Deuticke E-Book
MONIKA HELFER / INGRID PUGANIGG
Zwei Frauen warten auf eine Gelegenheit
Roman
Deuticke
ISBN 978-3-552-06248-1
Alle Rechte vorbehalten
© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2014
Schutzumschlaggestaltung: David Hauptmann, Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung des Fotos »Wettlauf des Igels und des Hasen«, Märchenball München, 1862, Foto: Joseph Albert, © Sammlung Siegert/courtesy Schirmer Mosel
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
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Für unsere Kinder
Die Kunst der Frauen, auf Fragen keine direkten Antworten zu geben, habe ich nie verstanden.
(Spock)
1 I, Hannover, Ernst-August-Platz. – Ich ging vom Over Cliff Drive in Southbourne hinunter zum Strand. In der Ferne sah ich einen Mann mit einem Kampfhund. Etwas stimmte nicht mit den beiden. Entweder war der Mann betrunken oder der Hund gehorchte einfach nicht mehr.
Ich eilte zum Fisherman’s Walk. Dort gibt es direkt am Cliff einen Aufzug. Ich stieg ein und fuhr hinauf zum Café Riva.
Dort trank ich einen Espresso und dachte an die junge Frau, die sich ein paar Meter von hier mit Nikotin umgebracht hat. Im Krankenhaus, in das man sie brachte, nachdem Leute sie gefunden hatten, war sie noch einmal kurz bei Bewusstsein, riss die Sauerstoffmaske vom Gesicht und flehte um ihr Leben.
Über sie, die Freundin meiner Tochter, habe ich angefangen, einen Roman zu schreiben.
Fünfzigmal. Hundertmal.
Irgendwann fängt man an, über etwas zu schreiben. Schreibt jeden Tag. Macht den Text aber nie fertig, weil das, worüber man schreibt, nie enden soll.
Meine Tochter Ruth lebt seit über zwanzig Jahren in Dorset, Südengland.
Einmal stiegen wir auf den Hengistbury Head. Eine hügelige Landspitze bei Bournemouth.
Obwohl Anfang November, war es weder neblig noch kalt. Aber menschenleer. Gegen Abend, es dämmerte schon, kamen wir an ein kleines Moor. Umgeben von Gestrüpp. Darauf lagen ausgebreitet Jeans, Hemd, ein Schuh, ein Rucksack.
Wir dachten, jemand sei ermordet worden oder im Moor untergegangen.
Das hat sich nie aufgelöst.
2 M, Wien, Am Graben. – Ich war noch nie in Südengland. Offensichtlich liegen da die Romananfänge nur so herum. Wie hat sich das Mädchen mit Nikotin vergiftet? Hat sie Wurzeln der Tabakpflanze oder irgendwelcher Nachtschattengewächse ausgekocht, oder hat sie sich zum Suizid geraucht – geht das überhaupt?
Bei einem Gutenachtkuss fiel mir aus der Blusentasche eine Zigarette in die Wiege meines Babys. Es hatte, als ich vor dem Zubettgehen noch einmal hineinschaute, Tabak um die Mundwinkel, und ich, in meiner Panik, fuhr, wie ich war, ins Krankenhaus. Ich schwor mir, nie mehr eine Zigarette anzurühren. Das Baby wurde untersucht und war gesund. Mit seinen Patschhändchen versuchte es, sich aufzurichten. Es war so süß, ihm dabei zuzusehen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich in einem Herrenpyjama, zwei Nummern zu groß für mich, dastand. Kaum im Auto, das Baby in der Wiege auf dem Rücksitz, steckte ich mir eine Zigarette an. Ich war so erleichtert!
Jeans, Hemd, Schuh, Rucksack warten im Moor auf Dich, damit Du endlich mit Deiner Geschichte beginnen kannst. Ein einzelner Schuh? Pack die Dinge in Deinen ersten Satz. Warte dann, bis sich der Einsager hinter Dir aufgebaut hat, dann musst Du nur mehr schreiben, was er Dir flüstert.
3 I, Hannover, Ernst-August-Platz. – Wir müssen aufbrechen. Immer musst Du aufbrechen, immer muss ich mir die Haare glattstreichen. Du bringst meine Wohnung durcheinander. Lüftest und lüftest. Mitten im Winter reißt Du die Balkontür auf. Ich friere!
Aber das kümmert Dich nicht. Solange Du es warm hast. Los! Mach jetzt. Zieh Deinen albernen Mantel an.
4 M, Wien, Am Graben. – Sag ich ja die ganze Zeit, dass wir aufbrechen müssen. Du hast immer noch keine Strümpfe an. Wieso rasierst Du Dir jetzt die Beine? Das kannst Du machen, wenn Du weißt, dass wichtige Menschen darauf schauen wollen, aber bitte nicht heute. Wir haben gerade noch eine halbe Stunde. Da, zieh meine Strumpfhose an, sie ist frisch gewaschen. Weinrot passt gut zu Dir. Und die grünen Schuhe, warum nicht, Du willst doch eine Clownfrau sein. Findest Du meinen Mantel wirklich albern? Weißt Du, wie lange ich an ihm herumgenäht habe, damit er nach mir aussieht? Ich will keine Sachen haben wie die andern. So viele Materialien habe ich drauf genäht, Pelzteilchen von Katzen und Füchsen, und jetzt willst Du ihn mir miesmachen. Sei nicht gemein. Dein Mantel sieht dagegen aus wie ein Mantel, den man im Kaufhaus kauft. Was ist besser? Hast Du Geld? Hast Du überhaupt kein Geld? Ich habe einen Hunderter, der wird uns reichen, und Du musst ihn mir zurückgeben, wenn ich nichts mehr habe. Musst dann halt Deinen Arsch bewegen. Komm jetzt. Wir können im Zug frühstücken.
5 I, Hannover, Ernst-August-Platz. – Herausgeputzt bist Du! Mit aufgenähten Pelzchen und Federchen willst Du mit mir in den Zug steigen oder mich um die Häuser jagen. Pass auf, dass uns nicht die Kammerjäger holen. Rote Strumpfhose hin oder her! Mürrische, alte Weiber werden ausgespäht. Du mit Deinen Pelzchen und Federchen! Dass ich nicht lache.
6 M, Wien, Am Graben. – Solltest Du mein Prachtstück einmal anziehen wollen, weißt Du, was ich zu Dir sagen werde! Dass Dir mein Prachtstück zu eng ist, dass Du es um den Bauch herum nicht zuknöpfen kannst! Außerdem hast Du jetzt so herumgetrödelt, wir werden den Zug versäumen. Und jetzt noch mit der U-Bahn, wir haben keine Zeit, Karten zu kaufen, und weißt Du, was passiert, die komplette Scheiße nämlich, dass wir kontrolliert werden von so einem Mormonen, wir haben keine Fahrkarten, immer habe ich Fahrkarten, nur wegen Dir habe ich jetzt keine! Nehme ich also meinen Hunderter und zahl unsere Strafen, und weißt Du, was wir machen werden: Kleben uns die hübsche Reise an die Stirn, damit sie jeder sehen kann. Im Bahnhof dann kannst Du zur Strafe zu einem Tischchen gehen und einen Mann fragen, ob er Dich von seiner Wurst abbeißen lässt. Du bringst mir dann auch ein Stück. Mit Senf. Mit Kren. Verstanden! So eine verdammte Scheiße habe ich ja überhaupt noch nie erlebt, kaum bin ich in Deinen Fängen, schon geht alles schief. Du musst Dir über Nacht etwas ausdenken, wir schlafen im Sitzen, und dann zähle ich bis drei!
7 I, Hannover, Ernst-August-Platz. – Ich trödle nicht. Ich sitze. Am liebsten im Gerümpel. Keine Möbel. Nur Schachteln und Kisten. Ein Sessel, ein Bett, ein Tisch. Bloß kein Sofa. Kein Pelz, keine Federn, kein Rosshaar.
Einfach alles glatt. Dass ich Dein Prachtstück mit all dem Gebimmel dran tragen soll, absurd!
Wohin fahren wir eigentlich? Und ich soll fremde Leute um Wurst anbetteln. Ich esse keine. Das weißt Du doch. Seitdem ich vor Jahren an einer Wurstvergiftung fast gestorben wäre.
Ich bin nicht die Schnellste, na und?
Dein Hunderter zum Beispiel reicht nie im Leben. Anstatt Dich aufzuregen, hol lieber einen Löffel und klopf die Wände hier ab. Irgendwann in den letzten Jahren habe ich da Löcher hineingebohrt, Fünfziger und Hunderter hineingesteckt und danach das Ganze wieder zugekleistert. Zehntausend Euro mindestens liegen dort. Da staunst Du! Fragst Dich, woher ich so viel Geld habe. Durch Sitzen. Einfach nur durch Sitzen. Ich habe lange, schwarze Pullover gestrickt, die bekam man damals nicht zu kaufen, und die Ware dann bei eBay angeboten.
8 M, Wien, Am Graben. – Ich glaube Dir kein Wort. Das mit dem Geld sagst Du nur, um mich zu besänftigen. Ich wollte, dass wir wegfahren, um uns von uns abzulenken. Verstehst Du, was ich damit meine? Du willst mich einfach nicht verstehen! Was hast Du zu sagen?
Ich habe Hunger. Wo gibt es etwas zu essen? Wohin gehst Du? Zum Armenmarkt? Aber wir haben ja beide keine Kennkarte! Ohne Kennkarte rücken die nichts heraus, und für die Kennkarte musst Du zum Amt, Deine Lebenssituation wird überprüft, es muss festgestellt werden, dass Du nichts hast. Ich hatte bis gestern noch etwas. Geh jetzt! Komm nicht ohne Brot zurück! Kannst Du mir einen einzigen selbstgestrickten Pullover als Beweis für Deine Tätigkeit zeigen? Ich hätte so Lust auf Bananen, mindestens zwei. Ich weiß, Du bekommst Verstopfung auf Bananen, dann nimm für Dich Kiwis mit, Kiwis bewirken das Gegenteil.
9 I, Hannover, Ernst-August-Platz. – Stundenlang lässt Du Dich nicht blicken. Dann tauchst Du wieder hier auf. Redest Zeug. Bananen willst Du. Weil Du davon keine Verstopfung bekommst. Ich wusste nicht einmal, dass Du unter Verstopfung leidest.
Mir kommt jetzt irgendwie vor, Du siehst fahl aus. Bist Du krank? Aber warum solltest Du plötzlich krank sein. Wo Du Dir doch gerade erst vor ein paar Wochen das Gebiss hast sanieren lassen. Das tut kein Mensch, der weiß, dass er krank wird. Außerdem, Du machst hier ein Trara, sagst, Du hast kein Geld für Essen. Ja, dann frage ich mich aber schon, woher kommt der teure Lippenstift in Deiner Tasche? Eins, zwei, drei, um es mit Deinem Lieblingsspruch zu sagen, ist er Dir zugeflogen? Mir lässt Du immer nur die halbleeren Hülsen zum Herauskratzen.
10 M, Wien, Am Graben. – Mach Dir keine Gedanken über meinen Stuhlgang. Er macht mir jeden Tag Freude. Du hörst mir nie zu. Sonst wüsstest Du, dass ich nach meinem Fahrradunfall neue Zähne bezahlt bekommen habe. Nämlich vom Unfallverursacher, einem betrunkenen Zahnarzt. So gesehen, hat mir der Unfall genützt. Neues Fahrrad, das mir allerdings eine Woche später gestohlen worden ist, neues Gebiss. Macht mich jünger, finde ich. Zieh für Deine Person ebenfalls einen Unfall in Betracht. Lippenstifte rutschen manchmal in meine Tasche. Ich mag es nicht, wenn ich meinen Lippenstift teilen muss. Hygiene nenne ich das. Ich benutze auch nie Deine Zahnbürste.
Wenn Du unbedingt willst, dass ich Dir glauben soll: Kratzen wir also die Tapete herunter. Kannst mir dann Dein Erspartes vorführen. Reichtum dann verlangt Ausgaben. Ausgaben dann können Deiner Ehre dienen. Meine Verarmung hat sich nicht freiwillig ergeben. Ich lasse es auf mich zukommen. Was eigentlich hältst Du vom Himmelreich?
11 I, Hannover, Ernst-August-Platz. – Wir reden aneinander vorbei. Ich höre Dir nicht zu. Ich höre nie wem richtig zu. Gut, ich habe vergessen, wie Du zu Deinem Gebiss gekommen bist. Wenn das überhaupt so gewesen ist. Ein besoffener Zahnarzt, der seinen Unfall vertuscht, indem er Dir eine Maßarbeit verpasst. Schon arg.
Warum willst Du eigentlich jünger aussehen? Um mich hier allein zurückzulassen! Vielleicht gar wegen eines Typen, der Dir Kisten voller Bananen mit nach Hause schleppt.
Ich muss Dir etwas beichten. Es sind nur 700 Euro.
12 M, Wien, Am Graben. – Dachte ich es mir doch! 700 Euro! Das lockt mich nicht aus den Federn, mit dem können wir keinen Laden aufmachen. Ich hatte nämlich eine wunderbare Idee, einen Salon zu eröffnen für Frauen ab fünfzig. Beratung, alles überhaupt, Sorgenbeseitigung, Schminktechnik, Stilberatung, und wir zwei rascheln wie geschäftige Hühner um die Kundschaft herum, nebenbei machen wir ein Vermögen. Wieder nichts. Ich halte mich ans Himmelreich. Nur wenn ich mich am Firmament festkralle, finde ich eine Erfüllung in meinem Leben. Ob das nun durch einen Mann oder eine Frau geschieht, ist nicht wichtig. Du gehst mit Spitzfindigkeiten am Leben vorbei. Unterschätze das Aussehen nicht. Gutes Aussehen macht Feldwege zu Avenues. Ich habe Sehnsucht nach meinen Enkelkindern. Katzen wären auch eine Option. Oder Maschinenbau. Streng Dich an und steh mir bei!
13 I, Hannover, Ernst-August-Platz. – Dauernd willst Du ein Vermögen machen. Provozierst Unfälle, die andere in Gewissensnot bringen und das mit Geld aufwiegen. Sagst mir, wie gestern zum Beispiel, dass wir aneinander vorbeireden. Aber ich begreife Dich nur so.
Du kennst mich doch. Trotzdem möchte ich Dir eine Geschichte erzählen.
Ich habe einen uralten Onkel, der geht jeden Tag zur selben Zeit denselben Weg. Unterwegs setzt er sich auf eine Bank. Aus der anderen Richtung kommt, ebenfalls zur selben Zeit, ein anderer uralter Mann, setzt sich dazu. Manchmal sitzen sie da, bis die Sonne untergeht. Miteinander sprechen sehe ich sie nie. Frage ich meinen Onkel, was habt ihr geredet, entgegnet er, alles.
Ich habe mir immer eine Freundin gewünscht, die schweigt und mit mir Karten spielt.
14 M, Wien, Am Graben. – Da liegst Du bei mir vollkommen falsch. Ich will nicht alt sein, ich will nicht schweigen, und das Kartenspiel hasse ich, wie überhaupt jede Art von Spiel, außer dem Flirt. Den liebe ich. Von einem Vermögen im Übrigen kann keine Rede sein. Ich war einmal ziemlich gestopft, das ist Jahre her. An die Armut will ich mich nicht gewöhnen. Ich habe (so ein Zufall, es wird doch nicht Dein Onkel sein) auf einer Bank einen Herrn getroffen, recht elegant, älter als ich, schöne Hände, Kaschmirmantel (da kenne ich mich aus). Ich setzte mich neben ihn. Einfach so. Intuition. Fühlte mich nicht hässlich, frisch gewaschene Haare, meine letzten edlen Parfümtropfen auf den Handgelenken, mein brombeerfarbenes Wollkleid – Stilbruch allerdings: Anorak, den ich gleich ausgezogen habe, so als gehöre er gar nicht zu mir, und Turnschuhe. Er sah auf meine Schuhe – Heinrich, sein Name – »Heinrich, der Wagen bricht, nein, Herr, der Wagen ist es nicht, es ist das Band von meinem Herzen, das da liegt in tausend Schmerzen …« Wir kamen ins Gespräch, ich erzählte ihm von meiner besten Freundin, er hat uns beide zu sich eingeladen, er wohnt am Graben, nicht im Graben – schließe daraus, dass er gutsituiert sein muss – versteh mich nicht falsch, ich bekam eine Gänsehaut, als ich seine feinen Hände sah, wahrscheinlich will er uns beide sehen und sich dann für eine entscheiden – oder er will uns beide. (Leider habe ich nicht Deine grünen Augen!) Ich flehe Dich an, stell Dich nicht komisch an, verdirb uns nicht alles, und wenn Du nicht willst, spiel ich mein Spiel mit ihm allein – kannst dann in unser Geschäft kommen, das da heißen wird: Salon für Menschen über fünfzig – Sorgenentfernung garantiert – kriegst dann eine Gratisbehandlung. Aber überleg es Dir. Unterstell mir nicht Berechnung, ich bin ein einsamer Mensch, der gestreichelt werden muss, vergleichbar mit einer weichen Blätterpflanze, die jeden Tag ihre abgekochten Tropfen braucht. Vertrau mir einfach. Sei lieb, einfach nur lieb, und nicht immer so verdammt sperrig und kratzbürstig und mistig und so, dass man Dir aus dem Weg gehen will, lehn Dich an, schmeichle wie die Katze um Menschenfüße, reiß Deine Augen auf, glaub mir, ich kenne das Leben …
15 I, Hannover, Ernst-August-Platz. – Du bist gut. Kennst das Leben? Ich soll grüne Augen haben? Hast Du mich je richtig angeschaut?
Nein. Sonst wüsstest Du, dass sie braun sind. Gelbe Haare, braune Augen!
Es war mir klar, dass Du Dich an meinen Onkel heranmachen wirst. Aber der ist gar nicht mein Onkel. Mein Onkel trägt Leder. Betrügt die Weiber nach Strich und Faden. Und ist bis heute ein gefragter Musiker. In meiner Kindheit hat er mir beim Geißenhüten das Violinspielen beigebracht. Das war immer sehr lustig. Sobald die Geißen uns sahen, kamen sie heran und versuchten unsere Notenblätter zu fressen.
Meine Liebe, mach nicht denselben Fehler wie vor zwei Jahren. Da bist Du auch mit so einem Kaschmirjünger losgezogen.
Ich musste mir dann Geld leihen, um Dir den Rückflug aus Stockholm zu bezahlen.
16 M, Wien, Am Graben. – Was wohl ist Dir Böses geschehen, dass Du so grob zu mir bist? Und frauenfeindlich, Du sagst: »Weiber« – abfällig, wie ein Schimpfwort. Das sind doch unseresgleichen, ganz egal, was sie tun, ob sie auf den Strich gehen oder Nobelpreisträgerinnen sind. Und was Du als Fehler bezeichnest – »den Fehler vor zwei Jahren« –, das war kein Fehler, das war Kismet. Lass es Dir erklären: Ich war auf der Lesung des berühmten Schriftstellers (Du weißt, wen ich meine), war sogar ein bisschen enttäuscht von seinem Auftritt. Dann wollte ich ihm eine Frage stellen, von Kollegin zu Kollege, ich war die Letzte in der Autogrammschlage. Er sah auf mich nieder (er ist ja um etliches größer als ich – Du würdest sagen, was keine Kunst ist), er kritzelte in sein Buch und überreichte es mir. Da stand: Wir sehen uns in Stockholm. Und seine Telefonnummer. Wie das dann so ist, man ist einsam, und es ist kalt, der Zucker klebt auf der Zunge, und das Fleisch ist noch blutig. Ich nahm den Zug, in Stockholm dann rief ich seine Nummer an – ich hatte ja kein Hotel und wenig Geld. Er, am Apparat, schien erstaunt, verabredete sich aber mit mir in einer Bar. Ich duschte mich in der Bahnhofsmission, aß dort eine Brühe, schminkte mich mit Sorgfalt und zog mein bestes Stück an. Den Koffer ließ ich in der Mission, sie erlaubten es mir, Menschenfreundinnen dort, so liebe, mit ihren gestärkten weißen Hauben und den sauberen Schürzen. Er stand an der Bar, für meinen Geschmack zu lässig, wie in einem B-Streifen. Wir tranken Whisky, und nicht wenig, und dann klopfte ihm ein junger Mann auf die Schulter, eine Art Priester. Der Schriftsteller drehte sich nach ihm um, und sie gaben sich einen ausführlichen Zungenkuss. Ja und dann habe ich Dich angerufen und gefragt, ob Du mir den Flug zahlst. (Alle Flüge der Welt würde ich Dir zahlen, hätte ich das Geld dafür.) Gelbe Haare, schwarze Haare, alles Talmi, weiß darunter, gelbe, schwarze Lüge. Lass mich Deine Augen manchmal grün sehen, manchmal gelb wie bei einem Wüstentier und wieder braun, das tut Dir nicht weh, und ich finde es aufregend.
Was sollen wir mit dem Herrn tun, der am Gaben wohnt (nicht im Graben)? Soll ich ihm ein Gedicht schreiben, etwa in der Art:
Sie baten mich zu kommen, mit meiner Freundin, die nicht wirklich grüne Augen hat.
17I, Hannover, Ernst-August-Platz. – Alte Herren stehen auf Krankenschwestern. Oder glaubst Du, wenn einer nicht abhusten kann, will er einen Vers? Oder vielleicht doch ein Gedicht, das ihm ein Fieberengel vorliest? Meine Liebe, zieh Deinen brombeerfarbenen Rock an und schlag die Beine übereinander. Dann wird schon etwas daraus.
Ich habe eingekauft. Obst, Gemüse. Bananen gab es keine. Avocados und Rosinen. Eine Flasche Beaujolais.
Käse, Brot, Milch, Eier. Knoblauch.
Während Du Dich schminkst und Dein bestes Stück anziehst, esse ich ein Schmalzbrot. Dann gehen wir aus. So hell ist es heute nicht.
18M, Wien, Am Graben. – Wärst Du ein Eiszapfen, würde ich Dich ans Feuer locken, hätte eine Schale in der Hand. Was tu ich mit dem abgestandenen Wasser? Wie hältst Du es mit der Musik, ein Mensch ohne Musik ist wie ein Hase ohne Flaum.
Übrigens: Ich war am Graben bei Heinrich. Kann Dir nur sagen, dass er Klasse hat. Erzähle Dir aber aus Protest nichts mehr, weil es Dich sowieso nicht zu interessieren scheint. Denk nicht, dass ich vor Dir auf die Knie falle, alter Teufel!
19I, Hannover, Ernst-August-Platz. – Ich war am Graben. Es interessiert mich schon, was das für einer ist, auf den Du abfährst. Heinrich war nicht da. Was für ein Glück! Du hast wohl an seinem Haus die Webcams nicht gesehen. Der hat noch kein Wort mit Dir gewechselt und kennt Dich innen und außen. Über Dein Getue amüsiert er sich. Er weiß genau, welche körperlichen Defizite Du kaschierst. Ich bin überzeugt, er hat schon längst einen Scan von Dir. Mit Geheimnissen punktest Du bei dem nicht.
Was ich Dir noch sagen wollte: Er hört Joel Frederiksen, Renaissance- und Barockmusik.
20M, Wien, Am Graben. – Du lügst! Du warst nicht bei Heinrich. Er öffnet nur mir die Tür, und die, die für ihn arbeiten, wie die Polin, haben einen Schlüssel. Wieso erfindest Du? Ich hätte Dich gerne mitgenommen zu ihm.
Meine Eitelkeit rettet mich vor dem Tod. Ich gebe mir jeden Tag Mühe. Die Vorstellung, dass ich niemandem mehr gefallen könnte, macht mich total fertig, so, als ob das, woraus ich bestehe, unter mir zusammenbricht! Als ich mir vor einem Jahr eine Lesebrille anfertigen ließ, vermaß der Optiker mein Gesicht und sagte: »Sie haben den goldenen Schnitt. Das gibt es selten.« Ein begabter Verkäufer. Bin an schlechten Tagen so verblendet, dass ich das Kompliment glauben will. Niemals wird mich Heinrich überwachen, er ist ja kein Stasityp. Was seine Vorliebe für Musik betrifft, ich weiß, dass er zu Barockmusik »Gelüddel« sagt. Dennoch: Er hört mit Vorliebe Glenn Gould, am liebsten die Goldberg-Variationen, Bach, von ihm gespielt, erträgt er. Bach-Gould-Gelüddel.
21I, Hannover, Ernst-August-Platz. – Warum reagierst Du auf alles, was ich sage, so heftig? Niemals, niemals, niemals würde mich Heinrich überwachen! Ich bitte Dich, es gibt eine Menge Leute, die gegen den Überwachungsstaat auf die Straße gehen, aber nichts dabei finden, ihre Nächsten auszuspionieren.
Vielleicht nennt er sich im Augenblick Heinrich. Früher hieß er anders. Zu Barockmusik würde er nie, wie Du es nennst, »Gelüddel«, sagen. Dass er noch immer mit Vorliebe Glenn Gould hört, wundert mich. Welche von Goulds Einspielungen der Goldberg-Variationen ist es denn?
Frag Deinen Heinrich nach Musikinstrumenten. Schau Dich in seiner Wohnung um. Er spielt Gitarre, Oud, türkische und arabische, Mandoline, Ukulele.
Wenn Du fündig wirst, ist es nicht Heinrich. Sondern der, den ich meine.
Ich weiß nicht, warum, aber es ist so. Deine Bekanntschaft mit ihm macht mir Angst. Hast Du ein Foto?
22M, Wien, Am Graben.