Die Bagage - Monika Helfer - E-Book

Die Bagage E-Book

Monika Helfer

3,0

Beschreibung

„Von uns wird man noch lange reden.“ Monika Helfers neuer Roman „Die Bagage“ – eine berührende Geschichte von Herkunft und Familie

Josef und Maria Moosbrugger leben mit ihren Kindern am Rand eines Bergdorfes. Sie sind die Abseitigen, die Armen, die Bagage. Es ist die Zeit des ersten Weltkriegs und Josef wird zur Armee eingezogen. Die Zeit, in der Maria und die Kinder allein zurückbleiben und abhängig werden vom Schutz des Bürgermeisters. Die Zeit, in der Georg aus Hannover in die Gegend kommt, der nicht nur hochdeutsch spricht und wunderschön ist, sondern eines Tages auch an die Tür der Bagage klopft. Und es ist die Zeit, in der Maria schwanger wird mit Grete, dem Kind der Familie, mit dem Josef nie ein Wort sprechen wird: der Mutter der Autorin. Mit großer Wucht erzählt Monika Helfer die Geschichte ihrer eigenen Herkunft.

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Über das Buch

»Von uns wird man noch lange reden.« Monika Helfers neuer Roman »Die Bagage« — eine berührende Geschichte von Herkunft und FamilieJosef und Maria Moosbrugger leben mit ihren Kindern am Rand eines Bergdorfes. Sie sind die Abseitigen, die Armen, die Bagage. Es ist die Zeit des ersten Weltkriegs und Josef wird zur Armee eingezogen. Die Zeit, in der Maria und die Kinder allein zurückbleiben und abhängig werden vom Schutz des Bürgermeisters. Die Zeit, in der Georg aus Hannover in die Gegend kommt, der nicht nur hochdeutsch spricht und wunderschön ist, sondern eines Tages auch an die Tür der Bagage klopft. Und es ist die Zeit, in der Maria schwanger wird mit Grete, dem Kind der Familie, mit dem Josef nie ein Wort sprechen wird: der Mutter der Autorin. Mit großer Wucht erzählt Monika Helfer die Geschichte ihrer eigenen Herkunft.

Monika Helfer

Die Bagage

Roman

Carl Hanser Verlag

für meine Bagage

Hier, nimm die Stifte, male ein kleines Haus, einen Bach ein Stück unterhalb des Hauses, einen Brunnen, aber male keine Sonne, das Haus liegt nämlich im Schatten! Dahinter der Berg — wie ein aufrechter Stein. Vor dem Haus eine aufrechte Frau, sie hängt die Wäsche an die Leine, die Leine ist schlecht gespannt, geknotet zwischen zwei Kirschbäumen, einer steht rechts von der Veranda zur Haustür, der andere links. Jetzt gerade klammert die Frau eine Strampelhose fest und ein Jäckchen, also hat sie Kinder. Sie wäscht oft, die Sachen der Kinder und die ihres Mannes und ihre Sachen, sie besitzt eine besonders schöne weiße Bluse. Sie möchte, dass ihre Familie sauber ist wie die Familien in der Stadt. Sie hat viele weiße Sachen, da kommen ihre dunklen Haare und dunklen Augen und die dunklen Haare und die dunklen Augen ihres Mannes gut zur Geltung. Die anderen unten im Dorf tragen selten Weiß, manche nicht einmal am Sonntag. Ein ernstes Gesicht hat sie, tiefe Augen. Die Augen male mit Kohlestift! Die Haare liegen eng am Kopf, sie sind schwarz, mit Braun gemischt, weil der Kohlestift abgebrochen ist. Die guten Buntstifte glänzen nicht und sind außerdem teuer.

Die Wirklichkeit weht hinein in das Bild, kalt und ohne Erbarmen, sogar die Seife wird knapp. Die Familie ist arm, gerade zwei Kühe, eine Ziege. Fünf Kinder. Der Mann, schwarzhaarig wie die Frau, lackglänzend seine Haare sogar, ein Schöner ist er, doppelt so schön wie die anderen. Ein schmales Gesicht hat er, aber ohne Freude, wie es scheint. Die Frau, gerade noch dreißig ist sie, sie weiß, dass sie den Männern gefällt, nicht einen kennt sie, bei dem sie nicht sicher ist. Wenn ihr Mann sie an sich zieht, spürt er ihre Brüste und den Bauch, er hat es genau so schon gesagt, ihm wird schwarz vor Augen, und vor Müdigkeit lässt er sich aufs Bett fallen. Sie entkleidet sich hastig, legt sich neben ihn und weiß, er stellt sich nur schlafend, er will nicht versagen. Darum hat sie das dünne Unterhemd angelassen. Damit nicht alles gleich eindeutig ist. Sie schaut durch das offene Fenster hinaus in den Nachthimmel. Nicht einmal der Mond kommt hinter dem Berg hervor. Manchmal zieht er knapp vorbei, dann kann sie den Schimmer oben über dem Kamm sehen. Einmal schreit ein Kind, sie weiß, welches, dann weint ein anderes, sie weiß, welches. Aber ihr gelingt es nicht aufzustehen, müde ist sie nicht, sie denkt, träge bin ich halt. Wie alt werde ich werden, denkt sie.

Das Mädchen, zwei Jahre alt, steht vor dem Bett, mitten in der Nacht. Es ist Margarethe. Die Grete. Sie zittert.

»Mama«, flüstert sie.

Die Mama flüstert auch: »Komm!«

Die Kleine kriecht zu ihr unter die Decke. Der Vater soll es nicht wissen. Das Mädchen legt sich nicht zwischen die Eltern, es legt sich an den Rand des Bettes. Es muss festgehalten werden, damit es nicht herausfällt, hinunter auf den Boden, das Bett ist nämlich hoch.

Das Mädchen war meine Mutter, Margarethe, eine Scheue, die jedes Mal, wenn sie auf ihren Vater traf, sich duckte und nach dem Rock der Mutter schaute. Der Vater war liebevoll zu den andern vier Kindern, im Großen und Ganzen war er liebevoll, und er würde es auch zu den zwei später geborenen sein. Nur dieses Mädchen verabscheute er, die Margarethe, die meine Mutter werden wird, weil er dachte, dass sie nicht sein Kind sei. Er hatte keinen Zorn auf sie, keine Wut; er verabscheute sie, er ekelte sich vor ihr, als würde sie nach dem Zudringling riechen ihr Leben lang. Sie schlug er nie. Die anderen Kinder manchmal. Die Grete nie. Er wollte sie nicht einmal im Schlagen berühren. Er tat, als gäbe es sie nicht. Er habe bis zu seinem Tod nie ein Wort mit ihr gesprochen. Und es sei ihr nicht bewusst, dass er sie jemals angeschaut hätte. Das hat mir meine Mutter erzählt, da war ich erst acht. Mein Großvater wollte mit der Scheuen nichts zu tun haben. Für meine Großmutter war das der Grund, die Scheue mehr als die anderen Kinder zu herzen und auch mehr als die anderen zu mögen. Maria hieß meine schöne Großmutter, der alle Männer nachgestiegen wären, wenn nicht alle Männer Angst vor ihrem Mann gehabt hätten.

Aber ich greife vor. Diese Geschichte beginnt nämlich, als meine Mutter noch nicht geboren war. Die Geschichte beginnt, als sie noch gar nicht gezeugt war. Sie beginnt an einem Nachmittag, als Maria wieder einmal die Wäsche an die Leine klammerte. Es war im frühen September 1914. Da sah sie den Postboten unten am Weg. Sie sah ihn schon von Weitem.

Vom Hof aus hatte man Blick ins Tal hinunter bis zum Kirchturm, der über die Linden hinaufragte. Der Postbote schob das Fahrrad, weil es steil aufwärtsging zu dem kleinen Haus, und der Weg war nach der Abzweigung nur noch grob geschottert. Der Mann war erschöpft, er wollte Adjunkt genannt werden, Postadjunkt war die offizielle Bezeichnung für seinen Beruf, er trug eine Uniform mit glänzenden Knöpfen, er schwitzte, hatte die Krawatte gelockert, den Kragen geöffnet. Er nahm die Kappe ab, nur kurz, zum Gruß und zum Lüften. Maria trat einen Schritt zurück, als er ihr den Brief entgegenhielt. Es war ein blauer Brief mit einem losen Abschnitt vorne drauf, den man abreißen sollte. Dieser Abschnitt musste unterschrieben und zurückgesandt werden an den Absender. Der Staat war der Absender, der wollte einen Beweis in Händen halten. Der Adjunkt wusste, dass sie wusste, dass sie ihm gefiel und noch mehr. Auch wusste er, dass er ihr gleichgültig war. Er war nicht halb so fesch wie Josef, ihr Mann, mit dem finsteren Blick, wenn fesches Aussehen überhaupt halbiert oder verdoppelt werden konnte.

Der Adjunkt missbilligte, wie die Männer im Dorf über Josef und Maria redeten. Kinder seien kein Beweis für gar nichts, auf jeden Fall nicht dafür, ob es einer gut könne oder eben nur könne, auch vier Kinder würden rein gar nichts sagen. Eine Frau kann auch Kinder kriegen, wenn ihr der Mann nicht behagt, das ist Natur, und die Natur hat mit Liebe nichts zu tun, und nur weil man zufällig Josef und Maria heiße, heiße das schon überhaupt gar nichts, eher im Gegenteil. So hätten es die Männer gern gehabt. Dann, so dachten sie nämlich, hätten sie selber eventuell einen Stich bei der schönen Maria. Man sah diese beiden Eheleute auch so gut wie nie zusammen ins Dorf kommen, daraus zogen die Männer abermals ihre Schlüsse und sahen darin einen weiteren Beleg. Und wenn man sie sehe, seien sie nicht fröhlich zueinander, nicht einander zugewandt, der Josef so gut wie immer ernst und die Maria meistens auch, als kämen sie gerade von einem Streit. Aber die Männer hatten keine Ahnung. Maria lag nämlich gern mit Josef eng umschlungen, sie hatte Temperament. Und ihr Mann manchmal auch. Zwischen den beiden war es bei Weitem nicht so, dass sie das Licht ausbliesen, wenn sie beieinanderlagen. Bei Weitem nicht. Und wenn sie das Licht ausgeblasen hatten, kam es vor, dass sie noch lange miteinander sprachen.

Der Adjunkt stellte nur einmal in der Woche so weit draußen zu, weil es ja auch so weit oben war und mühsam. Und selten war Maria allein, und selten war sie vor dem Haus, oft hatte er schon an die Tür geklopft, und niemand hatte ihm aufgemacht. Und wegen nix und wieder nix diesen Weg? Am liebsten wäre es ihm gewesen, die Leute, die hier draußen und oben verstreut lebten, hätten Freunde unten im Dorf, wenigstens einen, dem sie vertrauten, bei dem er die Briefe hätte abgeben können, und sie hätten sie dann selber geholt. Ein Brief vom Staat allerdings musste persönlich entgegengenommen werden. Wenigstens anschauen kann ich sie heute, dachte sich der Adjunkt.

Was alles zum Dorf gehörte, war weit, bis zum weitesten Hof war eine gute Stunde Weg ab der Kirche. Sechs Höfe lagen an den Rändern, dahinter begann der Berg. Die an seinem Fuß in seinem Schatten wohnten, waren mit keinem im Dorf unten gut, und untereinander waren sie auch nicht gut. Nicht gut sein bedeutete nicht wissen wollen, wie es dem anderen geht, mehr bedeutete es nicht. Sie wohnten dort, weil ihre Vorfahren später gekommen waren als die anderen und der Boden am billigsten war, und am billigsten war der Boden, weil die Arbeit auf ihm so hart war. Am letzten Ende hinten oben wohnten Maria und Josef mit ihrer Familie. Man nannte sie »die Bagage«. Das stand damals noch lange Zeit für »das Aufgeladene«, weil der Vater und der Großvater von Josef Träger gewesen waren, das waren die, die niemandem gehörten, die kein festes Dach über dem Kopf hatten, die von einem Hof zum anderen zogen und um Arbeit fragten und im Sommer übermannshohe Heuballen in die Scheunen der Bauern trugen, das war der unterste aller Berufe, unter dem des Knechtes.

Der Brief kam vom Militär. Es war der Stellungsbefehl. Österreich hatte Serbien den Krieg erklärt, und Russland war Serbien beigesprungen, und der deutsche Kaiser war Österreich beigesprungen und hatte Russland den Krieg erklärt, und Frankreich war Russland beigesprungen und hatte Deutschland und Österreich den Krieg erklärt, und Deutschland war in Belgien einmarschiert.

Der Postbote hielt immer noch den blauen Brief in der Hand. Für sich allein träumte er, dass er ihr beistehe; irgendetwas geschehe und er stehe Maria bei und sie erkenne dann endlich, was er in Wirklichkeit für einer war. Gern hätte er sie von ihrem Ehemann befreit, er bildete sich ein, dass sie unter ihm leide, und er bildete sich ein, dass er selbst einer sei, der viel zarte Zuneigung zeigen könnte, wenn es darauf ankäme, und das nicht nur für kurz, für eine Nacht oder so, sondern bis der Tod einen scheidet. Keine roten Flecken waren in ihrem Gesicht und keine an ihrem Hals. Er sah kein Fältchen, nicht zwischen den Augen aufwärts in die Stirn, nicht neben dem Mund und nicht von den Augenwinkeln hinüber zu den Schläfen. Ihre Hände waren rau, aber nur innen. Oben waren sie wie vergoldet. Ihr Mann war oft unterwegs. Er hatte Geschäftchen. Was für welche, wusste der Adjunkt nicht, und Maria wusste es auch nicht. Im Dorf wurde vermutet, es seien schräge und krumme Geschäftchen. Josef hatte den Ruf, sofort zuzuschlagen. Aber damit beruhigten sich die Männer nur selber, damit rechtfertigten sie vor sich selber ihre Feigheit. Dass es keiner von ihnen bisher gewagt hatte, die Maria direkt anzugehen. Eben, weil der Josef einer sei, der sofort und brutal zuschlage. Zuschlagen gesehen hatte ihn allerdings noch keiner.

Der Brief sei vom Militär, sagte der Adjunkt, Maria müsse den Erhalt bestätigen mit Unterschrift. In Klammer solle sie »Ehefrau« schreiben. Er habe einen Tintenblei dabei, das sei zulässig. Er selber leckte den Stift an.

Maria wusste, dass Krieg war, aber dass er je mit ihnen zu tun haben würde, dass man ihn hören würde bis hinein und hinauf ins hinterste Tal in den Schatten unter dem Berg, das war ihr bisher nicht in den Sinn gekommen. Was genau und bis ins Einzelne in dem gedruckten Brief stand, hätte sie nicht nacherzählen können, so viel aber schon: Josef Moosbrugger musste in den Krieg.

Der Bürgermeister hieß Gottlieb Fink, und er machte auch Geschäftchen. Er war der Einzige, mit dem Josef über das Notwendigste hinaus redete. Länger redete als: Ja, Nein, Servus und wieder Ja, Nein. Manchmal war Josef vom Berg heruntergekommen und direkt auf das Haus vom Bürgermeister zugegangen und war eingetreten, ohne zu klopfen oder zu rufen, und war eine gute Stunde im Haus geblieben. Aber die beiden waren keine Freunde. Der Bürgermeister wäre schon gern der Freund vom Josef Moosbrugger gewesen. Der war der Einzige, mit dem man reden konnte, er hatte erstens keine Krankheiten und stank zweitens nicht wie ein Tier und war drittens kein Idiot, er konnte lesen und schreiben und mehr als nur gut rechnen. Leg ihm die schwierigsten Multiplikationen vor, er verdreht einmal die Augen, und schon hat er sie heraus. Der Bürgermeister war großzügig. Bei den Geschäftchen teilte er immer, auch dann, wenn Josef kaum beteiligt war. Immer halbe-halbe. Josef war nicht so großzügig. Aber das kreidete ihm der Bürgermeister nicht an. Der Bürgermeister hatte Kühe, Schweine, Hühner und ein paar Ziegen, das hatten alle, zudem aber war an sein Haus eine Werkstatt angebaut. Er war gelernter Büchsenmacher. Früher hatte er die Gewehrläufe noch selber gedreht und gefräst und die Kolben selber ausgesägt und zurechtgeschnitzt und geölt und poliert. Inzwischen bezog er die Einzelteile aus dem süddeutschen Raum und setzte sie lediglich zusammen. Das kam billiger und brachte mehr. Er nagelte seine Punze darauf, der Stutzen war dann ein echter Fink, und Fink-Stutzen hatten immer noch einen Ruf, als wäre an ihnen alles selber und alles von der Hand gemacht. Dem Josef hatte der Bürgermeister ein Gewehr geschenkt, ein doppelläufiges sogar. Das war mehr als großzügig. Darüber wunderte sich jeder. Das sagte alles, obwohl keiner genau wusste, was es sagte. Dafür hätte ein Schreiner länger als ein halbes Jahr arbeiten müssen. Vielleicht war Josef ja tatsächlich sein Freund. Nur weil er so tat, als hätte er einen Freund nicht nötig, hieß das noch lange nicht, dass er wirklich keinen nötig hatte.

Als der Stellungsbefehl eingetroffen war, hatte Josef einen Freund nötig. Der Bürgermeister war nicht eingezogen worden, Begründung: Er werde zu Hause gebraucht. Das stimmte: Josef zum Beispiel brauchte ihn.

Josef liebte seine Frau. Er selber hat dieses Wort nie gesagt. Es gab dieses Wort in der Mundart nicht. Es war nicht möglich, in der Mundart Ich liebe dich zu sagen. Deshalb hatte er dieses Wort auch nie gedacht. Maria gehörte ihm. Und er wollte, dass sie ihm gehörte und dass sie zu ihm gehörte, Ersteres meinte das Bett, Letzteres die Familie. Wenn er durchs Dorf ging und die Männer beim Brunnen sah, die mit hölzernen Messern spielten, die sie sich selber geschnitzt hatten, und wenn er sah, dass sie ihn sahen, dann las er in ihren Blicken: Du bist der Mann von der Maria. Keiner von denen hatte nicht schon gedacht, wie es mit ihr wäre. Und jetzt, nachdem er den Stellungsbefehl erhalten hatte, meinten sie, es tun sich Chancen auf. Mittelgroße Chancen, weil niemand genau wusste, wie lange der Krieg dauerte; auch wenn man von Wien her und Berlin her hörte, die Sache werde bald zu Ende sein, darauf wetten wollte keiner.

Josef ging zum Bürgermeister und sagte: »Könntest du auf die Maria aufpassen, wenn ich im Feld bin?«

Der Bürgermeister wusste, wie Aufpassen in diesem Fall geschrieben wird. In erster Linie, so dachte er, meint der Josef doch, er kann seiner Frau nicht trauen. Kann sie sich selber trauen? Das war die Frage! Sie sieht sich ja jeden Morgen im Spiegel.

Bei dem Gespräch war sonst niemand dabei. Ein delikates Gespräch, das keine Zeugen wollte. Wie könnte der Bürgermeister dem Mann meiner Großmutter antworten? Würde er sich trauen zu sagen: »Du meinst, ich soll zuschauen, dass keiner zu ihr hinaufgeht, wenn du weg bist?«

Und Josef? Sagt er: »Ja, das meine ich.« Dann würde er zugeben, dass er seiner Frau nicht vertraut.

Josef sagte: »Ja, es wäre mir recht, wenn du zuschaust, dass keiner zu ihr hinaufgeht.«

»Und warum?«, könnte der Bürgermeister fragen. Damit aber würde er Josef kränken. Das will er nicht. Ist damit zu rechnen, dass einer der Männer aus dem Dorf oder von sonst woher der schönen Maria Gewalt antun könnte? Dass in so einem Fall der Bürgermeister einschreiten würde? Und was würde das bedeuten? Dass er denjenigen erschießt?

Der Bürgermeister sagte: »Ich werde mich um sie kümmern. Mach dir im Krieg keine Sorgen, Josef.«

Kann es sein, dass eine so schöne Frau nur für einen Mann gemacht ist? Der Bürgermeister glaubte, dass Maria treu war nur wegen der Angst, die sie vor ihrem Mann hatte, und nicht wegen mangelndem Interesse an anderen. Man brauchte auch kein großes Trara darum zu machen, wenn sich der eine oder andere ausrechnete, dass der Josef fällt, so ist der Mensch. Das hätte der Bürgermeister zum Josef natürlich nicht gesagt. Eben, weil er ihn zum Freund behalten wollte. Er war der Bürgermeister, und er wünschte sich, dass nicht einer aus seinem Dorf fehlte, wenn dieser Krieg fertig war. Außerdem meinte er, es macht sich gut, einen gutaussehenden Freund zu haben, und die Frau Bürgermeister meinte das auch, sie meinte, der Josef schmückt ihn. Der Josef gefiel ihr nämlich außerordentlich gut. Weil sie selber so offen sagte, sie würde den Josef gern einmal nackt sehen, am liebsten allein draußen im Wald, war klar, dass diesbezüglich keine Gefahr bestand, sonst hätte sie den Mund gehalten. Auf meine Frau, dachte der Bürgermeister, bräuchte keiner aufzupassen und würde auch keiner aufpassen müssen, wenn ich eingezogen würde. Der Bürgermeister war gern verheiratet. Er und seine Frau galten als die lustigsten Leute nicht nur in dem kleinen Dorf, sondern durchs ganze Tal hinaus bis nach Bregenz. Und das lag hauptsächlich an ihr. Sie konnte lachen, da lachte sogar der Josef mit, schon wenn sie dazu ansetzte und er noch gar nicht wusste, was kommen wird.

»Dass sie herunterzieht zu uns mit allen Kindern«, sagte der Bürgermeister, »das geht leider nicht, wäre aber sicher am besten.«

»Das ist nicht nötig«, sagte Josef. »Es reicht, dass du die Augen offen hältst. Angeblich ist bis in den Oktober hinein alles vorbei. Dann bin ich eh wieder da.«

»Und Fronturlaub gibt es ja auch«, sagte der Bürgermeister.

»Wenn das Ganze so kurz wird, wie es heißt, dann wird sich ein Fronturlaub gar nicht ausgehen«, sagte Josef. So haben alle gedacht. Für Josef würden sich sogar zwei Fronturlaube ausgehen.

Nachdem sich Josef von seiner Frau in den Krieg verabschiedet hatte, mit einer Umarmung und einem leichten Kuss, er war schon auf dem Weg, sackte beim Abwärtsgehen lässig in die Knie, wie es seine Art war, da lief sie ihm nach und zog ihn ins Haus zurück und hinein ins Schlafzimmer, öffnete seinen Gürtel und schmiegte sich an ihn.

»Warum machst du so ein Gesicht?«, fragte sie.

»Ich habe Zahnweh«, sagte er.

»Aber das wird doch nur schlimmer«, sagte sie.

»Im Feld gibt es Zahnärzte«, sagte Josef. »Angeblich viel bessere als in Bregenz.«

»Woher weißt du das?«

Er stand vom Bett auf und hielt sie sich vom Leib. Sie solle aufhören zu fragen, das kenne er. Sie finde dann kein Ende und er komme zu spät.

Gar nicht viele Männer aus dem Dorf sind Anfang September eingezogen worden. Warum mein Großvater bei den ersten dabei war, darauf weiß ich keine Antwort. Nur zu viert waren sie, einer hieß Franz, wie der Kaiser, einer Ludwig, einer Alois und eben Josef. Bis ins übernächste Dorf sollten sie zu Fuß gehen, dort würden sie von den Lastwagen abgeholt und zum Bahnhof in Bregenz gebracht, und dann ab ins Feld, wo und wie immer das auch sein mochte. Am Ende ist von den vieren nur einer nicht im Feld geblieben, Josef. Alois war bereits eine Woche später tot. Ludwig starb nach einem knappen halben Jahr in einem Lazarett. Franz fiel nach einem Jahr am Valparolapass. Fünf weitere Burschen folgten, von denen kamen nur zwei zurück.

Nun hatten sich die vier Männer Blumen auf die Hüte gesteckt und hatten sich im Stehen einen Dampf angetrunken. Der Bürgermeister als der Vertreter des Kaisers spendierte Schnaps und gab einen Schuss in die Luft ab. Ein Haufen Kinder begleitete die Spielbuben, wie die Einberufenen genannt wurden. Aber nur bis zum nächsten Dorf marschierten sie mit, dann kehrten sie um. Von dort weg gingen die zukünftigen Soldaten allein weiter bis nach L., nicht im Marschschritt, und sie sangen auch nicht mehr und waren wieder einigermaßen nüchtern. Sie redeten über Dinge, die erledigt werden mussten und die sie bald erledigen wollten, als würden sie in wenigen Tagen oder Wochen wieder daheim sein. Die Blumen zupften sie sich vom Hut und warfen sie neben den Weg. Jetzt, wo keiner der Eigenen sie sah, warum noch?

Der Zweitgrößte vom Josef war auch mitgegangen bis ins nächste Dorf, Lorenz, der Eigensinnige, gerade neun Jahre alt. Er war gescheit, in der Schule brachte er den Lehrer mit seinem Kopfrechnen zum Staunen und zum Jubilieren, diese Gabe hatte er vom Vater geerbt. Das Leben in den Bergen gefiel ihm schon jetzt nicht mehr. Ein Bauer wollte er nicht werden. Allein, dass er sich überlegte, was aus ihm einmal werden könnte, unterschied ihn von allen anderen Buben im Dorf. Er interessierte sich für Motoren, und von denen gab es in dem Tal, das einfach nur der Wald genannt wurde, nicht viele, und es waren immer die gleichen. Der Vater hatte ihm auf die Schulter geklopft, mehr nicht, das war sein Abschied. Daheim musste Lorenz nach den Tieren schauen, die zwei Kühe, die Ziege. Und einen Hund gab es. Zu dem sagten sie »Wolf«. Der Vater hatte ihn gut abgerichtet. Er brauchte nicht angekettet zu werden. Der Vater hatte mit Steinen eine Linie um das Haus gelegt, über diese Linie ging der Hund nicht hinaus, da konnte geschehen, was wollte. Der Postadjunkt fürchtete sich trotzdem vor ihm. Wenn Maria den Briefboten kommen sah, tat sie den Hund ins Haus. Lorenz hätte das nicht getan. Er mochte den Hund gern, er gehörte zur Familie, man schickt nicht ein Mitglied der Familie ins Haus, wenn einer kommt, der nicht zur Familie gehört. Dann gab es noch eine Katze, der warf man hin, was übrig war, und wenn nichts übrig war, musste sie selber schauen.

Lorenz trieb die Kühe hinaus auf die Wiese, es war schon viel zu spät dafür, aber der Tag hatte ja nicht gewöhnlich begonnen. Bevor der Vater aufgebrochen war, hatte Heinrich, der Älteste vom Josef und der Maria, die Kühe und die Ziege gemolken. Dann hatte sich der Vater lange und ausgiebig und mit viel Seife am Brunnen gewaschen, auch die Haare. Die Mama hatte die Kinder ins Haus geholt, sie wollte nicht, dass sie den Vater nackt sehen. Die Ziege blieb über Nacht und Tag im Gatter. Lorenz gab ihr ein Fuder Heu und schaute dabei in die Querbalken ihrer Augen. Und dachte, was er immer dachte, wenn er vor der Ziege stand: Warum haben nicht alle die gleichen Augen? Die Katze hat senkrechte Schlitze, die Ziege Querbalken, die Menschen kreisrunde Löcher.

Was hätte aus ihm werden können, aus meinem Onkel Lorenz, wenn er nicht einer von der Bagage gewesen wäre! Was hätte aus seinen Geschwistern werden können?

»Krieg ist normal«, sagte er einmal zu mir. Es gab keinen erkennbaren Zusammenhang zu dem Gespräch, das er gerade führte und an dem ich mich ohnehin nicht beteiligt hatte. Wenn sich mein Onkel Lorenz mit meinem Vater unterhielt, war ich stumm wie der Schirm, der an der Rückenlehne des Stuhls hing, auf dem er saß.

»Was meinst du damit?«, fragte ich, nachdem ich mir den Hals freigeräuspert hatte. Es war seine Art, mich entweder zu ignorieren oder sich plötzlich an mich zu wenden und mir seinen Zeigefinger aufs Brustbein zu drücken. Der Onkel mit Charisma. Das ist gut und nicht gut in einem, und zwar gleichzeitig.

Er antwortete. »Warum, Mädchen, sollte ich etwas sagen und etwas anderes damit meinen? Ich meine, was ich sage: Krieg ist normal.« Hatte er vergessen, wie ich heiße?