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Ein Todesfall, eine schicksalhafte Begegnung und ein undurchsichtiges Geflecht aus Macht und Verbrechen an der zauberhaften Côte d'Azur Ein rätselhafter Anschlag erschüttert die Côte d'Azur: Die Jacht eines deutschen Bankiers fliegt in die Luft. Robert Lucas, Angestellter der Versicherungsgesellschaft, wird mit den Ermittlungen betraut. Vor Ort in Cannes kreuzt sich sein Weg mit der jungen Malerin Angela Delpierre – eine schicksalhafte Begegnung, die beider Leben von Grund auf verändern wird. Inmitten der paradiesischen Landschaft der französischen Riviera entspinnt sich ein komplexes Netzwerk aus Macht, Geld, Leidenschaft und Verbrechen. Robert und Angela finden sich im Zentrum der Geschehnisse wieder, verstrickt in die undurchsichtigen Machenschaften einflussreicher Persönlichkeiten. Während ihre Liebe wächst, scheint es keinen Ausweg aus dem gefährlichen Spiel der Mächtigen zu geben. In Die Antwort kennt nur der Wind entführt Bestsellerautor Johannes Mario Simmel seine Leser in die schillernde Welt der Reichen und Schönen – und offenbart zugleich die dunklen Abgründe, die sich hinter der glitzernden Fassade verbergen. Ein fesselnder Krimi-Roman, der Hochspannung und Gefühl meisterhaft verbindet.
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Seitenzahl: 965
Johannes Mario Simmel
Die Antwort kennt nur der Wind
Roman
Knaur e-books
Vorbemerkung des Autors
Schauplatz der Handlung des Romans ist in der Hauptsache Cannes und Umgebung. Dazu gehören Hotels, Jachten, Spielcasinos, Geschäfte, Restaurants, viele sonstige Orte und ein Kreis von liebenswerten Personen, die hier leben und arbeiten. Jene Personen haben mir ausdrücklich gestattet, sie in meinem Buch namentlich zu erwähnen und agieren zu lassen.
Daneben erscheint in meinem Roman ein zweiter Kreis von Personen, die ebenso frei erfunden sind, wie die gesamte Handlung es ist. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen und Institutionen, insbesondere mit Währungskrisen, weltweiten Finanzmanipulationen und multinationalen Gesellschaften oder mit den Personen aus diesem zweiten Kreis, gleich, ob lebend oder verstorben, wäre rein zufällig.
J. M. S.
Für Agnelet
Ich war in einer Nacht, wie keine war.
Da kamst du, mein geliebtes Angesicht.
Du machtest solche Nacht zum lieben Tag.
Du sangst Musik und schenktest hold mir ein
und sprachst die Worte, die ich nie vergaß,
von uranfänglich so geweihtem Hauch,
daß diese arge Nacht verging wie Rauch.
Firdusi, persischer Dichter,
939 bis 1020 nach Christus
Also schwang der Junge ein langes Stück Tauende über seinem Kopf, und der alte Mann fing es geschickt auf und zog daran. Das Beiboot mit dem Heckmotor, in dem der Junge Angela und mich von der Jacht herübergebracht hatte, schwankte in sanftem Wellengang und glitt nun der Treppe entgegen, die man in die Uferfelsen am südwestlichen Ende des Cap d’Antibes geschlagen hatte. Der alte Mann stand auf einer Stufe der Treppe, die schon von Wasser überspült wurde. Das Meer hier war dunkelblau und dabei so klar, daß ich den Grund und alle Felsbrocken und jedes einzelne Gewächs in der Tiefe erkennen konnte. Ich sah Schwärme von winzigen Fischen, die davonstoben. Die Fische waren nicht größer als Nähnadeln, viele Hunderte Nähnadeln.
Der alte Mann hatte das Beiboot schon dicht an die Treppe herangezogen. Er trug eine beigefarbene Leinenhose, deren untere Enden mit seinen nackten braunen Füßen im Wasser steckten, und er trug ein sehr verblichenes beigefarbenes Hemd und einen breitkrempigen flachen Hut auf dem hageren Schädel. Der alte Mann war ausgezehrt, gebeugt und zerstört vom Leben. An den Händen wanden sich dick die Adern, die platten Nägel waren abgebrochen, Füße, Arme, Hände und Gesicht hatten eine Haut wie brüchiges Pergament. Der alte Mann mußte seine Tage von Kindheit an in Sonne, Wind und nahe dem Wasser zugebracht haben. Er hatte ein freundliches Gesicht. Die Backenknochen traten hart hervor über den eingefallenen Wangen, und der alte Mann lächelte uns zu, nur mit den Augen, nicht mit dem Mund. Seine Augen waren so dunkelblau wie das Meer. Der alte Mann konnte nicht mit dem Mund lächeln, denn dieser war fest geschlossen, weil es den alten Mann offensichtlich sehr anstrengte, das Tauende heranzuziehen und dabei das Boot ruhig zu halten. Es war gewiß ein sehr alter Mann, aber er arbeitete noch immer, und seine Augen waren klar und scharf geblieben.
Der Junge trat geschickt und schnell auf eine der Stufen. Er hieß Pierre und war zweiter Bootsmann der Jacht, die draußen auf dem Meer ankerte. Pierre trug weiße Hosen und ein weißes Hemd und war barfuß wie wir alle und 21 Jahre alt. Der Kapitän hieß Max und war 28. Pierre kannte den alten Mann. Sie redeten einander mit Vornamen an. Ich gab Pierre Angelas und meine Schuhe, und dann stand ich im Boot auf, und Pierre packte meine Hand, und ich sprang an Land. Ich packte Angelas Hand, und auch sie sprang.
»Bonjour, Madame«, sagte der sehr alte Mann, »bonjour, Monsieur. Das ist ein schöner Tag heute, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich, »sehr schön.«
»Aber auch sehr heiß«, sagte der alte Mann.
»Ja«, sagte ich. »Besonders heiß.«
Wir sprachen französisch, der alte Mann mit einem besonderen Akzent, und Angela sagte zu ihm: »Sie sind aus Marseille, nicht wahr?«
»Aus Marseille, Madame, natürlich«, sagte der alte Mann, und jetzt, da Pierre ihm das Tauende abgenommen hatte und wieder ins Boot gesprungen war, lächelte der alte Mann nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Mund. Er zeigte dabei ein prächtiges falsches Gebiß mit völlig gleichmäßigen Zähnen, die in der Sonne glänzten. Ich suchte in meiner Hosentasche nach einem Zehnfrancschein, und der alte Mann bemerkte das und sagte: »Lassen Sie doch, Monsieur. Sie werden sicherlich wieder zurückfahren. Wenn Sie dann die Güte haben wollen … Aber es ist nicht nötig, es ist wirklich nicht nötig.«
»Natürlich ist es nötig«, sagte Angela. »Wir müssen alle leben. Wie lange sind Sie hier?«
»Von früh bis Mitternacht, Madame«, sagte der sehr alte Mann. »Meistens länger. Es kommen immer so viele Menschen, und viele von ihnen fahren erst spät nachts wieder ab. Ich schlafe da drüben in der grünen Hütte.«
Zwischen stacheligem Gebüsch und hohem Gras standen viele kleine, armselige Bungalows aus Holz. Ich hatte gehört, daß diese Hütten vermietet werden an Paare, die einander lieben wollen. Es gibt stets sehr viele solche Paare und fast nie eine freie Hütte, doch der alte Mann schien eine zu besitzen.
»Ich schlafe am Tag auch hier ein, wenn die Sonne sehr heiß ist«, sagte er und blinzelte ein wenig. »Man darf bei dieser Hitze nichts trinken, aber manchmal ist mir nicht ganz gut, wissen Sie, und dann trinke ich doch einen Schluck oder zwei, und dann schlafe ich ein, bis man nach mir ruft.«
»Was trinken Sie?« fragte Angela.
»Bier«, sagte der sehr alte Mann. »Das ist ein gutes Getränk.«
»O ja«, sagte Angela und blinzelte auch und lächelte ihm zu. Unter uns hatte Pierre den Heckmotor anspringen lassen. Das Beiboot beschrieb einen großen Bogen, zog eine hochsprühende Wasserspur hinter sich her und jagte zurück zu der Jacht.
Pierre holte nun die Trabauds und ihren Hund herüber. Wir hätten nicht alle auf einmal bequem Platz in dem Beiboot gehabt. Die Jacht gehörte den Trabauds und hieß ›Shalimar‹.
Angela schlüpfte in ihre Schuhe, und ich zog meine an und blickte dabei auf die Armbanduhr. Es war zwanzig Minuten vor zwei Uhr nachmittags, und von diesem Moment an hatte ich noch eine Stunde und elf Minuten zu leben.
»Was haben Sie in Marseille gemacht?« fragte Angela.
»Ich habe dort gewohnt mit meiner Frau«, sagte der alte Mann. »Aber ich war viele Monate lang nicht daheim, manchmal sehr viele Monate lang nicht. Ich war Kapitän auf einem Frachter. Thérèse stammte nicht aus Marseille. Sie kam aus dem Norden, aus Limoges. Trotzdem, sie fühlte sich wohl in Marseille. Jedenfalls zuerst.« Der alte Mann war geschwätzig wie alle alten Männer. »Meine Frau war sehr schön. Leider war sie viel jünger als ich. Als ich einmal von einer Fahrt heimkam, war sie nicht mehr da. Sie hatte mir einen Brief geschrieben.« Der sehr alte Mann holte an einer langen Schnur eine Flasche Bier aus dem Meer herauf, öffnete sie, wischte mit dem Handrücken über den Hals und hielt Angela die Flasche hin. »Wollen Sie?«
»Nicht bei dieser Hitze, danke«, sagte Angela.
»Und Sie?«
»Ich auch nicht«, sagte ich.
Der sehr alte Mann setzte die Flasche an die Lippen und trank einen großen Schluck. Kleine Wellen schlugen glucksend knapp unter uns gegen die Treppenstufen. »Es war ein Mimosenzüchter aus Grasse, wissen Sie. Ich kannte ihn. Sah sehr gut aus. So alt wie Thérèse. In dem Brief schrieb sie mir, daß sie diesen Mann liebe und er sie und daß ich ihr verzeihen müsse.«
»Und haben Sie ihr verziehen?« fragte Angela.
»Ich war doch viel älter als sie«, sagte der alte Mann und versenkte die Flasche wieder im Meer.
Angela sah ihn an.
»Oder nicht?« fragte der alte Mann. »Hätte ich ihr nicht verzeihen sollen?«
Angela sah ihn immer weiter nur an.
»Nun gut«, sagte der alte Mann. »Ich habe ihr nie verziehen. Und ich werde ihr nie verzeihen. Ich hasse sie.«
»O nein«, sagte Angela. »Wenn Sie sie haßten, hätten Sie ihr verziehen und sie längst vergessen.«
»Madame«, sagte der sehr alte Mann, »so hat noch niemand zu mir gesprochen. Es stimmt, ich habe Thérèse niemals gehaßt, ich habe sie immer geliebt. Ich liebe sie noch heute, obwohl ich nicht einmal weiß, ob sie noch lebt oder schon tot ist. Aber das spielt keine Rolle, wie?«
»Überhaupt keine Rolle«, sagte Angela.
»Monsieur«, sagte der sehr alte Mann, »ich beglückwünsche Sie. Diese Dame hat ein großes Herz und einen klaren Verstand. Diese Dame ist eine großartige Frau.« (»Une chic femme«, sagte er.)
Angela sah nun mich an und lächelte noch immer und drückte meine Hand. Außen an den Augenwinkeln bildeten sich viele sehr kleine und feine Fältchen, wenn sie lächelte.
»Damals habe ich zu trinken begonnen«, sagte indessen der sehr alte Mann. »Lange Zeit ging alles gut. Dann hatte ich Unglück. Auf See. Ich verlor mein Patent. Ich war kein Kapitän mehr, und ich durfte niemals mehr auf ein Schiff.«
»Wie schrecklich«, sagte Angela.
»Weniger schrecklich als das andere«, sagte der alte Mann. »Sehr viel weniger schrecklich. Es gibt alle Arten von Arbeit. Ich habe die ganze Küste entlang gearbeitet, von Marseille bis Menton. Dann, als es mit der schweren Arbeit nicht mehr ging, habe ich mir leichtere gesucht – zuletzt diese. Ich bin sehr glücklich hier, ich habe Freunde auf Cap d’Antibes. Nur wenn ich an Thérèse denke …«
»Ja …«, sagte Angela.
»Aber ich denke nicht mehr an Thérèse«, sagte der sehr alte Mann. »Ich denke nie mehr an sie. Niemals mehr. Nein, seit vielen Jahren nicht mehr.« Er setzte sich auf eine Stufe und betrachtete seine rissigen, großen Hände.
Angela zog mich fort.
»Komm«, sagte sie. »Er weiß jetzt gar nicht mehr, daß wir da sind. Er ist bei Thérèse.« In der Ferne hörte ich die Uhr eines Kirchturms schlagen. Es war nun ein Viertel vor zwei. »Wir müssen uns beeilen«, sagte Angela.
»Ja«, sagte ich.
Wir stiegen nebeneinander die Stufen der Treppe hinauf. Sie führte zu einem Pfad, der die Anlegestelle mit dem Restaurant ›Eden Roc‹ verband, das zum ›Hôtel du Cap‹ gehörte. Es lag nur ein paar hundert Meter entfernt. Ich sah viele Menschen, die sich auf den Felsterrassen unterhalb des Restaurants sonnten, und es fielen mir Liz Taylor und Richard Burton und der spanische Thronprätendent Juan Carlos ein, und der ins Exil gegangene König von Griechenland mit seiner Frau und die vielen Prinzen und Prinzessinnen und Grafen und Barone und der Tisch mit den amerikanischen Stahlmilliardären, und Curd Jürgens und Henry Kissinger und die Begum und all die anderen fielen mir ein, denen ich im ›Eden Roc‹ begegnet war, wo sie auf den Terrassen gesessen und ihre Aperitifs getrunken hatten. Ich dachte plötzlich, daß ich wohl verrückt gewesen sein mußte, als ich gerade wegen dieser vielen sehr reichen oder hochberühmten Leute, die hierherkamen, verlangt hatte, daß mein Treffen mit jenem Mann beim ›Eden Roc‹ stattfinden sollte, und wenn ich nicht Angela an meiner Seite gehabt hätte, wäre ich in jäh aufschießender Angst vor meinem Plan auf der Stelle umgekehrt und geflohen, ich weiß nicht wohin, denn in der Tat gab es kein Entfliehen mehr für mich nach allem, was geschehen war, nach allem, was ich getan hatte. Aber Angela war an meiner Seite, und sie hielt meine Hand, und also ging ich weiter den Pfad entlang über dem tiefblauen Meer, unter dem tiefblauen Himmel, zwischen Orangen- und Zitronenbäumen, Pinien, Palmen, Kiefern und Eukalyptus, Rosen, Nelken und mächtigen Büschen mit goldgelben Blüten, die ich nicht kannte. Ich ging schnell, und ich dachte erstaunt: Mein linker Fuß tut überhaupt nicht weh. Wieso schmerzt er nicht? Er schmerzte doch an Bord der ›Shalimar‹. Macht das die Aufregung? Oder war alles ein Irrtum, und ich komme doch noch davon? Nein, sagte ich zu mir, das gibt es nicht. Du mußt glauben, was Dr. Joubert vom Hôpital des Broussailles dir gesagt hat. Er ist ein hervorragender Arzt, und du hast die Wahrheit hören wollen. Nun kennst du die Wahrheit. Also trage sie. Weißt du, mein Alter, sagte ich zu mir, es ist verflucht schwer, sie zu tragen, aber ich werde es bestimmt tun. Darum bin ich ja hier. Ich sagte zu Angela: »Da vorn ist schon Marcel.«
»Ja«, sagte sie. Wir redeten deutsch miteinander, obwohl Angela Delpierre Französin war und ich ihre Sprache gut beherrschte. Sie redete mit einem leichten Akzent, aber fließend. »Tut dein Fuß weh?«
»Nein«, sagte ich. Und das war eine Lüge. Denn nun, endlich, empfand ich, fast mit Erleichterung, wieder den ziehenden Schmerz, den ich so gut kannte. Na also, dachte ich. »Nein«, sagte ich, »er tut mir überhaupt nicht weh, Angela. Ich muß dem alten Mann nachher unbedingt noch zehn Francs geben.«
Sie blieb plötzlich stehen und umarmte mich. Ihr Leib preßte sich gegen den meinen, wir waren wie ein Körper, ein Geschöpf. Angela küßte mich zart auf den Mund. Dann sah ich, daß Tränen in ihren sehr großen braunen Augen standen.
»Was hast du?«
»Nichts«, sagte Angela. »Nichts. Gar nichts, Robert.«
»Doch«, sagte ich. »Doch, natürlich hast du etwas.«
Sie legte ihre Wange an meine, und während ich dem Meer den Rücken zuwandte, lag es vor ihren Augen, und ich hörte sie flüstern: »Ich danke Dir, Gott. Ich danke Dir, daß ich das erleben darf – etwas so Wunderbares. Bitte, beschütze uns beide, Gott. Ich tue, was Du verlangst, aber beschütze uns, bitte.«
Ich dachte an alles, was geschehen war, und alles, was ich getan hatte und noch tun würde und was mir bevorstand, und ich war sehr froh darüber, daß Angela mein Gesicht nicht sehen konnte in diesem Augenblick. Direkt vor mir erblickte ich rechts eine breite, mit blendend weißem, feinem Kies bestreute Straße. An ihren Seiten standen Zedern und Palmen und sorgsam gestutzte Hecken. Weit hinten lag, wie ein Schloß mit gelber Fassade, das ›Hôtel du Cap‹, umgeben von seinen Gärten, die in allen Farben glühten. Der Pfad und die Erde dort, wo nicht Kies gestreut war, zeigten ein mattes Rot. Angela preßte sich noch fester an mich, und ich roch nun ganz stark den Duft ihrer Haut, der gut war wie der von frischer Milch, und ich dachte, daß ich alles, alles, auch das Ärgste, was ich getan hatte, dem Gott, zu dem Angela gesprochen hatte, verständlich machen konnte mit unserer Liebe, und daß Gott mir auch verzeihen würde, denn alles verstehen und alles verzeihen ist seine Profession. Ich fühlte Angelas Herz schlagen. Es schlug sehr schnell.
Bonjour, Marcel!« sagte der Papagei. Es war ein Papagei, der sich selber Marcel nannte. Wir standen vor dem großen Käfig, in dem er saß. Der Käfig befand sich am Rand des Weges mit der roten Erde, der zum Restaurant ›Eden Roc‹ führt. Mein linker Fuß schmerzte nun ziemlich stark, und es war heiß, irrsinnig heiß an diesem frühen Nachmittag des 6. Juli 1972, einem Donnerstag. Ich konnte seit Jahren Hitze kaum ertragen, und der Schweiß rann mir über den Körper, obwohl ich nur ein ganz dünnes blaues Hemd, weiße Hosen und weiße Slipper ohne Strümpfe trug. Ich fühlte mich auf einmal kraftlos und schwindlig, aber ich wußte, das kam nur von der Hitze, und ich mußte hierbleiben, bis der Mann erschien, den ich herbestellt hatte. Ich sah auf das Meer hinaus und auf gewiß drei Dutzend Jachten, sehr große darunter, die alle hier ankerten. Neben der französischen Fahne zeigten die Schiffe amerikanische, deutsche, englische, italienische, schweizerische und belgische Flaggen und noch viele andere. Claude und Pasquale Trabaud stiegen eben in das Beiboot, das längsseits ihrer Jacht lag. Eine Leiter führte vom Deck des Schiffes zum Boot herab. Der Hund war noch an Deck. Er lief aufgeregt hin und her. Kein Windhauch regte sich. Ich wandte mich nach rechts und sah über das Meer hinweg zu dem bunten Hafen und den Häusern von Juan-les-Pins, und, weiter entfernt in der großen Bucht, durch einen nebeligen Sonnen- und Hitzeglast, sah ich sehr undeutlich den Alten und den Neuen Hafen Port Canto von Cannes und die Palmen entlang der Croisette und die weißen Hotels hinter ihr, aber nur schemenhaft das alles, die ganze Stadt mit ihren Gebäuden und den Villen und ›Residencen‹, die in großen Gärten auf dem Abhang lagen, der nach Super-Cannes hinaufführte. Rechts, im Osten von Cannes, breitete sich der Stadtteil La Californie aus, dort wohnte Angela. Ich konnte keine einzelnen Gebäude erkennen, aber ich dachte trotzdem, daß ich mein Daheim, meine Heimat vor mir sah. Unsere Heimat, unser Zuhause. Denn Angela und ihre Wohnung waren alles, was ich mein eigen nennen durfte, alles, was ich hatte auf dieser Welt. Dies und fünfzehn Millionen D-Mark. Was ich noch brauchte, sollte nun kommen.
»Beautiful lady!« sagte Marcel. Er sah Angela an dabei mit seinen schwarzen glänzenden Knopfaugen, und auch ich sah Angela an. Sie war nicht nur beautiful. Sie war die schönste Frau, die ich jemals gesehen hatte. Ihr Haar war leuchtend rot, ihr Gesicht schmal und fragil, und es wurde beherrscht von den riesigen braunen Augen. Angela Delpierre war genauso groß wie ich und 34 Jahre alt. Ich war 48, und das hatte mich zuerst sehr gequält und geängstigt. Jetzt war es ganz unwichtig. Jetzt war alles wunderbar. Angela hatte einen sehr schönen Körper. Es war alles perfekt an Angela, und ich liebte alles an ihr, den weichen, zärtlichen Mund mit den leicht geschwungenen Lippen, die kleinen Ohren, die Nase, ihre Brüste, ihren Leib, ihre langen Beine. Wann immer sie konnte, hielt Angela sich im Freien auf, und so duftete ihre Haut nach frischer Luft und Sonne, die diese Haut überall sehr braun hatte werden lassen. Angela trug eine weiße Hose, die unten breit wurde und ansonsten wie die meine sehr eng saß, dazu einen weißen Pullover von verblüffendem Schnitt. Ärmellos lag er eng am Körper an, und sein Strickmuster ging oben in einen Kragen über, der nach vorne umschlug. Hinten war der Pullover tief dekolletiert und zeigte Angelas braunen Rücken. Unter den Achseln zog sich der Stoff auf beiden Seiten eng gegen die Mitte zusammen. Angelas Lacklederschuhe hatten breite, klobige Absätze und auf den weißen Kappen die Symbole von zwei kleinen blauen Ankern. Sie war völlig ungeschminkt und hatte nicht die Spur eines Parfums an sich, sie war so, wie ich sie am meisten liebte – ohne jedes Make-up. Am zweiten äußeren Finger der linken Hand trug sie einen Ehering aus schräg geschnittenen kleinen Baguetten.
»Es ist schon drei Minuten nach zwei«, sagte Angela. »Er verspätet sich, dieser Mann.«
»Ja«, sagte ich. »Aber er kommt. Er kommt ganz bestimmt. Er muß kommen. Brandenburg selber hat ihn mir angekündigt. Brandenburg selber hat die neuen Anweisungen für mich chiffriert und diesem Mann Geld mitgegeben, damit ich meine Informanten bezahlen kann.«
»Warum sollst du den Mann gerade hier treffen?«
»Das habe ich dir doch gesagt, Angela. Nach allem, was passiert ist, wollen wir jedes Risiko vermeiden. Hier, am hellichten Tag, mit den vielen Menschen da drüben, ist ein Verbrechen ausgeschlossen. Brandenburg will sichergehen. Ich auch. Ich will nicht, daß mir etwas zustößt wie den anderen.«
»O Gott«, sagte Angela. »Wenn dir trotzdem etwas zustoßen würde … Wenn du stirbst, sterbe ich auch. Wie pathetisch das klingt, nicht wahr? Aber du weißt, es ist wahr.«
»Ja«, sagte ich, »ich weiß es.«
»Ohne dich kann ich nicht mehr leben.«
»Und ich nicht mehr ohne dich«, antwortete ich und dachte benommen daran, was wir da beide eben gesagt hatten und wie das Leben für Angela sein würde ohne mich. Ob sie dann wirklich tat, was sie sagte? Ich hoffte es nicht. Ich hatte alles vorbereitet für den Fall, daß sie ohne mich weiterleben mußte.
»Bringt dir dieser Mann viel Geld?« fragte Angela.
»Ja«, sagte ich. »Sehr viel Geld. Die Leute, die etwas wissen, fordern es.«
Und also belog ich sie wiederum. Es blieb mir keine Wahl. Die Wahrheit über dieses Rendezvous vor Marcels Käfig durfte Angela niemals erfahren. Ich war in der Tat mit einem Mann hier verabredet, aber nicht mit einem Kurier meines Chefs, o nein. Er würde Geld bringen, dieser Mann, viel Geld, o ja. Und das war erst der Anfang, mehr, immer mehr sollte folgen. So hatte ich es gefordert. Ich war nicht länger der Mensch, der ich noch vor zwei Monaten gewesen war. Konfrontiert mit Schurken, war ich selbst ein Schurke geworden. Davon ahnte Angela nichts. Es war mir gleich, daß ich nun jenen anderen glich. Alles war mir gleich. Nur noch ein einziger Mensch zählte in dieser dreckigen Welt – Angela.
Keine Frau habe ich jemals so geliebt wie sie. Und sie hat niemals einen Mann so geliebt wie mich. Dieser Bericht soll eine Lebensversicherung sein für die Frau, die ich so sehr liebe. Darum bete nun auch ich zu Gott, daß es mir gelingen möge, noch alles, was ich erlebt habe, niederzuschreiben bis zum Ende. Es ist keine Frage des Könnens. Ich kann alles tun, wenn ich es für Angela tue. Es ist allein eine Frage der Zeit.
»Und wenn diesem Mann etwas passiert ist?« fragte Angela.
»Es ist ihm nichts passiert«, sagte ich. »Er kommt. Ganz gewiß kommt er. Da können wir völlig ruhig sein.« Aber weil ich fürchtete, die Beherrschung zu verlieren, holte ich mit unsicheren Bewegungen ein Päckchen Zigaretten aus der Brusttasche meines Hemdes. Ich durfte nicht rauchen, doch was bedeutete das jetzt schon noch? Jetzt, nachdem ich die letzte Wahrheit wußte, durfte ich alles. Das ist das Angenehme an der letzten Wahrheit, dachte ich. Rauch kam mir in die falsche Kehle, ich hustete.
»Smoke too much«, sagte Marcel.
»Er hat recht«, sagte Angela.
»Das ist meine erste Zigarette heute«, sagte ich. Und wie egal bleibt es, die wievielte es ist, dachte ich.
»Du hast mir versprochen, überhaupt nicht mehr zu rauchen«, sagte Angela.
Ich warf die Zigarette auf die rote Erde und trat sie aus.
»Danke«, sagte Angela. Sie legte einen Arm um meine Schulter, und allein unsere Berührung machte mich selig und ließ mich alles vergessen, Vergangenheit, Gegenwart und sogar die Zukunft, die mich erwartete.
»Jetzt kommen die Trabauds«, sagte Angela. Tatsächlich näherte sich das Beiboot der ›Shalimar‹ in einem großen Bogen der Anlegestelle. Ich dachte, daß es ein Glück war, einen unpünktlichen Boten zu haben, denn ich hatte Claude Trabaud gebeten, von diesem Boten und mir möglichst unauffällig ein paar Fotos zu machen. Claude besaß eine sehr gute Kamera, und ich wollte Bilder des Kerls, auf den ich wartete, von ihm und mir und der Übergabe des Geldes. Alles geht gut, dachte ich.
Unter uns tuckerte ein Motorboot mit drei Mönchen in weißen Kutten fort. Ich kannte sie. Sie wohnten in dem Zisterzienserkloster auf der Insel Saint-Honorat. Es gibt noch eine zweite, kleinere Insel, die Ile Sainte-Marguerite. Beide liegen kaum mehr als einen Kilometer vom Festland entfernt. Angela kannte die Mönche auch, wir waren auf ihrer Insel gewesen. Sie winkte, und alle drei Mönche winkten zurück. Sie stellten einen Likör namens ›Lerina‹ her.
»Die Mönche werden ›Lerina‹ nach ›Eden Roc‹ gebracht haben«, sagte Angela. »Sie liefern immer dahin.«
Ich sah dem Motorboot nach und erblickte wieder, im bernsteinfarbenen Sonnenglast und sehr unklar, Cannes in der Ferne. Angela sah mich an, dann sah auch sie in meine Richtung.
»Wenn wir zurückkommen, gehen wir gleich nach Hause«, sagte Angela.
»O ja«, sagte ich. »Bitte.«
»Du wünschst es dir sehr, ja?«
»Sehr, ja.«
»Nicht so sehr wie ich«, sagte Angela. »Es war am Morgen so wundervoll, dich zu spüren. Für dich auch?«
»Genauso wundervoll.«
»Ich will, daß es immer wundervoll ist für dich, Robert.«
»Und ich will das auch – für dich.«
»Ich möchte dich wieder spüren«, sagte sie. »Gleich, wenn wir heimkommen, werden wir wieder so verrückt sein.«
»Ja«, sagte ich. »Und dann werden wir reden und unsere Platten spielen und die letzten Nachrichten im Fernsehen hören und immer weiter reden, wie immer, bis es hell wird.«
Das Beiboot mit den Trabauds und ihrem Hund war nun schon ganz nahe herangekommen.
Angela sagte: »Wenn wir müde werden beim Erzählen, und einer von uns schläft ein, dann muß der andere ihn sofort wecken. Ich dich und du mich. Das haben wir einander geschworen, denke daran.«
»Ich werde dich wecken, Angela, ich habe es doch schon so oft getan.«
»Und ich wecke dich«, sagte sie. »Wir dürfen nicht viel schlafen. Wenn wir schlafen, hören wir einander nicht, und wir sehen einander nicht, und wir fühlen einander nicht.«
»Nein«, sagte ich. »Wir dürfen wirklich nur ganz wenig schlafen.«
»Schlafen, das ist wie tot sein«, sagte Angela. »Die Menschen gehen mit ihrer Zeit um, als wenn sie das ewige Leben hätten. Und dabei weiß keiner, wieviel Zeit ihm noch bleibt – ein Jahr, fünf Jahre, eine Minute.«
»Das habe ich dir gesagt.«
»Und ich glaube es«, sagte Angela. »Ich möchte sehr alt werden mit dir, Robert. Und niemals dürfen wir einschlafen, unversöhnt nach einem Streit. Wenn wir einmal streiten …«
»Das werden wir nie!«
»Vielleicht doch«, sagte sie. »Über nichts Großes, über ein Nichts. Wenn wir also über so eine Nichtigkeit streiten, dann müssen wir uns unbedingt versöhnen, bevor wir einschlafen.«
»Unbedingt«, sagte ich.
»Ach, Robert«, sagte Angela. »Jeder Tag ist ein Wunder für mich und jeder Abend und jede Nacht. Jede Umarmung. Jeder Blick von dir. Jedes Wort, das du sagst. Jeder Schritt, den ich an deiner Seite gehe. Jeder Morgen ist ein Wunder für mich, wenn du neben mir liegst.«
»Immer wird es nun so sein«, sagte ich. »Für dich und für mich, solange wir atmen, solange es uns gibt.«
»Ja, Robert«, sagte Angela.
»It’s paradise«, sagte Marcel.
Da hatte er recht. Dies war das Paradies – für mich und Angela. Sie küßte meine Wange.
»Lucky gentleman«, sagte Marcel.
Das war ich. Da hatte er auch recht. Seit acht Wochen war ich der glücklichste Mann der Welt. Trotz allem. Oder eben deshalb. Ich sagte zu Angela, die von mir fortgetreten war und zu den Trabauds blickte, die eben aus dem Beiboot auf die Felsentreppe stiegen: »Ich bete dich an. Wenn ich in diesem Moment sterben müßte, ich wäre der glücklichste …«
Den Satz sprach ich nicht zu Ende. Etwas schlug mit grauenvoller Wucht in meinen Rücken, unterhalb der linken Schulter, ein. Ich stürzte nach vorn, auf die rote Erde. Das ist ein Schuß gewesen, dachte ich. Eine Kugel hat mich getroffen. Aber die Detonation des Schusses habe ich nicht vernommen.
Ich weiß noch, daß ich Angela schreien hörte, doch ich verstand nicht, was sie schrie. Ich weiß, daß ich dachte: Nun kann ich dem alten Mann an der Treppe nicht mehr die zehn Francs geben. Seltsam war, daß ich keinen Schmerz verspürte, nicht den geringsten. Ich konnte mich nur nicht mehr bewegen, ich konnte keinen Ton hervorbringen. Jetzt hörte ich neben Angelas Stimme viele andere Stimmen, laut, entsetzt. Dann wurde plötzlich alles schwarz um mich, und ich hatte das Gefühl zu stürzen, schneller, immer schneller, hinab in einen Strudel, der keinen Boden besaß. Bevor ich das Bewußtsein verlor, dachte ich: So also ist wohl das Sterben.
Es war der Anfang davon.
Ich kam noch ein paarmal zu Bewußtsein, wenn auch nicht mehr ganz richtig. Das erste, was ich sah, als ich die Augen aufschlug, waren Angelas braune Augen, von denen ich gesagt hatte, ich würde sie niemals vergessen können. Angela sprach. Ihr Gesicht war ganz dicht vor meinem, dennoch konnte ich sie nicht verstehen, denn etwas dröhnte sehr laut. Es dauerte lange, bis mir klar wurde, daß es der Rotor eines Hubschraubers war. Wir flogen. Der Helikopter vibrierte. Ich lag auf einer Bahre, festgezurrt. Ein Mann in Weiß neben mir hielt eine Flasche hoch. Ein Schlauch hing an ihr. Er führte bis zu meiner linken Armbeuge. Dort drang eine Nadel in das Fleisch. Über Angelas zerbrechliches Gesicht rannen Tränen, das rote Haar fiel ihr in die Stirn. Ich wollte etwas sagen, aber ich konnte nicht sprechen. Sie kniete nieder und preßte den Mund an mein Ohr, und nun verstand ich sie. Sie rief stockend und schluchzend: »Bitte, bitte, bitte, Robert, stirb nicht! Du wirst nicht sterben, wenn du es nicht willst. Also gib nicht auf. Gib nicht auf! Bitte, bitte, bitte. Du darfst das nicht tun. Du kannst das nicht tun. Ich bin deine Frau, und ich habe dich so sehr lieb, Robert! Gib nicht auf, denk an alles, was wir noch tun wollen, an unser neues Leben, es hat doch eben erst angefangen. Denkst du daran, ja? Bitte!«
Ich wollte nicken, aber nur mit größter Mühe konnte ich einmal um eine Winzigkeit den Kopf bewegen. Dann mußte ich, völlig kraftlos, die Augen schließen. Und nun erlebte ich, wie in einem Kaleidoskop, einen Farben- und Stimmen- und Gestaltenrausch. Alles floß ineinander, die Farben, die Gestalten, die Stimmen, alles schwamm vorbei. Rot, brennend rot. Meine Frau Karin, das hübsche Gesicht verzerrt, ihre Stimme schrill: Du elender Feigling! Du Lump! Du gemeines Tier! Du glaubst, damit kommst du davon. Aber da irrst du dich. Gott wird dich strafen, ja, das wird er. Du Sadist! Du Seelensadist! Du Teufel! Ich bin dir zum Kotzen, ja? Los, los, sag doch, daß ich dir zum Kotzen bin! Das glühende Rot mischte sich mit silbernen und goldenen Schlieren. Da lag diese Italienerin, einen Dolch in der Brust. Sie schwamm vorbei. Da war mein Chef, Gustav Brandenburg, mit seinen schlauen Schweineaugen und dem breiten Kiefer, hemdsärmelig, dröhnend. Wird es dir zuviel, Robert? Wächst dir die Arbeit über den Kopf? Willst du nicht mehr, oder kannst du nicht mehr? Schwein. Schweineschwein. Gold, Gold jetzt alles. In zwei Jahren bin ich fünfzig. Geschuftet habe ich mein Leben lang, ich habe ein Recht auf Glück wie jeder Mensch. Ja, aber auf Kosten eines anderen? Ins Gold floß Blau, Blau der tiefen See. Das gemeinste Verbrechen, das es gibt, weil es durch nichts und niemanden bestraft werden kann. Siebzig Milliarden Dollar, Herr Lucas, siebzig Milliarden Dollar! Wir gleiten in eine weltweite Katastrophe. Und da gibt es nichts, was wir tun können, nichts. Daniel Friese ist das, der da spricht, ganz in wogendem Blau, Friese vom Bundesfinanzministerium. Die Reichen werden immer reicher, und die Armen werden immer ärmer. Wer sagt das? Die alte Frau in der Apotheke sagt das. Und lächelt verzagt, ohne Hoffnung. Blau und Silbern, Silbern und Orange und Grün, Schlieren und Schleier. Der Rotor dröhnt. Angelas Augen, riesengroß, ich sehe mich in ihnen. Langsame Musik. Angela und ich tanzen auf dem Podium des Terrassenrestaurants ›Palm Beach‹. Alle anderen Tänzer weichen zurück. Da ist die französische Fahne neben der amerikanischen. Das Orange wird stärker. Plötzlich explodieren alle Farben, die es gibt, zu Sternen und kreisenden Rädern und Fontänen. Ein Feuerwerk! In seinem Schein der Mann im Badezimmer, erhängt. Jetzt pochen die Farben, pochen gegen meine geschlossenen Lider, alle auf einmal. Wer ist das? Das bin ich. Betrunken neben einer schwarzhaarigen Frau mit einem Mund wie einer klaffenden Wunde. Sie ist nackt, wir wälzen uns auf ihrem Bett. Wer … wer … o, Jessy, die Hure! Grün nun, alle Arten von Grün. Zwei Kerle schlagen mich zusammen, der eine hält mich, der andere trifft mit seinen Fäusten meinen Unterleib, wieder, wieder, wieder. Ich stürze, ich stürze. Halt mich, Angela, halte mich bitte! Doch da ist keine Angela, da kommt die große Schwärze, da versinke ich in ihr wie in Watte. Ich verliere wieder das Bewußtsein. Und zweiunddreißig Minuten habe ich noch zu leben.
Ich komme wieder zu mir, in einem Meer von Blumen bin ich plötzlich. Weißer Jasmin, rote, violette, orangefarbene Blüten der Bougainvillea, blaue, weiße, rote und violette Petunien, rote Gladiolen, Margueriten, weiß und gelb … Angelas Blumenmeer ist das, ihr Garten auf dem Dach. Kleine Rosen in allen Farben … ›Surprise‹ heißen sie. Und Nelken. Nein, keine Nelken! Nelken bringen Unglück. Der kleine Hocker in Angelas Küche. Sie kocht, ich sitze auf dem Hocker und schaue ihr zu. Wir sind beide ganz nackt, denn es ist heiß, so heiß. Ich fühle, wie mir Schweiß auf die Stirn tritt. Tuch über meine Stirn, Schweiß fort. Rotordröhnen. Gelb alles nun, leuchtend gelb. Alles wird andauernd teurer. Was geschieht mit dem Geld? Ich verstehe das nicht, Herr! Die alte Frau in der Apotheke. Aber jemand muß es doch verstehen! Ja, das stimmt wohl. Da sind die vielen Millionen, die nicht begreifen können, und da sind die wenigen, die Bescheid wissen. Gesichter schwimmen vorbei. Ein betrunkener John Kilwood in Violett. Ein golfspielender Malcolm Thorwell in einer schnellen Spirale aus Rosarot. Ein ausdrucksloser Giacomo Fabiani am Roulettetisch, cremefarben. Eine starre Hilde Hellmann in einem riesigen Rokokobett, alles nun wieder golden. Warum kommt das Unglück, Herr? Warum? Ach, das Unglück kommt nicht wie der Regen, sondern es wird von denen gemacht, die einen Nutzen davon haben. Schrieb Brecht. Kommunist. Maoist. Willy Brandt ist schuld an allem. Auch ein Kommunist. Alle Sozialdemokraten sind Kommunisten. Der Spiegel ist ein Kommunistenblatt! Sind Sie auch Kommunist, Monsieur Lucas? Viele Stimmen durcheinander, wie die Farben. Alles dreht sich nun, schneller, schneller, die Stimmen, die Gestalten. ›Unser‹ Lokal – ›L’Age d’Or‹. Weißgetünchte Wände. Niedrig. Uralt. Nicolai, der Wirt, schiebt Fleisch in einen offenen runden Ofen. Rot ist seine Schürze, weiß sein Hemd. Die Filiale der Juweliere Van Cleef & Arpels an der Croisette. Jean Quémard und seine Frau. Sie lächeln uns an, Angela und mich. Etwas leuchtet hell auf. Der Ehering! Alles leuchtet plötzlich. Ich bin mit Angela auf der Terrasse ihrer Wohnung, hoch über Cannes. Die vielen tausend Lichter der Stadt und der Schiffe, der Straße am Fuß des Estérel-Gebirges. Unendlich viele Lichter, rote, weiße, blaue. Wir lieben einander, Angela und ich. Wir sind eins, wir empfinden, was keiner von uns je noch empfand. Wer stöhnt da? Ich. Ich bin das. Braun und Gelb. Razzia in La Bocca. Eine Maschinenpistole hämmert. Wieder Blau. ›Unsere‹ Ecke auf der Terrasse des Hotels ›Majestic‹. Jetzt höre ich den Rotor kurz sehr laut. Grau, grau, alles grau. Kräne ziehen einen Chevrolet aus dem Becken des Alten Hafens. Hinter dem Steuer Alain Danon, sehr tot, ein kleines Loch in der Stirn, ein großes in dem zerfetzten Hinterkopf. Gold und Rot. Rot und Gold. Das größte Verbrechen unserer Zeit – ungesühnt, unsühnbar, unfaßbar, kein Verbrechen mehr, weil es so groß ist. Alles, was sehr, sehr groß ist, ist unfaßbar, unstrafbar … Blau. Wundervolles Blau. ›Unsere‹ Kirche, sehr klein, in dem wilden Garten. Die vielen Ikonen. Angela und ich zünden Kerzen an vor einer schwarzen Madonna. Angela betet, ihre Lippen bewegen sich lautlos. Der junge Priester, der auf einem Motorrad davonfährt, in seiner Kutte, einen Gemüsekorb auf dem Gepäckträger. Und alles in Rot, Rot, Rot. Der Palast der Hellmanns. Kreisende Radarschirme. Arbeitende Großcomputer, Lichter flackern an ihren Schaltwänden. Ergaunert, erschoben, verkauft mit irrwitzigem Gewinn. Wer lacht da? Wer? Sanftes Pfirsichrosa. Die Bar im ›Club Port Canto‹. Angela singt für mich. ›Blowin’ in the wind.‹ Den deutschen Text: Wie viele Straßen auf dieser Welt sind Straßen voll Tränen und Leid …
Drei Fernsehgeräte laufen. Dreimal die Gesichter und Stimmen von Nachrichtensprechern. Britisches Pfund freigegeben. Praktisch Abwertung um acht Prozent. Generalstreiks. Geschlossene Banken. Private Düsenflugzeuge in Nizza. Ich weiß, wem sie gehören, o ja!
… wie viele Meere auf dieser Welt sind Meere der Traurigkeit … Angela singt, singt für mich.
Ein Saxophon. Ein Dolch. Ein Elefant. Der weiße Fleck auf Angelas Handrücken. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Niemals habe ich einen Menschen so sehr geliebt wie dich. Ich werde niemals mehr einen anderen Menschen lieben. Ich auch nicht, Angela, auch ich nicht. Sie auf ihrem Bett in ihrer Wohnung in Cannes, ich in meinem Zimmer im Hotel ›Intercontinental‹ in Düsseldorf. Zu unseren Füßen Lichter – die Lichter der Côte d’Azur, die Lichter des Flughafens Lohausen. Eine startende Maschine fliegt über mich hinweg. Uhr auf dem Nachttisch. 4 Uhr früh. Du bist alles, was ich habe auf der Welt. Tun Sie etwas! In Weiß. Tun Sie etwas! Das ist schlimmer, als es die Morde sind. Wie soll ich es verhindern, meine Herren! Ich bin allein, ich habe keine Macht. Wir haben auch keine. Sie haben Ihren Fahnder losgeschickt! Da ist er, in einem Strahlenglanz von Grün. Kessler. Hager, nahe der Pensionierung. Einer der besten Leute …
Angela singt: … Wie großes Unheil muß noch geschehn, bevor sich die Menschheit besinnt? …
Mörder … Wir alle sind Mörder …
Der betrunkene John Kilwood lallt.
Ja, Mörder, wir alle! Silbern und Schwarz: Mein Anwalt in Düsseldorf. Neblig trüb: Dr. Joubert vom Hôpital des Broussailles. Ertragen Sie die Wahrheit, Monsieur? Die ganze Wahrheit? Ja? Nun, dann …
Angela singt: … die Antwort, mein Freund, kennt ganz allein der Wind, die Antwort kennt nur der Wind …
Dreizehn rote Rosen in meinem Hotelzimmer. Kuvert. Karte darin. Worte darauf: Je t’aime de tout mon cœur et pour toute la vie … Für das ganze Leben …
Das ist die ganze Wahrheit, Monsieur, Sie wollten sie hören … Ich danke Ihnen, Doktor Joubert …
… Wie viele Kinder gehn abends zur Ruh und schlafen vor Hunger nicht ein? … Die Antwort, mein Freund, kennt ganz allein der Wind, die Antwort kennt nur der Wind, singt Angela in Purpur, in Purpur.
Niemals, niemals verläßt nun mehr einer den andern, solange er lebt, höre ich mich sagen. Und beginne wieder zu stürzen, in den Strudel, in den Strudel. Das ist schlimm. O, das ist eine solche Gemeinheit, daß ich nun doch …
Aus. Schluß. So also sieht das Ende aus!
Nein, noch einmal kehre ich zurück ins Leben.
Starkes Gerüttel. Ich wurde aus dem Helikopter auf eine Bahre gehoben. Viele Menschen in Weiß standen auf einem Dach, das der Landeplatz des Hubschraubers war. Ärzte. Schwestern. Angela. Die Bahre rollte los. Lifttüren auf. In den Lift hinein. Lifttüren zu. Wir sanken. Menschen um mich. Da war Angela. Geliebt. So sehr geliebt. Tränen rannen unaufhörlich über ihr Gesicht. Noch einmal hörte ich, was sie rief: »Gib nicht auf! Bitte, bitte, gib nicht auf! Du darfst nicht …«
Aus. Ihre Lippen bewegten sich stumm. Und alles drehte sich immer schneller und schneller, rasend schnell. Ein sehr kalter Windhauch flog über mich hinweg. Und ich war wieder auf Fahrt, einer Meerfahrt, einer Nachtmeerfahrt. Kam nun der Tod? Kam er nun endlich? Nein, es kam nur eine neue Ohnmacht. Sieben Minuten hatte ich noch zu leben.
Als ich zurückkehrte, wurde ich gerade sehr schnell durch einen schier endlosen Gang gefahren, der wie ein Tunnel war. Viele Lichter brannten. Ich sah Angela nicht mehr. Stimmen erklangen, doch ich verstand sie nicht mehr. Ich schloß die Augen. Und da ertönte Angelas Stimme, überklar. Sie las mir ein Gedicht vor. Nackt saß sie vor mir auf ihrem Bett, auf dem ich nackt lag. Durch das Fenster kam erstes rosiges Morgenlicht. Es war ein Gedicht von einem Amerikaner, das wußte ich, Angela las die deutsche Übersetzung. Aber ich wußte nicht, und ich erinnerte mich, daß ich es damals auch nicht gewußt hatte, wie der Autor hieß.
Angelas Stimme: »Von wildem Lebensdrang, von Furcht und Hoffnung frei …«
Wieder wurde ich umgebettet. Etwas riß knirschend. Mein Hemd. Etwas blendete mich. Eine Riesenscheibe. In ihr viele grelle Lampen, direkt über mir. Menschen mit Gesichtsmasken und weißen Kappen auf dem Haar. Neigten sich herab …
»… der Gottheit sage Dank, wer immer dein Gott auch sei …«
Einstich einer Nadel in meine rechte Armbeuge.
Immer leiser wurde Angelas Stimme: »… daß jedem Leben ein Schluß, keinem Toten je Wiederkehr …«
Die Farben! Die Farben! Nun waren sie alle gemeinsam da in einer Phantasmagorie der Schönheit. An meinen Armen fühlte ich Gegenstände, welche lasteten. Etwas wurde über mein Gesicht gepreßt. Es ertönte ein dünnes Zeichen. Wundervoll waren die Farben. Solche gab es nicht auf unserer Welt.
Sehr leise war nun Angelas Stimme: »… daß auch der müdeste Fluß seinen Weg einst findet zum Meer …«
Das Zischen wurde stärker. Und auf einmal sah ich ihn. Er wand sich durch eine mit Blumen bedeckte Wiese, dieser müdeste aller Flüsse. Ich merkte, daß glatte Finger meinen Körper berührten und etwas Eiskaltes, Scharfes meine linke Brustseite. Und da auf einmal wußte ich, was für ein Fluß das war. Es war der Fluß Lethe in der Unterwelt, der das Reich der Lebenden trennt vom Reiche der Toten, der Fluß Lethe, aus dem die Seelen der Verstorbenen Vergessenheit trinken. Ich dachte erstaunt: Die Ufer des Flusses Lethe haben besonnte Ufer.
Dann, mit großer Sanftheit, blieb mein Herz stehen, ich konnte es fühlen. Dann, langsam und behutsam, verschwand das Bild der blumenübersäten Wiese und des Flusses Lethe, verschwanden die leuchtenden Farben, kehrte die Schwärze des Strudels wieder. Dann sank ich zum letzten Mal. Ich ergab mich willig. Mein Atem, ganz flach geworden, setzte aus. Das Zischen verklang. Mein Blut in Venen und Arterien kam zum Stillstand. Dann waren da nur noch Dunkelheit, Wärme und Frieden. Dann war ich tot.
Zum Wochenende wird England das Pfund freigeben«, sagte Gustav Brandenburg. »Bisher wurde es nur innerhalb der offiziellen Bandbreite gehandelt. Aber diese Grenzen entsprachen schon längst nicht mehr dem tatsächlichen Wert des Pfundes. Jetzt steht der Eintritt in die EWG bevor. Jetzt hat London klugerweise das Pfund freigegeben, um im Floating den wahren Wert zu erfahren und damit eine günstige Startposition für die EWG zu bekommen.«
»Heißt das nicht, daß das Pfund abgewertet wird?«
»Klar«, sagte Brandenburg. »Und zwar um acht Prozent, höre ich.«
»Von wem?«
»Hab meine Leute.«
»Nein, woher weißt du überhaupt von der Freigabe? So etwas macht man immer zum Wochenende, und heute ist erst Freitag«, sagte ich. Freitag, der 12. Mai 1972, war das, knapp nach neun Uhr früh. In Düsseldorf regnete es, und ein starker Wind wehte. Es wollte nicht richtig hell werden an diesem Tag, und es war viel zu kühl, fast kalt für die Jahreszeit.
»Wenn sie das Pfund am Wochenende freigeben, wieso weißt du es schon heute?« fragte ich. »So was weiß doch niemals ein Mensch vorher.«
»Ich schon«, sagte Brandenburg. »Ich sage dir doch, ich habe meine Leute in London.«
»Müssen ganz besondere Leute sein.«
»Sind sie auch. Hat mich einen Haufen Geld gekostet. Aber ich mußte es wissen. Ich muß immer alles vor den anderen wissen. Die Firma wird mir dankbar sein bis zum Jüngsten Tag. Was glaubst du, was die in unserer Londoner Filiale heute noch tun können! Und was wir sonst verloren hätten! Ich hätte dreimal so viel für die Information zahlen dürfen. Zehnmal so viel! Egal. Die in der Direktion sind selig.«
»Du bist schon ein toller Kerl«, sagte ich.
»Ich weiß«, sagte Brandenburg und kaute weiter in der unappetitlichen Weise, die seine Art war, an einer dicken Havanna herum. Er war nur mittelgroß, untersetzt und hatte einen mächtigen, völlig kahlen Schädel. Dieser Schädel saß ihm wie ein Würfel, so eckig und so breit, auf den Schultern. Von einem Hals war fast nichts zu sehen. Brandenburg hatte mächtige Kiefer, eine fleischige Nase und kleine, flinke und schlaue Augen. Schweineaugen. Im Büro arbeitete er grundsätzlich ohne Jackett, die Hemdsärmel aufgekrempelt. Er bevorzugte bunt gestreifte Hemden, besonders lila-grüne, niemals trug er ein weißes Hemd. Seine Krawatten waren unmodern und zerdrückt, manche sogar faserig. Er legte keinen Wert auf sein Aussehen. Er lief wochenlang in demselben zerdrückten Konfektionsanzug herum. Auch seine Schuhe waren oft defekt. Er aß wie ein Schwein. Es war eine Qual, ihm zuzusehen. Er schlang, Brocken fielen ihm aus dem Mund, er bekleckerte beständig sich, Tischdecke und Serviette. Er hatte meistens zu lange und unsaubere Fingernägel. Er war der ungepflegteste und klügste Mann, den ich kannte, 61 Jahre alt, unverheiratet, und unsere Firma hätte ihn mit Gold aufgewogen.
Brandenburg war der Chef der Abteilung Schaden V. Sein Büro lag im siebenten Stock des Riesengebäudes der Global-Versicherung an der Berliner Allee. Die Global war nicht die größte Versicherungsgesellschaft der Welt, aber gewiß eine der größten. Wir versicherten einfach alles, in allen Teilen der Erde – Leben, Autos, Flugzeuge, Schiffe, Filmproduktionen, Grundbesitz, Schmuck, Menschen, Teile von Menschen, Brüste, Augen, Beine von Schauspielerinnen –, es gab nichts, was wir nicht versichert hätten. Oder doch, ja. Ich hatte es einmal zu meiner Verblüffung festgestellt. Wir versicherten keine männlichen Glieder. Weibliche Genitalorgane schon. Aber keinen Penis. Wir versicherten gegen Impotenz, sicherlich. Aber nicht die Beschädigung oder den Verlust eines Penis. Das war sehr sonderbar. Ich hatte überall herumgefragt, keiner kannte eine Erklärung.
Die Global mit ihrem Stammsitz in Düsseldorf hatte Außenstellen in Belgien, England, Frankreich, Holland, Österreich, Portugal, der Schweiz und in Spanien. Sie war vertreten in Australien, auf den Bahamas, in Brasilien, Costa Rica, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Honduras, in Japan, Kolumbien, Mexiko, Neuseeland, Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru, Uruguay, den USA und Venezuela. Sie wies nach ihrer letzten Bilanz-Ausschreibung eine Bilanzsumme von zwölf Milliarden DM aus und dreihundert Millionen DM Kapital und Reserven. Im Düsseldorfer Stammhaus arbeiteten rund 2500 Menschen. In der ganzen Welt arbeiteten rund 30000 Menschen für die Global. Ich arbeitete seit 19 Jahren in der Abteilung Schaden V.
Schaden V war gewiß eine der wichtigsten Abteilungen, und der schmuddelige Gustav Brandenburg, Jurist von Beruf wie ich, war einer der wichtigsten Leute in der Firma. Wenn ein Schadensfall eintrat, der nur im geringsten undurchsichtig erschien, schaltete Brandenburg sich ein. Dieser Mann hatte einen phantastischen Spürsinn. Er roch, ob etwas faul war und nach Betrug oder Verbrechen stank, hundert Meter gegen den Wind. Er war der mißtrauischste und skeptischste Mann in der Global. Er glaubte nichts und niemandem. Für ihn waren alle Menschen von vornherein so lange schuldig, bis sie ihre Unschuld bewiesen hatten. Beziehungsweise, bis wir ihre Schuld bewiesen hatten. Wir – das waren vier Dutzend Männer, Juristen darunter, ehemalige Polizeibeamte darunter, die alle Brandenburg zur Verfügung standen und die er losschickte, wenn seine dicke Nase ihn juckte und er Unrat witterte. Er hatte es gerne, daß man ihn den ›Bluthund‹ nannte. Er war stolz auf den Ausdruck. Durch sein Mißtrauen hatte er der Global im Laufe der Jahre Unsummen erspart. Obwohl er ein riesiges Gehalt bezog, lief der Unverheiratete herum wie ein Tramp und wohnte in einem kleinen Hotel. Er wohnte sein Leben lang in Hotels, er haßte den Gedanken an eine eigene Wohnung oder gar ein eigenes Haus. Er hatte eine unstillbare Gier nach Popcorn, also Puffmais. Ständig trug er Tüten voll bei sich. Die Tüten lagen auf dem Schreibtisch. Brandenburg mampfte unablässig. Wo er saß und stand, umgaben ihn Krümelmassen. Und er rauchte zehn bis fünfzehn Havannas am Tag, schwere Dinger. Jede Art von körperlicher Anstrengung war ihm verhaßt. Für einen Weg von zehn Minuten ließ er sich einen Wagen kommen. Er hatte keine Freundin, kein Hobby, er hatte nur seinen Beruf – bei Tag und bei Nacht. Unzählige Male hatte er mich noch in den ersten Morgenstunden aus dem Bett geklingelt und zu sich ins Büro kommen lassen, um über einen Fall mit ihm zu reden. Dieser Mann schien keinen Schlaf zu brauchen. Um acht Uhr früh saß er an seinem Schreibtisch, der so unappetitlich aussah wie er selber, von Popcorn versaut, mit Papieren bedeckt, über die Zigarrenasche gestreut und Tee gegossen war – und vor Mitternacht ging dieser Mann niemals heim. Mitternacht war der früheste Zeitpunkt und eine Ausnahme. Das also war Gustav Brandenburg.
»Wenn man jetzt viel Geld hätte, könnte man auch noch seinen Rebbach machen mit dem Pfund«, sagte das Menschenschwein Brandenburg. Asche fiel auf seine Krawatte. Er bemerkte es überhaupt nicht. An seinem Kinn klebte ein Streifen roter Frühstücksmarmelade.
»Du hast doch viel Geld«, sagte ich.
»Ich bin ein armer Mann«, sagte er. Das war ein Tick von ihm. Dauernd sprach er von seiner Armut, dieser Kerl, der, wie ich wußte, ein Monatsgehalt von 18000 Mark bezog. Was er mit dem Geld anfing, hatte ich niemals herausbringen können. »Außerdem tut ein anständiger Mensch das nicht«, sagte er und bohrte in den Zähnen.
»Aber die Firma tut’s.«
»Klar«, sagte er. Danach verstummte er, betrachtete mißgelaunt das Ergebnis der Bohrarbeiten und biß wieder an seiner Havanna herum. Das dauerte vielleicht zwei Minuten.
»Hör mal«, sagte ich, »du hast mich rufen lassen. In einer dringenden Angelegenheit, hast du gesagt. Schlaf jetzt nicht ein. Vielleicht redest du zur Abwechslung über die dringende Angelegenheit.«
Er schnippte das, was er auf dem Finger hatte, ins Zimmer, sah mich von unten her an und sagte, mit der Zigarre im Mund:
»Herbert Hellmann ist tot.«
»Nein!« sagte ich.
»Doch«, sagte er.
»Aber der war doch ganz gesund.«
»Er ist auch ganz gesund gestorben. Nur sehr plötzlich.«
»Unfall?«
»Vielleicht«, sagte Brandenburg maulfaul. »Vielleicht auch nicht.«
»Mensch, Gustav, rede normal! Mach mich nicht verrückt!« Ich suchte nach Zigaretten. Während ich eine in Brand setzte, kam er ein wenig in Fahrt.
»Vielleicht Selbstmord«, sagte er und warf sich eine Handvoll Popcorn in den Mund. Einiges davon fiel wieder heraus, weil er mit vollem Mund sprach wie immer. »Wäre schön, Selbstmord. Wäre das Schönste. Dann müßten wir nämlich nicht zahlen.«
»Was zahlen?«
»Schadenabrechnung für ›Moonglow‹.«
»Wer ist ›Moonglow‹?«
»Das war seine Jacht«, sagte Gustav. »Bei uns versichert.«
»Wie hoch?«
»Fünfzehn Millionen.«
»Fein«, sagte ich. »Hübsch«, sagte ich.
»Gegen Feuer an Bord, Absacken im Sturm, jede Art von Zerstörung, einschließlich Explosionen jeder Art, Piraterie, Auffahren auf Riffs, Kollision, jede Form von Sabotage oder fremdes Verschulden. Nur nicht gegen Selbstzerstörung. Nur nicht dagegen, daß Herr Hellmann sich mit seiner ›Moonglow‹ selber in die Luft jagte.«
»Aha«, sagte ich.
»Ja«, sagte er. »Dagegen nicht.« Er schüttete neuen Puffmais aus einem Säckchen in seine hohle Hand. »Willst du auch?«
»Nein, danke. Die Jacht ist also im Eimer?«
»Total. Er war drauf.« Gustav kaute und schluckte. Dann sog er wieder an der Zigarre. »Andere Leute waren auch noch drauf, als er von Cannes losfuhr. Dreizehn Leute insgesamt. Sieben Mann Besatzung, Hellmann, zwei Ehepaare und noch jemand. Er war auf dem Rückweg aus Korsika. Ist gestern vor Mitternacht passiert. Zwischen Cannes und Korsika. Explosion. Ich habe mit der Stelle telefoniert, die da in Cannes zuständig ist für so was. War noch da, als die Meldung über dpa kam, so um ein Uhr früh. Christi Himmelfahrt war das gestern. Hellmann hat sich einen passenden Tag ausgesucht für seine Fahrt da hinauf. Großer Reiseverkehr.«
In der Nachrichtenzentrale ein Stockwerk tiefer gab es einen Fernschreiber der Deutschen Presseagentur und einen der Agentur United Press International. Wir waren auf beide Dienste abonniert.
»Die Wasserpolizei in Cannes hat einen langen Namen.« Er sah auf einen schmierigen Zettel. »›Direction des Affaires Maritimes, Marine Mediterranée, Sous-Quartier Cannes‹. Liegt am Alten Hafen. Das Hauptquartier liegt in Nizza. Aber das Sous-Quartier untersucht den Fall. Du sprichst doch fließend Französisch, was?«
»Ja«, sagte ich. Ich sprach auch Englisch und Italienisch und Spanisch fließend.
»Mein Französisch ist miserabel. Aber soviel habe ich rausgekriegt: Der Boß – ›Administrateur-Chef‹ nennen sie ihn – ist auf Studienreise in Amerika. Sein Vertreter war mit einem Haufen Leute zur Unglücksstelle unterwegs. Louis Lacrosse heißt er. Später habe ich noch mal telefoniert. Es muß eine unheimliche Explosion gewesen sein. Die Wrackteile flogen über Hunderte von Metern. Von Menschen fanden sich nur noch ein paar Köpfe und Beine und Arme und Finger. Fischer zogen sie aus dem Wasser. Tja. Christi Himmelfahrt.«
»Hatte Hellmann eigentlich die größte Privatbank der Bundesrepublik?« fragte ich.
»Eine der größten bestimmt. Der Mann war gut und gerne achtstellig. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Was soll das heißen?«
»Die Pfundfreigabe, Robert. Deshalb habe ich davon angefangen. Ich habe auch in Frankfurt ein bißchen herumgehört. In Bankerkreisen. Herumhören lassen. Diese Scheißbanker sind verschlossener als jede Drecksauster. Aber eines habe ich doch rausbekommen: Hellmann war seit Tagen vollkommen verstört. Ein Gespenst, hat einer gesagt. Ist plötzlich vorige Woche, am Mittwoch, nach Cannes geflogen. Soll ausgesehen haben wie der Tod. Etwas muß passiert sein, was ihn so mitnahm.«
»Was? Du meinst, er hat von der Pfundfreigabe auch gewußt?«
»Gewußt vielleicht nicht. Aber nach den ewigen Streiks und allem konnte er ja damit rechnen. Vielleicht hat er sich verrechnet. Vielleicht hatte er Angst, grausig auf die Schnauze zu fallen, wenn das Pfund nun abgewertet wird.«
»So leicht fällt ein Hellmann nicht auf die Schnauze.«
»Sagst du. Das war doch das Paradepferd bei uns, die weiße Bankerweste der Bundesrepublik, eine hehre Lichtgestalt.« Das stimmte. Herbert Hellmann hatte einen international erstklassigen Namen als vorbildlicher Bankier. »Na, und wenn er eine Schweinerei gemacht hat mit Pfunden? Schau mich nicht so an! Sie machen alle Schweinereien. Manche, wie Hellmann, lassen sich nur nie erwischen. Jetzt hätte man ihn vielleicht erwischt. Und er hätte seine Weste, die schöne weiße, bekleckert.« Gustav bekleckerte sich selber mit Popcorn, das er beim Sprechen aussprühte. Er verdreckte sein scheußliches Hemd mit den violetten und orangefarbenen Streifen. »Und das wäre ja dann wohl sein Ende gewesen, nicht?«
»Hm.«
»Mach nicht hm. Sein Ende, jawohl! Der Mann war nur ein Nervenbündel, stotterte beim Reden, hatte Schwindelanfälle, war in einem enormen Erregungszustand, bevor er abflog.«
»Woher weißt du das?«
»Glaubst du, ich habe heute nacht geschlafen? Du hast keine Ahnung, was kleine Angestellte alles erzählen – für gar nicht so viel Schmiergeld.«
»Aber was wollte er in Cannes?«
»Weiß ich auch nicht. Hat ein Haus dort, das weißt du wie ich. Seine Schwester wohnt ständig da. Die Brillanten-Hilde. Dauernd kriegt man das Zeug zwischen die Zähne.« Gustav steckte wieder einen Finger in den Mund. Ich zündete an dem Stummel meiner Zigarette eine neue an.
»Er wird sich ja wohl bei seiner Schwester nicht nur ausgeweint haben«, sagte ich. »Deine Zähnebohrerei ist ekelhaft.«
»Ja? Na und? Und wenn schon. Schau nicht hin. Natürlich hat er sich da nicht nur ausgeweint.«
»Was dann?«
»Weiß ich nicht. Ich sage dir, die Sache stinkt. Ich rieche es nicht nur, ich spüre es im Urin.«
»Und wenn er sich umbringen will, setzt er sich auf seine Jacht und fährt nach Korsika und nimmt Gäste mit – gleich mit in den Tod?«
»Damit es eben nicht wie Selbstmord aussieht.«
»Ganz schön skrupellos.«
»Was?«
»Zwölf andere Leute mit hopsgehen zu lassen, wenn man Schluß machen will.«
»Welcher Banker kann denn mit Skrupeln Geschäfte machen? Übrigens waren es nicht zwölf Leute, die außer ihm ums Leben kamen, sondern nur elf.«
»Aber du hast doch gesagt, es waren dreizehn an Bord.«
»Bei der Hinfahrt, habe ich gesagt. Bei der Rückfahrt waren es nur zwölf.«
»Wo war der dreizehnte?«
»Die dreizehnte. Eine Frau.«
»Wo war die Frau?«
»Ist auf Korsika geblieben.« Gustav wühlte in Papieren. »Delpierre heißt sie. Angela Delpierre.«
»Warum ist diese Delpierre auf Korsika geblieben?«
»Weiß ich nicht. Ich habe schon alles bestellt. Flugkarte. Hotelappartement. Du wohnst im ›Majestic‹. Du fliegst mit der Lufthansa über Paris um vierzehn Uhr dreißig. Um siebzehn Uhr fünfundvierzig bist du in Nizza.«
»Ich soll …«
»Sag mal, hältst du mich für einen Idioten? Warum erzähle ich dir sonst alles? Natürlich sollst du. Du hast schon zweimal mit Schiffen zu tun gehabt. Vierzehn Tage Ruhe waren doch wohl genug – oder möchtest du unbedingt bei deiner süßen kleinen Frau bleiben?«
Er schob mir das Heftchen mit der Flugkarte über den Schreibtisch. Alle solche Bestellungen liefen durch ein Reisebüro, niemals wurden offiziell von der Global Reservierungen oder Reisekarten gebucht. Es brauchte niemand zu erfahren, wer da flog, ankam, wohnte.
Ich sagte: »Du weißt doch genau wie ich, daß ich allein diese Sache nicht untersuchen darf.«
Natürlich wußte er das. Sehen Sie: In solchen Fällen stellt sofort immer ein unabhängiger Experte im Auftrag der Polizei Ermittlungen an. Neben diesen Experten darf selbstverständlich ein Agent der Versicherung seine Untersuchungen vornehmen.
»Die Franzosen haben schon einen Experten bestellt. Ehemaligen Seeoffizier. Du wirst ihn kennenlernen. Was schaust du mich so an?«
Plötzlich wurde der tranige Dickwanst tückisch. Seine Schweineaugen verengten sich. So kannte ich ihn gut. So war er wirklich. »Willst du nicht, oder kannst du nicht, Robert? Wird es dir zuviel? Wächst dir diese Arbeit über den Kopf? Bist du ihr nicht mehr gewachsen? Soll ich dich in den Innendienst nehmen? Oder hast du vielleicht überhaupt genug? Du machst das nun schon neunzehn Jahre. Lange Zeit. Könnte verstehen, wenn es dir zuviel wird.«
Das durfte ich mir natürlich nicht bieten lassen. Todelend, wie mir war, zwang ich mich, Theater zu spielen. Ich sagte, scheinbar verblüfft: »Nein, also sieh mal einer an, es hat gewirkt!«
»Eh?« frage Gustav irritiert.
»Ich habe einem alten Zauberer viel Geld gegeben, damit er dich in eine widerliche Kröte verwandelt. Er hat es tatsächlich geschafft!«
»Ha«, sagte Gustav. »Haha. überanstrenge dich nicht.« Er beugte sich in niederträchtiger, verlogener Vertraulichkeit vor und zahlte mir das gleich heim. Mit gesenkter Stimme: »Du siehst ganz käsig aus. Sag mal, Robert – du bist doch nicht etwa krank?«
In meinem Gehirn schrillten Alarmglocken.
Schwein. Schweineschwein. Du hast mich in der Hand. Und wie. Du weißt, wie du mich packen kannst. Ich bin 48. Bei weitem der Älteste von deinen Leuten. Ich habe dir viele Fälle so gelöst, daß die Global nicht blechen mußte. Aber das spielt keine Rolle. Dafür werde ich bezahlt. Gut bezahlt. Sehr gut bezahlt. Ich habe jedoch, besonders in letzter Zeit, auch ein paar Fälle versaut. Sagst du, Schweineschwein. Da war nichts zu versauen, da mußten wir einfach blechen! Aber wenn so was passiert, ist immer der Mann schuld, den du losschickst, du Dreckshund.
»Ich respektiere natürlich, wenn du dich wirklich nicht gut genug fühlst, Robert. Dann kann ich immer noch Bertrand schicken oder Holger. Du bist besser als die beiden zusammen. Darum will ich dich. Aber bitte, wenn du sagst, du kannst nicht …«
»Ich kann!« Existenzangst schoß in mir hoch. Bertrand. Holger. Und alle die anderen. Jünger als ich. Ausgeruhter als ich. Mit ihnen verglichen war ich schon ein alter Mann. Wenn ich wirklich zugab, wie mies mir war, und bat, den Fall jemandem anderen zu übergeben? Gustav war mein Freund, sagte er immer. Mein guter Freund, beteuerte er. Guter Freund, Scheiße! Mein guter Freund Gustav Brandenburg würde kalt und ohne jede Regung seinen Bericht an die Geschäftsleitung schreiben und empfehlen, mich aus dem Verkehr zu ziehen.
Und der Vertrauensarzt?