suche ich, ohne hohe Worte, ohne gelehrte Zutaten, in bescheidener, schmuckloser und für jedes christliche Gemüt fasslicherweise wiederzugeben, mit dem Wunsche, dass es den Mitchristen auch in weiteren Kreisen nützlich sein möge.

Die Genesis wird hier nach ihrer moralischen und ihrer prophetischen Bedeutung betrachtet, und ich habe zur Erläuterung dieses zweifachen Gesichtspunktes etwas zu sagen.

Die biblische Geschichte ist reich an erbaulichem Gehalt, wie jeder erfahren darf, der sich ihrem Vortrag mit Liebe zur Sache widmet. Es ist eine lohnende und erfreuende Aufgabe, Christenkinder in der biblischen Geschichte zu unterrichten, und für die Predigt an die Erwachsenen birgt sie eine Fülle heilsamen Inhalts in sich. Aus dem einfachen, nächstliegenden Sinn der Erzählungen ergibt sich mannigfache Anwendung auf das Leben des Christen. Die Taten und die Charaktere der auftretenden Personen dienen teils als nachahmungswürdige, teils als warnende Beispiele. Aus den göttlichen Führungen, die im Laufe der Ereignisse zu erkennen sind, ist Aufmunterung und Trost zu schöpfen. So weit reicht die moralische Auslegung. Sie bleibt bei dem buchstäblichen Sinn und dem geschichtlichen Inhalt des Textes stehen. In dieser Weise hat Luther die Genesis behandelt. Seine große Erläuterungsschrift, in der zugleich viel Treffliches aus Hieronymus, Augustinus und anderen Vätern der Kirche aufgenommen ist, darf wohl als das reifste und gediegenste seiner Werke gelten. Man wird wahrnehmen, dass ich ihm bei diesem meinem Versuch viel zu verdanken habe.

Daneben habe ich mich nun aber auch bemüht, jene tiefere Bedeutung der heiligen Geschichte und des Schriftwortes hervorzuheben, die man den mystischen, den geistlichen, den typischen, am richtigsten vielleicht den prophetischen Sinn nennen mag. Dieses Bestreben ist nicht neu. Es erhellt aus den Schriften der ältesten Kirchenlehrer, dass die christliche Kirche des Altertums in der prophetischen Auffassung des Alten Testaments lebte und webte. Origenes hat zwar durch Einmischung neuplatonischer Ansichten in der Lehre gefehlt, aber als Berichterstatter über das, was zu seiner Zeit galt und bestand, ist er höchst glaubwürdig. Er gibt bekanntlich in der Einleitung zu seinem Werke „Über die Grundlehren“ eine Übersicht dessen, was in der ganzen christlichen Kirche verkündigt und als die von den Aposteln überlieferte Wahrheit festgehalten wird, und am Schlusse dieser Aufzeichnung rechnet er zu dieser kirchlichen Verkündigung den Glaubenssatz, dass den heiligen Büchern außer dem buchstäblichen und für jedermann zugänglichen Sinn noch ein anderer, tieferer Sinn innewohne, der der Menge verborgen sei und nur durch den Heiligen Geist eröffnet werden könne.

 Der buchstäbliche Sinn wurde mit dem Blätterwerk des Weinstocks verglichen, der geistliche Sinn mit der Traube, die hinter den Blättern versteckt ist. Beugt man das Laub zurück, so findet man die köstliche Frucht.

In der Bibel selbst ist uns Ermächtigung und Anleitung zu einer solchen Auffassung des Schriftwortes gegeben. Die Briefe der Apostel sind voll von prophetischen Deutungen des Alten Testaments, und zwar nicht bloß der ihrer Natur nach sinnbildlichen Abschnitt, sondern auch der rein geschichtlichen. In den Reden des HErrn selbst werden alttestamentliche Geschichten typisch ausgelegt. Ich finde den Grundsatz der prophetischen Auslegung ausgesprochen in jenen Worten des Paulus an Timotheus, die bekanntlich einen Hauptbeweis für die Eingebung des Alten Testamentes bilden.

„Du aber beharre in dem, was du gelernt hast, da du weißt, von wem du gelernt hast, und weil du von Kind auf die heiligen Schriften kennst, die dich weise machen können zur Seligkeit durch den Glauben an Christum Jesum. Jede Schrift (jeder Teil des Alten Testaments) ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Rüge, zur Aufrichtung zur Erziehung in Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes (der Diener Christi, der andere unterweisen und leiten soll), vollkommen sei, zu jedem guten Werk ausgerüstet“ (2 Tim 3, 14-17).

Die göttliche Eingebung bewährt sich, laut dieser Aussage, durch den zur Erbauung der Gläubigen geeigneten Inhalt der heiligen Bücher. Der Ausdruck Gott-gehaucht (Übersetzung aus dem Griechischen) eignet sich zunächst für einen Menschen, der vom göttlichem Geist bewegt, gleichsam von Gottes Hauch durchweht ist. Es ist hier übergetragen auf die Schriften der vom Heiligen Geiste getriebenen Gottesmänner. Nach dem biblischen Begriff der Inspiration ist also jeder Abschnitt des Alten Testaments zu einer Quelle heilsamer Unterweisung für die Diener Christi und die ihnen anbefohlenen Gemeinden bestimmt Nun aber finden sich auf dem Boden des Alten Testamentes, wenn man bei dem geschichtlichen und dem buchstäblichen Sinne stehen bleibt, auch unfruchtbare Strecken, und sogar Steine des Anstoßes, und ich halte dafür, dass selbst ein Paulus solche Abschnitte nicht anders als mit Hilfe der prophetischen Deutung zur Erbauung der Gemeinde auslegen konnte. Gerade solche Stellen weisen uns darauf hin, dass nicht bloß die Richtigkeit in geschichtlichen Dingen, dass auch der verborgene prophetische Sinn als notwendiges Stück zu der göttlichen Eingebung des Alten Testaments gehört. Gerät die mystische Deutung in Geringschätzung oder in Vergessenheit, so befürchte ich, der Glaube an Inspiration wird bald kein lebendiger Glaube mehr sein, er wird sich für die Dauer nicht halten können, sondern der Auflösung anheimfallen.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Psalmen, die Weissagungen der Propheten und die Gebräuche des Gesetzes eine geistliche Deutung erfordern; dasselbe gilt aber auch von der alttestamentlichen Geschichte. Wagen wir uns auf dies Gebiet, so sind wir nicht von Leitung verlassen, es kommt nur darauf an, die im Neuen Testament gegebenen Aufschlüsse und Andeutungen zu benützen und ihnen treulich zu folgen.

Paulus selbst hat einmal, wo er den prophetischen Sinn der Geschichte von Sara und Hagar, von Isaak und Ismael enthüllt, den Ausdruck „Sinnbild“ gebraucht (Gal 4,24). Er will damit sagen, die Erzählung bedeutet nicht nur das, was jedermann auf den ersten Blick darin findet, sondern auch etwas Anderes und zwar noch wichtigeres. Es spiegelt sich darin ein geheimnisvoller, göttlicher Ratschluss, der erst jetzt, nachdem die Erfüllung in Christus und Seiner Kirche erschienen ist, und auch jetzt nur im Lichte des Heiligen Geistes erkannt werden kann. Nun ist zwar die biblische Auslegung im Laufe der Zeiten unverkennbar ausgeartet und dadurch in Missachtung gekommen, und es konnte wohl nicht anders gehen. Dazu war im Anfang der christlichen Gemeinde prophetische Begabung verliehen, um ihr die Tiefen der Heiligen Schrift aufzuschließen. Als nun im Laufe der Zeit diese Begabung abnahm, daneben aber die Überzeugung, dass die Bibel voll mystischer Bedeutung sei, und das Verlangen nach Erkenntnis derselben fortlebte, da trat die Fantasie an die Stelle der Prophetie, und die bildliche Erklärung wurde in manchen Fällen zu einem Spiel menschlicher Willkür. Aber auch hier gilt der Grundsatz, dass wir aus dem eingeschlichenen Missbrauch keine Ermächtigung ableiten dürfen, den rechten Gebrauch zu verwerfen oder das Streben nach demselben aufzugeben.

Die echte prophetische Deutung wird nie eine Verneinung des geschichtlichen Sinnes sein. Die Prophetie in der christlichen Kirche muss sich, wir Paulus lehrt, nach der Gemäßheit des Glaubens richten (Röm 12,7). Jede Deutung des verborgenen Sinnes der Bibel muss mit den klar ausgesprochenen Wahrheiten der christlichen Lehre in Einklang stehen. Sie darf nicht nur der Glaubensregel nicht widersprechen, sie muss sich auch ganz innerhalb des Gedankenkreises der deutlich geoffenbarten Wahrheit bewegen, sie darf keine fremdartigen Stoffe in den kirchlichen Glaubenskreis einführen. Nur da ist eine echte Gabe der Auslegung, wo alles von dem rechten Mittelpunkt aus geschaut wird, und dieser Mittelpunkt ist Christus und seine Gemeinde. Die göttlichen Ratschlüsse, die in Christus und der Kirche in Erfüllung gehen, sind das Geheimnis, das durch die prophetische Deutung des Alten Testaments erläutert werden soll. Christus ist der Gegenstand der göttlichen Verheißungen und Offenbarungen, und zwar Christus in jenem umfassenden Sinne, wie Paulus (1 Kor 12,12; Gal 3,16) von Ihm spricht, das Haupt und die Glieder zusammen Ein Christus, jener Knecht des Ewigen, den Jesajas geschaut hat -Christus explicatus, wie Tertullian sich ausdrückt.

Im Mittelalter war die mystische Erklärung mitunter übel angewendet worden, indem man Sätze, die sonst keinen Grund in der Heiligen Schrift hatten, damit beweisen wollte. Mit Recht wurde von Luther das Sinnbild als Beweismittel in Glaubenssachen verworfen; doch wollte auch Luther sie nicht gänzlich abweisen, er ließ sie gelten, wenn sie dazu diente, die biblische Wahrheit zu erläutern und zu schmücken, sie finde nicht in der Denklehre, aber in der Redekunst ihre rechte Stelle.

Die alte protestantische Theologie war anfangs der mystischen Erklärung nicht günstig. Die reformierten Theologen waren es, die früher als die Lutheraner sich daran machten, dieses vernachlässigte Gebiet auszubauen. Es kam ihnen zustatten, dass man in den reformierten Gemeinden die Psalmen singt und sich bei den Predigten weniger auf die Perikopen beschränkt, und öfter alttestamentliche Texte behandelt. Dadurch wurde der Sinn für das Alte Testament und für das prophetische Verständnis desselben wach erhalten. Coccejus und Bitringa haben unter den Reformierten, Bengel und Crusius unter den Lutheranern eine prophetische Theologie begründet. Als nach der Verkümmerung, die der deutsche Vernunftglaube ganz besonders auf diesem Gebiet herbeigeführt hatte, eine neue Belebung eintrat, da wurde durch Menken, Hengstenberg und Bähr, Olshausen und Conrad Hofmann, Delitzsch, Michael Baumgarten und andere schriftgläubige Forscher das Verständnis der Typen des Alten Testaments und des innigen Zusammenhanges zwischen Geschichte und Weissagung erneuert und weiter gefördert.

Ich wurde in den Jahren 1835 bis 1837 durch meine Lehrer Olshausen und Conrad Hofmann in die prophetische Theologie eingeführt, und ich halte die Grundsätze, die ich von Ihnen gelernt habe, mit dankbarer Anerkennung im Wesentlichen fest. Später, als ich mit den kath. apostol. Gemeinden näher bekannt wurde, fand ich dort ein reicheres Maß von prophetischer Erleuchtung und zugleich die rechte kirchliche Ordnung. Was ich auf dem Wege dieser Lebensführung nach und nach an wohltätigen Aufschlüssen empfangen habe, das suche ich, soweit es die Genesis anbetrifft, hier wiederzugeben, nicht in wörtlicher Wiederholung, sondern in selbständiger Aneignung und freier Bearbeitung, weshalb denn auch die Verantwortlichkeit für das einzelne nicht meine Lehrer trifft, sondern mich. Mögen nun christliche Leser den Inhalt prüfen und sich aus dem inneren Wert oder Unwert der Auslegung überzeugen, ob ich den rechten Führern gefolgt bin oder nicht.

Man wird einwenden, dass manches keine Auslegung, sondern nur eine Anwendung sei. Dies sage ich selbst. Ich muss gestehen, dass ich in vielen Fällen die Grenze zwischen Auslegung und Anwendung, explicatio und adplicatio, zu bestimmen nicht vermag. Doch befürchte ich hiervon keine nachteiligen Folgen. Der Auslegung liegt es bei einem jeden Schriftwerk ob, die Absicht, die der Verfasser mit seinen Worten verbunden hat, scharf zu bestimmen; hierbei muss sie stehen bleiben und jede Anwendung, die dem Geiste des Verfassers fernlag, abweisen. Denselben Grundsatz muss bei der Heiligen Schrift die grammatisch-geschichtliche Weise befolgen. Sie muss sich streng an den Sinn, den der menschliche Verfasser mit seinen Worten verbunden hat, halten. Hier aber tritt der eigentümliche Fall ein, dass der göttliche Geist mit dem Schriftwort mehr sagen wollte als zu derselben Zeit der Verstand der menschliche Verfasser fasste (1 Petrus 1, 10-12), und gerade diese weiterreichende Bedeutung zu erkennen, ist nun die Aufgabe der christlichen Theologie. Es ergeben sich mannigfaltige prophetische Anwendungen, die dem Verstande des menschlichen Verfassers allerdings fern lagen, dem göttlichen Geiste aber, der alle Dinge erforscht, und das Zukünftige als gegenwärtig schaut, nicht fremd und unbewusst waren, als Er die Männer Gottes bei der Abfassung der Heiligen Schrift leitete und erleuchtete. Demnach sind wir als christliche Theologen verpflichtet, die Worte Moses tiefer aufzufassen, als er selbst sie gefasst hat. Ist die Auslegung eine Entfaltung dessen, was der Verfasser in seine Worte legen wollte, so wird in diesem Falle auch jede dem Sinne des göttlichen Geistes entsprechende Anwendung der biblischen Worte eine Auslegung im weiteren Sinne genannt werden können.

Je mehr ich in das prophetische Verständnis des Alten Testaments eingeführt wurde, desto klarer erschien mir auch der innere Zusammenhang desselben mit dem Neuen Testament, und meine Überzeugung von der Inspiration und somit auch von der Glaubwürdigkeit der heiligen Schriften wurde befestigt. Ich wünsche, dass diese Betrachtungen über die Genesis auch anderen zu Stärkung in diesem Glauben, der von vielen Seiten angefochten wird, dienen möchten.

In der Urgeschichte des Menschengeschlechtes sind bereits jene göttlichen Ratschlüsse abgeschattet, die uns durch Christus deutlich enthüllt werden. Die Lebensgeschichte der Patriarchen ist reich an Vorbildern, und besonders die Geschichte Josephs bildet ein bewunderungswürdiges Vorbild zu der Geschichte Jesu Christi und Seines Reiches. Es ist unmöglich, eine so tief liegende innere Übereinstimmung für ein Spiel des Zufalls zu halten. Sie fordert uns auf, in den vorbildlichen Ereignissen und in der Aufzeichnung derselben ein göttliches Walten zu erkennen und zu verehren.

Meine Überzeugung von der Inspiration und die hierauf gebaute Behandlung des Alten Testaments steht in Widerspruch mit der jetzt viel verbreiteten sagenhaften Auffassung, aber nicht mit der geschichtlich-kritischen Forschung. Diese soll vielmehr in ihrer vollen Berechtigung anerkannt werden. Wie es die Pflicht erfordert, die Grundsprachen der Heiligen Schrift immer genauer zu erforschen, so ist es auch ein rechtmäßiges und notwendiges Bestreben, den geschichtlichen Zusammenhang, dem die biblischen Bücher angehören, zu ergründen. Jede sichere Beobachtung muss willkommen geheißen werden. Aber zugleich sei es erlaubt, genau zu unterscheiden zwischen dem, was als Tatsache nachgewiesen wird, und zwischen dem, was nur Vermutung ist. Man weiß, wie sehr die Ansichten der Herren Kritiker in den meisten Fällen den Charakter des Persönlichen und Hinfälligen tragen. Man weiß auch, wie leicht sich die Gelehrten über die Grenze der sicheren Wahrnehmungen und der bloßen Vermutung täuschen. Man überschätzt so gerne den Wert eines Gedankens, der einem im Verlauf einer mühevollen Untersuchung aufgestiegen ist. Sollte so viel angewandte Zeit und Arbeit ohne Ergebnis bleiben? In der Zuversicht, womit manche Kritiker für ihre Vermutungen einstehen, zeigt sich etwas von der natürlichen Eingenommenheit des menschlichen Gemüts für ein Schoßkind, dem man viel Sorge und Mühe gewidmet hat. Nur sollte die „Kritik“ nicht von uns anderen die gleichen zärtlichen Muttergefühle für ihre Ausgeburten verlangen.

Überlassen wir die mancherlei negativen und positiven Vermutungen ihren Urhebern, und halten wir uns an das mit Sicherheit Nachgewiesene, so findet sich wenig Gefahr für die Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift. Was die kritische Zerlegung der Genesis und die Nachweisung verschiedener Quellen betrifft, aus denen ihr Verfasser geschöpft hat, so widerstreiten ihre Ergebnisse (richtig verstanden) der Inspiration keineswegs. Ich freue mich, hinsichtlich dieses wichtigen Punktes auf Delitzsch verweisen und meine Übereinstimmung mit ihm aussprechen zu können.

Die sagenhafte Ansicht beruht überhaupt nicht auf geschichtlichen Beweisen, sondern hauptsächlich auf dem Vorurteil, dass selbst in den ältesten Zeiten des Menschengeschlechtes keine übernatürliche Offenbarung, kein außergewöhnliches göttliches Walten in Wort und Tat, also kein Wunder und keine Weissagung stattgefunden haben könne. Nicht der grammatischen und geschichtlichen Untersuchung darf man entgegentreten, es gilt nur, die Einmischung jener falschen Voraussetzungen abzuwehren.

Die sagenhafte Ansicht gehört einer weltlichen Behandlung des Alten Testamentes an, die bei den protestantischen Theologen überhandgenommen hat, und selbst von solchen mitgemacht wird, die noch etwas von dem göttlichen Gehalt des Neuen Testamentes festhalten wollen.

Es ist nicht meine Sache, zu bestimmen, inwieweit die Verantwortlichkeit für solche Fehlgriffe auf den einzelnen fällt. Das aber ist unverkennbar, dass diese Verirrung im Ganzen ihre Hauptursache in dem Gesamtzustande der Kirche, und insbesondere der protestantischen Kirche Deutschlands hat. Soll uns der göttliche Inhalt des Alten Testamentes zum Bewusstsein kommen und uns lebendig bewusst bleiben, so müssen wir die heiligen Bücher im Heiligtum lesen, wir müssen dabei demütig zu den Füßen des höchsten Meisters sitzen, und nach der Erleuchtung und Heiligung, die Er allein gewähren kann, dürsten. Ich brauche nicht zu sagen, wie außerordentlich selten dies geschieht, wie wenig also der rechte, der Gott wohlgefällige und allein segensreiche Gebrauch von dem Alten Testamente gemacht wird. Es gibt Theologen, die es nie zu ihrer Erbauung gelesen haben. Sooft sie sich mit alttestamentlichen Büchern überhaupt beschäftigen, geschah es in weltlicher Stimmung und zu anderen Zwecken, nicht zur Förderung in der Erkenntnis Gottes und Seines Willens. Der göttliche Inhalt des Alten Testamentes kann nur dann geschaut werden, wenn es von dem Lichte bestrahlt wird, das vom Leuchter des Heiligtums ausgeht. Manche, ja vielleicht die meisten unserer Ausleger und Kritiker haben den Gegenstand die ganze Zeit ihres Lebens nie in diesem Lichte, sondern nur bei dem dürftigen Schein ihrer Studierlampe betrachtet. In diesem Falle ist es kein Wunder, wenn ihnen das lebendige und geistliche Verständnis, und eben damit die rechte Würdigung des Alten Testamentes fremd bleibt. Sie befinden sich in der Lage eines Botanikers, der (wenn dies überhaupt möglich wäre) nie eine lebendige, wachsende und aufblühende Pflanze beobachtet, sondern seine ganze Kenntnis der Pflanzenwelt allein aus dem trockenen Herbarium geschöpft hätte. Es gehört zu den Eigenschaften der Heiligen Schrift, dass sie sich für den Menschen, in dem göttliches Leben ist, lebensvoll, herzerquickend und den Geist erleuchtend beweist, aber für den geistlich Toten ein toter Buchstabe bleibt, dem Gleichgültigen fremd, dem Hochmütigen abstoßend erscheint. Es gilt auch von der Heiligen Schrift, was im 18. Psalm von Gott gesagt ist:

„Mit den Reinen bist Du rein, aber mit den Verkehrten bist Du verkehrt.“

Die mosaische Urgeschichte ist in der Gegenwart besonderen Anfeindungen ausgesetzt. Die deutsche Literatur im ganzen scheint jetzt zum Alten Testament eine ähnliche Stellung einzunehmen, wie die französische zur Zeit Voltaires. Mit Berufung auf die Fortschritte der Naturwissenschaften werden absprechende und geringschätzige Urteile über die biblische Schöpfungslehre gefällt. Und doch sind wir vollkommen berechtigt, an allem festzuhalten, was die Genesis über die Schöpfung, die Einheit des Menschengeschlechtes, das Paradies, den Fall des Menschen, die Sündflut und die Völkertrennung sagt. Wenn ganz andere, und zum Teil entgegengesetzte Vorstellungen von der Urgeschichte der Erde und des Menschen in Umlauf gesetzt werden, so ist es unsere Pflicht, genau zu prüfen, ob sie auf Tatsachen oder auf Vermutungen beruhen? Jede Tatsache, die auf dem Weg der Beobachtung und des Versuches festgestellt wird, muss als eine Bereicherung unserer Kenntnis der Werke Gottes willkommen geheißen werden. Die rastlose Tätigkeit in Erforschung der Natur ist nicht allein ein Recht, sondern eine Aufgabe und Pflicht des Menschengeschlechtes. Denn jenes göttliche Wort an die ersten Menschen: „Machet die Erde euch untertan“ -bezieht sich nicht nur auf äußerliche Beherrschung mit dem Schwert und dem Pfluge, sondern es enthält zugleich die Aufforderung, durch Anwendung aller dem Menschen verliehenen natürlichen Kräfte, durch Anstrengung des Verstandes und der Sinne die Natur als Erkenntnisgegenstand zu bewältigen. Während wir also für jede neue tatsächliche Entdeckung den Naturforschern dankbar sind, mögen sie uns erlauben, ihre Vermutungen an den rechten Ort, nämlich in das Gebiet des Zweifelhaften gestellt zu lassen. Denn fürwahr nicht weniger als in der alttestamentlichen Kritik spielt in den neuesten Lehren der Naturforscher über die Bildung der Erde und die Entstehung des Menschen die Fantasie die Hauptrolle. Wer nur zwei oder drei Jahrzehnte auf die wechselnden Ansichten über diese Fragen gelauscht hat, weiß aus Erfahrung, wie rasch eine Lehre durch eine andere, geradezu entgegengesetzte, in den Hintergrund gedrängt worden ist. Mit umso größerem Befremden muss man das Seelenrätsel wahrnehmen, dass ungeachtet solcher Erfahrungen die neu auftauchenden Fantasiegebilde wieder mit der gleichen Zuversicht und Begeisterung aufgenommen werden. Wollte man sich bescheiden, die Grenzen der jetzigen Naturkenntnis und die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit überhaupt etwas genauer ins Auge zu fassen, so könnte man damit mehr Schärfe des Denkens und mehr weltweise Bildung beweisen als durch die jetzt übliche leichtgläubige Hinnahme jedes unreifen Versuches zur Lösung des Weltenrätsels.

Die strenge Naturforschung bringt der Offenbarung und dem Glauben an Offenbarung keinen Schaden. Sie zeigt vielmehr, dass es ein Gebiet gibt, über das wir höheren Aufschluss bedürfen und nur durch Offenbarung Aufschluss bekommen können. Auch hier liegt das Nachteilige nicht in dem Fortschritt wissenschaftlicher Forschung, sondern in der Einmischung weltweiser Vorurteile. Den falschen Theorien von der Bildung des Weltgebäudes, der Erde, der Lebewesen auf derselben und des Menschengeschlechtes liegt das Vorurteil gegen die Annahme einer Schöpfung und gegen die Anerkennung des Schöpfers zugrunde. Und doch wird es nie gelingen, ohne diese Anerkennung eine das Denken befriedigende Vorstellung von dem Anfang der Dinge zu gewinnen. Man meint, die schöpferische Tat beseitigen zu können, indem man alles als Entwicklung fasst und dieser Entwicklung eine Dauer von unzähligen Jahren zuschreibt. Aber auch die langwierigste Entwicklung setzt einen Anfangspunkt voraus - mag man sich diesen als einen kreisenden Welten-Urnebel oder sonst beliebig vorstellen - und an diesem Anfangspunkt steht doch wieder das gleiche Schöpfungswunder, dem man ausweichen wollte. Der Beginn des Lebens und das Hervorgehen des Belebten aus dem Unbelebten bleibt gleich geheimnisvoll, und das Rätsel ist damit nicht gelöst, dass man es um Millionen Jahre in die Vergangenheit zurückschiebt. Die Gnostiker, die von der Annahme einer vollkommenen Lichtwelt ausgingen, meinten die Entstehung des Bösen und des Übels in der Welt durch eine endlose Kette von Ausstrahlungen, die sich allmählich verschlechtert haben, erklären zu können. Aber damit schafften sie sich das Rätsel nicht vom Halse. In der gleichen Selbsttäuschung sind unsere Erdforscher und Weltallforscher befangen, wenn sie meinen, durch ihre ungeheuren Entwicklungsperioden das Schöpfungswunder loszuwerden. Ein Anfang, in dem als Keim dieses unermesslich reiche Weltall mit allen Gestalten des Lebens beschlossen war, bleibt ein gleich großes Wunder wie ein Weltgebäude, das durch das Wort des Allmächtigen in raschem Fortschritt aufgerichtet wird.

Wir verdanken der Sternkunde eine erweiterte Vorstellung von der Größe des Weltgebäudes, die dem Altertum fremd war und auch in der Bibel nicht ausgesprochen ist. Aber auch hierin liegt keine Gefahr für das Ansehen der heiligen Schriften. Indem Gott über Sein Wesen und Seine Ratschlüsse den Menschen durch Offenbarung erleuchtete, überließ Er es ihm, die Naturdinge, soweit sie überhaupt für den menschlichen Verstand erkennbar sind, zu enträtseln.

Die Entfernung, die Größe, die Bewegung der Gestirne, die Gestalt der Erde und ihre Stellung im Weltgebäude -dies sind Gegenstände, deren Erforschung dem Menschen anheimgegeben ist. Wäre ihm über diese Fragen eine seiner Arbeit voraneilende übernatürliche Belehrung gegeben worden, so ist sehr die Frage, ob diese irgendetwas zu dem ewigen Heil des Menschen beigetragen und ob sie auch nur Anerkennung gefunden hätte? Es ist ein ganz anderes Gebiet vorhanden, über das uns Verstand und Sinne keinen Aufschluss geben und auch nie Aufschluss verschaffen werden. Wer Gott sei, wozu Er den Menschen geschaffen habe, was Er von uns verlange, wie Er gegen uns gesinnt sei, was Er für uns tun, und wie Er uns dem Ziele unsrer ewigen Bestimmung entgegenführen wolle? -dies sind die Fragen, die kein Verstand der Verständigen beantworten kann. Die Ratschlüsse Gottes zu unserer Seligkeit sind der eigentliche Gegenstand der Offenbarung, und auch die Genesis ist hauptsächlich dazu bestimmt, uns über diese göttlichen Gedanken Aufschluss zu geben. Die Offenbarungswahrheiten bleiben fest, und unser Glaube an die göttliche Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Liebe, an unsere Erlösung und unsere künftige Vollendung erleidet keine Erschütterung, auch wenn die Vorstellungen über das sichtbare Weltgebäude sich ändern. Stehen die Wunder der Schöpfung jetzt größer vor unseren Augen als früher, so erscheinen auch die Wunder der Herablassung Gottes und der Erlösung umso größer und herrlicher. Die alten prophetischen Lobgesänge im B. und 19. Psalm verstummen deshalb nicht, sie gewinnen vielmehr eine neue und tiefere Bedeutung.

Es ist unmöglich zu schließen, ohne noch ein Wort über den schärfsten Gegensatz gegen die biblische Wahrheit, nämlich über den Materialismus der neuesten Zeit zu sagen. Die materialistische Weltanschauung beruht nicht auf einem Fortschritt, sondern auf einem Stillstand des weltweisen Denkens. Weit entfernt, Aufschlüsse zu gewähren, verzichtet der Materialismus vielmehr auf jede Erklärung der Geheimnisse, die uns in der Natur und im Leben allenthalben umgeben. Die Ausbreitung der materialistischen Weltansicht steht nicht mit einer Steigerung der Denkkraft, sondern mit einer Erschlaffung derselben in Zusammenhang. Durch den Materialismus wird der Mensch nicht allein, wie jedermann einsieht, als sittliches Wesen, sondern auch als denkendes Wesen erniedrigt. Die Herabwürdigung des Menschen zum Tier war schon längst als Gewohnheit in Übung. Das verhältnismäßig Neue und das Gefahrvolle ist, dass sie jetzt auch als Lehre sich hervorwagt und das Bewusstsein der Menschenwürde vollends aus den Gemütern zu tilgen sucht.

Es ist eine seltsame und unheimliche Erscheinung, dass dieselben, die den Menschen allmählich aus der Tierheit sich emporarbeiten lassen, zugleich die andere Irrlehre verkündigen, er sei nicht Geschöpf, sondern selbst das höchste der Wesen. So setzen sie in ihrer Vorstellung bereits das Tier auf den Thron der Gottheit, und es kann noch so weit kommen, dass man diese Truggebilde einer von göttlichem Lichte verlassenen Denkungsart in die Wirklichkeit überzuführen sucht, und für den als Tier erklärten Menschen zugleich göttliche Ehren in Anspruch nimmt So gereicht dieses Streben, ohne dass seine Beförderer es ahnen, dem Worte Gottes, das man wegzuschaffen und abzutun gesonnen ist, zur Bestätigung. Denn eben dieser schreckliche Ausgang des Abfalles von Christus ist in den prophetischen Schriften längst vorausgesagt. Oder hat nicht der Seher Johannes den Menschen der Sünde, den Antichristen der letzten Zeit, geschaut in Gestalt eines wilden Tieres, das sich an Gottes Stelle setzt und göttliche Anbetung von den Bewohnern der Erde empfängt? (Offb 13, 1-9, vergl. mit 2 Thess 2, 3-12.)

Die materialistischen Irrtümer sind finstere Wahngebilde eines menschenmörderischen Geistes, der an der Zerstörung alles Guten arbeitet, wiewohl sich bis jetzt wohl nur wenige von den Werkzeugen dieses Geistes bewusst sind, welchem Ziele sie entgegensteuern. Gegenüber dem allen erscheint uns in umso hellerem Lichte der unschätzbare Wert der Offenbarungslehre. Der Mensch ist nicht Gott, sondern Geschöpf, er ist abhängig von Gott, wie ein hilfloses Kind von seinem Vater -der Mensch ist nicht Tier, sondern von den niederen Geschöpfen wesentlich verschieden, er ist nach dem Bilde Gottes geschaffen, in ihm und durch ihn will Gott sich offenbaren, er hat eine ewige Bestimmung. Durch diese Lehre allein wird zugleich die Würde des Menschen gewahrt und seine Verantwortlichkeit festgestellt. Vergessen wir nicht, auf welchem Wege diese Wahrheiten uns zugekommen sind. Die einzige Gottes und des Menschen würdige Schöpfungslehre findet sich in der Genesis, dieser „ältesten Urkunde des Menschengeschlechts“.

Vor einem Jahrhundert versuchte Herder dem Unglauben seiner Zeit gegenüber nachzuweisen, welchen Schatz wir an dieser Urkunde besitzen; er zeigte die dichterische Erhabenheit und die tiefe seelische Wahrheit in den ersten Abschnitten der Genesis, und seine Arbeit ist auch noch für die Gegenwart bedeutend. Er hielt es nicht für seine Aufgabe, Übereinstimmung der mosaischen Schöpfungsgeschichte mit den Ergebnissen der Sternenkunde und der Erdkunde nachzuweisen.

Dagegen ist in den letzten Jahrzehnten mannigfaltiges in dieser Richtung geleistet worden. Ich weise auf die Arbeiten von Andreas Wagner, von Rougemont, Heinrich Kurz, Delitzsch, Reusch und anderen hin.

Die älteste Urkunde des Menschengeschlechts ist einem Tempel zu vergleichen, dessen Pforten durch den Schutt, den Unglaube, Unwissenheit und Vorurteil aufgehäuft haben, beinahe unzugänglich geworden sind. Es kostet Arbeit, diese Hindernisse wegzuräumen, den Zugang zu ebnen, die Schwelle zu reinigen und den missachteten Bau in seiner Schönheit und Einheit wiederum sichtbar zu machen. Dann aber ist es Zeit, an die eigentliche Bestimmung des Tempels zu gedenken, in das Gotteshaus einzutreten und im Heiligtum die Nähe Gottes zu erfahren und zu verehren. Jene mühsame und mitunter widerwärtige Vorarbeit leisten die gelehrten Verteidiger und Ausleger, und wer sollte ihnen nicht dankbar dafür sein! Doch müssen auch solche sein, die zum Eintritt in das Heiligtum auffordern, und dem, welcher der Einladung willig Folge leistet, behilflich sind, das göttliche Walten zu erkennen und sich desselben zu erfreuen. Solcher Art ist die Aufgabe, an der auch ich in meinem geringen Teil mitzuarbeiten habe. Möchte meine Bemühung nicht wertlos und unfruchtbar erfunden, sondern von Gott gnädig angenommen werden als ein Beitrag zur Verherrlichung Seines Namens.

Augsburg, am Tage Allerheiligen 1869

Der Verfasser.

DIE URGESCHICHTE

1. Die Schöpfung

1 Mo 1,1-2,3

Wie den Propheten des HErrn gegeben ward, im Geiste die zukünftigen Werke Gottes zu schauen, so wurde dem Moses, oder einem der Erzväter, die vor Moses gelebt haben, durch den Heiligen Geist das Auge geöffnet, um die großen Taten Gottes in der Vergangenheit zu schauen und zu beschreiben. Wie auch der Mann Gottes geheißen haben mag, durch den die Schöpfungsgeschichte aufgezeichnet worden, so viel ist gewiss: er hat diese durch Offenbarung empfangen. Gott hat diesem Seher jene Seine gewaltigen Taten gezeigt, von denen, da sie geschahen, kein Mensch Zeuge war, wie der HErr zu Hiob spricht: „Wo warest du, da ich den Grund der Erde legte?“ (Hiob 38,4)

Diese Offenbarung ist nicht bestimmt, uns über die Naturgeschichte im Einzelnen zu unterrichten, denn diese zu erforschen, vermag der Mensch mit seinen eigenen Kräften, und dazu bedarf er der Erleuchtung des Heiligen Geistes nicht. Die Absicht Gottes ist vielmehr, uns Seine Macht und Güte und die Ratschlüsse Seiner ewigen Weisheit und Liebe zu offenbaren, damit wir Ihn erkennen, fürchten, lieben und Ihm dienen.

Aus der reichen Fülle dieses Abschnittes lasst uns nur drei zu unserer Erbauung dienende Lichtgedanken schöpfen. Wir werden aufgemuntert zur Anbetung Gottes, wir vernehmen den Ratschluss Seiner Offenbarung im Menschensohne, und wir sehen ein Unterpfand der künftigen Vollendung Seines Reiches.

1. Wir werden zur Anbetung Gottes des allmächtigen Vaters aufgefordert. Wir werden darüber erleuchtet, wenn wir für alle Wohltaten dieses Lebens zu danken haben. Wir vernehmen, wer uns diese Erde als Wohnstätte bereitet, wer uns mit Nahrung versorgt, wer uns selbst geschaffen, erhalten und gesegnet hat. Gott, der himmlische Vater, hat das alles getan. Sein Schöpferwort und Sein Segen ist heute noch wirksam wie am ersten Tag. Das alles geschieht von Seiner Seite „aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohne alle unser Verdienst und Würdigkeit, wofür wir Ihm zu danken, zu dienen und gehorsam zu sein schuldig sind.“ Das kleinste Christenkind, das den ersten Artikel des Glaubens beten gelernt hat: „Ich glaube an Gott den allmächtigen Vater, Schöpfer Himmels und der Erden“, ist weiser als die weisesten unter den griechischen Philosophen waren, denn diese suchten zwar Gott zu erkennen, aber es fehlte ihnen dieses helle Licht, das uns schon von Kindheit an umleuchtet. Sie wussten nicht, dass Er durch Seinen Willen alle Geschöpfe aus dem Nichts hervorgerufen hat. Sie wussten nicht, dass Er alle Dinge durch Seinen Sohn erschaffen hat, durch das Wort, das im Anfang war, durch die ewige, wesentliche Weisheit, deren Rede wir in Salomos Sprüchen (Spr 8,22-31) wahrnehmen:

„Der HErr hat mich gehabt im Anfang Seiner Wege; ehe Er etwas schuf, war ich da; da Er die Himmel bereitete, war ich daselbst; da Er den Grund der Erde legte, war ich der Werkmeister bei Ihm, und hatte meine Lust täglich und spielte vor Ihm allezeit; und spielte auf Seinem Erdboden, und meine Lust war an den Menschenkindern.“

Die Weisen der Heidenwelt wussten nicht, woher der Tod und das ganze Heer der Übel entstanden ist, sie wussten nicht, dass alle Werke Gottes, wie Er sie gemacht hatte, sehr gut waren, und dass der Tod durch die Sünde des Geschöpfes in die Welt gekommen ist. Jetzt, da wir Licht über dies alles empfangen haben, sind wir imstande, aus den Werken der Schöpfung die ewige Kraft und Majestät Gottes zu erkennen, die Spuren Seiner Weisheit und Güte wahrzunehmen und Ihm für alle Seine Wohltaten die Ehre zu geben, die Ihm gebührt. Die mosaische Schöpfungsgeschichte ist der Lobgesang, der in uralter Zeit durch Eingebung des Heiligen Geistes angestimmt worden ist, auf Gott den allmächtigen Vater. Diesem Loblied haben alle die uns vorangegangenen Geschlechter der Gerechten sich angeschlossen, und auch wir sind nun berufen, Amen zu sagen und in das Halleluja mit einzustimmen. Die vier lebendigen Wesen im Himmel, die das dreimal Heilig singen, und die vierundzwanzig Ältesten, die ihre Kronen vor dem Thron Gottes niederlegen, beten Ihn an, der da lebet von Ewigkeit zu Ewigkeit und sprechen:

„HErr, Du bist würdig zu nehmen Preis und Ehre und Kraft, denn Du hast alle Dinge geschaffen und durch Deinen Willen haben sie das Wesen und sind geschaffen.“

(Offb 4,9-11)

Diese Pflicht der Anbetung und des Dankes fühlt jedes Menschenherz, die Verkündigung des allmächtigen Vaters und Schöpfers ruft in dem Innern eines jeden Menschen eine Antwort, einen Widerhall, ein ja und Amen hervor. Wir kennen Seine Stimme, denn wir sind Seines Geschlechtes. Er ist nicht ferne von uns, denn in Ihm leben, weben und sind wir; Er ist uns so nahe, dass wir Ihn fühlen und finden können. (Apg 17,27.28) Darum ist die Unterlassung des Dankes und die Versäumnis der Anbetung eine so große Sünde. Es ist die Sünde, womit die Irrwege des Heidentums angefangen haben. (Röm 1,18-25) Es ist die Sünde, die an den Heiden mit Verfinsterung ihres Herzens bestraft worden ist; es ist also eine noch schwerere Sünde, wenn Christen das Gefühl des Dankes gegen Gott unterdrücken und Seine Anbetung versäumen. Auch bei den Christen wird diese Verschließung des Herzens gegen Gott durch zunehmende Finsternis im Geiste und im Verstande gestraft. Nur so war es möglich, dass auch unter uns Toren aufkamen, die (nicht allein in ihrem Herzen, sondern mit frechem Munde) sprechen: „Es ist kein Gott.“ (Ps 14,1)

Die Ungläubigen gebrauchen als einen Vorwand, womit sie sich entschuldigt halten, dass die Werke Gottes in der Natur, wie der Mensch sie jetzt genauer und vollständiger als früher kennt, nicht mit der mosaischen Schöpfungsgeschichte übereinstimmen.

So viel ist richtig, dass die Schöpfungswerke, wie wir sie jetzt kennen lernen, größer sind als wir bei dem früher üblichen Verständnis der Schöpfungsgeschichte dachten, dass sie weit älter zu sein scheinen, als wir annahmen. Aber damit erscheint für einen erleuchteten Christensinn das Werk der Schöpfung nur noch wunderbarer als zuvor, und wir haben nur umso reichere Ursache, die Allmacht des HErrn zu erkennen und Ihn zu preisen. Der Grund des Unglaubens in unsrer Zeit liegt nicht in der zunehmenden Kenntnis der natürlichen Dinge, sondern in der abnehmenden Wärme der Herzen. Durch eine alte gemeinsame, schwere Schuld der Christen hat das göttliche Licht im Gewissen und die wahre Vernunft bei vielen abgenommen. Damit ist aber niemand entschuldigt.

Werden wir gewürdigt, ein neues Maß der Erleuchtung und der Geistesweihe zu empfangen, dann sollen wir mit heiliger Freude und aufrichtiger Hingebung unserer selbst dem allmächtigen Vater danken, Seine herrlichen Eigenschaften bewundern und Ihn wegen Seiner großen Taten preisen und anbeten.

2. Wir werden auf den Ratschluss der Offenbarung Gottes in dem Menschensohne hingewiesen. Die Werke Gottes waren gut von Anfang an, aber sie waren nicht vollkommen. Er hat Seine Schöpfung auf Erden mit den niederen Geschöpfen, den Pflanzen und Tieren begonnen und in dem Menschen beschlossen. Seine Werke sind nicht bestimmt, ewig auf derselben Stufe stehen zu bleiben, sondern nachdem Er sie geschaffen hat, führt Er sie zu höherer Vollkommenheit, wie geschrieben steht: „...es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.“ (l. Joh 3,2)

So wurde der Mensch in Unschuld geschaffen, er war zur Beherrschung der Erde und der niederen Schöpfung berufen und ausgerüstet. Jene Morgenstunde der neu geschaffenen Menschheit war lieblich und herrlich; doch befand sich der Mensch damals noch nicht auf jener Stufe der Vollendung, die ihm nach dem ewigen Ratschluss Gottes zugedacht ist. Gott sprach: „Lasset uns den Menschen machen, in unserm Bilde, nach unserer Ähnlichkeit.“

Allerdings wurde zur Ausführung dieses Wortes sogleich der Grund gelegt, und in Adam war schon am Tage, da er geschaffen wurde, Gottes Bild zu erkennen. Aber das Wort des Ewigen reicht noch weiter, es umfasst die vollkommene Erscheinung des Ebenbildes Gottes in dem Geschöpf, die damals noch zukünftig war. Dieses Wort Gottes zeigt an, dass die durch den Fall eingetretene Verdunkelung des Ebenbildes nicht immerfort dauern soll. Die Absicht Gottes bei der Schöpfung war nicht allein durch Werke, wie sie ein Künstler schafft, Seine Allmacht und Weisheit zu beweisen, sondern Er wollte sich selbst persönlich, gegenwärtig, innewohnend in Seinem Geschöpf offenbaren; und das Geschöpf, in dem diese Offenbarung geschehen soll, ist nicht die Engelwelt, sondern der Mensch: „Lasset uns den Menschen machen nach unserm Bilde.“

Im Menschen soll Gott geoffenbart und geschaut werden.

Es gibt ein ewiges Abbild des unsichtbaren Vaters, das ist der eingeborene Sohn, „geboren aus dem Vater vor aller Zeit, geboren, nicht geschaffen, Gott von Gott, Licht vom Lichte, Eines Wesens mit dem Vater“, der „Abglanz Seiner Herrlichkeit, das Ebenbild Seines Wesens.“ (Heb 1,3)

Dies ist das unerschaffene Ebenbild Gottes. Ist nun der Mensch das erschaffene, zeitliche und bis dahin noch unvollkommene Ebenbild, so muss zwischen beiden eine Ähnlichkeit bestehen, und der ewige Sohn, der in der Herrlichkeit bei dem Vater wohnt, ist das eigentliche Urbild, nach dem der erste Mensch auf Erden gestaltet wurde. Adam wird ja in der Schrift auch ein Sohn Gottes genannt (Lk 3,38) und ein Bild des künftigen, nämlich Christi. (Röm 5,14) Soll nun Gott in dem Geschöpf erscheinen, soll Sein innerstes Wesen, Seine Liebe und Heiligkeit im Menschen geoffenbart werden, so ist der Weg, den Gott hierfür schon in der Schöpfung bereitet hat, kein anderer als: Vereinigung des ewigen Ebenbildes Gottes mit dem zeitlichen, oder Menschwerdung des Sohnes Gottes. Dieser Ratschluss der ewigen Liebe ist es, den Gott bereits am sechsten Tage der Schöpfung mit den Worten verkündigt hat:

„Lasset uns den Menschen machen in unserm Bilde, nach unsrer Ähnlichkeit.“

Der Feind und Verführer des Menschen, und der von ihm irregeführte Mensch haben getan, was sie konnten, um diesen Ratschluss der göttlichen Liebe zu vereiteln. Dennoch blieb, obgleich alle Menschen sich untreu bewiesen, die Treue Gottes fest und unveränderlich. Der Arge konnte die Ausführung des göttlichen Planes nicht verhindern, aber das allerdings hat der Feind und die Sünde des Menschen zu bewirken vermocht, dass die Ausführung nicht mehr anders als durch Leiden des Todes möglich war. Die göttliche Liebe hat, um ihrem Vorsatz treu zu bleiben und ihr Wort zu erfüllen, in dem Mensch gewordenen Sohne die Bitterkeit des Todes geschmeckt und den Fluch getragen. So ist der Menschensohn in die Herrlichkeit eingegangen, so hat Er es dahingebracht, die menschliche Natur unsträflich, Gott gefällig und verklärt darzustellen, so ist Er in unserm Fleische der wahre himmlische Adam geworden, und so hat Er das uralte Gotteswort, dass im Menschen Gottes Bild und Ähnlichkeit erscheinen soll, zur vollen Wahrheit gemacht.

3. Wir sehen in der Schöpfungsgeschichte ein Unterpfand der Vollendung des Reiches Gottes. - Wir wissen nicht, welcher Art die sechs Schöpfungstage waren und wie lange ein jeder von ihnen gewährt hat, Tage, von denen die drei ersten verflossen, noch ehe Sonne und Mond geschaffen wurden, Arbeitstage des Allmächtigen, die kein Mensch mit durchlebt, die nur der heilige Seher im Geiste geschaut hat. Aber das ist uns deutlich geoffenbart, dass die gewaltige Arbeit Gottes nicht mit einem Male zustande gebracht, sondern stufenweise ihrem Ziele entgegengeführt worden ist. Davon gibt ja auch die Natur mit den mannigfaltigen Überresten der grauen Vorzeit, die man in der Erde findet, Zeugnis, dass die Bildung der Erde und der Geschöpfe auf ihr von Stufe zu Stufe fort-geschritten ist, und zwar durch dieselben Stufen oder Zeiten, wie sie in der Schöpfungsgeschichte angegeben werden, bis zuletzt der Mensch als die Krone der Schöpfung ins Dasein trat. So ist der Aufbau dieser sichtbaren Welt allmählich zustande gekommen, bis das Schöpfungswerk an dem großen Sabbat seinen Abschluss fand.

„Also vollendete Gott am siebenten Tage Seine Werke und ruhte am siebenten Tag von allen Seinen Werken und segnete den siebenten Tag und heiligte ihn.“

Anfangs, da die Erde noch wüste und leer war, bei der Scheidung des Meeres von der Erde, bei Erschaffung der Pflanzen- und Tierwelt, konnten selbst die Engel des Himmels ohne göttliche Offenbarung nicht voraus wissen, zu welchem Ziele die Schöpfungsarbeit endlich gelangen würde, nämlich zur Erscheinung des Ebenbildes Gottes in der Schöpfung.

 Die Schöpfungsarbeit, mit dem Sabbat an ihrem Schluss, bildet ein abgeschlossenes und beendigtes Ganzes; ein anderes Weltalter begann, als der Mensch fiel, und als er, aus dem Paradiese verwiesen, seine mühevolle Laufbahn antrat. Es ist das Weltalter voll Mühe und Not, das noch nicht zu Ende gekommen ist. Nicht nur der Mensch ist es, der zu ringen und sich abzumühen hat, es geht auch eine Arbeit Gottes vonstatten, indem Er den Widerstand des Geschöpfes zu besiegen, den Ratschluss des Heils auszuführen und endlich Sein unvergängliches Reich aufzurichten unternommen hat. Ohne Offenbarung und ohne Glauben hätten wir nur trostlose Aussichten auf eine endlose Fortdauer des jetzigen Elendes der Menschheit, bis nach und nach die ganze Erde zu einem ungeheuren Kirchhof voll Gräber geworden wäre. Aber nun ist uns das Licht der göttlichen Offenbarung geschenkt. Auch dieser Weltlauf wird zuletzt bei einem herrlichen Ziele ankommen, und auf die Jahrtausende voll Mühe und Arbeit wird der große Sabbat folgen;

„denn es ist noch eine Ruhe“ - eine Sabbatfeier -„vorhanden dem Volke Gottes.“

(Heb 4,9)

Der Ewige arbeitet an einer neuen Schöpfung, und diese wird endlich vollendet dastehen, herrlicher als die erste, wie geschrieben steht:

„...Siehe ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, dass man der vorigen nicht gedenken wird noch zu Herzen nehmen.“

(Jes 65,17)

So lauten die Verheißungen Gottes, und als eine Bürgschaft für ihre Erfüllung ist uns die Schöpfungsgeschichte gegeben. Der siebente Tag, an dem der HErr ruhte von aller Seiner Arbeit und sich freute über alle Seine Werke, denn sie waren sehr gut, ist das Vorbild und Unterpfand des künftigen Ruhetages. Es kommt die Zeit der Erquickung von dem Angesichte des HErrn, wenn Er Seinen Sohn vom Himmel senden und das Reich des Friedens aufrichten wird. Dann wird Er sich über die Vollendung des Erlösungswerkes freuen. „Seine Ruhe wird Ehre sein“, (Jes 11,10) und an Seiner Freude und Herrlichkeit wird die Gemeinde der Erstgeborenen teilnehmen. Dann ist Satan gebunden, dass er die Völker auf Erden nicht mehr verführen kann; die Erde ist von dem alten Fluch befreit, und die Hülle der Finsternis, womit jetzt noch die Heiden bedeckt sind, ist weggenommen. So gewiss als das Schöpfungswerk sein Ziel erreicht hat, wird auch das Werk einer neuen Schöpfung zum Abschluss kommen.

Es ist eine alte Erwartung, dass dieses Weltalter in 6000 Jahren ablaufen soll, die den sechs Tagen der Schöpfung entsprechen. Sie findet sich bei den Israeliten, sie findet sich auch bei sehr alten christlichen Lehrern (z.B. in dem sogenannten Briefe des Barnabas). Die Schrift sagt deutlich, dass jener große Sabbat, der dem Menschengeschlecht und der Erde verheißen ist, tausend Jahre währen soll (Offb 20,1-7), und umso wahrscheinlicher ist es, dass man auf das ganze Weltalter die Worte anwenden darf:

„Tausend Jahre sind vor dem HErrn wie ein Tag, und ein Tag wie tausend Jahre.“

(2 Petr 3,8)

Von Adams Erschaffung bis zu Christi Geburt sind vier Jahrtausende verflossen, seit Christi Geburt andere 1935 Jahre; das fünfte Jahrtausend ist also schon vorbei und von dem sechsten bei weitem der größte Teil. Dadurch werden wir in der tröstlichen Hoffnung bestärkt, dass der König des Friedens bald geoffenbart werden soll.

Der Aufrichtung Seines Reiches geht aber die Errettung und Vollendung jener Erstgeborenen voran, die mit Christo das Reich antreten sollen. (Offb 14,16) Die Vollendung der Erstlinge ist das nächste große Ereignis, das in der Ausführung der Ratschlüsse Gottes bevorsteht. Wie man am sechsten Arbeitstag der Woche etwas früher als sonst Feierabend macht und dann die Austeilung des Lohnes stattfindet, so verkürzt der HErr für Seine Gläubigen das sechste Jahrtausend und eilt mit Seinem Lohne ihnen entgegen. Unsre Versammlung zu dem HErrn, wenn Er kommt, wird der Eingang sein in die Sabbatruhe, zu der wir berufen sind (2 Thess 1,7; 2,1); nun gilt es, dass wir mit heiliger Furcht uns in acht nehmen, damit wir diese große Verheißung nicht versäumen, und unser keiner dahinten bleibe. Den Kindern Israel, als sie aus Ägypten zogen, wurde der Eingang in die Ruhe Kanaans verheißen, sie hörten die Stimme Gottes, sie folgten ihr eine Zeitlang, aber dann verstockten sie ihre Herzen, sie gerieten in Unglauben, sie entrüsteten den HErrn und Er schwur in Seinem Zorn:

„...sie sollen zu Meiner Ruhe nicht kommen.“

Diese Warnung wurde der Christenheit schon im apostolischen Zeitalter gegeben (Heb 3,7; 4,11), und die Geschichte der Kirche hat gezeigt, wie nötig die Warnung war. Sie gilt in erhöhtem Maße dem jetzigen Geschlechte der Christen; sie richtet sich an das Gewissen jedes einzelnen, denn wenn die Stunde der Entscheidung kommt, wird kein Bruder den anderen erlösen können, Gott wird das Verborgene der Herzen offenbaren und ein jeder wird seine Last tragen.

„Darum sehet zu, liebe Brüder, dass nicht jemand unter uns ein arges ungläubiges Herz habe, das da abtrete von dem lebendigen Gott, sondern ermahnt euch selbst alle Tage, so lange es heute heißt, dass nicht jemand unter uns verstockt werde durch Betrug der Sünde. - Lasst uns Fleiß tun, einzukommen zu dieser Ruhe, auf dass nicht jemand falle in dasselbe Beispiel des Unglaubens.“ (Heb 3,12,13; 4,11)

2. Das Paradies

1 Mo 2,4-25

Wir sehen hier den Menschen im Paradies und im Stande der Unschuld, und es bieten sich drei Gegenstände zur Betrachtung dar: die Güte Gottes, die Würde des Menschen, und die Vorbedeutung der zukünftigen Herrlichkeit.

1. Wir erkennen in dem paradiesischen Stande des Menschen das Walten der göttlichen Güte. Ehe der

Mensch da war, hat Gott alles für ihn bereitet, nicht bloß was zu seiner Erhaltung unentbehrlich war, sondern auch, was sein Herz erfreuen und sein Dasein lieblich machen konnte. Nicht die ganze Erde war paradiesisch, aber im fernen Morgenlande fand sich eine auserwählte Stätte, ein „Garten der Lieblichkeit“, den Gott mit besonderer Fürsorge gepflanzt und zur Wohnstätte des Menschen bestimmt hatte. Wie ein Kind, wenn es auf die Welt kommt, schon eine Stätte findet, die ihm die Mutterliebe zurechtgemacht hat, wie die Mutter schon vorher für das Kind sorgt und Anstalten trifft, so hat die göttliche Güte und Weisheit für den Menschen gesorgt, ehe er noch da war. Zu allen Wohltaten, die Adam schon vorfand, fügte Gott zuletzt als das köstlichste Geschenk die Gehilfin hinzu, die ihm ähnlich war, die ihm seine Mühe erleichtern und jede Freude erhöhen sollte.

Dieselbe göttliche Weisheit und Güte währt ewig, sie waltet auch über uns und sie hat auch für uns Vorsorge getroffen. Denn das Paradies mit den Wohltaten, die es in sich schloss, ist nicht ganz verschwunden. Im Gegenteil, wenn wir Menschen mit Gott wandelten, so würde der Erde an manchen Stellen wenig an dem paradiesischen Stande mangeln. Unsere Eltern haben für uns gesorgt, aber Gott ist es, der uns die Eltern geschenkt, der ihre Herzen mit Liebe erfüllt, der uns durch sie unzählige Wohltaten geschenkt hat. Er gibt vom Himmel fruchtbare Zeiten, Er schenkt Gesundheit, Friede und Gedeihen, Er erfüllt unsre Herzen mit Freude. Die Segnungen des Familienlebens, die Er im Paradiese begründet hat, dauern fort, und die, die Ihn fürchten, dürfen auch jetzt einen großen Teil des Glückes genießen, das der himmlische Vater dem Menschen am Anfang zugedacht hat.

Als Adam zum ersten Mal seine Augen auftat, als er den Garten Gottes um sich her, den Himmel und die Himmelslichter über sich erblickte, als er bei jedem Schritt, den er tat, innewerden durfte, wie Gott im Voraus an ihn gedacht, und für ihn Sorge getragen hatte, da musste wohl sein Herz in Anbetung, Dank und Lobgesang gegen seinen großen Wohltäter sich aufschließen. Ebenso soll es bei uns sein, so oft wir die uns umgebenden Wohltaten Gottes genießen und aus Seinen Segensquellen schöpfen. Jeder Schritt unsers Lebens soll von dem Gefühl des Dankes und von Kundgebung der Dankbarkeit gegen Gott begleitet sein. Wenn wir den Dank vergessen, wenn wir die Geschenke der milden Hand des HErrn hin nehmen ohne zu dem Geber aufzublicken, so ist dies Abstumpfung des Herzens und anhebende Verfinsterung des Gewissens. Anbetung und Dank erwartet Gott auch von den Heiden zurzeit, da Er sie ihre eigenen Wege gehen ließ. Wie viel mehr erwartet Er dies von uns, denen nicht allein das Licht der Natur, sondern das viel hellere Licht der Gnade leuchtet! Denn uns ist die Liebe Gottes in Jesu Christo noch weit herrlicher als selbst dem Adam im Paradies erschienen.

2. Wir erkennen in diesem Abschnitt des Wortes Gottes die Würde des Menschen.

Sie beruht auf der Art und Weise wie Gott ihn geschaffen hat. Gott sprach: „...die Wasser sollen wimmeln von lebendigen Wesen“ - „die Erde bringe hervor lebendige Tiere,“ und es geschah also.

Aus jenen Lebenskräften, die Gott in das Meer und in den Schoß der Erde gelegt hatte, gingen auf den Wink des Ewigen die vernunftlosen Geschöpfe in ihrer Mannigfaltigkeit hervor. Auch der Mensch ist von der Erde genommen, und auch in ihm regt sich und erweist sich das ursprünglich in die Mutter Erde gelegte Leben, aber Gott ließ es nicht dabei, sondern nachdem Er den Menschen aus dem Staub der Erde wunderbarer, künstlicher und schöner als alle anderen Geschöpfe gebildet hatte, hauchte Er ihm den Odem des Lebens ein; das heißt: Durch eine schöpferische Tat teilte Er ihm ein Leben mit, das die Tiere nicht haben. Dies ist das geistliche Leben, Kraft des Willens, um Gott mit freier Hingebung zu dienen, Licht der Vernunft, um Ihn zu erkennen, ein Gewissen, um Seine Stimme zu hören, ein fühlendes Herz, um Ihn zu lieben und anzubeten, eine Bestimmung zur Unsterblichkeit und zur Verklärung aus dem Irdischen in das Himmlische. So ward der Mensch eine lebendige Seele im höheren Sinne des Wortes, fähig, dass in ihm, als in einem Abbild die Herrlichkeit des lebendigen Gottes erscheine.

Wir sehen die Würde des Menschen in seiner Gemeinschaft mit Gott. Gott war ihm nicht ferne und unbekannt; Gott ist ihm erschienen und hat mit ihm geredet. Es war der Vater, der im Sohne erschien, und durch den Heiligen Geist zu dem Herzen des Menschen redete. Denn nie ist Gott anders als in Seinem Sohne erschienen durch den Er auch die Welt gemacht, durch den Er sich von Anfang den Menschen geoffenbart hat. Der Mensch kannte seinen Gott und Vater. Er wandelte mit Gott und im Bewusstsein der Gegenwart Gottes. Er lernte die Sprache von Gott, denn wenn er sich allein überlassen gewesen wäre, so würde er nie sprechen gelernt haben. Gott selbst unterwies und erleuchtete ihn, wie er beten und dem HErrn dienen sollte. Er ward von Gott unterrichtet, was seine Aufgabe und seine Pflicht auf Erden sei, was er tun und was er nicht tun dürfe. Er stand im Frieden mit Gott und genoss jenes Glück der Unschuld, von dem wir jetzt noch in einer wohlbehüteten Kindheit eine Nachempfindung haben.

Wir sehen die Würde des Menschen in der Aufgabe, die er an der Schöpfung zu erfüllen hatte. Gott versetzte den Menschen, den Er außerhalb des Gartens und von dem Staub der gewöhnlichen Erde gebildet hatte, in den Garten Eden, damit er diesen baute und bewahrte. Also unter der Pflege des Menschen sollte das Paradies noch herrlicher erblühen, unter der Obhut des Menschen sollte es gegen einen im Hintergrund lauernden Feind beschützt werden; denn wo kein Feind und keine Gefahr ist, da bedarf es auch keines Bewahrers. Der Mensch hatte Macht über die niedere Schöpfung, denn er hatte Einsicht in ihr inneres Wesen: „...wie er allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen;“ er sah sozusagen, den Geschöpfen ins Herz, und sie waren ihm untertan. Jetzt muss der Mensch die Tiere mit List und Gewalt bezwingen, damals führte sie Gott ihm zu, und sie folgten dem Menschen als ihrem Gebieter, Beschützer und Wohltäter. Der Mensch sollte, indem er in seiner rechten Stellung blieb, die ganze ihm untergebene Schöpfung veredeln und zur Ehre Gottes anwenden. Er sollte das paradiesische Wesen weiter über die Erde verbreiten, er sollte, als Haupt der irdischen Schöpfung und an ihrer Spitze stehend, den Schöpfer anbeten und verherrlichen.

Seine Aufgabe war endlich, selbst veredelt und an Gottes Hand auf eine noch höhere Stufe des Daseins geführt zu werden. Er war unschuldig, aber er war noch nicht durch Prüfungen bewährt, und noch nicht in jenen Stand erhoben, wo es keine Gefahr und Versuchung mehr für die Kinder Gottes geben wird. Er war nicht unter dem Fluch des Todes, es war ihm noch nicht gesetzt zu sterben, doch war er noch nicht zur Verklärung des Leibes gelangt. Seinem Körper nach konnte er noch sterben, er befand sich noch nicht auf jener Stufe, von der der HErr sagt: „...sie können hinfort nicht sterben, denn sie sind den Engeln gleich und Gottes Kinder, dieweil sie Kinder sind der Auferstehung.“

(Lk 20,36)

Der Weg, auf dem er ohne Erfahrung des Todes zu dieser Stufe gelangen und ganz ins himmlische Wesen versetzt werden sollte, stand ihm offen. Im Paradies befand sich der Baum des Lebens. Dieser war nicht vergeblich von Gott dahin gepflanzt, sondern, wenn der Mensch sich bewährte, treu und gehorsam blieb, so war ihm die Frucht vom Baume des Lebens und der Übergang in den vollen Besitz der Unsterblichkeit als Belohnung vorbehalten. Bis dahin aber befand er sich noch im Stande der Prüfung und Vorbereitung.

Diese Würde des Menschen ist seitdem mannigfach entstellt und verdunkelt worden. Dennoch bewundern wir nicht allein die Liebe und Allmacht Gottes, der ihm anfangs eine solche Stelle angewiesen hat, wir bewundern auch die Treue Gottes, der nach unserm tiefen Fall diese selige und herrliche Bestimmung des Menschen nicht widerrufen, sondern aufrechterhalten hat. Wir preisen die göttliche Liebe, die uns schon jetzt in Christo Jesu zu einem seligen Stande erhoben, und die uns die Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit geschenkt hat. Schon jetzt ist uns ein neues geistliches Leben zuteilgeworden. Wir können mit Gott wandeln durch den Glauben, denn wir haben Seinen Geist, den edlen Führer empfangen. Wir sind schon ausgerüstet, um auch anderen zum Segen zu gereichen, und wir sehen, wenn wir anders treu bleiben bis ans Ende, dem Tage entgegen, wo wir ganz in das Bild des verklärten Christus umgestaltet werden und also das selige Ziel erreichen sollen, das dem Menschen am Anfang vorgesteckt war, da er rein und unschuldig aus der Hand Gottes hervorging.

3. Wir sehen im Paradies eine Vorbedeutung dieser zukünftigen Herrlichkeit. Jenes Paradies ist auf der Erde nicht mehr zu finden. Das Gericht der großen Flut hat die Gestalt des Erdbodens verändert, und die Stürme sind auch über den Garten Eden ergangen; seine Stätte kennt man nicht mehr. Die vier Ströme, die von dort ausgingen, haben ihren Lauf verändert, wenngleich sich ihre Namen erhalten haben. Das alte Paradies ist vergangen, und es wird nicht wieder so, wie es einst war, hergestellt. Zwar wird etwas ähnliches auf der Erde zustande kommen im Reich des Friedens, wenn der Fluch von der Erde weggenommen, wenn Satan, der Verführer der Völker, die alte Schlange, gebunden ist, wenn der Gottlose nicht mehr da rein wird und alle Völker dem HErrn dienen, wenn die Weissagung des 72. Psalms in Erfüllung geht.

Doch ist es nicht unser Verlangen, alsdann auf der paradiesischen Erde zu wohnen, sondern wir sehnen uns nach einer besseren Heimat, wir haben eine größere Verheißung, wie der HErr gesagt hat:

„...wo ich bin, da soll mein Diener auch sein.“ (Joh 12,26)

Er aber ist im Himmel und ist ganz himmlisch. Er wird zwar über die Erde herrschen, aber nicht an die Erde gebunden sein. Darum sagen wir mit dem Apostel:

„Unser Bürgerrecht ist im Himmel, von wo wir auch Jesum Christum den HErrn als Retter erwarten, welcher unseren nichtigen Leib verklären wird, dass er ähnlich werde Seinem verklärten Leibe.“

(Phil. 3,20.21)

Das Endziel unserer Wallfahrt liegt nicht auf der Erde, auch nicht im Reich der Entschlafenen, sondern in jener himmlischen Stadt, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist. Als Johannes sie sah, das neue Jerusalem, die Hütte Gottes bei den Menschen, da zeigte ihm der Engel einen kristallenen Strom des lebendigen Wassers, der von dem Throne Gottes und des Lammes ausging und die Stadt durchströmte; Johannes sah auf beiden Seiten des Stromes Bäume des Lebens, die ihre Früchte alle Monate bringen und ihre Blätter dienen zur Heilung der Völker. In dieser Stadt wohnen die Knechte des HErrn; sie werden Ihm dienen, und sehen Sein Angesicht und Sein Name wird an ihren Stirnen sein. (Offb 22,1-4)

Das ist das himmlische Gegenbild des Paradieses, das Paradies auf einer höheren Stufe, wovon jener Garten im Morgenlande nur eine Abschattung war. Im irdischen Paradies war das Geheimnis des Himmelreichs schon angedeutet, aber erst im himmlischen Jerusalem wird dies Geheimnis vollendet und geoffenbart sein. Der Anfang und das Ende der Wege Gottes stehen im Einklang. Er ist das A und das O; was Er am Anfang sich vorgenommen, wird Er am Ende herrlich hinausführen. In dem himmlischen Paradies, auf das wir warten, wird der zweite Adam, der HErr vom Himmel, Christus zu schauen sein und an Seiner Seite die vollendete christliche Gemeinde, die Ihm ähnlich ist und würdig, Seine Gehilfin zu sein, die Mutter aller Lebendigen, die mit Ihm die Herrschaft über die Werke Gottes teilt.

Dies Geheimnis ist noch nicht offenbar, aber es besteht schon in Wirklichkeit. Was einst erscheinen soll, ist dasselbe, was jetzt schon ist. Schon gibt es ein geistliches Paradies, von Gott gepflanzt, das ist die Kirche, als Gottes Stiftung betrachtet. Sie wird blühend und fruchtreif durch den vierfachen Strom der Gnade, der von einer Quelle ausgeht. Es ist die segensreiche Wirkung des Heiligen Geistes, die von Christus ausströmt und durch das vierfache Amt Christi sich ausbreitet. Durch sie gedeihen die rechten Geistesfrüchte.

Adam wurde zuerst geschaffen, dann ließ Gott den tiefen Schlaf auf ihn fallen, nahm seiner Rippen eine und baute daraus das Weib. Christus, das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, ist als der zweite Adam in menschlicher Natur erschienen. Er stand anfangs allein, es war noch keine Gemeinde für Ihn da. Er musste in den Todesschlaf versinken, und Seine Seite wurde mit dem Speer geöffnet; dann erst trat Seine Gehilfin ins Leben, Seine Gemeinde wurde aufgebaut; sie hat ihr geistliches Leben und Dasein aus Ihm, und sie wird für Ihn bereitet. Er hat sich selbst für sie gegeben, damit Er sie heiligte; und sie ist Ihm teurer als alles.

Indem wir davon reden, folgen wir nicht menschlichen Einbildungen, sondern der untrüglichen Belehrung des Apostels Paulus, der sagt: „Wir sind Glieder Seines Leibes, von Seinem Fleisch und von Seinem Gebein; um deswillen wird ein Mensch verlassen Vater und Mutter und seinem Weibe anhangen; das Geheimnis ist groß, ich sage aber von Christo und der Gemeinde.“ (Eph 5,30-32)

Also die von dem Apostel angeführten Worte, die Adam sprach, als Gott die Gehilfin ihm zuführte „der Mensch wird Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen“, enthalten ein tiefes prophetisches Geheimnis. So wird Christus die Gemeinde, die der Vater Ihm bereitet, anerkennen. Ja Er wird die Stätte, die Er jetzt im Hause Seines Vaters und auf dem Thron Seines Vaters innehat, verlassen, um sich mit Seiner Gemeinde zu vereinigen und sie zu sich zu nehmen. Wie Ihn die Liebe einmal bewogen hat, dass Er für uns Menschen und um unsrer Seligkeit willen vom Himmel herabkam, so wird die Liebe zu Seiner Kirche Ihn bewegen, zum zweiten Mal den Himmel zu verlassen. Dann wird Er sie zu sich erheben, und die Herrlichkeit, die Ihm der Vater gegeben hat, mit ihr teilen. Dann wird das Geheimnis Gottes, das man einst im Paradies vorbedeutet sah, erfüllt und verwirklicht sein. Während jener Sabbatfeier am Schluss des Schöpfungswerkes

„lobten den HErrn die Morgensterne und jauchzten alle Kinder Gottes.“ (Hiob 38,5)

Solche Freude war damals in der Engelwelt über die Werke des Höchsten. Eine neue und noch größere Freude wird die Himmel erfüllen, wenn das mühevollere und herrlichere Werk der neuen Schöpfung vollendet ist, und wenn in dem himmlischen Paradiese Christus mit Seiner verklärten Gemeinde wohnen und herrschen wird immer und ewiglich.

3. Der Sündenfall

1 Mo 3,1-6

„Gott sah an alles, was Er gemacht hatte, und siehe es war sehr gut.“

Das Paradies und der Mensch im Stande der Unschuld waren ein Spiegel der göttlichen Weisheit und Güte. Der Mensch war das edelste unter den sichtbaren Werken Gottes, doch war er noch nicht vollkommen. Gott führt Seine vernünftigen Geschöpfe zu immer höherer Vollkommenheit. Der Mensch war noch nicht an dem letzten Ziel seiner Bestimmung angelangt. Damit er dieses erreiche, waren Prüfungen notwendig, denn das mit Freiheit begabte Geschöpf soll durch den rechten Gebrauch seiner Freiheit zu höheren Stufen der Seligkeit und Herrlichkeit gelangen. So hat es die göttliche Weisheit angeordnet, darum wurde den ersten Eltern die Versuchung nicht erspart. Es musste eine wirkliche, also mit Gefahr verbundene, keine nur scheinbare Prüfung sein, und dabei war die Absicht der göttlichen Liebe, den Menschen zu bewähren, und seine Treue zu krönen. So ist auch für uns, so war selbst für den Sohn Gottes Prüfung und Versuchung notwendig. Auch Er, der über alle ist, wurde auf diesem Wege vollendet.

Der Fall der ersten Eltern würde für uns eine Ursache endloser Bekümmernis und Wehklage sein, wenn uns nicht zugleich Jesus Christus, der in der Prüfung treu erfundene, vor Augen gestellt würde. Der Fall Adams ist uns zur Warnung geschrieben; aus dem Siege Christi schöpfen wir Trost und Kraft. In diesem Lichte betrachten wir den traurigen Inhalt dieses Kapitels, und wir finden: Die ersten Eltern sind durch Unglauben gefallen - Christus ist durch Glauben bestanden - Christus will nun auch in uns überwinden.

1. Die Versuchung war nicht bloß fleischlicher Art.