Wie die Welt weiterging - Monika Helfer - E-Book
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Wie die Welt weiterging E-Book

Monika Helfer

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Beschreibung

365 Geschichten über uns Menschen. Eine Schatzkiste von Monika Helfer, der Meisterin der kurzen Form

365 Geschichten über die Welt und das Leben – persönlich, ehrlich, klug. Monika Helfer macht aus kleinen Alltäglichkeiten große Erzählungen, erzählt mitreißend von Abenteuern und Begegnungen, unternimmt literarische Streifzüge durch die Natur. Im Rhythmus eines ganzen Jahres zieht uns dieses Lebensbuch hinein in das reiche Universum einer großen Schriftstellerin, voller Merkwürdigkeiten, voller Schönheit. Nach der Lektüre bleiben das Glück und der Trost, der Spezies Mensch anzugehören, die so wunderbar, so grausig, so schön, so verrückt, so traurig, so lustig ist. – „Wie Annie Ernaux ist Monika Helfer eine Meisterin der kurzen Form“, Die Zeit

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Das ist das Cover des Buches »Wie die Welt weiterging« von Monika Helfer

Über das Buch

365 Geschichten über uns Menschen. Eine Schatzkiste von Monika Helfer, der Meisterin der kurzen Form365 Geschichten über die Welt und das Leben — persönlich, ehrlich, klug. Monika Helfer macht aus kleinen Alltäglichkeiten große Erzählungen, erzählt mitreißend von Abenteuern und Begegnungen, unternimmt literarische Streifzüge durch die Natur. Im Rhythmus eines ganzen Jahres zieht uns dieses Lebensbuch hinein in das reiche Universum einer großen Schriftstellerin, voller Merkwürdigkeiten, voller Schönheit. Nach der Lektüre bleiben das Glück und der Trost, der Spezies Mensch anzugehören, die so wunderbar, so grausig, so schön, so verrückt, so traurig, so lustig ist. — »Wie Annie Ernaux ist Monika Helfer eine Meisterin der kurzen Form«, Die Zeit

Monika Helfer

Wie die Welt weiterging

Geschichten für jeden Tag

Hanser

Meinem Mann gewidmet

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Monika Helfer

Impressum

Inhalt

1    Der Ohrring

2    Das Feuer

3    Das Vögelchen

4    Wie alt ist Ihre Seele?

5    Ein Schwarm

6    Kleiner Mann in leerem Zimmer

7    Schimmel und Rappe

8    Doktor

9    Eisige Sonne

10    Schnarchender Mann

11    Das Amselweibchen

12    Aller Augen warten auf dich

13    Unberechenbarkeit

14    Kreaturen

15    Von sterbenden Kreaturen

16    Erbärmliche Rache

17    Der Mann mit der Narbe

18    Mein Wald

19    Was wissen wir schon!

20    Was einmal aus mir werden wird

21    Rede an die Deckenlampe

22    Die kleine Frau in mir

23    Im Zug

24    Iron Man

25    »Ich hab Schlangen in den Schuhen«

26    Wirkliche Träume

27    Der Bücherdieb

28    Das staubige Klavier

29    Die Schamanin

30    Märchen

31    Der Mann mit dem Wohnmobil

32    Talisman

33    Fragwürdige Beziehungen

34    Alles ungünstig

35    Der Krieger

36    Der dicke Mann

37    Das schlechte Kind

38    Das gute Kind

39    Böse Zeichen

40    Friedhof

41    Die Verhandlung

42    Das Schwimmbecken

43    Ihr Freund zitierte einen russischen Dichter

44    Ihr Slip

45    Zwei Witwen

46    Der Körper ist der Idiot der Seele

47    Was der Mann mir erzählt

48    Der Lastwagenfahrer

49    Ewiges Leben

50    Das Besenmädchen

51    Du suchst den Bären und stehst vor ihm

52    Haare schneiden

53    Gnade für Dichter

54    Der Bergkristall

55    Wie das einmal gewesen war

56    Verschwörung

57    Ihr Tagebuch

58    Schein

59    Schicksalsberg

60    »Wie weiß ich, wer ich bin?«

61    Bubi

62    Besondere Kennzeichen

63    Anonym

64    Stinkender Bär

65    Der Mammutbaum

66    Kenne ich Sie?

67    Der Urgroßvater

68    Respekt

69    Versöhnung

70    Sieben junge Männer

71    Aus heiterem Himmel

72    Denken

73    Der Lift

74    Der Mittagstisch

75    Der zerbrochene Mann

76    Der Zwilling

77    Die erste Lüge

78    Die Haarspange

79    Verweilen

80    Ein Ereignis

81    Meister

82    Der Rückzug

83    Mädchen mit Handy

84    Nachtwächter

85    Fremde Liebesbriefe

86    Unheil

87    Filas Geburtstag

88    Die Frau mit dem Glücksklee

89    Königin des Augenblicks

90    Ein Faustschlag

91    Räuberbrüder

92    Nie mehr ist eine lange Zeit

93    Im Sarg

94    Bitte, nur sterben

95    Katzentafel

96    Die Frau mit den zwei Namen

97    Liebste Tochter

98    Der Funkenprinz

99    Mama hinuntergefallen

100    Nach dem Frühstück

101    Ich stand im Mondlicht

102    Die schwarze Frau

103    Die Suppe

104    Wildkatzen

105    Hochzeit

106    Die Narbe

107    Ich höre sie lachen — 1

108    Ich höre sie lachen — 2

109    Ich höre sie lachen — 3

110    Ich höre sie lachen — 4

111    Ich höre sie lachen — 5

112    Ich höre sie lachen — 6

113    Ich höre sie lachen — 7

114    Ich höre sie lachen — 8

115    Ich höre sie lachen — 9

116    Ich höre sie lachen — 10

117    Mein Papa ist Busfahrer

118    Gefesselt

119    Wertschöpfung

120    Die Eisenbahn

121    Soll ich Ihre Hand halten?

122    Wenn sie dich fragen

123    Aufsatzthema: Körper — Elmar, acht Jahre alt

124    Nach Tirolchen

125    Spielregeln

126    Frauen unter sich

127    Irgendwie

128    Schwedenbombe

129    Sanftmut

130    Es war kurz vor vier

131    Besserwisser

132    Das Haus

133    Herumtreiber

134    Die moralische Verpflichtung

135    Auf dem Gehsteig

136    Der Erfinder

137    Die Greisin

138    Sehr blaue Augen

139    Ich bin noch nicht fertig

140    Ich weiß nicht, wer ich bin

141    Alles vorbei

142    Die Freundin

143    Begegnung

144    Quarz

145    Der Koch

146    Der Europäer

147    Mir ist gerade …

148    Vor meinem Bett stehen Menschen

149    Die Treppe

150    Was geschieht in der Nacht

151    Familienidyll

152    Kleiner Mann

153    Das andre Mädchen

154    Aufbahrung

155    Ein wenig, ein wenig

156    Verdrehte Gefühle

157    Kummer

158    Es passt nicht mehr

159    Das Wägelchen

160    Ewige Wiederkehr

161    Es geschah am helllichten Nachmittag …

162    Das Ehepaar

163    Verbrecherkartei

164    Illegal

165    Der Vogel

166    Es geschah …

167    Zwei Mädchen

168    Sag etwas!

169    Glück

170    Die Kinder von Cighid

171    Mama, Mama

172    Gute Nacht!

173    Susanna und die alten Männer

174    Niemandes Schatz

175    Nachbarn

176    Liebling

177    Unter Wölfen

178    Kannibalen

179    Im Erdenreich

180    Reportage aus einer Seele — 1

181    Reportage aus einer Seele — 2

182    Reportage aus einer Seele — 3

183    Reportage aus einer Seele — 4

184    Alien

185    Mein Glück, mein Leben

186    Alles, was ich habe

187    Bitte nicht tot machen

188    Erinnerung

189    Die grüne Tasche

190    Wer bin ich?

191    Wieso machst du das?

192    Die kleine Flamme

193    Mein Gewissen

194    Spinnen

195    Wettrennen mit meinem Vater

196    Jetzt wird gestorben

197    Zruck ’s Jäckle hola

198    Auf dem Friedhof

199    »Ich bin mutig, aber ich habe viel Angst«,

200    In der Ecke der Besen

201    Erfindung

202    Heimweh

203    Keine Skrupel

204    Sie war mein Liebling

205    Das gibt es

206    Dunkel war’s

207    Wirklichkeit

208    Dreizehnte Fee

209    Serviertochter

210    Wie früher

211    Ella und Frieda

212    »Doch alle, die dich fraßen, werden gefressen«, Jeremia 30, 16—17

213    Hurtiger Lebenslauf

214    Trio Infernal

215    Keine Tiefe

216    Zuneigung

217    Gespräch

218    Flüstern

219    Ausweglos

220    Mann mit Zunge

221    Fremd

222    Frieren

223    Das Geheimnis

224    Meine Kleine

225    Die Unfertigen

226    Das große Rätsel

227    Eigentlich ganz einfach, alles

228    Schwindeln

229    Die große Dunkelheit

230    Die alte Schule

231    Auf Umwegen

232    Das Steinhaus

233    Chrysanth

234    Blaue Pflaumen

235    Abwassersystem

236    Die Frau im Erdgeschoss

237    Die Maske

238    Die werden sich wundern

239    Einsiedler im Kinderzimmer

240    Ihre Augen hatten die Farbe von Coca-Cola

241    Alles weiß

242    Eine Geschichte aus Thailand

243    Immer nur gehen

244    Lohnt es sich zu leben?

245    Er hat nur einen Zahn und ist noch jung

246    Der Liebhaber

247    Es wird ihm doch nichts passiert sein

248    Leere Drohungen

249    Der Kellner

250    Gene

251    Klitoris-Beschneidung

252    Frauen isolieren ihn

253    Erotischer Verstand

254    Eisbär

255    Ich habe keine Fahrkarte

256    Zwei Mädchen essen Spaghetti,

257    Was sie redet

258    Was ist passiert?

259    Meine Tante

260    Tierfilme

261    Zwei Hälften

262    Das Puppenhaus

263    Der Sturm

264    Der braune Koffer

265    Am Pranger

266    Erinnerung an das Vergessen

267    Das Mädchen und das Kätzchen

268    Fürchten

269    Merkwürdiger Tag

270    Kleiner Mensch — 1

271    Kleiner Mensch — 2

272    Kleiner Mensch — 3

273    Kleiner Mensch — 4

274    Kleiner Mensch — 5

275    Der Bär aus Tschita

276    Damit Sie mich verstehen …

277    Gegenseitige Verzweiflung

278    Einsame Tiere

279    Betrug

280    Im Halbschlaf

281    Kleine Weltsicht

282    Das ist geschehen

283    Er glaubte alles

284    Menschen und Gegenstände

285    Angst wovor?

286    Himmel

287    Afritz am See

288    So viel Frau für so wenig Leben

289    Alles ist möglich

290    Musik

291    Hohlraummasse

292    Schlafen

293    Die Einbrecher

294    Warten wir ab

295    Ich muss immer der Feind sein

296    Voodoo

297    Wandlung

298    Es ist die Angst

299    Es liegt alles an dir

300    Krüppel

301    Eine Art Christkind

302    Mails

303    Richtiger Ton

304    Du wirst es nicht glauben

305    Kann ich bei dir schlafen?

306    Als wir Engel waren

307    Keine Einladung

308    Das kleine Glück des Alltags

309    Crasher

310    Das Ziehmädchen

311    Eine Kreuzfahrt

312    Der Mann im Wasser schrie und strampelte

313    Der Radiomann

314    Tolstois Augen — 1

315    Tolstois Augen — 2

316    Tolstois Augen — 3

317    Tolstois Augen — 4

318    Tolstois Augen — 5

319    Glück und Sommer

320    Aus dem Buch der Erinnerung

321    Das Mädchen im Brunnen

322    Der Tote im Bett

323    Wohin mit dem Affen?

324    Sag: Es regnet

325    Eine wahre Geschichte

326    »Selbstverliebt«

327    Für Mutti

328    Bühne

329    Unterschrift üben

330    Der Schulweg

331    Der kleinste Sandmann — eine Kindergeschichte

332    Ich bin dein Papa

333    Panik

334    Kennst du mich nicht mehr?

335    Sieben Todsünden — Eitelkeit

336    Sieben Todsünden — Geiz

337    Sieben Todsünden — Wollust

338    Sieben Todsünden — Zorn

339    Sieben Todsünden — Völlerei

340    Sieben Todsünden — Eifersucht

341    Sieben Todsünden — Faulheit

342    Die Suppe wird kalt

343    Noch einmal der Europäer

344    Wer bist du?

345    Gespensterarmee

346    Rexona

347    Dame mit Äffin — 1

348    Dame mit Äffin — 2

349    Der Schlaf ist eine Rose

350    Ich liebe ihn!!

351    Eine Bettgeschichte

352    Ein bescheidener Vorschlag …

353    Freunde

354    Werktag

355    Seelenverwandtschaft

356    Schlechtes Gewissen

357    Unverhofft

358    Vergeblicher Tag

359    Verzweiflung

360    Warum bist du so traurig?

361    Wie ein Herz bricht

362    Vor der Sendung

363    Virtuelle Pflanzen

364    Tabletten

365    Keine Liebkosung

1    Der Ohrring

Ich traf eine Journalistin, und als Erstes fiel mir auf, dass sie die gleichen Ohrringe trug wie ich, was ich ungewöhnlich fand, hatte ich sie mir doch selber aus zwei Korallen von einer Kette machen lassen.

Sie sagte: »Sie haben ja die gleichen Ohrringe wie ich, wie kommt das, habe ich sie mir doch selber aus zwei Korallen von der Kette meiner Mutter anfertigen lassen?«

»Zufall«, sagte ich, aber irgendwie kam dadurch eine für mich untypische Vertrautheit zustande. Wir verstanden uns gut und führten ein vernünftiges Interview. Danach gingen wir mit dem Veranstalter zum Essen, aßen beide Beef Tatar und tranken beide Rosé.

Ich schlief schlecht in meinem Hotelbett, wachte auf, sah mir im Fernsehen eine Dokumentation über Janis Joplin an — sie sang aus voller Kehle »Oh lord, won’t you buy me a Mercedes Benz«. Die Haare fielen ihr dabei ins Gesicht, sie wankte und schwankte, konnte sich kaum gerade halten. Ich erinnerte mich an die Zeit, in der ich meinen kleinen Kindern dieses Lied immer vorgesungen hatte.

Ich schlief dann wieder ein und fror und schlief bis zum Morgen. Es regnete, ich schloss das Fenster, griff an mein Ohr und dachte an den Abend. Ein Ohrring fehlte. Ich suchte das Bett ab, warf die Decke auf den Boden und das Kissen, kein Ohrring auf dem Leintuch. Ich fragte, was ich immer bei Verlorenem tue, den zuständigen Patron, den heiligen Antonius, bückte mich und sah auf dem Teppich einen Teil des Ohrrings liegen. Nur die Koralle fehlte. Ein schlechtes Zeichen?

Ich legte mich flach auf den Boden und schaute unter das Bett. Kein Staub. Keine Koralle.

Ich ging vor die Tür und suchte das Zimmermädchen. Der Gang war leer. Ich schaute in eine offene Tür, sagte: »Hallo?« Ein junges Mädchen schüttelte gerade ein Kissen auf. Sie erschrak, als sie mich sah. Ich brachte mein Anliegen vor. Sie verstand mich nicht.

»Ich Portugal«, sagte sie. Mein Sohn war ein Jahr in Portugal gewesen, er hatte dort gemalt und studiert. Er war einsam gewesen und hatte sich eine Katze aus dem Tierheim geholt, die bald sehr krank wurde. Ihr Schlafplatz war seine Computertasche. Er pflegte sie bis in den Tod und war danach noch einsamer und sehr traurig.

Ich deutete vor dem portugiesischen Zimmermädchen auf meinen Ohrring und führte sie in mein Zimmer. Sie wusste, was ich meinte, holte einen langen Besen, legte sich flach auf den Boden, ihr Körper war schmal wie der eines Kindes, sie fand die Koralle und reichte sie mir. Dabei lächelte sie. Ihre Augen waren dunkel und verlassen. Ich gab ihr einen Schein, den sie nicht nehmen wollte. Ich steckte ihn in ihre Schürzentasche, was ich immer albern gefunden hatte, und jetzt tat ich es selber.

Ich dankte dem Patron und bekreuzigte mich.

2    Das Feuer

Ein altes Ehepaar lebte in Einigkeit und Ruhe in einem Haus. Keine Wünsche blieben offen. Der Mann war Professor im Ruhestand wie seine Frau, eine Übersetzerin. Ihre vier Mädchen waren längst ausgezogen. Sie konnten sich an keinen Streit ihrer Eltern erinnern. Die alte Frau rauchte seit ihrem siebzehnten Lebensjahr Kette, ihr Mann nur nach dem Essen. Er wünschte sich innerlich, seine Frau möge aufhören, aber sie schaffte es nicht. Einmal hatte er schüchtern gefragt, ob es eine Überlegung wert wäre, von den Zigaretten zu lassen, wegen der Gesundheit, gleichzeitig wusste er, dass sie es nicht konnte. So ließ er es eben.

Selten war der Professor außer Haus, seine Frau liebte es, zu nähen, obwohl sie es nicht besonders gut konnte. Ihr gefiel, wenn die Stoffe bei jedem Stich über ihre Knie rutschten. Sie nähte nur von Hand, mit der rechten. In der linken hielt sie ihre Zigarette. Ihr Nähzimmer war zugenebelt, denn sie hatte es nicht gern, wenn das Fenster offen stand.

An dem unglücklichen Tag saß sie wieder nähend und rauchend in ihrem Zimmer, da hörte sie das Telefon läuten. Die Schranktür stand offen, und sie stopfte den Stoff hinein und lief die Treppen hinunter. Es war ihr Mann, der mitteilte, er käme heute etwas später, er habe einen Freund getroffen. Als die Frau in ihr Nähzimmer zurückkam, sah sie, dass es aus dem Schrank rauchte, sie hatte aus Versehen ihre Zigarette mit dem Stoff in den Schrank gestopft. Sie holte den Bettvorleger und warf ihn in das Feuer, aber da brannte es nur umso mehr, weil wahrscheinlich Synthetik dabei war. Sie rief die Feuerwehr und wartete am Fenster. Lange kam sie nicht, so dass sie ein zweites Mal telefonierte. Im Nähzimmer brannte es lichterloh. Vor der Feuerwehr kam die Polizei, die den Rauch gemeldet bekommen hatte. Gleichzeitig fuhr das Taxi mit ihrem Mann vor.

Er wusste es sofort. Seine Frau saß zitternd vor den Stufen des Hauses. Der Mann nahm sie an seine Schulter, und gemeinsam schauten sie auf den brennenden Dachstuhl. Er mahnte nicht, er weinte ein wenig.

»Bitte sag es!«, flehte seine Frau. »Sag es, damit ich mich nicht so schuldig fühlen muss!«

Der Professor mahnte nicht.

Sie hörte mit dem Rauchen auf, aber ihr Mann wusste, dass sie wie ein Schulmädchen in die Waschküche ging, um eben doch zu rauchen.

Ihre vier Mädchen trafen sich zum Tee und konnten sich nicht darüber einigen, ob das Schweigen des Vaters edelmütig war oder eine Strafe.

»Was ist mit ihrem Schmuck?«, fragte die Jüngste.

»Ich wette, den hat sie ins Feuer geworfen, um Sühne zu tun«, sagte die Zweite.

Die Dritte: »Auch den Rubin?«

Die Vierte: »Da gibt es nichts mehr, was glänzt.«

3    Das Vögelchen

Ein chinesischer Herr von ziemlicher Berühmtheit besuchte in offizieller Mission einen Kollegen in Europa. Der hatte ihn in seine vornehme Wohnung im siebten Stock zu einem feierlichen Essen eingeladen. Da passierte dieses Missgeschick mit dem Lift. Er streikte. So mussten schnellstens zwei starke Männer gefunden werden, die den zarten alten Chinesen in den siebten Stock trugen. Geschenke folgten. Es waren sieben Pakete, in Seidenpapier gewickelt. Auch diese trugen die starken Männer in die gemütliche Wohnung, in der es fabelhaft nach Essen roch. Die Gattin des bekannten Gastgebers hatte sich im Auswärtigen Amt kundig gemacht, was denn so ein zarter Staatsmann für Vorlieben habe. Ihr wurde mitgeteilt, er bevorzuge die jeweiligen Speisen des Gastlandes. Daraufhin beschloss die Dame des Hauses, selbst zu kochen, zusammen mit einer Kochgehilfin, wobei sie die eigentliche Spezialistin war, eine Hausfrau mit fünf Kindern, berühmt für ihre Hausmannskost. Zur ersten Vorspeise war eine klare Rindssuppe mit frischen Frittaten vorgesehen, zur zweiten Vorspeise ein knackiger Vogerlsalat, zur Hauptspeise Zwiebelrostbraten mit Erdäpfelrösti.

Die Kochhilfe fragte: »Mag er denn Zwiebeln, der fremde Herr?«

Die Dame des Hauses hatte extra nachgefragt — Zwiebeln liebe der feine Herr.

»Sind Sie denn nicht wunderig, was in den vielen Geschenkpaketen drinnen ist?«, fragte die Kochhilfe weiter.

Die Dame des Hauses sagte: »Und ob! Aber ich weiß nicht, wie es sich mit Geschenken von berühmten Chinesen gehört, man darf den feinen Herrn nicht vor den Kopf stoßen, versteh das, Berta!«

»Ja, aber wenn wir es kaum aushalten und nur das kleinste öffnen, das wird nicht auffallen.«

Die Dame des Hauses ließ sich überreden, und so reichte sie Berta das mit Seidenpapier eingepackte, kleinste Paket. Es war so leicht! Berta rieb ihre Hände an der Schürze ab. Derweil saßen der Hausherr und sein feiner Gast im besten Zimmer. Man lauschte zu leiser Mozartmusik.

Berta öffnete das Geschenk, und da hörten die beiden Frauen ein Piepsen, und ein Vögelchen, klein wie ein Kolibri, flog auf.

»Mein Gott!«, stöhnte die Dame des Hauses. »Was machen wir jetzt, Berta, du musst es einfangen!«

Beide Frauen schwirrten um das Vögelchen, so dass es Angst bekam und aus dem Fenster flog.

»Das werden Sie mir nie verzeihen!«, klagte Berta. »Wir müssen so tun, als wäre das kleinste Geschenk nie da gewesen.«

Und eifrig begannen die beiden Frauen, den Kuchen zu rühren, er sollte eine Sensation sein, sollte das schlechte Gewissen aufwiegen, diese Sachertorte mit dem samtenen Schokoladeüberzug.

Wenn gesagt wird, das Essen schmeckte über alle Maßen köstlich, ist es nicht übertrieben. Nach Kaffee und Whiskey zeigte der zarte Chinese auf die Geschenke und sagte — verdolmetscht:

»Zuerst das Größte.«

Die Hände zitterten, als die Dame das Silberpapier abschälte, und ein wunderfeiner Vogelkäfig zum Vorschein kam.

»Und jetzt das kleinste im Goldpapier.«

Das war aber nicht da. Verschwunden. Verloren. Der zarte Herr war darüber untröstlich. Er senkte seinen greisen Kopf, und eben in diesem Augenblick flog ein winziges Vögelchen draußen am Fenster vorbei.

4    Wie alt ist Ihre Seele?

»Wie alt ist Ihre Seele?«, fragte der Psychiater den jungen Mann, der mit den Händen an seinen Oberschenkeln rieb, als wollte er sie präparieren. »Antworten Sie mir spontan!«

Der junge Mann hörte auf zu reiben und starrte geradeaus. »Als ich drei war, so ungefähr, oder vier, man neigt ja dazu, sich in seinen Erlebnissen jünger zu machen …«

»Sie neigen dazu«, fiel der Psychiater ein, »Sie.«

»… da liebte ich Kühe mehr, als ich meine Mutter liebte, mehr als den Vater und die Schwester. Die Kühe schauten mich einfach nur an mit ihren seelenlosen Augen, und das machte mich ganz ruhig. Jeden Tag ging ich in den Stall von unserem Nachbarn und hielt mich bei meinen Kühen auf. Ich sage ›meine Kühe‹, weil ich dachte, dass sie zu mir gehörten und nur zufällig bei den Nachbarn wohnten. Also, und da begab es sich, dass sie auf einmal nicht mehr da waren. Die Kühe waren auf der Alpe. Das hatte mir niemand gesagt. Ich ging meinen Eltern und meiner Schwester mit meinem Gejammer auf die Nerven, die alte Nachbarin hatte Mitleid mit mir. Sie versprach mir, alles dafür zu tun, dass ich beim Alpabtrieb dabei sein darf. Meine Eltern erlaubten es ungern. Die Kühe wurden mit Blumenkränzen geschmückt, ihre großen Schellen dröhnten. Sie marschierten wie eine Schulklasse beim Ausflug auf das Dorf zu, ich mitten unter ihnen. Ich sah nur ihre Beine, träumte vor mich hin, trat in warme Kuhfladen. Und plötzlich war ich allein. Ich hatte wohl so getrödelt, die Kühe waren vorausgelaufen, die Hirten hatten nicht nach mir gesehen. Ich stand auf einem Hügel und schaute ins Tal. Unter mir hörte ich die Kuhglocken, aber ich sah niemanden. Ich war in die falsche Richtung gegangen, es war dunkel geworden, ich setzte mich auf den feuchten Boden und rief, so laut ich konnte. Keiner hörte mich. Ich fing an zu weinen, stand auf, stolperte, fiel hin. Ich wusste nur, ich muss abwärts gehen. Im Dorf vermisste man mich. Meine Eltern wurden informiert. Meine Mutter habe geschrien und die Nachbarn verflucht, mein Vater ging augenblicklich los, um mich zu suchen. Die Schwester beachtete niemand. Sie saß in ihrer Ecke und zeichnete.«

»Offensichtlich ein Trauma«, sagte der Psychiater. »Und Sie meinen, dass damals Ihre Seele stehen geblieben ist?«

»Darauf erwarte ich von Ihnen eine Antwort«, sagte der junge Mann.

Man hatte den Buben in der Nacht noch gefunden, unterkühlt mit vollgeschissenen Hosen. Er wurde von da an gehätschelt wie niemals zuvor. Seine Schwester wurde vernachlässigt. Alle Sorge galt ihm.

»Wohnen Sie immer noch zu Hause?«, fragte der Psychiater. »Und wenn, sollten Sie rasch ein eigenes Leben beginnen.«

»Das sagt sich so leicht«, sagte der Patient. »Ich habe nichts gelernt und wüsste nicht, womit ich mein Geld verdienen sollte.«

»Wie, denken Sie, kann das weitergehen?«, fragte der Psychiater.

»Das beantwortet zu bekommen, bin ich hier.«

5    Ein Schwarm

Mit sieben Jahren schwärmte ich für einen Bauarbeiter, der um den Hals ein goldenes Kettchen mit einer Madonna trug. Auf dieses Kettchen starrte ich in der Mittagssonne. Ich sah auf ihn nieder, der im Straßengraben schaufelte. Er hob den Blick, schwarz seine Augen, ein Mann aus dem Trentino.

»Hättest wohl auch gern so ein Kettchen?«, sagte er. Er schaute nur. »Kann dir meines aber nicht schenken, weil es ein Geschenk von meiner Mama ist, du verstehst.«

Ich verstand nicht.

»Du willst es haben und traust dich nicht, zu fragen.«

Ich wollte es nicht besitzen, ich wollte es nur anschauen, wie es so an seinem braungebrannten Hals baumelte.

Oft stand ich über ihm und schaute in den Graben. Einmal nahm er einen großen Schritt aufwärts, warf die Schaufel aus der Hand und stellte sich neben mich. Er war kein großer Mann. Ich fand ihn schön, sein Körper war schmal und glänzte. Er hatte keine Haare auf der Brust, wahrscheinlich weil er noch kein richtiger Mann war. Haare auf der Brust fand ich ekelhaft, so als wäre noch ein Stück Tier an dem Mann.

»Ich heiße Rocco«, sagte er, »und wie heißt du?«

Ich sagte meinen Namen nicht.

»Wenn du willst, leg ich dir das Kettchen einmal um deinen Hals, für fünf Minuten, möchtest du?«

Ich wollte gar nicht, stand einfach nur da. Er öffnete sein Kettchen, nahm es von seinem Hals. Als er es um meinen Hals legte, war es warm, und ich dachte, vielleicht fühlt sich eine Schlange so an, wenn sie in der Sonne gelegen hat.

Sein Vorarbeiter kam und schimpfte mit ihm, weil er eine Pause eingelegt hatte. Rocco sprang in den Graben zurück und schaufelte weiter. Ich hatte sein Kettchen um den Hals. Ich schaute wieder auf ihn hinunter und befahl seinen Gedanken, zu mir aufzuschauen. Es funktionierte nicht. Ich hatte schon drei Mal Gedanken befohlen. Einmal bei meiner Schwester, die auf mich beleidigt gewesen war, ich befahl ihren Gedanken, mich anzulächeln, und es geschah. Ein zweites Mal befahl ich den Gedanken meines Vaters, die Tante, seine Schwägerin, bös anzufunkeln. Er tat es, und sie verfluchte ihn. Ein drittes Mal probierte ich es bei meiner Mutter, ich hatte sie gefragt, ob ich Pudding kochen dürfe, und sie hatte genickt. Normalerweise erlaubte sie das nicht. Sie hatte Angst, das Holzhaus könnte brennen, weil ich vergessen würde, die Herdplatte auszuschalten.

Jedenfalls funktionierte es bei Rocco nicht. Ich drehte mich um und ging davon. Unterm Gehen nahm ich das Kettchen ab und steckte es in meine Hosentasche.

6    Kleiner Mann in leerem Zimmer

»Es brennt noch Licht«, sagte Frau Petrow, die Chefsekretärin, zu ihrer Untergebenen Oxana. »Wir warten, bis wir ihn weggehen sehen.«

»Oder hören«, sagte Oxana. »Sein Sohlengeräusch kenne ich.«

»Also, dann pass auf, setz dich auf die Treppe, zieh deine Schuhe aus, und wenn du hörst, wie er sein Zimmer abschließt, fliehe in Socken!«

Beide Frauen warteten. Es rührte sich nichts im Zimmer des kleinen Mannes.

»Hat er heute schon mit Ihnen gesprochen?«, fragte schüchtern Oxana.

»Er hat zwei Mal gehustet. Also, Oxana, ich muss jetzt kurz weg, um Depeschen aufzugeben. Rühr dich nicht von der Stelle!«

»Zu Befehl, Frau Petrow.«

Oxana saß über eine Stunde auf der Treppe, Schuhe und Strümpfe in ihrer Tasche. Zehen eiskalt, es war nämlich im eisigen März. Kaum hielt sie es mehr aus — sie hatte heute noch nichts gegessen, nichts getrunken. Sie schlich auf Zehenspitzen zur Tür des kleinen Mannes, und eben in diesem Augenblick flog die Tür auf, und der kleine Mann trat heraus. Schnellen Schritts ging er in Richtung Lift, bald würden Sicherheitskräfte bei ihm sein und ihn begleiten. Oxana war an die Wand gedrückt, kaum traute sie sich zu atmen. Zwei Schritte vor, und der Blick ins leere Zimmer tat sich auf. Der kleine Mann hatte die Tür nämlich nicht wie sonst zugeknallt. Sie sah auf dem Tisch einen Wasserkrug stehen. Mit großer Angst tappte sie auf den Schreibtisch zu, nahm den Krug in die zittrigen Hände und trank. Was sie trank, war, wie ihr schien, mit Wodka vermischt, es tat ihr so gut, und sie trank und trank, bis der Krug leer war. Selbstvergessen stand sie einen Augenblick, und da hörte sie Schritte. Sollte sie aus dem Büro flüchten? Es gab schwere billardgrüne Vorhänge, die über den Boden reichten. Sie schlüpfte dahinter und verbarg sich in den Falten. Es roch schrecklich, wie sie fand, es roch nach Angst und Schrecken und böser Macht. Sie sah niemanden, hörte nur die Tür, zum Glück wurde nicht abgesperrt. Erlösung, aber für wie lange? So verharrte sie eine Zeitlang, sie wusste nicht, wie lange, dann schlich sie sich aus dem Büro und verschwand in der Toilette. Sie hörte Geschrei, Gemurmel, schwere Stiefelschritte, Befehlsstimmen. Türen wurden aufgerissen, wieder zugeschmettert. Oxana zitterte am ganzen Leib. Der Wodka in dem Wasser war ihre Rettung. Er besänftigte sie und machte ihr Mut. Wenn die Gefahr vorbei wäre, könnte sie verschwinden. Aber wohin? Wir wissen es nicht.

7    Schimmel und Rappe

Da war ein Schimmel, selten schön, so dass ihn jeder haben wollte. Es gab einen jungen Mann, der besaß einen Rappen und war besessen davon, den Schimmel zu holen und ihn mit seinem Rappen zu paaren. Er war nicht der Einzige, der von der Schimmelstute träumte. Auch war sie der Traum einer jungen Frau. Sie dachte sich, gehörte sie mir, ich würde sie immer ein Mädchen sein lassen, würde sie mit Bedacht reiten und ihr nur das beste Futter geben. Sie wäre mir lieber als ein Kind, so ich eines hätte haben können. Die Frau lebte allein, sie war allen Tieren zugetan, fütterte herrenlose Hunde und Katzen, und man nannte sie Amme. Sie wusste, würde sie die Schimmelstute nicht retten, würde diese vom Rappen bestiegen.

Nie hatte die Frau einen Mann gehabt.

Es ergab sich der Zufall, dass beide, Mann und Frau, in derselben Nacht nach der Schimmelstute Ausschau hielten. Sie sahen einander aber nicht, bis eine Lampe aufblitzte.

Der Schimmel war bereits vom Mann losgebunden worden. Er wollte sich auf das Tier schwingen, doch die Frau kam ihm zuvor. Im Galopp floh sie. Der Mann stieg auf seinen Rappen. Er sah die reitende Frau vor sich, kam ihr immer näher, überholte sie, da drehte sie um und ritt in den Wald hinein. Der Mann folgte ihr. Er war schneller als sie, konnte sie aber nicht erreichen.

Die Frau redete auf den Schimmel ein: Du bist mein Mädchen, mein braves Mädchen, meine Freundin, immer werden wir zusammenbleiben. Sie nahm ihren Zeigefinger in den Mund, und dann berührte sie das Samtmaul des Schimmels. Das war ihre Liebkosung.

Es war im November, Schnee fiel. Der Mann auf dem Rappen wütete und schrie und hieb auf sein Pferd ein. Einmal bildete er sich ein, den Schweif des Schimmels zu sehen, ein anderes Mal loderte die Haarfarbe der Frau.

Lang ritt sie, die Frau, die Amme genannt wurde, sie kannte den Wald und freute sich auf das Bett aus Stroh. Darauf wollte sie mit dem Pferdemädchen liegen jede Nacht und jeden Tag bis zum Tod.

Der Mann trieb seinen Rappen voran, so schnell er konnte.

Es schneite immer stärker und dunkelte ein. Der Mann sah sich um, und alles erschien ihm fremd, als hätte er es nie gesehen. Es schneite so stark, dass er die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Es wurde Nacht und kälter. Der Mann fror, das Pferd weigerte sich, weiterzustapfen. Es stand einfach still und rührte sich nicht. Die Hände des Mannes waren schon fühllos, und er dachte, er würde erfrieren. So nahm er sein Jagdmesser und rammte es in die Stelle des Pferdes, an der er das Herz vermutete. Das Pferd blutete und färbte den Schnee rot. Immer größer riss der Mann die Wunde auf. Er langte in das Pferd und holte die Eingeweide heraus. Zuerst steckte er seine Hände in den Rumpf des Pferdes, aber weil ihm immer kälter wurde, schlüpfte er hinein in das Pferd. So lebte er noch zwei Tage, dann starb er.

8    Doktor

Der Doktor saß an seinem Schreibtisch und hörte, wie die Sprechstundenhilfe sagte: »Der Nächste bitte!«

Er streckte sich und legte die Hände flach auf die Tischplatte. Die Patientin war eine Frau in den mittleren Jahren. Sie trat zu ihm und wollte ihm die Hand reichen. Er schreckte zurück.

Die Patientin war irritiert und fragte: »Geht es Ihnen heute nicht gut, Herr Doktor? Sie sehen erschöpft aus.«

»Ausgelaugt, so als hätte man mich zu heiß gebadet, ich glaube, ich kann Sie nicht behandeln«, sagte der Doktor.

Tränen liefen ihm aus den Augen.

Er war versucht, seine Träume zu erzählen, so, als wären sie echt, als wäre sein Leben durch einen reißenden Fluss getrennt, den er jeden Tag überqueren müsse, um in die Ordination zu gelangen. Die Schwierigkeit bestehe darin, ein Boot zur Beförderung zu finden. Im Winter, wenn Eis auf dem Fluss sei, könne er versuchen, sich zu Fuß auf den Weg zu machen, immer mit der grausamen Angst, einzubrechen. Seine liebe Familie wohne auf der Gegenseite. Also jeden Abend habe er das Verlangen, zu seiner Familie zurückzukehren, müsse über den zugefrorenen Fluss. Er habe seiner Frau verboten, mit den Kindern über den Fluss zu gehen, viel zu riskant. Sie warten jeden Abend mit dampfendem Essen auf ihn, sein Bett sei gewärmt, seine Kinder und seine Frau seien immer nur liebevoll mit ihm, besorgt. Er sei heute auf dem Eis über den Fluss gerutscht, hinein in die kalte Ordination, vorbei an einer großen Anzahl von kranken Menschen, die sich von ihm Hilfe erhofften, Rezepte mit gesundmachenden Pillen. Er habe schreckliche Angst, zu versagen.

Ob sie, die eigentliche Patientin, das verstehe. Was ihr überhaupt fehle. Sie solle ihm ihre Krankengeschichte erzählen.

»Nicht ich«, sagte die Patientin, »bin hier die Hauptperson, Sie sind der bedürftige Mann. Sagen Sie, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ach, gute Frau«, sagte der Doktor, gerührt von der Anteilnahme, »wenn Sie mir nur zuhören, bin ich schon halb gerettet. Vor allen Dingen sollten Sie mir Ihre Krankengeschichte erzählen, und ich suche mir eine Lösung für Sie aus.«

Der Doktor beugte sich vor und nahm jetzt die Hand der Frau.

»Wenn Sie wüssten, wie gut mir das Gespräch mit Ihnen tut, beinahe habe ich das Gefühl, dass ich wieder ordinieren kann.«

»Es wäre zum Wohle der Patienten. Man spricht nur in den höchsten Tönen über Ihr medizinisches Können«, sagte die Frau.

9    Eisige Sonne

Sie liebte ihn, weil er bald sterben würde. Er wollte nämlich in den Krieg, um dort Feinde zu erschießen, die er nicht kannte. Er würde ihre Gesichter nicht sehen, nur die eisige Erde und die eisige Sonne. Er würde eine Schutzhaltung einnehmen, die Ohren mit dem Daumen zuhalten, das Gesicht abschirmen, und trotzdem würde er alles mitbekommen.

So war es geschehen im eisigen Winter, als die Pferde im Stehen erfroren.

Die Frau erfuhr vom Tod des Mannes, bei dem sie nicht sie selbst sein konnte — so hatte sie immer gedacht.

Es gab eine Bestattung mit seiner Asche. Asche, dachte sie, ist, als hätte er, wie er war, nie existiert.

Sie lebte weiter, sein Geruch verschwand aus ihrem Schlafzimmer. Seine wenigen Kleider verschenkte sie an eine Hilfsorganisation. Sie dachte, wie wird es sein, wenn ein Fremder seinen besten Anzug trägt. Sie hatte neue Knöpfe drangenäht, weil die alten so schäbig aussahen. Durch die schönen Knöpfe bekam der Anzug ein Gesicht. Er sollte, wäre er begraben worden, diesen Anzug tragen. Lange hatte sie sich überlegt, ob sie ihn nicht behalten sollte. Als letzten Gedanken an ihn, den Krieger. Sie hatte ihn auf ihrem Bett ausgebreitet, hatte ihn angezogen, aber die Hose war zu eng.

Das hieß, er war mager gewesen und sie zu dick. Also packte sie den Anzug in eine Schachtel und fragte den Nachbarn, ob er ihn haben wollte. Die Nachbarin hätte ihn gern für ihren Mann gehabt, aber der Mann sagte: »Er riecht nach Tod, ich will ihn nicht.«

Also warf ihn die Frau in einen Kleidercontainer.

Einmal sah sie auf dem Markt, als sie gerade Suppengemüse gekauft hatte, einen Mann, der diesen Anzug trug. Sie war sich sicher. Genau schaute sie hin. Solche Knöpfe an einem Anzug gab es nicht zweimal.

Sie nahm sich ein Herz und sprach den Mann an. Er war jung, jünger als der ihre gewesen war. Sie sagte: »Ich wollte Ihnen sagen, dass dieser Anzug einmal meinem Mann gehört hat. Er ist gestorben.«

»Und?«, fragte der Mann. »Tut es Ihnen leid um den Anzug, bin ich seiner nicht wert?«

Die Frau wurde sehr verlegen und sagte: »Im Gegenteil. Sie füllen ihn vornehmer aus, als ihn mein Mann je hätte ausfüllen können. Ihre Figur passt perfekt in ihn.«

»Dann ist es gut«, sagte der Mann. »Die Knöpfe gefallen mir besonders, sie sind außergewöhnlich. Wenn ich genug Geld hätte, würde ich Sie zum Essen einladen.«

»Ich mache eine gute Suppe«, sagte die Frau, »ich bin bekannt für meine starken Suppen, schnell hole ich mir noch Suppenfleisch und Tafelspitz, dann bereite ich noch die großen Grießknödel zu. Wenn wir das gegessen haben, werden wir glücklich sein.«

»Danke«, sagte der Mann, »ich nehme gerne an.«

10    Schnarchender Mann

Ein dicker Mann setzte sich auf seinen Platz im Zugabteil, und bald war er eingeschlafen. In Abständen schreckte er auf und schnarchte, dann ließ er sich wieder zurücksinken und blieb für einige Minuten still, bis er wieder zu schnarchen anfing. Wie Unwetter. Ich muss es wiederholen: Unwetter, weil ein Unwetter ja auch nicht aufhört.

Der Zug war voll bis auf den letzten Platz. Unser Wagen war eiskalt, konnte wegen eines unauffindbaren Defekts nicht geheizt werden. Die Leute zogen ihre Mützen und Schals an, legten die Mäntel über sich. Eine Familie aus der Ukraine war mit ihren zwei Buben im Zug, die Mutter, eine duftige Frau, sehr blass, saß mit dem Kleinen auf dem Schoß, der Mann mit dem größeren Kind hinter ihr. Auch sie hatten ihre warmen Sachen übergezogen. Die Leute verhielten sich diszipliniert. Nur wenn der dicke Mann schnarchte, lachten die beiden Buben lauthals, das erheiterte uns, und wir vergaßen zu frieren. Die Frau redete leise auf das kleine Kind ein, das hörte nicht zu und fiel bei jedem Schnarcher wieder in lautes Gelächter. Sein Lachen klang glockenhell, und es gefiel den Leuten. Immer wieder zog die Frau ihr Handy aus dem Ärmel, so als erwarte sie eine Nachricht. Ihr Mann saß stoisch in seiner Winterjacke. Kurz vor Salzburg stand die Frau auf, packte ihren Kleinen und zog ihn fort. Sie deutete ihrem Mann, der Kleine müsse dringend. Der Zug hielt. Fuhr wieder ab. Die Frau mit dem Kind kam nicht zurück. Ihr Mann rüttelte an der Toilettentür. Als sie geöffnet wurde, war da ein anderer Fahrgast. Der größere Bub war aufgesprungen, gemeinsam mit dem Vater suchte er nach der Mutter und seinem Bruder. Wir wurden unruhig, der Schaffner kam. Die Waggons wurden durchsucht. Die Frau war nicht da. Das Kind war nicht da. Ihr Mann fing an herumzuschreien, riss sich die Kappe vom Kopf, der Bub machte Fäuste und weinte. Der Mann verlangte, dass die Notbremse gezogen würde. Der Schnarcher war aufgewacht. Er kannte sich nicht aus.

Alles wurde versucht. Die Polizei verständigt. Es musste bis zur nächsten Haltestelle gewartet werden. In Linz stiegen Polizisten ein, und es wurde verhandelt, ob es klug wäre, dass der Mann mit seinem Kind aussteige. Er entschied sich dagegen. Er war außer sich, der weinende Bub war außer sich, uns allen taten die beiden leid. Es war ganz still im Waggon, und es wurde wieder gefroren.

Meine Fantasie galoppierte, und ich stellte mir vor, dass sich die Frau in Salzburg mit ihrem Liebhaber verabredet hatte, deshalb war sie mit dem Kind verschwunden. Sie wollte weg von ihrem Mann. Aber hatte sie denn keine Sorge um ihr größeres Kind?

11    Das Amselweibchen

Ein Amselweibchen hat sich in meinen Urwald verirrt und Böses angerichtet, Blätter zerfetzt, ist verzweifelt gegen die Scheibe gejagt, voller Panik. Ich öffnete Türen und Fenster, versuchte, die Amsel herauszulocken, einmal fast hatte ich einen Flügel gefasst, aber nur eine Sekunde lang. Gleich ist sie mir entwischt und zickzack zwischen den Schlingpflanzen verschwunden. Ich holte den Besen, versuchte, ihr einen Weg zu bahnen, vergebens. Ich drehte das Radio laut, dachte, Musik könnte sie vertreiben. Gerade lief Mozart, der zart war und das Amselweibchen beruhigen sollte. Ich, bereits erschöpft, ließ mich auf den Teppich fallen. Dachte an den Gesang der Amseln. Nur die Amselmänner singen. Die Frauen rufen. Fiepsen.

Ich begann, die Pflanzen auszuräumen, zur Fensterscheibe vorzudringen, an die das Amselweibchen immer wieder schlug. Es war ein Albtraum. Ich träumte nicht. Ich fror. Die Luft war kalt, Wind bauschte die Vorhänge. Ich ging in die Küche und trank zwei Gläser Wasser in einem Zug. Was, wenn das Amselweibchen nicht herausfindet? Ich rief meinen Mann an und erreichte ihn nicht. Rief meine Söhne an und erreichte sie nicht, die Tochter versuchte mich zu beruhigen. »Mama, geh aus dem Zimmer, schließ die Tür und leg dich eine Stunde ins Bett. Wenn du dann aufstehst, wird sie nicht mehr da sein. Sie kann doch nicht so dumm sein und die Freiheit nicht finden.«

Aber wie ist das, wenn man Angst hat? Sieht man den Ausweg nicht?

Braungrau ist ihr Gefieder, gesprenkelt die Brust, ihr Schnabel unauffällig. Sie trägt ein Tarnkleid. So oft habe ich schon ihren Mann vom Apfelbaum heruntersingen hören.

Könnte er ihr nicht beistehen, der schöne, mit dem orangen Schnabel, dem Ring um die Augen, seinem tiefschwarzen Gefieder. Sein Weibchen trägt ein Tarnkleid, singt nicht. Könnte er sie nicht befreien, als ob’s im Märchen wäre?

Nach einer Stunde endlich rief mich mein Mann zurück — er war zum Pizzaessen in einem Restaurant gewesen.

»Sei ganz ruhig«, sagte er, »steh auf, geh leise an den Rand des Urwalds und rede dem Amselweibchen gut zu. Du wirst sehen, es funktioniert.«

Ich hörte ihr Flügelschlagen schon vor der Tür, leise öffnete ich, ging auf Zehenspitzen. Gerade zappelte sie an einem Kaktus, sie hatte sich verfangen und war verletzt. Ich holte meine Lederhandschuhe und versuchte, nach ihr zu greifen, ganz vorsichtig. Sie ließ mich nicht heran.

Dann ging ich wieder vor die Tür, es regnete jetzt, ich atmete tief durch, fror in meinem Nachthemd. Es war ja schon spät inzwischen und dunkel.

Wieder stand ich vor dem Eingang des Urwalds, und da war sie nicht mehr. War davongeflogen. Aber wie? Sie hatte sich ja verletzt. Ich nahm die Taschenlampe, zog die Gummistiefel an und suchte sie im Garten. Sie war nicht mehr da.

12    Aller Augen warten auf dich

»Bitte nicht auf mich, o Herr, ich bin noch nicht fertig!«

Der kleine Mann stand auf einem Stuhl, der wackelte. Er stieg wieder herab, faltete ein Stück Papier und legte es unter das kürzere Stuhlbein. Er stellte sich wieder auf den Stuhl, reckte die Arme in die Höhe. Da fiel ihm ein, dass er das Licht vergessen hatte, die Glühbirne. Also bewegte er sich wieder nach unten, nahm die Glühbirne aus der Schachtel, stieg wieder auf den Stuhl, reckte erneut die Arme und tastete mit der rechten Hand nach der leeren Fassung, versuchte zitternd, die Glühbirne einzuschrauben. Gleich gelang es ihm nicht. Er drehte, rutschte ab und drehte erneut. Dann kam er wieder auf dem Boden zu stehen, betätigte den Lichtschalter. Es leuchtete. Es leuchtete! Der kleine Mann stieß einen tiefen Seufzer aus und hielt sich an der Stuhllehne fest.

Also dann. Er konnte mit der Aufgabe beginnen, die ihm aufgetragen worden war. Als Probe sozusagen. Würde er sie bestehen, könnte er Arbeit gefunden haben. Endlich. Es war nämlich mühsam für den kleinen Mann, Arbeit zu finden.

Ihm war aufgetragen worden, sämtliche Glühbirnen nach Größe zu ordnen. Es gab viele Größen verschiedenster Art, die musste er aussuchen und zuordnen. Wie sollte er anfangen? Womit? Er leerte eine Schachtel aus, verpackte Glühbirnen landeten auf dem Boden. So viele. Die zweite Schachtel leerte er aus. Nein. So ging das nicht.

Er nahm von der Wand Kartons und versuchte, daraus Schachteln zu formen, es gelang. Zehn an der Zahl wollte er gestalten. Dazu brauchte er einen ganzen Tag. Er arbeitete aber noch weiter, bis in die Nacht hinein. Er würde sich in diesem Raum in einer Schachtel einrollen und die Nacht verbringen. Am nächsten Morgen ordnete er die Glühbirnen nach Größe und legte sie brav in die leeren Kartons. In eine Reihe passten zehn Stück. Sechs Reihen, sechzig Stück, dann aufeinandergestapelt in zehn Lagen, sechshundert Stück, eine Schachtel war fertig. So ging es weiter, bis zehn Schachteln voll waren, nach Größe, nach Form geordnet. Gleich käme der Herr und würde entscheiden, ob der kleine Mann ein fähiger Mann war. Der kleine Mann flatterte vor Aufregung. Das Hemd war ihm aus der Hose gerutscht. Er strich es glatt, schlüpfte in seine Sandalen, die hatte er ausgezogen, um besseren Halt zu haben. Er fuhr sich über die Haare, ging zum Wasserhahn, wusch sich das Gesicht und die Hände, benetzte seine Augen, die brannten. Er ging rückwärts zur Wand und betrachtete sein Werk mit den aufgeräumten Glühbirnen. Der kleine Mann glaubte sich am Ziel.

13    Unberechenbarkeit

Unberechenbar waren Vater und Mutter. Das Kind wusste nicht, würde es heute gelobt oder getadelt. Es konnte sein, dass der Vater lobte, die Mutter tadelte. Es konnte umgekehrt sein, und es konnte sein, dass beide lobten und beide tadelten. So nahm das Kind sein Leben als Risiko wahr. Es wurde älter und beobachtete scharf. Hatte das Verhalten der Mutter Einfluss auf das Verhalten des Vaters und wieder umgekehrt?

Es ist ein Brunnen ohne Boden, führt letztendlich dazu, dass der fertige Mensch misstrauisch wird und nur strategisch handelt. Das Gefühl bleibt verschollen. Es sei denn, er hat das Glück, einem Menschen zu begegnen, der sich ihm verlässlich nähert.

Ein Mann hatte genau das Gegenteil erfahren, Verlässlichkeit von früher Jugend an, er war von keinem Kummer getrübt, und deshalb gelang es ihm auch, die Frau für sich einzunehmen. Erst gab sie sich verschlossen und störrisch. Er hielt ihre Verabredungen auf die Minute ein, sagte er etwas, glaubte sie ihm. Sie wurde biegsam und bereit für die Welt, bald kannte sie den Ton der Tannenmeise, hoch und dünn: siffi siffi siffi. Bald dachte sie an den Mann als ihren Geliebten.

Besonders glücklich war sie, wenn er einen Vogelnamen nicht wusste und sie ihr Wissen ausbreiten konnte.

Der Freund ihres Geliebten, ein beinahe lächerlich gut aussehender Kerl, wollte die beiden auseinanderbringen. Was sein Grund war, wissen wir nicht. Er passte die Frau vor der Haustür ab und sagte ihr, der Mann würde sich verspäten. Die Frau ging noch einmal in die Stadt und kam erst am Abend zurück. Ihr Geliebter saß im Wohnzimmer und hatte sich die Frau herbeigesehnt. So lange, bis seine Ungeduld zu ticken begann. Sie erzählte ihm von dem Freund, und er glaubte ihr nicht. Er dachte, sie wird sich zu dem Kerl hingezogen fühlen, weil er sie geblendet hat. Da war schon Gift gestreut. Sie versicherte, dass sie die Wahrheit sage, er nickte und glaubte ihr wieder nicht. Die beiden waren noch nicht verheiratet und würden auch nicht mehr heiraten. Die Frau verließ den Mann, weil sie ihm nicht traute, und der Mann verließ die Frau, weil sie nicht die Wahrheit sagte.

Als der Mann den Freund zur Rede stellte und ihm klar wurde, dass er der Frau unrecht getan hatte, wollte er alles tun, um sie zurückzugewinnen.

Er fand sie in einer kleinen Wohnung, sie hatte die Tür geöffnet, und als er vor ihr stand, weinte sie. Sie wischte sich über ihr Gesicht und sagte: »Schade, dass auch du unberechenbar bist.«

Er nahm sie an der Hand:

»Wir tun so, als wäre das ein neuer Anfang.«

14    Kreaturen

Als ich ein Kind war und geschichtensüchtig, erzählte mir eine Großmutter — sie sagte, alles sei wahr, was sie mir berichte —, sie habe es mit eigenen Augen gesehen, und ich glaubte ihr.

»Es geschah im eisigen Winter«, begann sie. »Ich liebte einen Hund, der gehörte meiner Tante, der sah wie ein Schaf aus, und der Hund liebte mich. Er sprang an mir hoch und schleckte mein Gesicht ab. Ich war noch kein Schulkind, als meine Tante starb. Ich hatte gehofft, dass mir jetzt ihr Hund gehöre, aber meine Eltern baten einen Verwandten, den Hund in ein Tierheim zu bringen, schließlich war er auch schon alt und würde nicht mehr lange leben. Wie du dir denken kannst, war ich darüber unglücklich, ich wollte so lange trotzig sein und nichts sprechen, bis sie mir erlaubten, den Hund zu behalten. Alle um mich herum waren beschäftigt, den billigsten Sarg auszusuchen für meine Tante, einen aus Holz, schließlich waren wir arme Leute. Niemand fiel auf, dass ich verweint dasaß und kein Essen hinunterbrachte.

Der alte Hund saß dann vor dem ausgeschaufelten Grab und jaulte. Seine Herrin lag unten im zugenagelten Sarg, meine Tante. Er schmiegte sich an mich, und ich streichelte seinen Rücken. Schon standen die schwarzen Männer mit Schaufeln bereit. Der alte Hund gab sich einen Ruck und hüpfte in die Grube. Er rolle sich ein. Ich rief leise seinen Namen: »Sami, Sami!«, rief ich. »Sami, Sami«, flüsterte ich. Der Hund rührte sich nicht. Die schwarzen Männer versuchten, ihn mit Zureden aus dem Grab zu locken. Einer nahm die Wurst aus seiner Semmel und warf sie hinunter. Der alte Hund rührte sich wieder nicht.

Die Trauergäste schmausten schon an den Tischen, keinem außer mir fiel auf, dass der Hund gestorben war, und auf meine Fragen hörte keiner. Ich dachte, der alte Hund gehört keinem und mich hat man auch vergessen. Ich könnte genauso gut da unten liegen.

Die schwarzen Männer standen ratlos vor dem ausgeschaufelten Grab. Einer hatte die Idee, Münzen zu werfen, und der mit der Zahl sollte hinuntersteigen und den Hund holen. Bei zweien ergab sich die Zahl, also warfen sie weiter, bis einer übrig blieb. Der hatte schon einige Gläser Schnaps getrunken und stand unsicher auf den Beinen. Er sagte, er wolle jetzt nach Hause gehen und seinen Rausch ausschlafen, dann würde er wiederkommen, den Hund holen und das Grab zuschaufeln. So sollte es geschehen.

Gegen Abend ging der schwarze Mann, Totengräber von Beruf, auf den Friedhof. Er ließ sich ins Grab fallen. Über Nacht lag der schwarze Mann auf dem Sarg neben dem alten toten Hund. Die Luft war eisig, eisig der Wind und bald auch eisig der schwarze Mann.«

15    Von sterbenden Kreaturen

»Wenn du mich fragst?«, sagte der Mann, der ein Alkoholiker war. »Also wenn du mich fragst …«

Ich hatte ihn aber gar nicht gefragt.

»Also wenn du mich fragst, ich war im Krankenhaus und dachte, jetzt kommt es, jetzt kommt der Tod, also, wenn du mich fragst, zum Sterben war ich nicht aufgelegt. Der Tod kam näher, und ich wusste, bald würde der letzte Buchstabe ein ›t‹ sein, also tot.«

»Erzähl einfach weiter, tu so, als ob ich dich gefragt hätte«, sagte ich. »Wenn du großzügig sein willst, schenk mir deine Geschichte, damit ich sie aufschreiben kann.«

»Kann nicht sein«, sagte der Mann, der ein Alkoholiker war, »denn dann werde ich bereits tot sein.«

Er stand im Krankenhauslift vor der Intensivstation im vierten Stock und drückte den Knopf, er wollte nach unten, in die Trafik, dort ein paar Underbergs kaufen.

»Tu das nicht!«, sagte ich zu ihm. »Bleib hier oben! Ich hole dir einen Saft. Was für einen magst du?«

»Einen Underbergsaft«, sagte der Mann, kaum konnte er stehen, so wenig Leben war noch in ihm. Ich sah ihn zurück in sein Zimmer wanken.

Ich kam mir so dumm vor mit dem Vitaminsaft in der Hand, ich wollte den Mann nicht beschämen und ihm sagen, was für ihn gut wäre, jetzt, wo er dem Tod so nah war. Ich legte mich in mein Spitalsbett, und doch ließ es mir keine Ruhe. Leise bewegte ich mich aus dem Zimmer, schlich zur Intensivstation und öffnete die Tür einen Spalt. Gleich wurde ich vertrieben. Ich hatte eine Bahre gesehen, ein geöffnetes Fenster und das leere Bett des Mannes.

Ich erinnerte mich, als ich ihn noch lebend an unserem Haus vorbeitappen sah, schwarz gekleidet, er hatte sich auf seine Gehhilfe gestützt, machte einen Schritt, blieb stehen und machte wieder einen Schritt. Wie hatte er es nur in den Krankenhauslift geschafft?

Er war tot, und das war es ja auch, was er sich gewünscht hatte, tot zu sein und das Leben nicht mehr aushalten zu müssen.

Hatte er es denn nie schön gehabt?

Draußen vor meinem Zimmer lärmte es, und ich hörte, wie eine Frau hysterisch nach dem Stationsarzt verlangte. Ihr Hund sei totgefahren worden, und sie habe herausgefunden, dass dieser Arzt, ja, dieser, Schuld hatte. »Mein Liebling«, jammerte sie, »dein Mörder wird nicht heil davonkommen!«

Der tote Mann war in der Kapelle aufgebahrt, ich besuchte ihn dort. Er lag ganz friedlich, und wie mir schien, hatte er ein wenig Spott um den Mund, so als wollte er sagen, ich bin der, der es besser haben wird als ihr, denn ihr habt es schon auf Erden gut gehabt. Vor dem Eingang standen entsorgte Grünlilien, tot, und ich dachte: Menschen, Tiere, Pflanzen — hört denn das Sterben nie auf!

16    Erbärmliche Rache

Es gibt Dinge, über die man nicht sprechen sollte oder will, einfach weil es nicht sein muss. Das sagen mir oft Leute, die der heilen Welt frönen. Sie würden nie zugeben, dass sich in ihren Häusern zugesperrte Türen befinden, die sie nicht öffnen wollen. Dabei wissen sie, was sich hinter diesen Türen befindet, es ist unschön und soll nicht nach außen dringen.

Dazu kommt, dass private Dinge nicht in die Öffentlichkeit gehören. Ich sehe das genauso. Gibt es wüste Schlagzeilen in Zeitungen, lesen wir sie mit Interesse, umso mehr, wenn uns die Menschen, die sich dahinter befinden, bekannt sind. Es ist, als wollten wir das Unausgesprochene in unseren Wänden ungeschehen machen.

Eine sehr alte Frau, die bereits den Tod vor sich sah, hatte das Verlangen, eine Last von sich abzuschütteln, die viele Jahre ein Geheimnis geblieben war.

Ich sagte zu ihr: »Wollen Sie mir das wirklich erzählen, wissend, dass ich darüber eine Geschichte schreiben werde?«

Sie wollte es, nur sollte ich damit warten, bis sie unter der Erde läge. Sie wollte es sogar unbedingt. »Zur Abschreckung und als Lehre«, sagte sie.

Sie war eine junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen gewesen, recht hübsch, als sie einen sehr gut situierten Mann kennenlernte, zwanzig Jahre älter als sie. Er umschwärmte sie, und sie wurden ein Paar. Ihre Eltern waren hocherfreut über diese Partie, hieß es nämlich auch für sie, dass Zuwendungen von seiner Seite zu erwarten waren. Die Frau bekam alles von ihrem Mann. Alles. Es konnte nicht wertvoll genug sein, es musste nur ausgesprochen werden, und sie würde es bekommen. Jeder, der sie sah, bewunderte ihre Eleganz, ihren Schmuck und die Pelze. Einmal sprühte ihr eine tierschützende Halbwüchsige Farbe auf den Pelz, da tröstete sie ihr Mann und kaufte ihr einen neuen.

»Aber da war etwas«, sagte die sehr alte Frau zu mir, »das erbärmlich ist und wofür ich mich schäme. Jahrelang habe ich es für mich behalten. Mein Mann wollte nämlich, dass ich vor unserem Bett auf dem Boden schlafe, wie ein Hund, zugedeckt mit einer Wolldecke. Kaum war er aus dem Haus, schlüpfte ich in sein Ehebett und wickelte mich in die Daunendecke. Warum mein Mann das wollte, weiß ich nicht. Er war sonst normal. Ich wehrte mich am Anfang, und er sagte, würde ich ihm nicht gehorchen, müsste er mich fortschicken. Das hätte für mich bedeutet, in mein karges Leben zurück. Ich übte den Widerstand, indem ich ihm in sein Essen spuckte.«

Ihr Mann starb vor dreißig Jahren, sie erbte sein Vermögen und schlief in seinen Federn. Aber ihr Gewissen plagte sie, und je älter sie wurde, umso elender fühlte sie sich. Keine Achtung vor sich zu haben, ist erbärmlich.

17    Der Mann mit der Narbe

Ich schleppte die Tasche zum Busbahnhof, ließ mich auf die Bank fallen und atmete aus. Neben mir saß ein Mann, Hut tief in die Stirn gezogen. Seine Stimme war die von Udo Lindenberg.

»Pardon«, sagte der Mann, »stört es Sie, wenn ich Sie anspreche?«

»Bitte«, sagte ich, »dann wird die kleine Reise kurzweiliger.«

Er stützte sich auf einen Stock, die Stufen machten ihm Mühe.

»Wie Sie sehen«, sagte er, »bin ich ein Krüppel.«

»Man ist doch kein Krüppel«, sagte ich und zog meine Stiefel aus, »nur weil man einen Stock benützt, da wäre die Welt ja voller Krüppel.«

»Ist sie auch«, sagte der Mann. »Sie sehen meiner ehemaligen Lebensgefährtin ähnlich«, sprach er weiter, »dieselbe Lebhaftigkeit.«

»Ehemalige?«, fragte ich.

Und so erzählte er: Seine Stimme war Beruf, er war Synchronsprecher bei Wenzel Lüdecke gewesen. Die Stimme von Sylvester Stallone. »Mein Problem, ich vergesse viel. Ich wurde am Odeonsplatz von einem Raser überfahren, ein Jahr lag ich im Koma. Gleich werden Sie mich nach meinem Nahtoderlebnis fragen. Ja, so ähnlich, ein Tunnel, eine Schneise im Eis. Als ich wieder unter den Lebenden war, torkelte ich und dachte, man wird denken, ich sei betrunken.«

Der Mann zog den Hut und zeigte mir seine Narbe. Ich stellte mir vor, wie sein Kopf aufgeschnitten und dann wieder zugenäht worden war.

»Ja, meine Lebensgefährtin. Sie hatte Zwillinge, zwei Mädchen, eine war das Aschenputtel, die andere die Diva, jeder Pickel ein Weltuntergang. Ihre Mutter hatte eine tolle Figur. Love is blind. Darf ich weitererzählen?«

»Bitte!«

»Ich war ein lediges Kind, kam in ein Heim, meine Mutter heiratete einen guten Mann, der mich adoptierte und der beste Vater war. What you deserve is what you get. Ich kannte wichtige Menschen, liebe die Musik, singe aber nicht. Ich vergesse so viel. Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich Zwillinge aufgezogen habe, zwei Mädchen, die eine ein Aschenputtel? Sie hat einen Koch geheiratet. Die andere, die Diva, wollte Model werden. Ich weiß nicht, was mit ihr ist. Wir treffen uns nicht mehr. Seit zehn Jahren habe ich keinen Kontakt mehr mit der gut gebauten Frau. Habe ich das schon gesagt? Ein Spatz in der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dach. Und Sie?«

»Ich schreibe, was ich sehe und höre«, sagte ich. »Auf Fotos sehe ich nur die Menschen. Ja, die Natur liebe ich auch. Ich rieche die modrige Erde und liebe den Stamm der Buche …«

Der Bus hielt. Zwei Polizisten kontrollierten die Ausweise. Ein kleines türkisches Mädchen spielte mit seinem Tablet und lärmte dabei, ihre Brüder ohrfeigten einander. Tumult, wo man hinsah, das Leben eben.

18    Mein Wald

Jeden Tag betrete ich den Wald, als wär er mein Zimmer. Ich kenne die Steine, Sträucher und Bäume. Je nach Jahreszeit verändern sie sich, die Gerüche sind mir vertraut. Betritt ein anderer Mensch mein Zimmer, verstecke ich mich im Gebüsch und warte, bis er vorübergegangen ist. Der Weg durch den Wald führt hinauf auf einen Hügel zu einer Ritterburg, 740 Meter über dem Meer. Unsere Tochter Paula ist vor Jahren mit ihrer Freundin diesen Weg gegangen, ist auf den Felsen geklettert und abgestürzt. Ein Stein trat aus dem Berg. Der Stein hat sie erschlagen. Ich gehe an dieser Stelle vorbei, er befindet sich abwärts. Ich bekreuzige mich und bleibe vor dem Bild stehen, das mein Mann an den Baumstamm genagelt hat. Darauf ist das liebe Gesicht unserer Tochter Paula zu sehen, gerade zwanzig Jahre ist sie. Sie hat diesen innigen Blick, der sagt, ich schau in dich hinein, Mama, schau dir bis auf den Grund. Jeden Tag bringe ich ihr frische Blumen, aus meinem Garten die Rosen, aus dem Wald den Farn und die Hirschzungen. Blaue Glockenblumen auch, wenn sie mir gestatten, dass ich sie pflücke. Alles hat eine Seele. Die Alpensalamander an Regentagen paaren sich auf dem Weg. Sie sehen nachtschwarz glänzend aus und blank geputzt. Es sind Lebendgebärende, und ich muss mir die winzigen Salamanderchen vorstellen. Achte darauf, sie niemals aus Versehen zu zertreten. Immer den Blick auf den Boden gerichtet. Hirschkäfer klettern mir über die Turnschuhe.

Eine Bank steht vor dem Bild. Darauf sitzt zur Mittagszeit eine sehr alte Frau. Sie winkt mich zu sich, und ich sage ihr, dass ich einmal so werden will wie sie, so abgeklärt, gütig auch zu den Bösen. Einmal überraschte sie ein Einbrecher. Er kam durch das Küchenfenster am Abend und bedrohte sie mit einem Schraubenzieher. Die alte Frau sagte zu ihm: »Ich brühe Kaffee für Sie auf, dann gehen Sie wieder, armer Mann. Ich habe nur wenige Euros in meiner Geldbörse. Wollen Sie die haben?« Der Mann schämte sich und kletterte wieder durch das Küchenfenster hinaus ins hohe Gras. Am nächsten Tag kam er vorbei, diesmal stand er vor der Haustür und brachte der alten Frau ein Stück Marillenkuchen. Er bekreuzigte sich und verschwand.

Sie schaut mich ein wenig verwirrt an. Kaum mehr auf dieser Welt. Einmal hat sie mir versprochen, dass sie Paula von mir grüßen will, wenn sie im Jenseits ist.

Als ich eine Woche später mit frischen Blumen an Paulas Bild trete, sehe ich die alte Frau. Sie liegt auf der Bank. Sie ist verdorrt. Ich berühre sie, und sie wird zu Staub.

19    Was wissen wir schon!

Freundin sagt: »Nichts. Wir wissen nichts. Ich sehe die Frau noch lächeln und in die Sonne blinzeln, und dann lese ich die Todesanzeige.«

»Du kannst nicht in ein Herz schauen«, sage ich.

Freundin: »Man hat sie doch geliebt! Hast du die vielen Autos gesehen, die vor der Kirche, vor dem Laden, auf dem Gehsteig, hinunter bis zur Hauptstraße geparkt haben? Alle haben sie gekannt.«