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Eine Liebesgeschichte über den Zauber des Lesens In Geschichten eintauchen, die Nacht durchlesen, ein Buch mit dieser wohligen Mischung aus Freude und Abschiedsschmerz zuschlagen. Nichts liebt der Buchhändler Ole Oevermann so sehr wie die Literatur. Doch seit einiger Zeit kommen immer weniger Kunden in seine kleine Buchhandlung in der Lübecker Marlesgrube. Auch Gesa Grambek hat die Bücher aus ihrem Leben verbannt, seit ihre große Liebe Onni, ein finnischer Schriftsteller, vor zwanzig Jahren starb. Als Gesa ihre Stelle bei einer Versicherung zu verlieren droht, ist sie verzweifelt. Wie soll sie wenige Jahre vor der Rente eine neue Stelle finden? Da lernt sie Ole Oevermann kennen. Der Buchhändler ist nicht nur überaus charmant und überzeugt davon, dass sich Gesas Kündigung abwenden lässt – er möchte auch ihre Liebe zur Literatur wiedererwecken … Ein Roman für Bücherfreundinnen, Geschichtenliebhaber und alle, die daran glauben, dass Bücher gebrochene Herzen heilen können.
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Seitenzahl: 349
Anja Baumheier
Roman
Eine Liebesgeschichte über den Zauber des Lesens
In Geschichten eintauchen, die Nacht durchlesen, ein Buch mit dieser wohligen Mischung aus Freude und Abschiedsschmerz zuschlagen. Nichts liebt der Buchhändler Ole Oevermann so sehr wie die Literatur. Doch seit einiger Zeit kommen immer weniger Kunden in seine kleine Buchhandlung in der Lübecker Marlesgrube. Auch Gesa Grambek hat die Bücher aus ihrem Leben verbannt, seit ihre große Liebe Onni, ein finnischer Schriftsteller, vor zwanzig Jahren starb. Als Gesa ihre Stelle bei einer Versicherung zu verlieren droht, ist sie verzweifelt. Wie soll sie wenige Jahre vor der Rente eine neue Stelle finden? Da lernt sie Ole Oevermann kennen. Der Buchhändler ist nicht nur überaus charmant und überzeugt davon, dass sich Gesas Kündigung abwenden lässt – er möchte auch ihre Liebe zur Literatur wiedererwecken …
«Eine Hommage an das Lesen und an die Bücher.» WDR 2
Anja Baumheier wurde 1979 in Dresden geboren. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Berlin und Brandenburg und arbeitet als Lehrerin für Französisch und Spanisch. Bei Rowohlt erschienen bereits ihre Romane «Kranichland», «Kastanienjahre» und «Die Erfindung der Sprache».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung semper smile, München
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-01599-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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1995
Gesa und die Liebe, das passte nicht zusammen. Dafür gab es unwiderlegbare Beweise. Gesa, dreiunddreißig Jahre alt, kinderlos, Versicherungskauffrau bei der Lübeck-Safe-AG, hatte in ihrem Leben bisher zwei Männer gehabt. Zwei Männer. Zwei Mal Pech.
Der erste war genau genommen noch gar kein richtiger Mann gewesen. Frühsommer 1976. Jan war siebzehn und Bassist in der Schulband des altehrwürdigen Katharineums, Gesa ein Jahr jünger. Die beiden Teenager kamen sich bei den Bundesjugendspielen näher. Erst verlor Gesa ihr Herz, ein halbes Jahr später ihre Jungfräulichkeit. Eine Woche darauf wollte Jan nichts mehr von ihr wissen. Die Gründe, die er für seine Zurückweisung hervorbrachte, waren so abwegig, dass sich Gesa schon bald nicht mehr an sie erinnern konnte. Ihr junges Herz zerbrach in Stücke, und sie schwor sich, nie wieder einen Mann an sich heranzulassen.
Zehn Jahre lang ging das gut; alle Bewerber blockte Gesa erfolgreich ab. Doch mit siebenundzwanzig wurde sie unvorsichtig. Wieder ein Jan. Das hätte sie misstrauisch machen müssen. Jan Nummer zwei war ein Zahnarzt, der im Büro der Lübeck-Safe-AG vorstellig wurde, um ein umfangreiches Versicherungspaket zu erwerben. Haftpflicht. Rechtsschutz. Berufsunfähigkeit. Nach vier Monaten wollte Gesa den zweiten Jan ihren Eltern vorstellen. Sie fuhr in seine Praxis in Kücknitz, um ihn zu überraschen. Doch im Behandlungszimmer war es Gesa, die eine Überraschung erlebte, als sie ihren Freund mit der Sprechstundenhilfe auf dem Behandlungsstuhl erwischte.
Nach der doppelten Jan-Enttäuschung brauchte Gesa schleunigst etwas, um zu vergessen. In der Brigitte hatte sie einen Artikel über Liebeskummer gelesen. Dort stand, man solle sich ablenken, etwas Neues lernen, ein Hobby finden. Also suchte Gesa nach einem Hobby, das sich umstandslos ihren Wünschen anpasste, das ihr nicht das Herz brechen würde. Sie versuchte es, wie in dem Artikel empfohlen, mit Stricken, Wandern und Angeln. Vergeblich. Viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Doch dann entdeckte Gesa die Literatur.
Ein Volltreffer, auch wenn es genau genommen Liebe auf den zweiten Blick war.
Bereits in der Schule, damals als die Sache mit Jan Nummer eins gerade ihren Anfang nahm und Gesas Deutschlehrer sich vergeblich bemühte, die in einen hormonellen Dauerausnahmezustand geratenen Schüler für die Schönheit von Epik, Dramatik und Lyrik zu begeistern, hatte Gesa ein wohliges Kribbeln beim Aufschlagen eines Buches gespürt. Aber Jan Nummer eins nannte sie einen Bücherwurm, mit einem Hauch von Verachtung in der Stimme. Und da man bei den ersten zarten Versuchen noch bereit ist, sich der Liebe vorbehaltlos in die Arme zu werfen und sich ruckzuck an alles Mögliche anzupassen, hatte Gesa ihre Romane in einen Koffer geräumt und unter das Bett geschoben.
Der Groll gegen die Liebe im Allgemeinen und Bassisten sowie Zahnärzte im Besonderen führte nach dem Jan-Nummer-zwei-Desaster dazu, dass es zwischen Gesa und der Literatur abermals funkte. Heftig funkte. Sie holte den Koffer wieder unter dem Bett hervor und erneuerte ihren Bibliotheksausweis. Während des schlimmsten Liebeskummers fand sie Trost in der Gewissheit, dass sie nicht die Einzige war, die von der Liebe gequält wurde. Da war Marianne Dashwood aus Jane Austens Gefühl und Verstand. Da war Bridget Jones in den Romanen von Helen Fielding. Da war Jane Marsh aus Ende eines Sommers von Rosamunde Pilcher. Gesa war nicht allein.
Auch gute zehn Jahre später war Gesa noch eine begeisterte Leserin. Natürlich las sie nicht mehr ausschließlich Liebeskummerlektüre, sie las einfach alles, was ihr zwischen die Finger kam, und liebte, litt, lachte und weinte, während sie einen Roman nach dem anderen verschlang.
Wenn Gesa verreiste, dann nie ohne Lektüre. Bereits beim Packen wusste sie, dass sie viel zu viele Bücher in ihren Koffer stopfte. Aber die Vorstellung, ihr könnte unterwegs der Lesestoff ausgehen, war für sie unerträglich.
So auch an diesem Tag. Gesa blickte auf das Buch, das auf ihrem Schoß lag. Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez. Der Roman war ein Geburtstagsgeschenk ihres Chefs. Gesa schaute von ihrem Buch auf und nach links, wo ihr Zwillingsbruder am Steuer seines Volvos saß. Hinter der Seitenscheibe zogen die Kiefernwälder Finnlands vorbei wie in einer Endlosschleife, überflittert von einer märchenhaften Sonne.
«Nun wird es Zeit für das Geständnis.» Gero drosselte die Geschwindigkeit.
Gesa legte ihre Stirn in Falten.
«Rovaniemi, die Stadt, in die wir gerade fahren, ist nicht nur der Sitz des Weihnachtsmannes. Da sitzt, ich meine, wohnt, auch Kimi Saariaho.»
Gesa stöhnte auf. Kimi Saariaho war ein finnischer Schauspieler, den ihr Bruder im Stadttheater Lübeck bei einer szenischen Lesung von Schönheit und Elend des Lebens von Frans Eemil Sillanpää gesehen hatte. Seitdem war der Mann ihrem Bruder nicht mehr aus dem Kopf gegangen. In der Darbietung des Schauspielers Kimi Saariaho hatte Gero so viel Schönheit des Lebens erkannt, dass er ganz besessen von ihm war.
«Sag nicht, wir sind nur wegen Saariaho nach Finnland gereist. Ich dachte, du wolltest Lappland kennenlernen und eine Woche direkt am nördlichen Polarkreis verbringen, am Tor zur Arktis sein.»
«Das auch.» Gero warf einen Blick auf ihr Buch und gab Gas. «Die Finnen sind übrigens ein sehr glückliches Volk, wohl sogar das glücklichste Europas. Und sie sind auch richtiggehend leseverrückt.»
Das wirkte. Obgleich Gesa ihrem Bruder wegen seiner Heimlichtuerei grollte, besänftigten sie die zauberhaften Kiefernwälder und die Vorstellung, eine Woche in einem Land zu verbringen, dessen Einwohner glücklich und buchliebhabend waren. Vielleicht, überlegte Gesa, während sie Gero über den Arm streichelte, vielleicht stand beides miteinander in Zusammenhang. Nein, korrigierte sie sich, ganz sicher sogar hing beides miteinander zusammen.
Am vorletzten Tag ihres Aufenthaltes fuhr Gesa im Volvo ihres Bruders zum vierzehn Kilometer entfernten Olkkajärvi, einem idyllischen, vollkommen klaren See. Sie wollte die unberührte Landschaft genießen, sich die urigen Mökkis, die finnischen Ferienhäuser, anschauen, vielleicht eine Sauna besuchen. Ein wenig wollte sie auch Abstand von Gero gewinnen, der unermüdlich die Cafés, Restaurants und Museen, das Rovaniemi-Theater, die Lappia-Hall und sogar alle Kinos nach seinem Schwarm absuchte. Leider vergeblich. Gesa liebte ihren Bruder, doch die Verzweiflung, mit der er nach Kimi Saariaho fahndete, ging ihr zu weit. Andererseits, so dachte Gesa, wenn sie ehrlich war, erinnerte diese hoffnungslose Suche nach der Liebe sie auch ein wenig an sie selbst.
Eine öffentliche Sauna fand Gesa am Olkkajärvi-See nicht. Vom vielen Umherlaufen taten ihr die Füße weh. Sie setzte sich auf einen Holzstapel in der Nähe eines unbewohnten Mökkis und öffnete ihren Rucksack. Gero hatte es gut gemeint. Ein wenig zu gut. Offenbar hatte er noch immer ein schlechtes Gewissen, weil er seine Schwester unter Vortäuschung falscher Tatsachen nach Finnland gelockt hatte.
Kalakukko. Ein Brotlaib, in dem in Speck eingewickelter Fisch steckte. Karjalanpiirakka. Handtellergroße Teigtaschen, gefüllt mit Milchreis. Eine Thermoskanne voller Kaffee, die, nach Gesas vorsichtigen Schätzungen, ein Fassungsvermögen von zwei Litern haben musste. Gesa fragte sich, wer das alles essen und trinken sollte. In der linken Seitentasche ihres Rucksacks steckte ein von einer Serviette gehaltenes Besteckset, in der rechten das Buch, das Gesa gerade zum zweiten Mal las. Der Alchimist von Paulo Coelho. Wie sehr Gesa diesen Roman liebte. Sie war gerade an der Stelle, wo sich Santiago und Fatima begegneten. Aber da die lange Wanderung nicht nur Gesas Füßen einiges abverlangt hatte, sondern sie auch so hungrig hatte werden lassen, dass ihr Magen knurrte, griff sie zunächst nach dem Kalakukko. Sie biss herzhaft hinein. Die köstliche Kombination aus Brot, Speck und Fisch in ihrem Mund ließ Gesa unwillkürlich die Augen schließen.
«Nauti ateriastasi.»
Gesa schrak zusammen und öffnete die Augen. Das hieß guten Appetit. «Kiitos. Danke», erwiderte Gesa.
Vor ihr stand der Weihnachtsmann, nur in jünger und wesentlich attraktiver. Der Mann trug ein rot kariertes Holzfällerhemd, eine Arbeitshose, einen Vollbart und in der Hand eine Axt.
«Onni.» Der Mann, der offenbar Onni hieß, tippte sich auf die Brust und nickte Gesa freundlich zu.
Da sah sie, dass in der Brusttasche dieses Onni ein Buch steckte. Alkemisti von Paulo Coelho.
In diesem Augenblick war es um sie geschehen. Nicht auf den zweiten, nein, auf den ersten Blick. Dass der Mann nicht Jan hieß, war schon mal ein Pluspunkt. Aber Gesa wollte sich absichern. In ihrem Rucksack befand sich ein Wörterbuch. Sie blätterte zum Buchstaben B. «Basisti?», erkundigte sie sich.
Onni schüttelte den Kopf.
Gesa blätterte zum Buchstaben Z. «Hammaslääkäri? Zahnarzt?», setzte sie nach.
Onni schüttelte den Kopf. «Kirjailija. Writer. Author.»
Gesa hatte sich Hals über Kopf verliebt, und sie wusste, dass sie nichts dagegen tun konnte. Doch dann fiel ihr ein Zitat aus dem Alchimisten ein. Alles, was passiert, kann einmalig sein. Aber alles, was zweimal passiert, wird sicher ein drittes Mal passieren. Das klang nicht gut, das klang gar nicht gut. Dennoch. Es war bereits passiert, Gesa hatte ihr Herz zum dritten Mal verloren. Glücklich und leseverrückt waren die Finnen, hatte Gero gesagt. In diesem Augenblick, vor der bezaubernden Kulisse des kristallklaren Sees, war die Lübeckerin Gesa Grambek von der finnischen Seele erfüllt. Und von der Liebe. In diesem Moment passten Gesa und die Liebe wunderbar zusammen.
Auf einer Birke über ihnen saß ein aufgeplusterter Kuukkeli, der sie interessiert beobachtete und, so konnte man den Eindruck gewinnen, zufrieden lächelte.
Die Filiale der Lübeck-Safe-AG entsprach architektonisch in keiner Weise den allgemeinen Vorstellungen, die der Durchschnittsbürger von einer Versicherung hatte. Nicht die Spur von hell, offen und Glas, viel Glas. Im Gegenteil. Das Bürogebäude war dunkel, verwinkelt und bereits erheblich in die Jahre gekommen. Aber es hatte einen den Jahren trotzenden Vorzug: die Aussicht. Waren die Fenster des dauerklammen, muffig riechenden Gebäudes auch noch so winzig, sie boten einen wunderbaren Blick auf die Silhouette Lübecks.
An diesem teigigen Herbsttag hatte sich Nebel über die Türme der Marienkirche gelegt. Die Turmspitzen waren im Teighimmel vergraben, als hätte ein Künstler unten zu malen begonnen und als wäre ihm, auf Höhe der Türme, die Farbe ausgegangen. Gesa Grambek, hinter deren Bürofenster ebenjene Marienkirche ansatzweise in der Ferne zu erkennen war, zog die obere Schreibtischschublade auf. Dort lagerte ihre Nervennahrung: Marzipankartoffeln. Gesa schob sich eine der braunen, weichen Mandelkugeln in den Mund und begann zu kauen. Schon besser.
Gesa atmete schwer aus und betrachtete nachdenklich das Telefon. Wieder eine Kundin, die gekündigt hatte.
Seit beinahe vierzig Jahren verkaufte Gesa bei der Lübeck-Safe-AG ihre Buchversicherung. Von Jahr zu Jahr wurden es weniger Kunden, und wenn Gesa ehrlich war, konnte sie die Leute nur allzu gut verstehen. Sie konnte ja selbst keine Bücher ausstehen, zuweilen machten sie ihr sogar Angst. Nicht mehr ausstehen, musste es eigentlich heißen. Denn es hatte eine Zeit gegeben, da hatten ihr Bücher alles bedeutet. Geborgenheit. Zuversicht. Liebe. Aber das war lange her, ein anderes Leben. Bevor das mit Onni passiert war.
Umgehend schob sie den Gedanken beiseite und öffnete das Verarbeitungsprogramm für die Vertragsdaten der Versicherungsnehmer auf ihrem Computer. Sie gab die Kündigung in das System ein und druckte das Formular doppelt aus. Ein Exemplar legte sie in die Ablage für den Postausgang, das zweite heftete sie zu den anderen in den Ordner.
Es klopfte. Jost Kleve trat ein, Vertriebsmitarbeiter im Außendienst und Gesas Lieblingskollege. Mitte dreißig, chronisch gut gelaunt, von einer mütterlichen Fürsorglichkeit. Typ Fels in der Brandung. Eine Bezeichnung, über die sich Jost köstlich amüsieren konnte, war es doch der Werbeslogan der Konkurrenz.
«Good Morning, Grambekerin. Was macht die Kunst?»
Jost ließ sich auf den Drehstuhl vor dem Schreibtisch fallen. Der Stuhl fing seinen Körper beherzt auf und seufzte mit einem lang gezogenen Quietschen unter der ihm überantworteten Last. Josts Bauch, der Backwaren sichtlich zugetan war, wölbte sich im Sitzen nach vorne.
Gesa schwieg, mehr aus herbstlicher Trägheit als aus Unfreundlichkeit.
«Chefchen hat Geburtstag», hob ihr Kollege an. «Hat sich nicht lumpen lassen. In seinem Büro gibt es ein Buffet. Allererste Sahne. Wir warten auf dich.»
Gesa errötete. Wie hatte sie nur Dr. Penningbüttels Geburtstag vergessen können? Das war bestimmt das Alter. Gesa kam nicht umhin festzustellen, dass ihre Haut mit ihren fast sechzig Jahren an Elastizität verlor, dass ihr Energiestoffwechsel Kapriolen schlug und dass sie sich endlich um eine Brille kümmern sollte. Und jetzt auch noch Gedächtnisschwund?
«Vergessen?» Jost stemmte sich aus dem Drehstuhl hoch.
Das Hemd rutschte ihm aus dem Hosenbund, an dem sich ein tapferer Knopf mühte, seiner Pflicht nachzukommen.
«Hat jemand ein Geschenk besorgt?», fragte Gesa, um von ihrer Vergesslichkeit abzulenken.
«Wie immer, ein Gutschein für diesen Buchladen in der Marlesgrube …»
Gesa schnaubte. «Bücher, du weißt doch, was ich von Büchern halte.»
«I know. Gib einfach fünf Euro in den Klingelbeutel und gut. Aber jetzt los. Ich verhungere. Willst du das verantworten? Haben wir eine Police gegen Verhungern im Portfolio?»
Vor dem Fenster begann sich der Nebel zu lichten. Doch das bemerkte Gesa nicht mehr. Sie hatte das Büro bereits verlassen und lief dem schrägen, aber inbrünstigen Geburtstagsgesang der Kollegen entgegen.
Brötchenpyramiden, Kochbirnen in Speck, frischer Matjes mit Zwiebelringen und rote Grütze mit Sahne, der Aquavit bereits vorgefüllt in Bechern. Das alles war viel zu viel gewesen und rumorte nun in Gesas Körper. Um den Kopf freizubekommen, ihrem Energiestoffwechsel zu schmeicheln und ihrer Haut Elastizität zurückzuschenken, lief Gesa zu Fuß nach Hause. Der Himmel warf sich gräulich der Nacht in die Arme. Gesa entschied sich für einen Abstecher an die Trave. Die am schläfrigen Himmel schaukelnde Mondsichel spiegelte sich auf der glatten Wasseroberfläche. Entlang der Uferkante schälten sich die Umrisse von Anglern aus der Dunkelheit. Es war empfindlich kalt geworden. Der zarte Aquavitschwindel verlor sich mit jedem Schritt. Der Mond ließ Gesa nicht aus den Augen.
Gesa betrat den Hausflur, der sie mit einem Geruch nach Bratkartoffeln, Backfisch und einer Prise Essigreiniger willkommen hieß. Durch die Tür von Herrn Wobbecke im ersten Stock drang die Titelmelodie von Gute Zeiten, Schlechte Zeiten. Seit nunmehr zwanzig Jahren wohnte Gesa in ihrer Wohnung. Immer wieder in all der Zeit hatte sie überlegt, umzuziehen, den Erinnerungen zu entfliehen, ihnen den Rücken zu kehren, neu anzufangen. Schließlich, sobald sie nach der Sache mit Onni wieder einigermaßen klar denken konnte, hatte sie sich einer Therapeutin anvertraut und erkannt, dass man vor sich selbst nicht davonlaufen konnte. Man musste sich seinen Ängsten stellen. Das Ganze hatte viel mit atmen und positiven Gedanken zu tun. So hatte Gesa entschieden, in der gemeinsamen Wohnung zu bleiben. Nur die Anwesenheit der Bücher hatte sie nicht ertragen können. Zu schmerzhaft war der Anblick der gemeinsamen Bibliothek, der Stapel von Manuskripten, an denen Onni gearbeitet hatte, und der vielen Bände von Briefromanen, die sie selbst angesammelt hatte. Alles Lesbare hatte sie aus der Wohnung verbannt und war seither auch sonst jedwedem Kontakt mit Büchern aus dem Weg gegangen. An manchen Tagen löste allein deren Anblick regelrecht Panik in Gesa aus.
Schließlich war Gesa in der dritten Etage angekommen. Als sie vor der Wohnungstür stand, zeigte der Rest-Aquavit, dass er längst nicht vorhatte aufzugeben.
Eine Garderobe nahm die linke Wand ein. Vier Türen zweigten vom Flur ab. Bad. Schlafzimmer. Wohnzimmer. Küche. Die kühle Aura der Wohnung besaß unleugbar mehr Versicherungsbüroflair als die Lübeck-Safe-AG. Gesa betrat das Wohnzimmer. Auch hier. Klare Linien, Praktikabilität, Zweckmäßigkeit. Auf dem Sideboard stand ein ausgestopfter Kuukkeli. Finnisch für Unglückshäher. Ein rabenartiger Vogel, der trotz seines Namens in Finnland eigenartigerweise als Glücksbringer galt. Ein höchst ambivalentes Geschöpf. Das Tier war das einzig verbliebene Zeugnis der Vergangenheit. Einer glücklichen Vergangenheit. Bis zu jenem Umzugstag im Jahr 1999, an dem es an der Tür geklingelt und das Unglück Gesas Leben aus dem Lot gebracht hatte. Der kaum einhundert Gramm schwere Kuukkeli auf dem Sideboard hielt den Kopf gesenkt, als spürte er die Erinnerungslast, die auf seinen zarten Schultern lastete. Er schien Gesa in ewiger Dankbarkeit verpflichtet zu sein, dass sie damals zwar die Bücher, nicht aber ihn aus der Wohnung geschafft hatte.
Mit seinen schwarzen Glasaugen fixierte der Kuukkeli das Lämpchen des Anrufbeantworters, das ungestüm blinkte. Gesa drückte auf die Wiedergabetaste.
Grambekerin, this is Jost calling. Wollte fragen, ob du gut angekommen bist. Als du weg warst, hat Chefchen seltsame Andeutungen gemacht. Irgendwas mit Rationalisierung. Weißt du, was das bedeuten könnte? Ich habe komische Gefühle. Ruf mich zurück.
Gesa maß den Worten kaum Bedeutung bei. In voraussehbarer Regelmäßigkeit hatte ihr Kollege komische Gefühle. Mal in Bezug auf das Wetter, mal auf das Mittagsangebot in der Kantine der Lübeck-Safe-AG, mal in Bezug darauf, ob das mit der Mondlandung und Neil Armstrong damals alles mit rechten Dingen zugegangen sein konnte. Lächelnd zog Gesa ihr Handy aus der Tasche, um Jost eine SMS zu schreiben. Da bemerkte sie, dass eine neue E-Mail ihres Chefs angekommen war.
Liebe Frau Grambek,
weil ich vorhin die Stimmung bei meinem Geburtstagsumtrunk nicht trüben wollte, wende ich mich auf diesem Wege an Sie. Zunächst einmal möchte ich mich für das wunderbare Geschenk bedanken. Wie Sie wissen, sind Bücher mein Ein und Alles.
Gesa hielt inne. Sie blickte erst zu ihrem Anrufbeantworter, der aus unerfindlichen Gründen immer noch ungestüm blinkte, dann zum Kuukkeli auf dem Sideboard. Sie wünschte, der Vogel würde aufschauen. Sie wünschte, er würde ihr einen aufmunternden Blick zuwerfen.
Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Gerade momentan, wo wir alle den Gürtel enger schnallen müssen. Noch ist das Kind nicht in den Brunnen gefallen, aber es ist dem Brunnenrand sozusagen bedenklich nahe gekommen.
Wir werden Stellen einsparen müssen. Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass auch Ihr Ressort bei der Lübeck-Safe-AG, also die Buch-Elementar-Risiko-Versicherung, am Brunnenrand steht.
Alles Weitere würde ich gerne mit Ihnen persönlich besprechen. Bitte kommen Sie morgen um 10 Uhr in mein Büro.
Mit freundlichen Grüßen,
Dr. Bruno Penningbüttel
Gibt es so etwas wie verzögerte Trunkenheit, einen aufgeschobenen Rausch? Ist es biologisch möglich, dass der Alkohol selbst entscheidet, zu welchem Zeitpunkt er das Gleichgewicht von Botenstoffen durcheinanderbringt?
Als Gesa am nächsten Morgen vor Dr. Penningbüttels Büro stand, hatte sie jedenfalls ein derart flaues Gefühl im Magen, als habe der Aquavitschwindel von gestern Abend schlagartig seine Höchstform erreicht.
«Come on, geh da endlich rein.» Jost lächelte aufmunternd. Gesa hatte ihm in knappen Worten von Penningbüttels Mail berichtet. «Wird schon. Außerdem ist aufgeschoben nicht aufgehoben. Und Brunnenrand ist nicht Brunnen.»
Gesa klopfte. Dr. Penningbüttel erschien im Türrahmen und bat sie in sein Büro.
Nicht nur die Filiale der Lübeck-Safe-AG sah in keiner Weise aus, wie man sich die Räumlichkeiten einer Versicherung gemeinhin vorstellte, auch Gesas Chef selbst wirkte nicht wie ein typischer Versicherungsverkäufer. Ein Meter neunzig, durchtrainiert, ganzjährig gebräunt, Maßanzug, italienische Schuhe, das Haar von einem Schwarz, das ein Mann seines Alters einzig einem meisterhaften Friseur zu verdanken haben dürfte. Bruno Penningbüttels makellose Zähne hätten den Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden in Verzückung versetzt.
«Setzen Sie sich, Frau Grambek. Wie schön, dass Sie da sind.» Penningbüttels Lächeln war aufrichtig. Der Mann besaß ein altruistisches Naturell, eine angenehme Zugewandtheit und wäre niemals auf die Idee gekommen, sich für schnelle Autos oder kostspielige Uhren zu erwärmen.
Niedergeschlagen ließ Gesa sich auf den Besucherstuhl sinken.
Penningbüttel wies mit dem Kinn auf eine halb volle Flasche Aquavit. «Möchten Sie einen? Ich fürchte, Sie werden ihn brauchen können.»
Gesa verneinte. Allein beim Gedanken an Alkohol zog sich ihr wieder der Magen zusammen.
«Es fällt mir schwer, aber es hilft ja nichts. Wie Sie wissen, stehen die Zeiten wirtschaftlich nicht zum Besten. Die Leute haben in den letzten beiden Jahren viel Geld verloren, sie versuchen, an allem zu sparen, was sie für überflüssig halten.»
«Auch an Versicherungen?» Gesa erschrak über die Zerbrechlichkeit ihrer Stimme. Sie kannte die Antwort bereits, hatte sie doch erst gestern eine neue Kündigung aufgenommen.
«Korrekt. Um unser Gespräch nicht künstlich in die Länge zu ziehen: Ich habe vorgestern mit dem Mutterschiff in Stuttgart telefoniert. Der Buch-Elementar-Risiko-Versicherung, für die Sie zuständig sind, soll es an den Kragen gehen. Wir zeichnen keine neuen Policen, die alten werden vermehrt gekündigt. Die Leute lesen einfach weniger. Außerdem waren die Buchhandlungen lange geschlossen. Die Menschen starren den ganzen Tag auf ihr Handy, und am Abend auf der Couch sehen sie sich Serien auf den Streaming-Plattformen an.»
Hilfe suchend schielte Gesa zur Aquavitflasche, die ihr jetzt doch eine attraktive Option zu sein schien. Sie musste sich zwingen, den Blick abzuwenden, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Fensterquadrat im Rücken ihres Chefs, hinter dem das Buddenbrookhaus prangte wie ein Postkartenpanorama, ein steinerner Gruß aus der Mengstraße vier.
«Verstehen Sie mich nicht falsch», sprach Penningbüttel weiter. «Das Konzept hat jahrzehntelang tipptopp funktioniert. Ich bin selbst ein begeisterter Leser, wie Sie wissen. Aber das trifft auf die meisten Menschen nicht mehr zu. Da erzähle ich Ihnen nichts Neues, Sie haben ja selbst früher sehr gerne geles… Nun ja, also, die Zeiten ändern sich nun mal.»
Außer Jost und Penningbüttel kannte niemand bei der Versicherung die Gründe für Gesas Abneigung gegen Bücher. Wenn irgendjemand kurz davor war, auf die Ursachen zu sprechen zu kommen, die Frage sich zum Greifen nah im Raum ausgebreitet hatte, umfing Gesa eine solch schonungslose Wolke aus Trübsal, dass niemand wagte, sich nach Details zu erkundigen. Umso erstaunlicher war es für ihre Kollegen, dass Gesa seit Jahren für eine Versicherung zuständig war, die genau das schützen sollte, was sie selbst so sehr verabscheute: Bücher.
«Bücher sind tot, Frau Grambek. Leider.»
Bei dem Wort tot zuckte sie zusammen. Die Buch-Elementar-Risiko-Versicherung war ursprünglich dazu gedacht gewesen, wertvolle Erstausgaben und andere besondere Exemplare zu versichern. Geschah den Büchern etwas, wurden sie beschädigt oder gestohlen, zahlte die Lübeck-Safe-AG den Kunden eine Prämie. Nach Onnis schrecklichem Unfall, der alles Schöne und Leichte aus Gesas Leben vertrieben hatte, hatte Gesa darauf bestanden, eine Zusatzklausel einzufügen, die nach einiger Diskussion schließlich in die Police aufgenommen wurde. Darin hieß es, dass auch sämtliche Personenunfälle in Zusammenhang mit Büchern versichert werden konnten. Bücher, die aus Regalen auf Köpfe stürzen konnten. Bücher, in die man so vertieft war, dass man im Gehen las und dabei versehentlich vor ein Auto, einen Bus oder eine Bahn lief. Bücher, an deren Seiten man sich in den Finger schnitt und eine Blutvergiftung riskierte. Leiterunfälle, wenn man beim Herunterholen eines Buches fiel und sich verletzte.
«Es ist mehr als ernst, ich …», fiel Dr. Penningbüttel Gesa in die Gedanken. «Sagen Sie, Frau Grambek, Sie und die Bücher, wegen Ihres …» Er verstummte, als erinnerte er sich daran, dass man im Raum hängende Fragen manchmal einfach hängen lassen sollte.
Gesa verschränkte die Arme vor der Brust.
Schließlich fuhr sich Penningbüttel über das Gesicht und fügte mit gesenkter Stimme hinzu. «Wenn Sie keine neuen Kunden gewinnen, niemanden, der noch echte Bücher kauft und sie gegen eventuelle Schäden versichern lässt, gibt es nur eine Möglichkeit.»
«Welche?»
Dr. Bruno Penningbüttel schluckte trocken. «Wir müssen uns von Ihnen trennen.»
Nun zeigte die verzögerte Trunkenheit endgültig, wozu sie in der Lage war. Das Gleichgewicht der Botenstoffe strauchelte. In Gesas Kopf setzte sich ein Kettenkarussell in Bewegung, gleichzeitig waren ihre Ohren mit Zuckerwatte verstopft. Unerträgliche Jahrmarktsstimmung.
«Sie sind ja auch nicht mehr die Jüngste. Sie in einen neuen Bereich einzuarbeiten, also Fortbildungen, also … Dafür fehlen mir die finanziellen Mittel. Ich bin ohnehin angehalten, perspektivisch Personal zu reduzieren. Es tut mir leid, Frau Grambek.»
Wie ferngesteuert erhob sich Gesa, griff nach der Aquavitflasche, hob sie an die Lippen, nahm einen tiefen Schluck und stellte die Flasche wieder ab. Dann passierte es. Kerzengerade, wie eine Jolle, die durch die Wucht eines Windstoßes kenterte, fiel Gesa um.
Als Gesa das Bewusstsein wiedererlangte, blickte sie in die Augen der halben Belegschaft. Doch das war es nicht, was ihr ein Frösteln unter die Aufschläge ihrer Strickjacke trieb. Es war etwas Festes, das gegen ihre Waden drückte. Gesa sprang auf. Man hatte ihr einen Stapel Bücher unter die Beine gelegt. Wahrscheinlich, damit das Blut zurück in den Kopf fließen konnte.
«Sorry, Grambekerin. Ich war am Süßigkeitenautomaten, sonst hätte ich es verhindert.» Jost führte Gesa zum Schreibtischstuhl.
Hauptsache, es geht wieder.
Ich war schon immer dafür, dass wir ein Sofa für den Notfall anschaffen.
Brauchen wir bald einen Schockraum für die Erstversorgung?
Diese Sätze hörte Gesa durch den Zuckerwattenebel, der sich von den Ohren hinter die Stirn verlagert hatte.
«So, Kollegen, hier gibt es nichts mehr zu sehen. Danke für eure Hilfe, den Rest schaffen wir allein.» Jost machte eine Handbewegung, als würde er einen Schwarm Mücken verscheuchen.
Gute Besserung.
Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid.
Soll ich mal googeln, ob es Spätfolgen geben könnte?
Gesa beteuerte, ausnahmslos wiederhergestellt zu sein. Sie bedankte sich für die Hilfsbereitschaft, die ihr entgegengebracht wurde. Über die Lagerungsstätte, der man ihren bewusstlosen Körper anvertraut hatte, verlor sie keine Silbe.
Nachdem die anderen in ihre Büros zurückgekehrt waren, fragte Jost: «Was ist denn passiert? Was hat er gesagt?»
In wenigen Worten berichtete Gesa vom Gespräch mit ihrem Chef, mehrmals unterbrochen von Josts «shit, holy shit».
In diesem Moment tauchte Dr. Penningbüttel auf, ein großes Glas Wasser in der Hand. «Frau Grambek, bis Montag bleiben Sie zu Hause, keine Widerrede. Überlegen Sie sich bitte in Ruhe, ob Ihnen ein Konzept einfällt, mit dem sich Neukunden für Ihre Buchversicherung akquirieren lassen. Ich bin bereit, Sie bei allem zu unterstützen, was in meiner Macht steht, auch wenn mir finanziell die Hände gebunden sind. Aber verlieren möchte ich Sie auch nicht.»
Gesa griff nach dem Wasser und kippte es so hastig herunter, als könnte sie das Gehörte damit wegspülen.
Nach ihrem Ohnmachtsanfall verließ Gesa das Büro und machte sich auf den Weg in die Marlesgrube auf der Altstadtinsel. Dort lag das Bestattungsinstitut ihres Zwillingsbruders.
Immobilien unter Tage.
Die Namensgebung hatte bei Gesas Eltern für reichlich Irritationen gesorgt, wohingegen die Berufswahl von Gero Grambek auf Wohlgefallen gestoßen war. Vater Rotger war Polizist gewesen, Mutter Asta Krankenschwester. Ersterer hatte sich, bevor er in Pension ging, bis zum Landespolizeidirektor von Schleswig-Holstein hochgearbeitet. Zweitere war zuletzt Oberschwester des hiesigen Universitätsklinikums gewesen. Da man für gewöhnlich nach einem jahrzehntelangen Arbeitsleben in Führungspositionen nicht von heute auf morgen die Füße hochlegen konnte, arbeiteten Gesas Eltern weiterhin für den Schutz und das Wohlbefinden der Lübecker. Rotger Grambek betreute ehrenamtlich die ehemaligen Häftlinge, die er einst hinter Gitter gebracht hatte, es sei denn, sie hatten ein Kapitalverbrechen auf dem Kerbholz. Und Asta Grambek, die zu ihrer aktiven Zeit Mitglied des Krankenschwesternchors gewesen war, unterstützte ihre ehemaligen Kollegen auf der Intensivstation, indem sie Komapatienten Lieder vorsang, die den Heilungsprozess beschleunigen sollten.
Gesa und Gero. Wer als Zwilling geboren wird, bleibt es für immer. Ein Leben, das kooperativ in der Dunkelheit des mütterlichen Uterus beginnt, kann sich selbst in der hellen Wirklichkeit des Lebens nicht entzweien. Gesa hatte immer Verständnis für die Entscheidungen ihres Bruders gehabt, selbst für den Geschäftsnamen Immobilien unter Tage.
Ein garstiger Wind streckte seine Tentakel über die Trave aus und drückte in Gesas Rücken. Als sie, der zusätzlichen Schubkraft zum Trotz, vor einem der für die Lübecker Altstadt typischen Ganghäuser stehen blieb, um sich die Jacke zuzuknöpfen, fiel ihr ein verrostetes Messingschild ins Auge: Oevermanns Buchhandlung & Antiquariat. Das Schild ahmte den Umriss eines aufgeschlagenen Buches nach und ragte im rechten Winkel aus dem Mauerwerk. Schon oft war Gesa hier vorbeigekommen, doch den Buchladen hatte sie noch nie näher in Augenschein genommen.
In diesem Moment begriff Gesa erst, was die Worte von Dr. Bruno Penningbüttel wirklich bedeuteten.
Neukunden oder Kündigung. Hopp oder top.
Gesas Verstand war das bereits vor zwei Stunden im Büro klar gewesen. Sogar ihr Körper hatte entsprechend reagiert, indem er sich vorübergehend selbst aus dem Verkehr gezogen hatte. Aber in diesem Augenblick, als sie vor der Buchhandlung stand, zog Gesas Herz nach. Tränen erklommen ihre Augen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und hob den Kopf ein Stückchen weiter, damit der garstige Travewind ihr Gesicht wieder trockenlegte.
Es funktionierte. Gesas Blick blieb auf den Büchern in der Auslage hängen. Beiges Leinen, leicht vergilbt, der Einband randläufig aufgehellt, Goldschnitt. Eine Ausgabe von Albert Camus’ Der Fall lag im Fenster.
Ungeschickt wich Gesa zurück. Dabei übersah sie eine stramm gespannte Leine zwischen einem Pudel und seiner Besitzerin. Gesa stolperte. Sie fiel. Auch wenn es unwahrscheinlich war, zwei Mal an einem Tag zu fallen, ließ es sich nicht leugnen: Gesa lag am Boden. Pudel und Besitzerin eilten sofort zu ihr. Aus dem Augenwinkel bemerkte Gesa, wie sich die Tür der Buchhandlung öffnete und ein älterer Mann herbeieilte.
«Gestatten, Oevermann. Wer Großes versucht, ist bewundernswert, auch wenn er fällt. Seneca. Kann ich Ihnen helfen?»
Gesa erwiderte nichts. Umständlich erhob sie sich und überprüfte die Funktionstüchtigkeit ihrer Beine. Als sie feststellte, dass sie nicht zu Schaden gekommen waren, murmelte sie «Danke» und eilte weiter. Hinter dem Schaufenster von Immobilien unter Tage erkannte sie die Silhouette ihres Bruders vor dem Regal mit den Urnen. Gesa beschleunigte den Schritt, als könnte sie vor ihrem Schicksal davonlaufen, und hätte sich in diesem Augenblick am liebsten auch unter Tage vergraben.
2001
Lange Zeit hatte sich Ole Oevermann geweigert, sich der Liebe vorbehaltlos in die Arme zu werfen. Er war eher der Typ für kurze bis mittelfristig lange Lieben. Schon in jungen Jahren hegte er eine gewisse Grundskepsis gegenüber dauerhaftem Glück. Vielleicht, so hatte er sich stets eingeredet, lag das am frühen Tod seiner Mutter, die 1958, drei Jahre nach Oles Geburt, an plötzlichem Herzstillstand gestorben war. Da Ole mit einem liebenswürdigen Naturell zur Welt gekommen war, gelang es ihm stets, seine Weigerung, sich in Liebesdingen festzulegen, charmant zum Ausdruck zu bringen.
Bereits im Kindergarten, mit fünf Jahren, hatte Ole eine kleine Freundin gehabt. Sie hieß Wiebke, hatte blonde Locken und eine niedliche Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen. Bei der knorrigen Kastanie neben dem Sandkasten versprach sie Ole, ihn zu heiraten, wenn sie groß sei. Nach der Einschulung zog Wiebkes Familie von Lübeck nach Berlin. Ole und Wiebke schrieben sich eine Zeit lang Briefe in krakeliger Handschrift, aber irgendwann verlor Ole das Interesse. Er malte ihr ein Bild mit einem bunten Blumenstrauß, dann meldete er sich nicht mehr, und so brach der Kontakt zwischen den beiden ab.
In seinen Teenagerjahren verfiel Ole Fenja, einem hochgewachsenen Mädchen aus der Parallelklasse. Nähergekommen waren sich die beiden, nachdem Ole, der nicht nur ein charmantes, sondern auch ein technikbegabtes Naturell besaß, Fenjas defektem Blaupunkt-Röhrenradio neues Leben eingehaucht hatte. Als Fenja, kurz vor dem Schulabschluss, ihre Zukunftsperspektive mit mindestens drei Kindern beschrieb, erklärte Ole, dass er sie sehr möge, jedoch nicht vorhabe, vor Mitte dreißig Vater zu werden. Fenja würde mit ihm nicht glücklich werden, denn so lange wolle sie bestimmt nicht warten. Die beiden weinten ein bisschen, aber trennten sich in freundschaftlicher Verbundenheit. Wenige Jahre später hatte Fenja nicht nur zwei Töchter bekommen, sondern war auch Kinderbuchautorin geworden. Hasi Hopsis Abenteuer hieß ihr erstes Buch, das auf Anhieb zum Verkaufsschlager wurde und in Reihe ging. Ole hingegen war froh, nicht mit seiner Jugendliebe zusammengeblieben zu sein, denn seine Gefühle der Literatur gegenüber ließen sich als neutral bis unterkühlt beschreiben.
Es war nicht so, dass Ole Oevermann Romane hasste, er mochte sie nur nicht sonderlich. Das einzige Gedruckte, was er gerne las, waren technische Fachbücher und Schaltpläne. Als Sohn eines Elektromeisters war er in seiner Kindheit und Pubertät kaum mit Literatur in Berührung gekommen. Sein Vater, Bernt Oevermann, der allabendlich erschöpft vor dem Fernseher einschlief, hatte seinem Sohn wenig vorgelesen. Sie fachsimpelten lieber über Beleuchtungssysteme, Telefonanlagen und die Stromversorgung von Gebäuden. Nie empfand Ole das Fehlen von Romanen in seinem Leben als Manko.
Er und sein Vater standen sich nah, so nah, wie es Vater und Sohn in den 60er- und 70er-Jahren nur konnten. Nicht nur die Begeisterung für Technik teilten sie, auch die Leidenschaft für Hähnchengerichte und für die Fernsehserie Columbo. Nach seinem Schulabschluss war Ole in die Fußstapfen seines Vaters getreten und in den gemeinsamen Betrieb, Oevermann Elektro- & Gebäudetechnik, eingestiegen. Oles Leben war seitdem in ruhigen Bahnen verlaufen, er war glücklich als Single, traf sich manchmal mit Freunden, ging gerne ins Kino, bis eines Tages die Bücher ein wenig näher an ihn herangerückt waren, und zwar in Gestalt von Ophelia.
Er war zwanzig Jahre alt gewesen, als er und sein Vater den Auftrag erhielten, in der Stadtbibliothek Lübeck neue Lampenkabel zu verlegen. Schon beim ersten Blick auf die junge Bibliothekarin, die ihnen Kaffee und Kekse anbot, war es um Ole geschehen. Ein Jahr später heiratete er Ophelia. Und weitere zwanzig Jahre später hatte Ole Oevermann, der langfristigen Lieben sein Leben lang aus dem Weg gegangen war, seine Ehe keinen Tag bereut.
«Hast du dich wieder weggeträumt?» Ophelia kam in einem roten Kleid ins Wohnzimmer und versuchte zu erkennen, welches Buch auf Oles Schoß lag.
Chronik der Elektrotechnik stand auf dem Einband. Darunter war ein Mann im Blaumann abgebildet, der gerade einen Sicherungskasten installierte.
«Lies doch mal was Richtiges. Wir haben gerade Die dunkle Seite des Mondes von Martin Suter reinbekommen. Vielleicht wäre das etwas für dich.» Ophelia gab Ole einen Kuss.
Er hatte es versucht damals, nach ihrem Kennenlernen, mit Büchern mit belletristisch-technischem Hintergrund. Ich, der Roboter von Isaac Asimov. Der letzte Tag der Schöpfung von Wolfgang Jeschke. Rendezvous mit Rama von Arthur C. Clarke. Doch vergeblich. Die Geschichten waren ihm zu deprimierend gewesen, zu viel Endzeit. Kurzum: Ole hatte keine Freude an der Lektüre gehabt. Den technischen Exkursen, in Prosa gegossen, konnte er nichts abgewinnen. Da war sein eigener Berufsalltag um einiges spannender. Aber er und Ophelia waren darin übereingekommen, dass ihre Liebe zueinander groß genug war, um diese literarische Diskrepanz ausgleichen zu können.
«Du müsstest dich langsam mal umziehen.»
«Entschuldige, meine Liebe. Gib mir zehn Minuten.»
Es schneite. Arm in Arm spazierten Ophelia und Ole über die Drehbrücke. Zarte Flocken segelten auf die Trave. Der Mond stand wie eine Scheibe am Himmel und ließ die Umgebung wie eine Filmkulisse wirken. Als Ole und Ophelia die Engelsgrube erreichten, konnten sie auf der rechten Seite bereits ihr Ziel ausmachen. Das Restaurant Schiffergesellschaft. Hierher hatte Ole Ophelia eine Woche nach ihrer ersten Begegnung in der Bibliothek zum Essen eingeladen. Ein Restaurant aus dem sechzehnten Jahrhundert, in dem sich einst die Lübecker Kaufleute trafen, um Handelsreisen zu organisieren. Lange, massive Holztische, Relikte der Vergangenheit und prachtvolle Wandgemälde zierten den Gastraum. Von der Decke hingen kleine Schiffsmodelle herab, Erinnerungsstücke von Seefahrern aus der ganzen Welt. Und obwohl es in der historischen Halle sehr laut gewesen war und es sehr viel zu bestaunen gab, hatte Ole nur Ophelia bestaunt.
In drei Stunden würde Ophelia einundvierzig werden, was die Oevermanns mit Labskaus, Pannfisch und einer Flasche Sekt feiern wollten. Ole hatte dafür einen Tisch im Kapitäns-Salon reserviert. Dort war es nicht so laut wie in der historischen Halle, was Ole ganz recht war, wollte er doch noch immer hauptsächlich seine Frau bestaunen, und das möglichst ablenkungsfrei.
Mittlerweile waren sie beinahe am Restaurant angekommen. Sie liefen an einem Geldautomaten vorbei.
«Das ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass wir mit D-Mark bezahlen werden», sagte Ophelia und legte den Kopf in den Nacken, um Schneeflocken auf ihr Gesicht fallen zu lassen.
«Diese neue Währung, dieser Euro, ich weiß auch nicht, der erinnert mich an Monopoly. Ich finde es schade, dass jetzt in so vielen Ländern das gleiche Geld gibt.»
«Stimmt, wenn du mir in diesem Jahr die lange versprochene Reise nach Paris schenkst, müssen wir kein Geld wechseln.»
Lächelnd wiegte Ole den Kopf hin und her. «Du willst nach Paris? Davon wusste ich ja gar nichts.»
Ophelia lachte, breitete die Arme aus und begann zu tanzen. Sie wurde immer übermütiger.
In diesem Augenblick merkte Ole einmal mehr, wie wichtig seine Frau in seinem Leben war. Er fuhr mit der Hand in die Innentasche seines Sakkos. Seine Finger berührten den Umschlag mit den Flugtickets. Vier Übernachtungen im Marais in einem Hotel direkt an der Place des Vosges, unweit der Seine.
Ophelia lief nun rückwärts und begann zu singen.
Geh Deinen Weg, den man Dir wies
Wenn es Nacht wird, wenn es Nacht wird in Paris
Wenn es Nacht wird, wenn es Nacht wird in Paris
Dreh Dich nicht um nach fremden Schatten
Dreh Dich nicht …
Der Autofahrer war viel zu schnell. Als sich Ophelia umdrehte, war es zu spät und die Nacht für immer in ihr viel zu kurzes Leben gestürzt.
Gero Grambek liebte das Essen, liebte das Kino, liebte das Theater, die Malerei, die Mode, er liebte die Architektur und das Reisen. Genau genommen liebte Gero das Leben an sich. Dabei war seine Liebe so unerschöpflich, dass er genug davon besaß, um sogar dem Tod etwas davon abzugeben. Er war Vollblutbestatter und erwies den Verstorbenen mit geradezu künstlerischem Eifer die letzte Ehre.
Als Gesa in das Beerdigungsinstitut hineinstolperte, wandte Gero sich um. Selbst kurz vor ihrem sechzigsten Geburtstag hatten die Grambek-Zwillinge Falten und Fältchen an exakt den gleichen Stellen und Zipperlein in denselben Körperregionen. Gesa und Gero waren beide mittelgroß und mittelschwer. Sie hatten welliges rötlich braunes, mittellanges Haar sowie helle Haut, auf der von Juni bis September Sommersprossen blühten. Ihre Gesichter waren rund, die Augen außerordentlich blau.
Als Gero Grambek seine Schwester erblickte, gefror seine Miene. «Was ist dir denn passiert? Du siehst aus, als wäre der Teufel hinter dir her. Ich hole den Erste-Hilfe-Kasten.» Er deutete eine Pirouette an und eilte nach hinten.
Konsterniert schaute Gesa an sich herab. Sie hatte nach ihrem Sturz gar nicht bemerkt, dass ihre Strumpfhose zerrissen war und ihr leicht das Knie blutete.
Schnell kam Gero zurück, eine Schere in die Höhe haltend, als würde er mit aufgerichtetem Schwert im Dänisch-Lübischen-Krieg den Wendischen Städtebund verteidigen. «Hinsetzen und stark sein. Die Strumpfhose kannst du vergessen.» Er klappte den Deckel des Erste-Hilfe-Kastens auf und entnahm ihm einen sterilen Wundverband sowie eine Rolle Pflaster.
«Mein Tag war entsetzlich.»
«Das ist unübersehbar. Aber du kannst mir hier nicht den Laden vollbluten. Wie sähe das aus? Immobilien unter Tage ist ein Ort der Ästhetik, ein Raum des Geschmackvollen.»
Gero machte sich an die Arbeit. Kaum fünf Minuten später hatte er die Strumpfhose am Knie rund ausgeschnitten, in der Mitte des Kreises den Wundverband platziert und mit einigen Pflasterstreifen zu einer Art Stern festgeklebt.
«Jetzt einen Cappuccino.»
Die Grambek-Zwillinge verließen den Kundenbereich, der durch einen Perlenvorhang von den hinteren Räumen getrennt war. In den transparenten Regalen an der Wand waren Urnenmodelle ausgestellt. Sandsteinerne Schmuck-Urnen, quaderförmige Keramik-Urnen, bauchige Glas-Urnen, sechseckige Porzellan-Urnen, handgeschöpfte Zuckerrohr-Urnen, tulpenförmige Urnen aus nachwachsenden Rohstoffen. Rechts neben dem Vorhang, vor den Blicken der Kunden verborgen, hatte Gero seinen hypermodernen Elite-Kaffee-Vollautomaten aufgebaut, über dessen Preis er sich beharrlich ausschwieg.
Mit der professionellen Kunstfertigkeit eines Baristas, der durch Zufall in ein Bestattungsinstitut geraten war, bereitete Gero den Kaffee zu. «Voilà, Cappuccino, Mademoiselle», sagte er, reichte seiner Schwester die Tasse mit dem beeindruckend arrangierten Milchschaum und setzte sich mit ihr auf das Ledersofa im Verkaufsraum.
«Ich höre.»
«Vor dem Buchladen hingefallen, Knie verletzt, Strumpfhose kaputt. Muss neue Versicherungskunden finden, sonst arbeitslos. Wer will mich in meinem Alter? Penningbüttel kann mich nicht länger beschäftigen, weil Gürtel enger …»
«Nun mal der Reihe nach», unterbrach sie Gero. «Ich fürchte, ich komme nicht mit.»
Mit beiden Händen umfasste Gesa die Cappuccino-Tasse und pustete vorsichtig auf den Schaum. Dann begann sie, chronologisch von den Ereignissen der letzten beiden Tage zu berichten. Gero hörte stumm zu und nickte zuweilen. Er war es gewohnt, auf diesem Ledersofa der Verzweiflung gegenüberzusitzen.
«Oje, das klingt nicht gut», sagte er schließlich. «Aber es gibt eine Lösung, es gibt immer eine Lösung.»
«Und welche?»
«Da muss ich nachdenken, und das kann ich am besten beim Arbeiten. Im Kühlraum liegt Frau van der Brügge, die will ich bis zur Tagesschau noch fertig machen. Sie war Schauspielerin am Stadttheater.» Geros Augen leuchteten. «Die van der Brügge will als Minna von Barnhelm beigesetzt werden. Wenn ich jetzt nicht anfange, muss ich die ganze Nacht durcharbeiten.»
«Ich würde gerne noch ein wenig bleiben, wenn es in Ordnung ist.»
Gero nickte.
«Und kein Wort zu den Eltern, ich will sie nicht unnötig beunruhigen.»
«Alles klar.» Gero verschwand durch den Perlenvorhang.