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Die Hauptstädter sind berühmt-berüchtigt für ihre schnoddrige Schnauze und ihre unnachahmliche Schlagfertigkeit in jeder Lebenslage: Vom Essen und Trinken bis hin zur Alltagsphilosophie, vom Kompliment bis zum deftigen Fluch. Matthias Zimmermann wirft einen Blick auf typische Berliner Redewendungen und erklärt, woher sie kommen und was sie bedeuten. Mit einem Seitenblick auf Witze, Reime, Lieder und Aussprüche ergibt sich ein unterhaltsamer Streifzug durch 200 Jahre Sprachgeschichte.
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Seitenzahl: 174
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Die Berliner Schnauze
Die besten Sprüche, Schimpfwörter und Redensarten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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ebook im be.bra verlag, 2015
© der Originalausgabe:
berlin edition im be.bra verlag GmbH
Berlin-Brandenburg, 2014
KulturBrauerei Haus 2
Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin
Umschlaggestaltung: Ansichtssache, Berlin
ISBN 978-3-8393-4122-3 (epub)
ISBN 978-3-8148-0207-7 (print)
www.bebraverlag.de
Eins vorweg. Ich bin kein Berliner. Geboren in Halle, aber früh nach Potsdam gezogen, lebe ich seit nahezu 30 Jahren im Speckgürtel Berlins. Ein Umstand, der mich letztlich zum typischen wie idealen Sprecher des dort entstandenen Zungenschlags macht. Schon um 1700 war nur ein Viertel der Einwohner in Berlin geboren, ein Verhältnis, das so auch heute besteht. Eigentlich keine ideale Grundlage für eine gemeinsame Sprache. Und doch verschmolzen im Laufe der Jahrhunderte die zahlreichen Sprachen der neu Hinzukommenden und der schon länger Beheimateten zu einer eigenständigen Mundart. Berlinisch wird den wenigsten, die es sprechen, in die Wiege gelegt. Sie kommen auf verschlungenen Pfaden zu einer neuen, meist zweiten Sprache – was diese wie ihre Sprecher lebendig hält und sich weiterentwickeln lässt.
Meine erste bewusste Begegnung mit der Sprache Berlins führte mich im Alter von vielleicht fünf Jahren direkt in ihr Zentrum. In einem der elterlichen Bücherregale stand ein Leporello, ein faltbares Buch, das ich auf den ersten Blick für ein Bilder- und damit Kinderbuch und mich deshalb für den natürlichen Adressaten hielt. Es enthielt nur ein kurzes Gedicht, das illustriert über Vorder- und Rückseite lief. Es fesselte mich vom ersten Moment an. Ich muss es im Laufe der Jahre Hunderte Male besehen, gelesen und rezitiert haben. Während es mich anfangs schlicht stets zum Lachen brachte, vermutete ich später tiefere, mir verborgene Einsichten nahezu existenzialistischen Formats. Ob ich sie habe entdecken können, weiß ich bis heute nicht. Irgendwann schlichen sich indes – vielleicht berechtigte – Zweifel ein, ob es sich um mehr als nur eine freudvolle Nonsensreimerei handelt. Längst ist es mir egal. Denn, so scheint mir, der Text hat seinen Zweck – für mich – vollends erfüllt: Er hat meine Freude am Spiel mit der Sprache und ihren Möglichkeiten geweckt, die Begeisterung für Wortspiele, überraschende Wendungen und schlagfertige Ausdrücke. Er hat aber auch die Neugier genährt auf Fragen, die über das Offensichtliche hinausgreifen, die Lust an Vieldeutigem, Unentschiedenem. Aus dem ersten Kontakt mit dem Berlinischen ist nach und nach eine enge Beziehung geworden.
Es heißt, es wird im Umland inzwischen zahlreicher und »reiner« gesprochen als in Berlin selbst, wo jährlich ein großer Teil der Bevölkerung kommt und geht, ohne dass seine Sprache haften bleibt. Grund genug, eine kleine Sprachreise zu unternehmen, durch die Welt des Berlinischen – mit einer höchst individuellen Auswahl aus den witzigsten, schlagfertigsten und praktischsten Ausdrücken, Wendungen und Redensarten in gebotener Kürze, aber aller Buntheit. Ziel ist dabei keineswegs, ein Abbild der heute, Anfang des 21. Jahrhunderts, gesprochenen Berliner Sprache zu liefern, sondern ein möglichst vielseitiges Panorama zu bieten, was diese Sprache zu leisten vermag und was sie überhaupt ausmacht. Dank fleißiger Sammler und unermüdlicher Forscher ist vieles aus der Vergangenheit des Berlinischen erhalten, was heute nicht mehr jeder auf der Straße zu hören bekommt. Obwohl es, wie ich finde, zu hören sein sollte! Und wie der Berliner sagt: Wat nich is, kann ja noch – oder, wie in diesem Fall: wieder – werden!
In diesem Sinne: Rin in de Rinne! Und mein Einstieg ins Berlinische soll auch der Ihre sein – die Klopsgeschichte:
Ick sitze da und esse Klops.
Uff eenmal kloppt’s.
Ick jeh’ zur Tür und denk’ nanu,
Erst war se uff, jetz isse zu.
Ick mache uff und kieke,
Und wer steht draußen: Icke!
Noch eine kleine Vorbemerkung zur Schreibung der Berliner Wendungen und Wörter: Das Berlinische verfügte nie über ein Regelwerk für seine Eigenheiten, das betrifft Grammatik und Orthografie gleichermaßen. Da die in diesem Buch zusammengetragenen Begriffe, Redewendungen und Anekdoten aus zahlreichen unterschiedlichen Quellen der vergangenen 180 Jahre stammen, variieren sie hier und da auch in ihrer Schreibung. Während man im 19. Jahrhundert zu Glas noch Jlass sagte, springt über diese Hürde heute kein Berliner mehr …
Außerdem ist das Berlinische lange schon eine Sprache der Möglichkeiten und nicht der Zwänge. Soll heißen: Vieles kann man »berlinisieren«, muss man aber nicht, und wo es geschieht, geschieht es oft mit gutem Grund, und wo nicht, auch. Also: Nehm’ Se’t, wie’t kommt!
Das Bekannteste am Berliner ist, so lässt sich vermuten, sein Mundwerk, die Kodderschnauze. Dank ihr gilt er in seinem Wesen als frech, meckerig, von sich selbst eingenommen und größenwahnsinnig. Und machen wir uns nichts vor: Es stimmt. All das »berlinert«, es gehört dazu. Auch. In seinem Vorwort zum wichtigsten Wörterbuch des Berlinischen, Hans Meyers »Der richtige Berliner«, bringt es der Schriftsteller und geborene Berliner Walter Kiaulehn auf den Punkt: »Das Geheimnis des richtigen Berliners ist, dass er nicht berlinern muss, sondern, dass er es auch kann.« Aber er kann eben zugleich stets anders, und wenn er meckert, motzt oder frotzelt, dann (zumeist) bewusst. Wer auf die Schippe genommen wird, der hat es verdient. Ton, Grammatik und Witz des Berlinischen dienen ihm als Mittel. Und wenn man einmal genauer hinsieht, sind die Eigenheiten des Berlinischen keineswegs sinnfreie, selbstverliebte Sprachspielereien, sondern Ausdruck der ganz besonderen gewachsenen Umstände dieser Stadt und fast immer zugleich nur die eine Seite der Medaille.
Der schnoddrije Ton zum Beispiel, der sich tatsächlich vom niederdeutschen Wort für den Nasenschleim (snodder) ableitet. Egal, ob nun kiebig, rotzig, pampig oder riedig, der Berliner gilt in jeder Form als ausverscheemt. (Da unverscheemt schon für unfassbares Glück reserviert war, drehte man einfach ein bisschen an der Vorsilbe und fortan stand ausverscheemt für frech.) So sehr, dass im großen Brandenburgisch-Berlinischen Wörterbuch für die Dreisten der Eintrag kess wie ein Berliner zu finden ist und zu einem Berliner mit Quadratschnauze der Spruch kursiert: Wenn der mal stirbt, muss de Schnauze extra dotjeschlaren wer’n! Schon der Geheimrat Goethe bemerkte nach einem Besuch in der Stadt: »Es lebt aber, wie ich an allem merke, dort ein so verwegener Menschenschlag beisammen, daß man mit der Delicatesse nicht weit reicht, sondern daß man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muß, um sich über Wasser zu halten.«
An die durchaus anerkennende Beschreibung der Berliner als »verwegener Menschenschlag« schließt der Dichterfürst jene Beobachtung an, die Licht ins Dunkel des Vorwurfs ungeschlachter Grobheit bringt: Obwohl es erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Millionenstadt anwachsen sollte, war Berlin schon seit Langem ein Schmelztiegel unzähliger Heimatsuchender, Glücksritter und Zuwanderer, die sich dort ein neues Leben aufbauen wollten. Ein Umstand, der auch ihre Sprache beeinflusste. Franz Lederer, der Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Büchlein »Ick lach ma’n Ast« versucht hat, »Sprache, Wesen und Humor des Berliners« zu ergründen, erklärte dies folgendermaßen: »Die Einwohnerschaft, von Anfang an auf eigene Kraft gestellt, gewöhnte sich frühzeitig daran, Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Eine solche Bevölkerung neigt naturgemäß zur Kritik, und diese Kritik geht leicht in derben Spott über – (…).«
Was mitunter grob erscheint, ist – von einer anderen Seite aus betrachtet – schlicht Offenheit ohne falsche Pietät. Wo Zurückhaltung nicht angebracht ist, vertreiben ein paar klare Worte beizeiten den Nebel. Wenn einer anjibt wie’ne Tüte Mücken, lässt sich der Berliner nicht zweimal bitten und stutzt den Großkotz auf Normalmaß herunter: Mach ma det Fenster uff, det riecht hier mächtig nach Eichenlaub. Oder wie Adolf Glaßbrenner seinen Nante über einen Prahlhans sagen lässt: Dunderwetter, wenn ick det wäre, wat der sich inbildt, denn kooft’ ick mir Deutschland, un setzte mir uff’t Riesenjebirje un sagte: Blast mir’n Stoob wech!
Dabei ist die Kritik des Berliners in der Regel kein Mittel, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Zumeist entlarvt sie die Lüge, benennt das Verquere und tadelt das Falsche. Wer heiße Luft daherredet, dem weht ohne Zögern entgegen: Quatsch man keene Wellen, sonst kippt der Kahn um! Folgerichtig macht der Berliner vor seiner eigenen Person nicht halt und nimmt sich, wo es angebracht ist, selbst auf die Schippe. Ganz nach dem Motto: ’n jeder blamiert sich so jut er kann!
Nicht selten ist für kritische Töne Ironie das Mittel der Wahl. Mit ihrer Hilfe lässt sich ansprechen, was offen zu scharf, zu schwere Kost oder gar gefährlich wäre. Das ironische Lob ist eine Berliner Paradedisziplin: Wunderscheen is jarnischt dajejen! An einem langweiligen Abend hat er sich amüsiert wie Mops im Tischkasten – also gar nicht, weil er eingesperrt ist – und was schlicht nicht passt, det passt wie de Faust uff’s Ooge. (Mittlerweile passt die Faust übrigens sehr wohl und gilt als Ausdruck der Zustimmung, während die negative Bedeutung nahezu verloren gegangen ist.) Theodor Fontane hat diesen Hang zur Ironie mit mangelnder Redefreiheit in der Hauptstadt Preußens erklärt: »Man hat dies ironische Wesen auf den märkischen Sand, auf die Dürre des Bodens, auf den Voltairismus König Friedrichs II. oder auch auf die eigentümliche Mischung der ursprünglichen Berliner Bevölkerung mit französischen und jüdischen Elementen zurückführen wollen – aber, wie ich glaube, mit Unrecht. Alles das mag eine bestimmte Form geschaffen haben, nicht die Sache selbst. Die Sache selbst war Notwehr, eine natürliche Folge davon, daß einer Ansammlung bedeutender geistiger Kräfte die großen Schauplätze des öffentlichen Lebens über Gebühr verschlossen blieben.«
Für Fontanes These spricht, dass die kritisch-kreative Ader der Berliner Sprache seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach und nach einzuschlafen schien. Mit der Gründung eines demokratischen Staates auf deutschem Boden waren die »Schauplätze öffentlichen Lebens« zugänglich und die Rede frei. Allein in Ost-Berlin, das zur »Hauptstadt der DDR« erhoben wurde, bewahrte das Berlinische seine subversive Funktion und deshalb auch Kraft. In kritischer Distanzierung schuf der hiesige unhörbare Volksmund sogar noch neues Vokabular, wie das Kaderwelsch (aus Kader und Kauderwelsch) für das unsägliche Palaver der – ausgerechnet überwiegend sächsischen – Parteioberen, die Pionöse (aus Pionier und einer der beliebten französisierenden Endungen -öse von -euse) oder einen Beitrag zur eigentlich längst begrabenen Abkürzungsmanie: SED stand fortan nicht mehr für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, sondern galt als Synonym für »selten etwas dran«. Manch einer zog sogar ein Fazit unter das sozialistische Gesellschaftsexperiment, noch ehe es beendet war: Lieber von Zille jemalt, als vom Sozialismus jezeichnet.
Gerade am Beispiel der Ironie gilt es aber, Fontane, der mit dem Berlinischen persönlich eher auf Kriegsfuß stand, an anderer Stelle entgegenzutreten. So behauptete dieser, der Berliner habe keinen »Sinn für feinere Lebensform, liebenswürdiges Entgegenkommen. Durch derbe Grobheit stößt er nur zu leicht ab. Seine Stacheln kehrt er gern nach außen, kritisiert ohne Rücksicht zu nehmen.« Doch das Berlinische kennt die Liebkosung, die freundliche Geste und die ehrliche Anteilnahme sehr wohl. Nur sind sie, wie vieles, oft in Ironie oder gar einen etwas derben Ton gehüllt. Nirgendwo sonst könnte wohl Olle so viel Anerkennung für die Mutter, Frau oder Geliebte enthalten wie in Berlin, und meint einer zu einem Freund, er sehe aus wie Braunbier mit Spucke, darf dies als Ausdruck wohlwollender Sorge über dessen kränkliche Erscheinung angesehen werden.
Als besonders groß gilt die Schandschnauze des Berliner aber, weil er (und sie) den Nabel der Welt zu bilden scheinen. Er sieht besser aus (so bin ick an janzen Körper), ist schlauer (der Berliner lernt nischt inne Schule und weeß doch allet) und hat von allen seltenen Tugenden nur die besten, von Schisslaweng (Schwung) bis Pli (Witz). In Berlin haben sie ’n Wetter, inne ärmere Jejend würden se zwee draus machen, während alles jenseits der Stadtgrenzen nischt wie Jejend ist, dem Credo folgend: Wo wir sind, is vorn. Wenn wir hinten sind, is hinten vorn. Ein waschechter Berliner ist die moderne Fassung des Niebelungen-Siegfried. Mit Spreewasser jedooft, hält er sich für unverwundbar. Als Motto der Stadt kann daher getrost gelten: Uns kann keener – ooch nich eener!
Gut möglich, dass diese Haltung dem einen oder anderen sauer aufstößt. Wo bleibt da die Demut, wo das »rechte Maß«, das der Berliner mit seiner derben Kritik und den mitunter allzu offenen Worten bei anderen so ohne Rücksicht fordert? Gilt dergleichen nicht für ihn und seinesgleichen? Dem ist zu entgegnen: Doch, keene Frage! Aber wo Kritik ist, ist ebenso Platz für Stolz und Selbstvertrauen. Wer gelernt hat sich durchzusetzen, hat auch gelernt, sich darüber angemessen zu freuen und daraus Kraft für neue Taten zu schöpfen. Von nischt kommt nischt, heißt es in Berlin. Aber auch: Wat nich is, kann ja noch werden. Das Berliner Selbstbewusstsein ist das unermüdliche Mantra, das Perpetuum mobile der Stadt, das seit Jahrhunderten den Motor am Laufen hält. Nicht zuletzt darum werden hier die offensichtlichen Wahrheiten gepflegt und weitergegeben wie nobelpreiswürdige Entdeckungen: Doppelt hält besser! Oder: Uff een Been kann man nich stehen! Und: Det kommt vor, det eener fällt und find’ nischt.
Verwandter Natur sind die unzähligen Sprüche und Reime, die auf Durststrecken und in schwachen Momenten zu hören sind. Dann, wenn Vernunft schon auf der Strecke geblieben ist und nichts als Durchhalten zählt. Das Berliner Mittel der Wahl ist in diesem Fall: Humor. Etwa:
Es wird schon wer’n mit Mutter Bern,
Mit Mutter Horn is ja ooch jeworn.
Bloß de olle Schmitten hat nich jelitten –
Dreimal ins Been jeschnitten,
Un denn ham se erst jemerkt,
Det se’n Holzbeen hatte.
Manchmal freilich schlägt das Selbstbewusstsein des Berliners über die Stränge und in eine milde Form des Größenwahns um. Nichts ist dann vor dem Zugriff der Übertreibung sicher, im Guten wie im Schlechten: Bei einem gelungenen Witz ist gleich der janze Bauch eene Falte, in Momenten der Überraschung werden Bauklötzer jestaunt und in der Wut ärjert man sich de Schwindsucht an’n Hals.
Doch die Übertreibungen haben ihren Zweck – und zwar ganz im Sinne des ollen Baron Münchhausen, der sich und sein Pferd an dessen Schopf aus dem Sumpf zog, in dem sie beide steckten. Walter Benjamin, der als Philosoph und Essayist eine geschliffene – hochdeutsche – Feder schrieb und zugleich die Sprache seiner Heimatstadt Berlin liebte, schrieb darüber: »Zahllose Redewendungen gibt es, in denen der Berliner so auf Gulliversche Art sein Liliput von Wirklichkeit aus den Angeln hebt.« Wie es scheint, läuft der Berliner erst im Windschatten seiner Kodderschnauze zu Höchstform auf. Zudem wird der Wildwuchs der Fantasie in Form der Großspurigkeit durch den Berliner Humor stets auch wieder eingehegt. Schon der Reichskanzler Otto von Bismarck soll die Bemerkung eines jungen Berliners überliefert haben, der im Angesicht der Alpen sagte: »Nee, solche Berge ham wir nich! Aber wenn wir welche hätten, wären se noch höher.«
Die gute Nachricht für alle, die der Berliner Schnauze nicht länger schutzlos ausgeliefert sein wollen und sie zugleich ein wenig bewundern: Sie ist kein exklusives Geburtsrecht. Schon seit Jahrhunderten ist nur rund ein Viertel der Berliner auch in der Stadt geboren und doch sind sie (fast) alle in ihrer Sprache vereint. Ja, der eine oder andere Zugezogene hat es fast unbemerkt zu weithin bekannter Meisterschaft im Berlinischen gebracht: Otto Reutter, der unvergleichlich Berlinisch textete, kam aus Gardelegen, Claire Waldoff, die Gallionsfigur der Spottliederei, stammte aus Gelsenkirchen und Heinrich Zille, der sein Leben zeichnend in den Kiez-Hinterhöfen verbrachte, aus dem sächsischen Radeburg. Kein Hindernis auf dem Weg zum meisterhaftschnoddrigen Ausdruck, beobachtete auch Walter Kiaulehn in seinem bereits erwähnten Beitrag zum »Richtigen Berliner«: »Ich habe gefunden, dass die ›gewordenen‹ Berliner – die nicht an der Spree geboren sind, sondern später hierherkamen und aus freiem Entschluss zu Berlinern wurden, die humoristischen Möglichkeiten des Berlinischen oft besser benutzen als die geborenen Berliner.« Na dann: Ran an’n Sarg und mitjeweent!
»Berlinisch ist eine Sprache, die aus der Arbeit kommt«, schrieb in den 1920er Jahren Walter Benjamin, der Philosoph, geborene Charlottenburger und bekennende Berliner. Als man an den herrschaftlichen Höfen noch der französischen Art und Sprache nacheiferte, köchelte in den Handwerksstuben, Arbeiterkabuffs und auf den Straßen das berlinische Sprachgemisch. Da war es nur natürlich, dass auch allerlei Namen für das Tun jener entstanden, die die Sprache mitprägten. Und diese waren für gewöhnlich ein wenig treffender, entlarvender oder schlicht komischer als die gewöhnlichen Benennungen der jeweiligen Berufe oder Tätigkeiten. Auch wenn die meisten heute kaum mehr bekannt und schon gar nicht gebräuchlich sind, gehören sie doch zum Wesen und Erbe des Berlinischen. Eine – gewiss unvollständige – Liste der Um-Berufungen enthält über 100 Einträge, sodass hier nur ein kleiner Streifzug durch das arbeitende Vok der Stadt unternommen werden kann.
Fangen wir auf der Straße an. Hier steht es, das Arbeiterdenkmal, ruhig auf seine Schaufel gestützt, vielleicht ein Zigarette im Mundwinkel, und erst wenn es den Kopf hebt, zeigt sich, dass es lebt – und nur seine Fuffzehn, die obligatorische Pause, genießt. Getreu dem Motto: Die Arbeit jagt mir, aber ick bin schneller! Tatsächlich entstand im Jahr 1900 auf dem Andreasplatz ein Monument, das einen Schmied mit seinem Sohn zeigte. Platz und Denkmal mussten nach dem Zweiten Weltkrieg weichen, aber das »Original« findet man ohnehin bis heute spontan an etlichen Baustellen. Dort lässt sich möglicherweise auch die eine oder andere Dreckschwalbe nieder, so ein einstiger Spitzname der mauernden Zunft. Heute sollte man das nicht mehr hören lassen. Andere sieht man inzwischen kaum noch am Werke, etwa die Rammerdammer, wie man die Steinmetze lautmalerisch nannte, oder sie verschwanden völlig, wie die Naturforscher im Rinnsteen, die Lumpensammler. Stadtweit unterwegs sind wiederum die mittlerweile in orange gekleideten Müllkutenindianer der Stadtreinigung und ihre Kollegen vom Corps de balai, wie die Straßenfeger in Anlehnung an das Corps de Ballet hießen. Und auch Schorschtenfejer steigen nach wie vor aufs Dach und Zündelmänner düsen in ihren feuerroten Kisten durch die Straßen, um zu löschen, was die Schläuche hergeben.
Derweil gehen Discher (Tischler), Pechhengste (Schuster) und Kopfschuster (Hutmacher) in den Werkstätten ihrem Handwerk nach, während links und rechts der Handel blüht: Wer noch etwas besorgen muss, geht zum Koofmich, dessen Laden – ein typisches Erbbegräbnis, das bestimmt bald wieder schließen muss, nur damit anschließend ein anderer sein Glück versucht –, wo sein Ladenschwengel, der Gehilfe, etwas träge die Kundschaft bedient. Links und rechts wird dann das Wochenendmenü zusammengestellt: die Haxe vom Zippelwilli, wie der Fleischer hieß, weil früher die Wurstenden mitverkauft wurden, und die Knüppel für Sonntagmorgen vom Schrippenarchitekten, etwas abfällig auch Teigaffe geschimpft. Alles, was man sonst noch frisch braucht, bekommt man auf dem Markt, wo der Eierfritze neben dem Butterfritzen steht. Überhaupt war der Fritze das Universalwort für Händler, Verkäufer und Handwerker aller Art – vom Jemüse-bis zum Zijarrenfritzen. Für den gesunden Leib steuerte man früher den Saftladen an. Heute eher Synomym für eine schlecht geführte Wirtschaft, war damit einst die Apotheke gemeint, weil dort Kräutersäfte verkauft wurden. Um Leib und Seele zu pflegen, geht man(n) anschließend zum Balbier (Barbier) bzw. zum Schnauzenschaber oder Glatzenschneider, beides inzwischen mit zahlreichen Titeln wie dem Coiffeur veredelt.
Dazwischen drängeln sich gewiss etliche Bierlokale, in denen Biertanten, Tablettschlusen und Einnehmen (Kellnerinnen) um Gäste rangeln, während der Kneipjee lauwarme Mollen zapft. In besseren Häusern kann man sogar den Herrn Oberkörper, so die spaßhafte Bezeichnung für den Ober, herbeizitieren. Sollte dafür das nötige Kleingeld fehlen, empfiehlt sich der Gang zur Bank oder, wenn da auch nichts mehr zu holen ist, zu Pete. Der ungewöhnliche und wohl gewollt wenig offensichtliche Name für den Pfandleiher stammt wohl vom lateinischen Mons pietatis, mit dem in Italien die ursprünglich wohltätigen Leihbanken benannt wurden.
Wer sein Vergnügen nicht in der Molle, sondern in Form von Unterhaltung sucht, begegnet möglicherweise im Kabarett dem Kommfranzundjeh, eine typisch berlinische Eindeutschung des französischen conférenciers qua »Lautverschiebung«, oder Heulbojen (Sänger) und Huppdohlen (Tänzerin). Im eher zwie- oder rotlichtigen Milieu dagegen treiben sich Tippelschicksen (Strichmädchen) herum, unter ihnen die eine oder andere Amateuse