Löwenherz - Monika Helfer - E-Book

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Monika Helfer

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Beschreibung

Monika Helfer macht aus Lebenserinnerungen Literatur. Nach „Die Bagage“ und „Vati“: der neue Roman um eine Familie aus Vorarlberg

Monika Helfer erinnert sich an ihren Bruder Richard. Seit dem Tod der Mutter wachsen sie und ihre Schwestern getrennt vom kleinen Bruder auf. Sie sehen sich selten, verlieren die Verbindung. Es ist die Zeit des Deutschen Herbstes. Richard ist da bereits ein junger Mann, von Beruf Schriftsetzer. Er ist ein Sonderling, das Leben scheint ihm wenig wichtig. Verantwortung übernimmt er nur, wenn sie ihm angetragen wird. So auch, als ihm auf merkwürdige Weise eine verflossene Liebe ein Kind überlässt, von dem er nur den Spitznamen kennt. Die unfreiwillige Vaterrolle gibt ihm neuen Halt, zumindest für eine Zeit. Ein inniges Portrait, eine Geschichte über Fürsorge, Schuldgefühle und Familienbande.

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Über das Buch

Nach »Die Bagage« und »Vati«: der neue Roman von Monika Helfer um eine Familie aus Vorarlberg. Monika Helfer erinnert sich an ihren Bruder Richard. Seit dem Tod der Mutter wachsen sie und ihre Schwestern getrennt vom kleinen Bruder auf. Sie sehen sich selten, verlieren die Verbindung. Es ist die Zeit des Deutschen Herbstes. Richard ist da bereits ein junger Mann, von Beruf Schriftsetzer. Er ist ein Sonderling, das Leben scheint ihm wenig wichtig. Verantwortung übernimmt er nur, wenn sie ihm angetragen wird. So auch, als ihm auf merkwürdige Weise eine verflossene Liebe ein Kind überlässt, von dem er nur den Spitznamen kennt. Die unfreiwillige Vaterrolle gibt ihm neuen Halt, zumindest für eine Zeit. Ein inniges Portrait, eine Geschichte über Fürsorge, Schuldgefühle und Familienbande.

Monika Helfer

Löwenherz

Roman    

Hanser

für unsere Bagage

I

Ein neuer Tag, ein frisches Hemd

1

So war mein Bruder Richard:

Er dachte beim Gehen ans Liegen,

beim Sitzen ans Liegen,

beim Stehen ans Liegen,

sogar beim Fliegen dachte er ans Liegen.

Dachte immer ans Liegen.

Er schlenderte vor sich hin auf seinen verqueren Beinen, wohin sie ihn eben führten, vor sich hin, der Kopf nämlich den Beinen voraus, der wurde ja nicht von der rauen Erde gebremst. Er hob flache Steine auf, ließ sie übers Wasser hüpfen, gern war er beim Wasser. Er bückte sich nach einer Blindschleiche, setzte sie sich auf den nackten Arm und summte ihr etwas vor, »Going Up The Country« von Canned Heat, und dachte sich dabei in einen fernen Dschungel, wo ihre großen Schwestern Angst und Schrecken verbreiteten. Ein anderer, der hatte verquere Arme, hatte ihm erzählt, Blindschleichen könnten Gesprochenes von Gesungenem unterscheiden, ebenso wie Schlangen. Auch Fische, sagte er, kämen angeschwommen, wenn man sich mit einem Kassettenrekorder und der entsprechenden Musik ans Ufer setze und dabei selber eine Ruhe gebe.

Mein Bruder hatte den ganzen Tag über den ganzen Himmel in den Augen, und wenn die Blindschleiche dabei von seinem Arm fiel, kümmerte er sich nicht weiter um sie — jedem sein eigenes Durchkommen, ob Tier oder Mensch. Er sah aus wie der hübsche Bruder von Alan Wilson, dem Sänger von Canned Heat, der war damals schon tot, er hatte sich mit siebenundzwanzig das Leben genommen — Richard würde es mit dreißig tun. Ein Hund lief ihm nach, einer, der verschiedenste Vorfahren vorzuweisen hatte, ein struppiger, knapp übers Knie hoher, eine Sympathie war gleich zwischen ihnen. Er begleitete ihn, bis es eindunkelte und die Sträucher wie Gespenster aussahen. Vor dem Haus, in dessen zweitem Stock er wohnte, bückte sich Richard zu dem Hund nieder und sagte und sprach zu dem Tier im Ton erst wie ein Lehrer zu einem Schüler, dann wie ein Priester zu einem Ministranten, zuletzt wie ein Komiker zu seinem Kompagnon auf der Bühne: »Bleib bei mir, geh nicht fort! Ich nenne dich, wie nenne ich dich, wie nenne ich dich, ich nenne dich: Schamasch. Du bist mein Sonnengott. Sei Gast in meiner Hütte, und wenn es geht, scheiß mir nicht in eine Ecke.« Die Zukunft würde geschehen. So oder so. Für Mensch wie für Tier. Ein Hölzchen in den Weg legen konnte man ihr immerhin.

In seinem Zimmer dann, klein, wie es war, sah er sich nach einer Schlafstelle für Schamasch um und entschied, er solle auf dem Boden vor seinem Bett liegen, auf dem ausgedienten Wintermantel, den er dreimal schon zu mir gebracht und den ich dreimal geflickt hatte. Er gab dem Hund Unterricht. Beide liegend, Richard auf dem Bett, der Hund am Boden. Nicht nur Blindschleichen, Schlangen und Fische können zwischen Gesagtem und Gesungenem unterscheiden, sondern auch gewisse Säuger, meinte er bald herausgekriegt zu haben.

Wo Richard ging, ging von nun an auch der Hund, und der Hund folgte, wohin meines Bruders Beine führten. Richard schlug vier Eier in die Pfanne und teilte sie mit Schamasch. Er brachte dem Hund einen vernünftigen Blick bei. So gehöre sich das. Als er sich niederbückte, um das Fell zu streicheln, fand er, dass es schlecht rieche. Morgen, morgen wollte er Shampoo mit an den See nehmen und ihn ordentlich einseifen. Ein gutes Shampoo, falls Schamasch eine empfindliche Haut hatte unter dem struppigen Fell. Er betrat den Supermarkt, was mit einem Hund verboten war, spielte den Sehbehinderten, schob eine Flasche von dem feinen Nivea-Kindershampoo in seine Oberschenkeltasche, die auf derselben Höhe war wie das Maul mit den Zähnen seines Hundes, und ging an den Kassen vorbei, ohne zu bezahlen, starren leeren Blicks mit ausgestrecktem freiem Arm, den Hund an der kurzen Leine. Schamasch spielte mit, schaute vernünftig und verantwortungsvoll.

Nach einer Woche konnte der Hund alles, was Richard glaubte, dass ein Hund können müsse. Aus Dankbarkeit zog er sein Leintuch glatt, drückte sein Bettzeug auf der einen Hälfte an die Wand, die andere deckte er mit einem Kutzen ab, den er im See gewaschen hatte, mit demselben Shampoo wie den Hund, dort sollte der Schlafplatz für Schamasch sein. »Du hast die Probezeit bestanden.« Der Hund kapierte und rollte sich auf dem Platz ein.

»Er ist absolut stubenrein«, erzählte er mir, »ein vornehmer Hund, sogar mit dem Furzen hält er sich zurück, tut es erst, wenn wir auf der Straße sind.«

Beide schliefen sie lange und tief, und am Morgen roch einer wie der andere. Sie wachten auf zum Frühstück am Sonntag und legten sich gleich danach wieder hin. Richard hatte eine Stelle in Aussicht, er war ein seltener Fachmann, er gehörte zur Avantgarde der Arbeiterklasse, aber erst nach dem nächsten Sonntag, noch siebenmal schlafen, dann arbeiten.

2

Am Montag in diesem herrlichen Sommer, noch vor den Schulferien, die Richard sein Leben lang in seiner Jahresplanung respektierte, als wäre er ein ewiges Schulkind, fand er beim Bodensee, wo die Baggerlöcher sind, eine Badewanne. Die diente vielleicht als Tränke für die Pferde, damit sie nicht von dem Wasser saufen, in dem Mütter mit Kindern badeten. Es war früh am Vormittag, erst neun Uhr, keine Badegäste, noch keine Mücken, noch keine Pferde, die ins Wasser brunzten, während sie aus der Badewanne tranken, ein gut fortgeschrittener Sommer bereits und ein Geruch, als würden irgendwo Semmeln gebacken. Er zog sein Hemd und die Jeans aus, verknotete sie und verbarg sie hinter einer Weide. Unterhosen hat mein Bruder nie getragen, nicht aus weltanschaulichen Gründen nicht, nicht einmal aus praktischen Gründen nicht, sondern weil er nie eine im Kasten gefunden, meistens aber, weil er vergessen hatte, eine anzuziehen, und es ihm erst in den Sinn kam, als die Jeans bereits oben waren. Die Badewanne hatte die Farbe von Eierschalen, und das brachte ihn auf die Idee, denn er hatte einmal ein Kinderbuch illustrieren wollen, in dem war ein blaukappenes Zwerglein in einer Eierschale ins weite Meer hinausgefahren. Wo die Wanne angeschlagen war, wucherte Rost, das Email war rau geworden. Am Boden war eine braune Lache vom Regen. Er riss Zweige von einem Strauch und putzte mit ihnen die Wanne aus. Kinder hatten ein Schlauchboot liegen lassen, die Luft war weg, es war schlammverschmiert und voller Schnecken, aber immerhin lag ein Paddel darin. So ging das. Er zog die Wanne ins Wasser, balancierte erst im Stehen und setzte sich am Ende hinein. Schamasch sprang ihm nach. Es musste ein Zug im See sein, ein leichter, ein unheimlich leichter, aber ein Zug, denn auf der einen Seite floss der Rhein hinein, und auf der anderen Seite floss er wieder hinaus, ohne Zug wäre das nicht möglich. Also wenn er nur läge, in der weißen Wanne läge, unten auf seinen Beinen der Hund, dann würde er über den weiten See gleiten, an Rorschach vorbei, an Konstanz vorbei, an der Insel Reichenau vorbei mit ihren Obst- und Gemüsegärten und dem Kloster, bis zum Rheinfall im schweizerischen Kanton Schaffhausen. Dort würde er in der eisernen Wanne über den brüllenden Wasserfall hinunterpoltern und vielleicht sogar überleben. Ich, seine Schwester, hatte in der Küche auf die Kühlschranktür eine Fotografie vom Rheinfall geklebt, die schaute er sich immer wieder an, wenn er mich besuchte.

Mein Mann, ich meine meinen zweiten Mann, den Michael, mit dem ich immer noch verheiratet bin, der hat Richard gut gekannt. Bald nachdem wir uns kennengelernt und ineinander verliebt hatten, befreundeten sich die beiden, ich glaube, Michael kannte ihn besser, als ich ihn kannte. Nach Richards Tod sagte er zu mir: »Ich weiß niemanden, dem das Leben so wenig wichtig war wie dem Richard.« Warum er das gerade jetzt sage, fragte ich, zornig, weil ich so etwas nicht hören wollte. Die Antwort: »Ihm wäre interessanter gewesen, in einer Badewanne über den Rheinfall zu stürzen, als wichtiger, dabei zu überleben.« Die Art, wie dieser Satz gebaut war, war typisch für meinen Bruder — Michael hat ihn zitiert.

Richard war mager und zudem schmal gebaut, als Kind hatte er die Englische Krankheit gehabt, Rachitis. Vielleicht wegen zu wenig Calcium oder zu wenig Vitamin D. Beim Gehen hatschten seine Beine einwärts. Nicht unansehnlich. Eher lässig. Als ob er kein Ziel hätte. Als ob die Beine kein Ziel hätten. Als ob er es niemals eilig hätte. Der Kopf hatte ein Ziel, aber auch nur manchmal. Einmal haben wir auf meinem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher einen Western mit John Wayne gesehen, da ging der Held quer über die matschige Straße zum Saloon, und ich sagte: »So gehst du, Richard, genau so!« Genauso ging er nicht, aber fast.

Schwer war es sicher für ihn, in der Badewanne die Balance zu halten. Er wusste, in den Baggerlöchern am See wurde das Wasser gleich sehr tief, und würde er kippen, müsste er schwimmen. Und schwimmen konnte er nicht gut. Er sagte: »Ich kann gut schwimmen, aber nur, wo ich noch stehen kann.« Also konnte er nicht schwimmen. Ich kann es auch nicht. Das hätten wir nie zugegeben. Lieber wären wir ertrunken. Noch heute fällt es mir schwer, das niederzuschreiben. Richard kippte aus der Badewanne, vielleicht hatte er Seeräuber spielen wollen, Jim Hawkins aus Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson, das war eines seiner Lieblingsbücher, er hatte es in einem Buchladen auf der Insel Lindau geklaut, er sagte: »Es wäre letztklassig, dieses Buch am Festland und dann auch noch zu kaufen.« Er wollte Jim Hawkins spielen, wie er auf den Mast klettert und Israel Hands mit dem Messer quer im Mund hinter ihm her. Richard war ein erwachsener junger Mann, aber die Hälfte seiner Tage war er nicht Richard, der Schriftsetzer, sondern irgendein anderer, den ihm gerade seine Fantasie diktierte, damit er ihn in die langweilige Wirklichkeit hinübererzähle — oder aus ihr herauserzähle. Er fiel ins Wasser. Ruderte mit den Armen. Prustete, schnaubte, schluckte. Rief nach Schamasch. Der schaute ihm aus der Badewanne zu, ein privater Gott, der nicht hilft, der vielleicht Gesungenes von Gesprochenem, aber nicht Gesprochenes von Geschrienem unterscheiden kann. Das hätte, wie vieles andere davor und danach, das Ende meines Bruders sein können.

3

War es aber nicht.

Eine junge Frau nämlich, schwanger, dazu mit einem Kleinkind zwischen ihren Schenkeln, den Rücken an ihren Bauch gelehnt, saß auf einer goldenen Notfallfolie — die hatte sie sich von einem netten Ersatzdiener schenken lassen, als sie, es war fünf Jahre her, ins Krankenhaus eingeliefert worden war, ein erstes verlogenes Abenteuer, Erpressungsschüttelfrost, gerade fünfzehn war sie gewesen, der Ersatzdiener verliebte sich in sie, sie traf sich mit ihm, wurde schwanger von ihm, trieb ab, jagte ihn davon, die goldene Folie hegte und pflegte sie seither wie eine Trophäe. Jedenfalls — diese junge Frau sah Richard. Der um sein Leben strampelte. Sie, die schwimmen konnte. Sie setzte ihr Kleinkind ab und befahl ihm, sich nicht von der Stelle zu rühren und auf die Mama zu warten und genau zu schauen, was die Mama gleich vorführe, da gebe es nämlich einiges zu lernen. Sie wickelte die Beinchen des Kindes in die goldene Folie, gar nicht eilig, solange der da draußen schrie, war er noch nicht abgesoffen, und Rettung in allerletzter Not ist doppelte Rettung. Sie warf die Kinderluftmatratze ins Wasser und schwamm damit zu meinem Bruder, befahl nun auch ihm. Nämlich befahl ihm, sich daran festzuhalten und sich mit der Brust draufzulegen. Was er augenblicklich tat. Und gleich schon lächelte er sie an — die schwangere Frau mit der sonnenbraunen Haut und dem Namen Kitti, eigentlich Katharina, aber Kitti klang in ihren Ohren exklusiver.

»Gerettet«, sagte sie. Mehr nicht.

Nicht, solange sie noch im Wasser waren. Sie hatte einen Hang zum Plappern. Aber sie arbeitete an ihrem Charakter. Schweigen zu können, heißt, geheimnisvoll zu sein. Sie hielt sich selbst nicht für geheimnisvoll, aber wer tut das schon, es genügt, wenn es die anderen tun. Sie zeigte ihre kleinen Zähne, die gut zu ihren kleinen Händen passten und aussahen wie Milchzähne, was aber nicht sein konnte, Kitti war zwanzig Jahre alt — he, wie mir Richard später auseinandersetzte, »im Herzen aber mindestens dreißig, wahrscheinlich vierzig, wenn nicht gar fünfzig oder sechzig und mehr«. Ihre Haare, blond, klebten nassgrau an ihrem schönen runden Kopf, und die Brauen unter der makellos runden Stirn waren ebenfalls nassgrau, die Augen so blau, dass sie, wie Richard sagte, »den Afrikanern einen Höllenschrecken einjagen würden«.

»Danke«, sagte er.

Sie schwamm ans Ufer zurück. Rundum zufrieden mit sich. Lebensretterin und geheimnisvoll. Noch habe auch ich allen Grund, mich bei ihr zu bedanken — mit noch meine ich: an dieser Stelle der Erzählung.

»Kannst du nicht schwimmen?«

»Klar kann ich schwimmen.«

»Und warum hast du vorhin nicht schwimmen gekonnt?«

»Ich habe eine Kaulquappe verschluckt.«

»Wie?«

»Beim Schwimmen. Eigentlich beim Tauchen.«

Er lag im Wasser, stützte sich mit den Ellbogen im Kies am Ufer ab, hob den Kopf, sah in den Himmel über den Büschen und dachte: Glück gehabt. Er wollte mit dem Bauch und den Beinen noch im Wasser bleiben, das Wasser war sein, das Land ihr Revier. So, meinte er, müsse er sich nicht weiter bei seiner Lebensretterin bedanken.

»Ich bin halb getaucht, da ist die Kaulquappe dahergeschwommen.«

»Was heißt halb getaucht?«

»Das ist ein Fachausdruck.«

»Diesen Fachausdruck habe ich noch nie gehört.«

»Es ist ein aus dem Französischen ins Deutsche übersetzter Fachausdruck.«

»Das glaube ich nicht. Und dann?«

»Dann habe ich die Kaulquappe verschluckt.«

»Wie?«

»Einfach verschluckt. Mit Wasser. Wie man eine Tablette hinunterschluckt.«

»Hast du beim Tauchen den Mund offen oder was? Dass sie hineingeschwommen ist, die Kaulquappe?«

»Zum Luftauslassen, ja.«

»Warum lässt du beim Tauchen Luft aus?«

»Das tut man, wenn man halb taucht. Beim Halbtauchen tut man das, ja.«

»Das glaube ich nicht. Warum sollte man das tun?«

»Weniger Auftrieb, darum.«

»Habe ich noch nie gehört.«

»So nennt man das.«

»Wieder ein Fachausdruck?«

Der untreue Schamasch hatte gleich die Badewanne verlassen und saß bereits neben dem Kleinkind auf der goldenen Notfalldecke. Er zerrte am Proviant und aß die Wurst aus der Semmel, die ihm das Kind hinhielt, niemanden störte das.

»Das ist kein schöner Hund«, sagte Kitti.

»Das ist relativ«, sagte Richard.

»Was soll bei dem hässlichen Hund relativ sein?«

»Dort, wo er herkommt, gelten diese Hunde als besonders schön.«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Wo kommt er denn her?«

»Aus Timbuktu.«

»Das glaube ich nicht. Solche wie den habe ich schon oft gesehen. Solche sieht man hier an jedem Brunzeck.«

»Die bei uns sehen denen aus Timbuktu ähnlich, das gebe ich zu. Aber sie sind völlig anders.«

»Und was kann er?«

»Nichts.«

»Wie nichts?«

»Er kann nichts. Gar nichts. Er ist einfach nur ein Hund.«

»Wenn er gar nichts kann, warum hast du dann nicht gleich einen von hier genommen?«

»Ich könnte sagen, er ist mir zugelaufen.«

»Und warum sagst du es nicht?«

»Weil es nicht stimmt. Willst du die Wahrheit wissen?«

»Eigentlich nicht. Ich glaube, sie interessiert mich nicht. Der ganze Hund interessiert mich nicht.«

»Was meinst du, wenn du sagst, in ihrem Herzen ist sie dreißig oder vierzig, wenn nicht sogar fünfzig oder sechzig?«, fragte ich Richard, als er mir, das war leider viel später, da war das meiste schon zu spät, von Kitti erzählte.

Er antwortete darauf nicht. Aber ich hätte antworten können, und zwar noch ehe ich Kitti kennenlernte. Er meinte damit: Er kann ihr nichts vormachen. Seine Geschichten greifen bei ihr nicht. Er kann sie nicht verzaubern, wie er immer alle verzaubern konnte. Er kann ihr keine Angst machen, wenn das Licht gelöscht ist. Sie glaubt ihm nicht, dass er sich in der Nacht in einen Serienmörder verwandelt, vor dem er sich selber sogar fürchtet. Oder in einen Werwolf. Sie glaubt ihm nichts. Sie glaubt ihm nicht, dass in Schamasch sowohl afrikanischer Wüstenhund als auch Hyäne eingemischt sind und dass er ihn einem Dealer um den Preis eines Mittelklassewagens abgekauft hat, ein Spürhund, der nicht nur Drogen, sondern auch die Polizei von Weitem riecht. Sie ärgert sich nicht, wenn er sein Garn spinnt, sie sagt einfach: Das glaube ich nicht. Fertig. So viele Mädchen und Frauen sind abgefahren auf meinen Bruder und einige Männer auch, alle, weil er sie verzaubert hat mit seinen Geschichten vom Hundertsten ins Tausendste, und auch wenn sie ihm die Geschichten nicht glaubten, waren sie doch hingerissen, denn sie dachten, was für eine poetische Natur, und meinten, so eine Natur sei der Hilfe bedürftig, und diese Hilfe wollten sie ihm geben, am liebsten exklusiv. Außer seinen Geschichten hatte mein Bruder nicht viel zu bieten. Kein Geld und auch keine Ambition, jemals viel davon zu haben, keinen Ehrgeiz. Er war ein hübscher Kerl mit hübschem lockigem Haar, das Gesicht schmaler als das von Alan Wilson, charakterlich mit demselben Mangel an modischem Geschmack ausgestattet wie der Musiker, der sich in ausgebeulten Gabardinebuxen mit Hahnentrittmuster auf die Bühne stellte, wo seine Kollegen in engen schwarzen Latexhosen herumflitzten. Richard lächelte die Frauen an, zeigte seinen schiefen Schneidezahn, aber bemüht hat er sich nie um sie.

Irgendwann antwortete er: »Sie ist jünger als ich, aber sie hat viel mehr erlebt, ich werde sie nie einholen.«

Warum hat ihn Kitti gewollt? Wenn sie sich doch nicht von ihm verzaubern ließ. Einmal sagte er zu mir: »Sex interessiert mich nicht.« Ich fragte — was zugegeben eine merkwürdige Frage ist: »Warum interessiert dich Sex nicht?« Er antwortete: »Zu wenig Überraschung.«

4

Kitti nahm ihn. Schon als er im Wasser strampelte und prustete und seinen Hund um Hilfe rief, nahm sie ihn in die Liste der Männer auf, die als Ersatzvater für ihr Ungeborenes und ihr Kleinkind auf der Goldfolie infrage kamen.

»Steig doch aus dem Wasser«, sagte sie. »Jetzt bist du gerettet. Komm zu uns auf die Decke!«

Richard genierte sich, weil er nackt war.

Kitti zog ihren Badeanzug aus, einen einteiligen, der schon hohe Bauch trieb ihren Nabel auf, das brauchte sich nicht jeder anzuschauen. »Jetzt siehst du mich, wie ich bin«, sagte sie, »jetzt möchte ich auch sehen, wie du bist.«

So standen sie einander nackt gegenüber. Die Schwimmerin und der Nichtschwimmer. Der dünne Mann mit der weißen Haut und die braun gebrannte Frau mit dem Bauch wie eine Kugel, die nach draußen will. Sie zog nun auch ihr Kind aus, das sie Putzi nannte, ein rotes wollenes Unterhöschen hatte es nur an, oben ein schwarzes Wollknäuelköpfchen, darunter ein braunes Gesichtchen, aus dem die Augen blitzten, was ein bisschen zornig aussah, aber gar nicht zornig war, ganz und gar nicht.

»Komm, Putzi«, sagte sie, »stell dich neben die Mama!«

Nun waren sie zu dritt, nackt wie eine Familie am Morgen in aller Frühe im lustigen Badezimmer, eine Familie, die sich auf den Nachwuchs im Bauch von der Mama freute.

»Ich habe keinen Mann«, sagte Kitti.

»Viele Kinder haben keinen Vater«, sagte Richard und wollte schon sein Garn spinnen, wie er es gewohnt war, vom Hundertsten zum Tausendsten. »Ich zum Glück habe einen, der ist ein seltsamer Mann, der hat ein amputiertes Bein, das ist ihm im Krieg abgefroren, da war er in Russland …«

Sie unterbrach ihn.

»Putzi 1 hätte gern einen Vater«, sagte sie, »und Putzi 2 hier in meinem Bauch auch.«

Ob es spätestens an diesem Punkt nicht in seinem Kopf geklingelt habe, fragte ich meinen Bruder. Ach, sagte er. Er habe in aller Ruhe seine Sachen angezogen, habe Schamasch zu sich gepfiffen — er wollte gehen, bedankt hatte er sich ja, ob es wirklich eine Lebensrettung war, da könnten die Meinungen auseinandergehen, sicher hätte er die Badewanne irgendwie erreicht und sich daran festgehalten. Er war es gewohnt, dass sich die Frauen um ihn kümmern wollten, die einen gaben es ihm so zu verstehen, die anderen eben anders, Kitti hatte ihre Methode. Alles harmlos an einem harmlosen Montagmorgen in einem harmlosen Sommer, wo es von irgendwoher nach frischen Semmeln roch.

»He, bleib stehen!«, rief sie, da hatte er sich noch gar nicht zum Gehen umgedreht. »Ich habe nicht deine Adresse und weiß nicht, wie du heißt.«

Und dann erklärte ihm Kitti, noch kannten sie sich keine Viertelstunde, geradeheraus, dass sie jemanden brauche, der auf Putzi 1 aufpasse, während sie im Krankenhaus sei und Putzi 2 auf die Welt bringe. Ob er. Weil sie immerhin sein Leben gerettet habe.

Er schrieb ihr seine Adresse mit Kugelschreiber auf die Innenseite ihres Unterarmes. Und sie streckte ihm ihren nackten Bauch entgegen und berührte seine Gürtelschnalle, und er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, und das nur, weil es ihm irgendwie logisch vorgekommen sei, das zu tun.

»Logisch«, seufzte ich resigniert.

Mehr sei eh nicht gewesen. »Ich schwör’s. Mehr war nicht!«

Ein bisschen mehr war schon gewesen. Kitti sagte zu Putzi — was Richard witzig fand und mehr nicht, mehr nicht: »Gib dem Papa ein Bussi!«

Das kleine Mädchen habe das liebe braune Gesichtchen emporgereckt und die lieben schwarzen Augen zugedrückt, und er habe sich niedergebeugt und mit seinem Zeigefinger die Lippen des Kindes berührt.

Und Richard? Er schlenderte weiter vor sich hin auf seinen verqueren Beinen, wohin sie ihn führten. Er hatte nun eine Arbeit. Er verdiente nicht schlecht, aber gar nicht gut. Er war Schriftsetzer. So einer verdiente normalerweise mehr als er. Er mochte seinen Beruf. Alles daran mochte er, den Geruch, den Dreck, den Lärm. Der Beruf gab ihm eine Wichtigkeit vor sich selbst. Aber eigentlich war mein Bruder ein Maler. Wenn er am Fußboden in seiner Wohnung lag und malte, er malte nur im Liegen, wie denn sonst, dann, so hätte ich gesagt, hätte mich einer gefragt, dann war er glücklich. Und hätte man mich weitergefragt, was ich damit meine, hätte ich geantwortet: Beim Malen dachte er an nichts. Schon gar nicht an sich selbst. Nicht ans Trinken, nicht ans Essen, nichts ans Rauchen dachte er, wenn er malte, an Frauen sowieso nicht, nicht an seine staatsbürgerlichen Pflichten und nicht an die Gespenster, an die er glaubte, weil er gern an sie geglaubt hätte. Ich dachte immer: Gut, dass er einen Beruf gelernt hat. Der ist wie die Luftmatratze im Wasser. Einige sehr Kluge haben zwar damals schon vorhergesehen, dass der ehrenwerte Beruf des Schriftsetzers bald aussterben wird. Weil der Computer vor der Tür stand. Weil das Computerzeitalter vor der Tür stand. Und bald schon vor jeder Tür.

Und dann stand Kitti in der Oberstadt im zweiten Stock vor der Wohnungstür meines Bruders, trug ihre Schwangerschaft vor sich her wie eine Kommode. Ein netter Mann habe ihr unten aufgemacht. Den Mund breit und sehr rot geschminkt, die Haare in Locken gedreht und honigblond gefärbt, in Kombination mit dem Bauch: unschuldig. Ob er sich an sie erinnere. Sie sei die, die ihm das Leben gerettet habe.

5

Kitti nahm es nicht so genau mit den Männern. Für Putzi kam als Vater ein Araber in die engere Auswahl, der wusste nichts davon. Vielleicht war er ja auch nicht der Vater, es waren da noch andere gewesen. Das Haar und die Augen und die Haut der Kleinen ließen auf den Mann aus Marokko schließen, meinte sie.

»Und wie heißt die kleine Putzi wirklich?«, fragte ich Richard.

Er könne sich den Namen nicht merken, weil er ihn nicht aussprechen könne, antwortete er. Auch Kitti müsse jedes Mal nachdenken. Ein arabischer Name mit mindestens zwei »ch«, es könne aber auch ein Doppelname sein.

Vom Ungeborenen wusste sie den Vater. Es war ihr Vermieter, mit dem sie schlief, weil er ihr angeboten hatte, sie dürfe umsonst wohnen, wenn sie ihn ab und zu lasse. Er wolle nicht unverschämt sein, höchstens ein- bis zweimal in der Woche. Und keine Spielchen. Ganz normal durchschnittlich. Nichts Absonderliches. Auf so eine Idee würde er gar nicht kommen. Allerdings verbiete er Männerbesuche, der Mann sei er, genau genommen der Herr, nicht einer unter ferner liefen, falls sie das noch nicht überrissen habe. Hatte sie nicht. Sie wollte auch nicht darüber nachdenken, was der Unterschied zwischen einem Mann und einem Herrn war, rein äußerlich jedenfalls sah sie keinen. Als er von ihrer Schwangerschaft erfuhr, wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben. So drückte er sich aus. Ehrlich und kalt. Er werde alles abstreiten. Falls sie an Alimente oder so denke. Bis nach der Geburt könne sie bleiben, er sei schließlich kein Unmensch. Bis sie wieder »zu Kräften gekommen« sei. Der Herr war verheiratet, und Kitti hatte ihm Verschwiegenheit versprochen. Sie war nicht hinterrücks.

Verschwiegenheit allerdings nur seiner Frau gegenüber. So nahm sie das Wort. Also nicht Verschwiegenheit einem Fremden gegenüber — zum Beispiel Richard. Ihm erzählte sie alles. Und das gleich bei ihrem ersten Besuch in seiner Wohnung. In Anwesenheit von Putzi, die auf Richards Knie saß und seine Haare drehte und das freie Händchen auf Schamaschs Kopf legte, der das geduldig geschehen ließ. Mein Bruder war ein schamhafter Mensch, über Sex wollte er nicht reden, mit niemandem, und Sexgeschichten wollte er sich nicht anhören, von niemandem. Er machte darauf aufmerksam, dass ein Kind anwesend sei und dass man nicht ausschließen könne, ob nicht auch das Kind im Mutterbauch mitkriege, wenn oben über seinen Vater schlecht geredet werde. Aber Kitti plapperte, wie es ihre Art war, wenn sie keine Veranlassung sah, geheimnisvoll zu wirken. Sie sah keine Veranlassung mehr. Sie meinte, meinen Bruder bereits zu haben.