Kastanienjahre - Anja Baumheier - E-Book
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Kastanienjahre E-Book

Anja Baumheier

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Beschreibung

Ein anderes Land. Ein anderes Leben. Zwei Orte gibt es, die für Elise Heimat bedeuten: Paris, wo sie seit über 20 Jahren eine kleine Boutique im Montmartre führt; und Peleroich, das verschlafene Dorf an der mecklenburgischen Ostseeküste. Hier wächst sie in den 60er Jahren auf, hier lernt sie Henning und Jakob kennen, die beiden Lieben ihres Lebens. Henning, der Fels in der Brandung, den sie seit Kindertagen kennt, Jakob, der Frauenschwarm, der Künstler werden will und wie sie davon träumt, einmal den Eiffelturm zu sehen. Eine fatale Dreiecksbeziehung voller Geheimnisse - bis Jakob eines Tages spurlos aus Elises Leben verschwindet. Als Elise nach vielen Jahren in ihr Heimatdorf zurückkehrt, taucht sie tief ein in ihre eigene Vergangenheit und in die Geschichte von Peleroich, wo ihre Eltern sich kurz nach Gründung der DDR kennenlernen… Anja Baumheier erzählt von einem malerischen Dorf und dem Schicksal seiner Bewohner zwischen Gründung der DDR, Mauerbau und Nach-Wendezeit.

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Anja Baumheier

Kastanienjahre

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein anderes Land. Ein anderes Leben.

 

Zwei Orte gibt es, die für Elise Heimat bedeuten: Paris, wo sie seit über 20 Jahren eine kleine Boutique im Montmartre führt; und Peleroich, das verschlafene Dorf an der mecklenburgischen Ostseeküste. Hier wächst sie in den 60er Jahren auf, hier lernt sie Henning und Jakob kennen, die beiden Lieben ihres Lebens. Henning, der Fels in der Brandung, den sie seit Kindertagen kennt, Jakob, der Frauenschwarm, der Künstler werden will und wie sie davon träumt, einmal den Eiffelturm zu sehen. Eine fatale Dreiecksbeziehung voller Geheimnisse – bis Jakob eines Tages spurlos aus Elises Leben verschwindet.

Als Elise nach vielen Jahren in ihr Heimatdorf zurückkehrt, taucht sie tief ein in ihre eigene Vergangenheit und in die Geschichte von Peleroich, wo ihre Eltern sich kurz nach Gründung der DDR kennenlernten …

 

Anja Baumheier erzählt von einem malerischen Dorf und dem Schicksal seiner Bewohner zwischen Gründung der DDR, Mauerbau und Nach-Wendezeit.

Dramatis Personae

Familie Petersen

Karl

Revierförster

Christa

Unterstufenlehrerin

Elise

Schneiderin, Tochter von Karl & Christa

Isolde

Bäuerin, Karls Mutter

Familie Wannemaker

Dora

Gastwirtin

Friedrich

Gastwirt

Henning

Polizist, Sohn von Friedrich & Dora

Familie Jaworski

Otto

Pfarrer

Magdalena Jaworski

Künstlerin, Ottos Tochter

Jakob

Künstler, Magdalenas Sohn

Willi & Agathe Minkler

Konsumbetreiber, Christas Eltern

Bert Struck

Bäcker

Franz Ossenbeck

Dorfschullehrer

Ludwig Lehmann

Bürgermeister

Frieda Kraft

Fleischerin

Marina Herz

Freundin von Elise

Franziska Wannemaker

Tochter von Henning & Elise

Tarek Kebir

Freund von Elise

Selma Lelier Blumenthal

Freundin von Elise

Kapitel 1

Paris, 2018

«Madame Petersen, haben Sie einen Termin?»

«Nein, aber es ist dringend. Ich warte auch, das ist kein Problem.»

«Sie haben Glück, es ist noch nicht so viel los.» Die beleibte Sprechstundenhilfe lächelte so sanft, dass Elise die Sorgen um ihre Gesundheit für einen Moment vergaß.

Der Zwischenfall gestern Abend hatte sie so erschreckt, dass sie entschieden hatte, unverzüglich ihren Hausarzt Dr. Paillard aufzusuchen. Sie hatte gerade an dem Entwurf für ein neues Kleid gearbeitet, als sie auf dem linken Auge plötzlich nicht mehr richtig sehen konnte. Anfangs dachte sie, sie wäre nur müde, und rieb sich über das Lid, doch das half nicht. Mehr als einen verschwommenen Umriss konnte sie von ihren Skizzen nicht mehr erkennen. Es war, als läge ein Schleier auf ihrem Auge. Dann bekam sie furchtbare Kopfschmerzen, ihr wurde schlecht, sie musste sich übergeben und legte sich zitternd ins Bett.

«Ich geh nur schnell auf die Toilette», sagte Elise zur Sprechstundenhilfe.

«Lassen Sie sich ruhig Zeit.»

In dem beige gefliesten Toilettenraum roch es angenehm nach den Sandelholzduftstäbchen, die in einem hohen Glas auf der Ablage über dem Waschbecken standen. Elise sah in den ovalen Spiegel und begutachtete ihr Gesicht, während sie kaltes Wasser über die Hände laufen ließ. Die Falten um ihren Mund waren tiefer als gewöhnlich, und sie fand, dass sie Ähnlichkeit mit einer Marionette hatte. Ihre blauen Augen waren trüb, fast wässrig und hatten beinahe dieselbe Farbe wie der herausgewachsene Haaransatz ihres kinnlangen Bobs. Ich muss unbedingt zum Friseur, dachte sie und hoffte, der Arzt würde eine Erklärung für den Anfall von gestern finden. Sie straffte die Schultern, dann ging sie zurück ins Wartezimmer.

«Madame, der Doktor hat jetzt Zeit für Sie.»

Elise folgte der Sprechstundenhilfe den Flur hinunter, an dessen ockerfarbenen Wänden Reproduktionen von Gemälden von Monet und Degas hingen. Auch das Sprechzimmer war in warmen Farben gehalten. Über der Behandlungsliege befanden sich alte anatomische Abbildungen, in einem Glasschrank lagen Medikamente, Verbände, Tupfer und Spritzen. Dr. Paillard saß hinter seinem reichverzierten Nussbaumschreibtisch und sah Elise durch seine randlose Brille freundlich entgegen.

«Madame Petersen, ich würde ja gerne sagen, schön, Sie zu sehen, aber bei meinem Berufsstand ist das ein Satz, der nicht so recht passen will, n’est-ce pas?» Der Arzt strich seinen karierten Pullunder glatt und wies auf einen Stuhl. «Was führt Sie zu mir?»

«Gestern habe ich plötzlich nicht mehr richtig sehen können, alles war verschwommen, und mir ist ganz schlecht geworden, ich musste mich übergeben.»

Monsieur Paillard machte sich Notizen. «Bitte beschreiben Sie das näher.»

«Es war, als würde ich auf dem linken Auge die Ränder nicht mehr erkennen können. Wie eine Art Tunnelblick. Und sobald ich die Augen geschlossen habe, sah ich rote Spiralen und gelbe Blitze.»

«Hatten Sie noch andere Symptome, Madame?»

«Bis auf den Schwindel und die Übelkeit nicht.» Elise blickte durch das bodentiefe Fenster nach draußen. Seltsam, heute konnte sie wieder ganz klar und deutlich sehen. Als hätte sie sich das alles nur eingebildet. Am Horizont zeichneten sich bleiern die Umrisse der Sacré-Cœur ab, deren Kuppel, das hatte Elise einmal gelesen, bei guten Wetterverhältnissen sogar von vierzig Kilometern Entfernung aus zu erkennen war.

«Das könnte ein Migräneanfall gewesen sein. Oder aber die Vorboten eines Glaukoms, des grünen Stars. Wie alt sind Sie jetzt?», fragte Dr. Paillard.

«Ich werde morgen achtundfünfzig.»

«Sind die Gesichtsfeldausfälle zum ersten Mal aufgetreten?»

«Ja.»

«Gab oder gibt es in Ihrer Familie denn Glaukomfälle?»

«Nicht, dass ich wüsste. Kann man an grünem Star erblinden?», fragte sie ängstlich.

Dr. Paillard nahm seine Brille ab, putzte sie sorgsam und setzte sie schließlich wieder auf. «Grundsätzlich schon, aber es ist zu früh, sich Sorgen zu machen. Vielleicht gibt es eine ganz harmlose Erklärung. Bon, wir müssen eine gründliche Untersuchung veranlassen. Ich werde Sie an einen Augenarzt überweisen. Ich rufe den Kollegen kurz an, dann müssen Sie nicht länger als nötig auf einen Termin warten. Das haben wir gleich.» Er nahm sein schnurloses Telefon und verließ das Sprechzimmer.

Elise faltete die Hände im Schoß und hörte Dr. Paillard im Flur sprechen. Wie sollte es nur weitergehen, wenn sich der Verdacht des Arztes bestätigte? Wie sollte sie leben, wie arbeiten, wenn die Gefahr bestand, dass sie ihr Augenlicht verlor? Mit der Boutique wäre alles aus und vorbei.

«Madame?»

Erschrocken schaute Elise auf. Sie hatte nicht bemerkt, dass Dr. Paillard ins Sprechzimmer zurückgekommen war. «Entschuldigen Sie, ich war mit den Gedanken woanders.»

«Ich habe für nächste Woche Mittwoch um fünfzehn Uhr einen Termin beim Augenarzt vereinbart. Passt das?»

Stumm nickte Elise.

«Lassen Sie sich vorne die Karte geben.» Dr. Paillard setzte sich und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte. «Ne vous inquiétez pas, Madame Petersen, machen Sie sich keine Sorgen. Selbst wenn sich der Verdacht bestätigen sollte, man kann den Star behandeln. Wichtig ist, dass Sie jetzt rasch von einem Spezialisten untersucht werden. Sollten sich die Symptome vor Ihrem Termin verstärken, begeben Sie sich bitte umgehend in die Notaufnahme.»

Elise fehlte die Kraft nachzufragen, was genau das zu bedeuten hatte, stattdessen nickte sie nur beklommen.

«Und wegen Ihrer Boutique, nun, es gibt immer eine Lösung.»

«Woher wissen Sie, dass ich an die Boutique gedacht habe?»

Lächelnd lehnte sich Dr. Paillard in seinem Stuhl zurück. «Madame, ich habe in meiner Praxis vielleicht nicht so viel von diesem ganzen Technik-Schnickschnack, der heutzutage üblich ist. Aber als Sohn einer Arzt-Familie», er tippte zuerst auf den Schreibtisch und danach auf sein Herz, «kann ich eins ganz besonders gut: fühlen, was meine Patienten bedrückt.»

 

Als sie die Praxis verließ, war die Wolkendecke aufgebrochen, vereinzelt spiegelten sich Sonnenstrahlen in den Fenstern der Häuser. Aus einer Boulangerie kam der Duft frisch gebackener Croissants. Elise sah auf ihre Armbanduhr. Es war gerade mal zehn. Sie entschied, die Einkäufe für ihr bevorstehendes Geburtstagsessen mit Marina zu erledigen. Bis ihre Freundin ankam, blieb ihr noch ausreichend Zeit.

Elise fröstelte und knöpfte ihren Mantel zu. Sie liebte den Winter in Paris. Im Dezember vor zwanzig Jahren war sie in die französische Hauptstadt gezogen, und seitdem war allein das winterliche Paris für sie das echte. Während im Sommer Horden von Touristen kamen, die Pariser aus der Stadt flohen und endlose Blechschlangen die Autobahnen verstopften, war der Reiz der Stadt im Winter unverstellt.

Elise wickelte ihren Schal enger, lief die Rue Norvin entlang, vorbei an Galerien und Restaurants, und bog schließlich auf die Place du Tertre. Das gleichmäßige Klappern ihrer Absätze auf dem Kopfsteinpflaster beruhigte sie und ließ die Hoffnung aufkommen, dass Dr. Paillard recht behalten würde. Ne vous inquiétez pas, immer wieder musste sie an den Satz des Arztes denken. In diesem Moment drangen die gedämpften Takte einer Klaviersonate von Beethoven aus einem Hochparterre-Fenster. Für Elise. Bitte lass das ein gutes Omen sein, dachte sie und lächelte bei der Erinnerung an ihren Vater, der immer an gute Omen geglaubt hatte.

 

Auf dem Platz bauten die Künstler gerade ihre Stände, Staffeleien und Hocker auf. Sie legten Farbpaletten und Pinsel bereit, vor einem Café pickten Tauben an einem halben Pain au Chocolat. Elise steuerte auf die Brasserie an der linken Seite des Platzes zu und drückte die Tür des Le Phénix auf. Der Raum war leer, die Stühle standen noch auf den runden Tischen, es roch nach Kaffee, im Radio lief leise Jazzmusik. Tarek stand hinter dem Tresen und spülte Gläser. Im Hosenbund unter seinem ausladenden Bauch steckte ein Geschirrtuch.

«Meine Sonne, wie geht es dir?»

Elise überlegte kurz, ob sie Tarek von ihrem Besuch bei Dr. Paillard erzählen sollte, ließ es aber bleiben. Er sollte sich nicht unnötig Sorgen machen. «Ganz gut. Heute kommt Marina, meine Freundin aus Deutschland, erinnerst du dich? Vorher muss ich noch ein paar Erledigungen machen.»

«Aber für einen Petit Noir ist immer Zeit.» Tarek machte Elise einen Espresso und schob ihr die kleine grüne Tasse über den Tresen. «Und was habt ihr beiden Hübschen so vor?»

«Reden, hauptsächlich. Und natürlich will Marina auch die Stadt sehen. Und ich werde kochen. Gratin Dauphonois, Poulet au Four, dazu Haricots au Jambon. Vielleicht möchtest du morgen dazukommen? Allein werden wir mit all dem Essen sowieso nicht fertig.»

«Gerne, danke», strahlte Tarek. «Du kochst ja fast französischer als jeder Franzose.»

«Das sagt der Richtige.» Elise setzte die Espressotasse an die Lippen und zwinkerte Tarek zu. Sie war froh, dass sie ihn hatte. Mit den Jahren war er ihr bester Freund, ihr engster Vertrauter geworden.

«Algier wird immer meine Heimat bleiben, aber es stimmt, als ich damals herkam, habe ich mich wohl oder übel schnell angepasst.»

«Wir sind beide überangepasste Flüchtlinge, wenn man so will. Aber sag mal: Ist dir nicht aufgefallen, dass ich kein Dessert für mein Menü habe?»

Tarek strich sich über seine grauen Koteletten. «Lass mich raten, meine Tarte aux Pommes?»

«Die beste in ganz Paris.»

«Ich pack dir gleich ein bisschen mehr ein.» Grinsend ging Tarek zur Kühlvitrine und schnitt ein großes Stück Apfelkuchen ab. «Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Weißt du, warum alle so verrückt nach meiner Tarte sind? Es ist Jujube statt Zucker drin.»

«Was ist da drin?» Elise stellte die Kaffeetasse zurück auf den Tresen.

«Jujube-Honig, aus Algerien. Die Anpassung an ein fremdes Land ist nicht das Problem. Eher, sich ein bisschen Heimat zu erhalten und sie in das neue Land mitzunehmen. Das habe ich mit meinem Apfelkuchen geschafft, still und heimlich.» Tarek lachte. «Und weißt du, was man bei uns sagt: Kannst du kein Stern am Himmel sein, sei eine Lampe im Haus.»

 

Als Elise zwei Stunden später mit zwei vollen Einkaufstaschen in die Rue Chappe bog, sah sie auf der linken Seite das Haus aus weißem Sandstein, in dem sich im Parterre ihre Boutique Camaïeu befand. Vier Etagen darüber, direkt unter dem Dach, lag ihre Wohnung.

Vor dem Hauseingang stand eine Frau, neben ihr ein Koffer. Sie hatte Elise den Rücken zugewandt und studierte die Auslagen im Schaufenster. Elise blieb stehen. Das war doch … Langsam drehte sich die Frau um. Tatsächlich. Elise lief auf Marina zu und fiel ihr um den Hals. Beim Anblick ihrer Freundin waren ihre Sorgen mit einem Schlag vergessen. «Was machst du denn schon hier? Ich dachte, du kommst erst heute Nachmittag an. Ich muss doch noch so viel vorbereiten, und ach …»

Behutsam legte Marina Elise den Zeigefinger auf die Lippen. «Jetzt hol erst mal Luft.»

Elise atmete kurz ein und aus. «Besser?», fragte sie, betrat den Hausflur und drehte sich zu Marina um.

«Ist alles in Ordnung? Du siehst nachdenklich aus.» Sie schloss den Briefkasten auf und nahm die Post heraus. Zwei Werbezeitschriften und ein Brief, die sie in ihre Handtasche steckte. Dann wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu.

«Alles gut. Ich bin nur ein bisschen müde.»

Elise drückte Marina erneut an sich. «Ich freue mich so, dass du da bist. Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen. Ich habe ein französisches Menü geplant und uns Tareks Apfelkuchen besorgt. Und heute Abend plaudern wir über die alten Zeiten.»

«Alte Zeiten, das trifft es besser, als du glaubst.» Marina griff in ihre Tasche und zog eine Zeitung heraus. «Schau mal.» Sie faltete die Zeitung auseinander und reichte sie Elise.

Als Elise auf das Titelfoto schaute, dachte sie im ersten Moment, ihre Augen würden ihr wieder einen Streich spielen. Doch auf dem Foto war unverkennbar der verlassene Dorfplatz von Peleroich zu sehen, von Vandalismus zerstört, schäbig und verwahrlost. Über dem Foto stand in großen, roten Buchstaben: Vergessene Orte im Osten – Findet sich ein Investor oder bleibt am Ende nur die Abrissbirne? In zwei Wochen fällt die Entscheidung.

Kapitel 2

Peleroich, 1950

Franz Ossenbeck ließ seinen Blick zufrieden über die Klasse schweifen. Bereits in der vorletzten Woche war er von der Kreisstadt Sprevelsrich nach Peleroich in die Wohnung hinter der Bäckerei gezogen, um die Leitung der Dorfschule zu übernehmen. Zwar stapelten sich noch immer die Bücherkisten im Wohnzimmer, er musste seine Schätze wirklich schleunigst ins Regal räumen, aber davon abgesehen fühlte er sich bereits sehr wohl. Die Peleroicher hatten seine Ankunft mit großem Wohlwollen aufgenommen. Der Bürgermeister persönlich hatte ihn sogar zu einem Glas Bier und einem Teller Bratkartoffeln in den Kastanienhof eingeladen und betont, wie froh er war, dass der Schulbetrieb wiederaufgenommen wurde. Endlich konnten die Kinder wieder hier in Peleroich unterrichtet werden.

Das Dorf lag gut zehn Kilometer von Sprevelsrich entfernt. Um die Kirche herum befanden sich der Gasthof, die Bäckerei, die Fleischerei, der Konsum, die Schule und das Kulturhaus. Der Dorfplatz war ein beliebter Treffpunkt, und Franz fand stets jemanden, mit dem er ein Schwätzchen halten konnte. Umgeben war das Dorf von der unberührten Natur des Sprevelsricher Forstes und der nahen Ostsee. Diese Beschaulichkeit und Ruhe bildeten einen wunderbaren Kontrast zu dem geschäftigen Treiben in der Kreisstadt, für die sich Franz langsam zu alt fühlte. Immerhin war er in diesem Jahr zweiundsechzig geworden. In Peleroich schien die Zeit stehengeblieben zu sein, und das war genau das, wonach sich Franz gesehnt hatte. Und sollte er doch einmal Sehnsucht nach der Stadt bekommen, so konnte er jederzeit mit dem Bus nach Sprevelsrich fahren.

Durch das geöffnete Fenster trug eine sanfte Brise den Geruch von salziger Ostseeluft, geschmortem Kohl und gedüngten Feldern in den holzgetäfelten Klassenraum. So kurz nach Kriegsende fehlte es an allem: Lebensmitteln, Kleidung, Papier und Schreibgeräten. Aber Franz war froh, dass er beim Wiederaufbau helfen konnte, wenngleich noch viel zu tun blieb. Er hatte am Morgen seinen besten Anzug aus dem Schrank geholt: Ein Modell aus grauem Cord, das mit den Jahren zwar fadenscheinig geworden war, sich aber noch immer sehen lassen konnte.

Fünfzehn Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren, die alle zusammen in einer Klasse unterrichtet wurden, saßen vor ihm in den Bankreihen aus Kirschholz. Sie hatten ihre Unterarme auf die Tische gelegt und blickten ihn erwartungsvoll an.

«Dann wollen wir mal. Ad fontes, zu den Quellen. Mein Name ist Franz Ossenbeck, und ich werde euch ab heute unterrichten. Vorletzte Woche bin ich im schönen Peleroich angekommen, aber von eurem Wahrzeichen wusste ich natürlich schon vorher. Wer von euch kennt denn die Geschichte von der imposanten Kastanie auf dem Dorfplatz?»

Ein schlaksiger Junge mit hellbraunen Haaren in der ersten Reihe meldete sich. «Ist das nicht die Goethe-Kastanie?»

«Wie heißt du, mein Kind, und wie alt bist du?», fragte Franz und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

«Ich bin zwölf Jahre alt und heiße Karl Petersen.»

Franz machte einen Schritt auf Karl zu. «Goethe, nun, das ist beinahe richtig.»

Karl lief rot an und nestelte an den Ärmelaufschlägen seines kragenlosen Hemdes.

«Alle vor dem Fenster Aufstellung nehmen und nach draußen schauen. Jetzt gibt es eine Stunde Nachhilfe in Peleroicher Kultur.»

Die Schüler, froh, sich endlich bewegen zu dürfen, stürmten zum Fenster und drückten ihre Nasen gegen die Scheibe.

Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen stellte sich Franz zu seiner neuen Klasse. «Zuerst wollen wir uns die Kirche ansehen, erbaut im Stil der nordischen Backsteingotik. Durch den Krieg wurde sie arg in Mitleidenschaft gezogen.» Franz hielt inne und freute sich darüber, wie aufmerksam die Kinder ihm zuhörten. Er war so glücklich darüber, endlich wieder unterrichten zu dürfen, dass die Worte einfach aus ihm heraussprudelten. «Seht ihr die terrakottafarbenen Ziegel? Wer weiß, warum die mit der Zeit so verblichen sind?»

Ein Mädchen zeigte auf. Als Franz sie aufforderte zu antworten, legte sie ihren langen, geflochtenen Zopf über die Schulter und lächelte, wobei eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen zum Vorschein kam.

«Das kommt von der salzigen Ostseeluft, man nennt es Korrosion.»

«Donnerwetter, das ist korrekt. Wie heißt denn unsere schlaue Korrosionsexpertin?»

«Christa.»

«Und wie weiter?»

«Christa Minkler.»

Franz nickte zufrieden. «Jetzt zu der Kastanie. Nun, Goethe war es nicht, sondern Thomas Mann. Sagt euch der Name etwas?»

Wieder meldete sich Christa. «Das ist ein Schriftsteller.»

«Korrekt. Man erzählt sich, dass der Lübecker Thomas Mann einmal auf der Durchreise in Peleroich gewesen sein soll und auf der Holzbank neben der Kirche gesessen habe. Die Eindrücke hier waren ihm Inspirationsquelle für seinen berühmten Roman Der Zauberberg, auch wenn das nie bestätigt werden konnte. Seither nennen die Peleroicher jedenfalls diesen Baum auch Thomas-Mann-Kastanie. Die Kastanie, lateinisch Castanea, gehört zur Familie der Buchengewächse und …»

Jetzt wurde es unruhig in der Klasse. Ein Mädchen, das ein viel zu weites, verwaschenes Kleid trug, begann, an ihren Fingernägeln zu kauen. Neben Karl stand ein Junge, der gähnte und dem immer wieder die Augen zufielen. Franz hörte das Knurren eines Magens.

«Nun ja, so viel für den Moment. Jetzt wollen wir einmal sehen, was ihr mir für Geschichten über euch erzählen könnt. Zurück auf die Plätze.»

Als alle Kinder saßen, schob Franz seine Brille auf den Kopf und erteilte Karl das Wort.

«Ich lebe mit meiner Mutter auf dem Hof beim Sprevelsricher Forst. Wir haben zehn Kühe und acht Hektar Land, Getreide, Kartoffeln und Rüben. Das ist viel Arbeit, weil mein Vater, also, er ist leider, er ist nach dem Krieg nicht mehr …»

Franz blieb am Tisch des Jungen stehen und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Dann holte er ein Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich. «Gräm dich nicht, mein Junge. Du bist nicht der Einzige, dem der Krieg einen lieben Menschen genommen hat. Weißt du, was dein Goethe gesagt hat?»

«Nein», presste Karl fast tonlos hervor.

«Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.» Franz’ Stimme war belegt, denn Karl erinnerte ihn an seinen Sohn. August hatte er geheißen und war mit zwanzig Jahren an Masern gestorben. Schnell zwang Franz seine Gedanken in eine andere Richtung, trat zurück an sein Pult, schlug das Klassenbuch auf, und während er mit einem Lineal eine Tabelle für die Namensliste zeichnete, meldete sich Christa. «Darf ich auch etwas über mich erzählen?»

«Selbstverständlich, Fräulein Korrosionsexpertin.»

Freudig sprang das Mädchen auf und blieb dabei mit ihrem gepunkteten Rock an der Holzbank hängen. Das Ratschen des zerreißenden Stoffes ließ die anderen Schüler aufblicken. Christa stand wie versteinert da und wandte den Kopf zum Fenster. Vorsichtig fuhr sie mit der Hand am Stoff ihres Rocks entlang. Franz ahnte, dass sie mit den Tränen kämpfte.

Als sie ein faustgroßes Loch auf Höhe ihres Oberschenkels ertastete, begann sie tatsächlich zu weinen. Tränen liefen ihre Wangen hinab, und sie schlug die Hände vor das Gesicht.

«So ein Pech aber auch! Was machen wir denn jetzt mit dir?» Gerade als Franz sich erhob, um Christa zu trösten, sprang Karl auf und ging, ohne um Erlaubnis zu bitten, zur Garderobe.

«Sie kann meine Jacke haben. Die ist lang genug.»

«Eine wunderbare Idee, sehr gut, so machen wir das.»

Behutsam legte Karl seine Jacke um Christas Schultern und lächelte sie schüchtern an.

Franz konnte den Blick nicht von den beiden Kindern abwenden. Trotz der traurigen Schicksale seiner Schüler, trotz des Mangels und trotz der vielen Arbeit, die noch vor ihm lag, stimmten ihn diese aufgeweckten Kinder zuversichtlich. Und obwohl ihm Thomas Mann in literarischer Hinsicht näher stand als Goethe, fiel ihm in diesem Moment ein Zitat aus den Wahlverwandtschaften ein: Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast.

Nachdem die übrigen Schüler die Vorstellungsrunde komplettiert hatten, klappte Franz das Klassenbuch zu. «Prima, Kinder, das war es für heute. Ihr könnt nach Hause gehen. Wir sehen uns morgen in alter Frische wieder.»

Kapitel 3

Peleroich, 1952

Wie Puderzucker hatte sich der Schnee über die Felder, Ställe und Häuser gelegt. Karl saß in der Küche auf der Eckbank und blickte auf die weiße Landschaft vor dem Fenster. Er trug einen dicken Strickpullover und fror trotzdem noch. Kälte und Feuchtigkeit zogen durch die undichten Fenster und Türritzen. Es war Karls Aufgabe, jeden Morgen, bevor er in die Schule ging, den Ofen anzuheizen. Dafür lagen neben der Tür ein großer Vorrat Holzscheite, Streichhölzer und alte Ausgaben des Sprevelsricher Landboten. Auf dem Fensterbrett türmte sich der Schnee zentimeterdick, und an den Scheiben hatten sich Eisblumen gebildet, die Karl an die feine Spitzentischdecke seiner Mutter erinnerten. Die bewahrte sie in einer Schublade ihres großen Kleiderschrankes auf und holte sie nur für besondere Anlässe hervor.

Vor Karl auf dem Tisch standen ein Teller mit Haferschleim und eine Tasse mit dampfendem Tee. Gähnend stand er auf und lehnte sich mit dem Rücken an den senffarbenen Kachelofen, der vom gestrigen Abend noch ein wenig Restwärme abgab. Sein Blick fiel auf die Zeitung, die oben auf dem Stapel lag. Unter der Überschrift Wie Sie auch in diesem Winter nicht frieren müssen wurde erklärt, wie man Häuser und Wohnungen isolieren konnte. Karl überflog den Artikel. Unten angekommen, blieben seine Augen am Namen der Verfasserin hängen: Christa Wagemut. Christa, wie seine Christa. Mit einem Schlag war er hellwach und lächelte, so wie er immer lächelte, wenn er an seine Klassenkameradin denken musste. Seit er ihr damals mit seiner Jacke geholfen hatte, das Loch in ihrem Rock zu überdecken, waren sie so etwas wie Freunde geworden. Und seitdem ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Auch wenn sie sich täglich sahen und in den Pausen miteinander sprachen, hatte er sich bislang nicht getraut, sie zu fragen, ob sie nach der Schule mit ihm spazieren gehen wollte. Dass er ihren Vornamen nun in der Zeitung gelesen hatte, musste ein gutes Omen sein. Heute würde er all seinen Mut zusammennehmen.

Karl hatte sich gerade wieder an den Tisch gesetzt und blickte verträumt aus dem Fenster, als die Tür geöffnet wurde und seine Mutter die Küche betrat. Sie brachte einen Schwall kalte Luft mit in den Raum, und kaum, dass die Tür wieder zu war, verbreitete sich Kuhstallgeruch in der Küche. In der Hand hielt sie einen Korb voller Holzscheite, von ihren gelben Stiefeln tropfte Wasser, das sich auf dem Dielenboden in einer Lache sammelte. Ihre Haare waren im Nacken zu einem Knoten gebunden, einige Strähnen hatten sich gelöst und kringelten sich um den Stoffrand ihres geblümten Kopftuchs. Unter ihren graugrünen Augen mit den langen Wimpern hingen dunkle Halbmonde.

«Guten Morgen, Karl! Ich schätze, in spätestens zwei Tagen ist es so weit, und Rosi kalbt.» Gähnend stellte Isolde den Korb auf den Boden und rieb die Hände gegeneinander. «Das ist aber kalt hier.»

«Entschuldige, ich war mit den Gedanken ganz woanders.» Karl stand wieder auf, trug den Korb zum Ofen und kniete sich auf das Blech davor. Dann schürte er mit einem gusseisernen Kratzhaken die blasse Glut und legte Holzscheite nach, während sich seine Mutter auf die Küchenbank fallen ließ und mit einem lauten Seufzer Kopftuch und Handschuhe abstreifte.

«Ist alles in Ordnung?», fragte Karl.

«Ich habe gerade Täve Lürsen vom Nachbarhof getroffen. Die Regierung hat die Bildung von Genossenschaften beschlossen, das Thema ist inzwischen in aller Munde», erwiderte Isolde. «Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.»

«Was ist denn eine Genossenschaft?» Vorsichtig pustete Karl in den Ofen.

«Eine landwirtschaftliche Produktionsgemeinschaft, also eine Gruppe von Bauern. Aber wie gesagt, mir ist nicht wohl bei der Sache. Dann könnte ich den Hof nicht mehr so führen, wie ich möchte, weil ich mich an staatliche Vorgaben halten müsste.»

«Aber die können doch keinen zwingen, da mitzumachen.»

«Hoffentlich nicht.»

Karl sah in den Ofen, das Holz hatte sich bereits entzündet und knackte leise vor sich hin. Dann blickte er auf und lächelte seine Mutter an. «Heute ist mein großer Tag, das habe ich im Gefühl.»

Fragend hob Isolde die Augenbrauen.

«Heute werde ich Christa Minkler fragen. Vielleicht geht sie mit mir am Strand spazieren oder durch den Sprevelsricher Forst.»

Lächelnd zog Isolde den Teller mit dem Haferschleim zu sich heran. «Ich drücke die Daumen.»

«Danke.» Karl schloss die Ofenklappe, lehnte den Kratzhaken gegen die Kacheln, steckte die Zeitung als Glücksbringer in seinen Ranzen und gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange. Er musste sich beeilen, um zur gleichen Zeit wie Christa auf dem Dorfplatz anzukommen, wo sie in einer Viertelstunde aus der Haustür neben dem Konsum treten würde.

 

Als Karl mit klopfendem Herzen und trotz der Kälte verschwitzt auf dem Dorfplatz ankam, hörte er die durchdrehenden Reifen eines Pritschenwagens. Willi Minkler, Christas Vater, lehnte sich, eine Zigarette im Mundwinkel, aus dem Fenster und blickte missmutig auf die überfrorene Pfütze, die der Grund dafür war, dass die Räder ihren Dienst versagten. Mit seiner gescheitelten Frisur erinnerte Willi Karl immer an den Schauspieler Cary Grant.

Neben dem Pritschenwagen stand Agathe Minkler, Christas Mutter, die, perfekt geschminkt und mit einer aufwendigen Hochsteckfrisur, kopfschüttelnd sagte: «Das wird nichts, da kannst du machen, was du willst.»

Willi zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. «Das fürchte ich auch.»

Hastig streifte Karl seinen Ranzen vom Rücken, stellte ihn in den Schnee, wischte sich über die Stirn und lief zum Wagen. «Herr Minkler, kann ich helfen? Soll ich schieben?»

Willi Minkler nickte, warf die Zigarette in den Schnee, wo sie mit einem leisen Zischen erlosch, und steckte den Schlüssel zurück ins Zündschloss.

Karl stellte sich hinter das Auto, der Motor lief an, Willi trat das Gaspedal durch, Karl legte seine Hände in den Fäustlingen gegen die Stoßstange und schob aus Leibeskräften. Immer wieder rutschte er ab und musste höllisch aufpassen, nicht hinzufallen. Doch der Wagen rührte sich nicht.

Durch den morgendlichen Lärm auf dem Dorfplatz aufgeschreckt, öffnete sich gegenüber ein Fenster über dem Eingang des Kastanienhofs. Dora Wannemakers fülliger Oberkörper, der nicht so recht zu ihrem jungen Gesicht passen wollte, erschien. Die Wirtin der Gaststätte schaute nach unten und schüttelte eine Bettdecke aus. «Was ist denn das für ein Krach?», fragte sie und begann, sich die Lockenwickler aus ihren blonden Haaren zu ziehen.

«Außer dir ist das halbe Dorf schon auf den Beinen, Dora», rief Agathe.

Neben dem Konsum war Bert Struck aus der Bäckerei getreten, die kräftigen Arme bis zu den Ellbogen mit Mehlstaub überzogen. Ihm gegenüber stellte sich die Fleischerin Frieda Kraft auf die Stufen vor ihrem Geschäft. Sie war für eine Frau ungewöhnlich groß und hielt in ihrer linken Hand ein Ausbeinmesser.

«Brauchst du Hilfe, Willi?», fragte Bert.

Christas Vater schüttelte den Kopf. «Karl macht das schon!»

Willi gab erneut Gas, und wieder drückte sich Karl mit seinem ganzen Gewicht gegen die Stoßstange. Wieder tat sich nichts. Karl schüttelte den Kopf und wollte schon aufgeben und den Bäcker doch um Hilfe bitten, als Christa aus der Tür des Konsums trat.

«Noch mal», rief Willi, während er sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen klemmte.

Karl spürte Christas Blick, lächelte ihr flüchtig zu, holte tief Luft und stemmte sich unter Aufbringung seiner ganzen Kraft noch einmal gegen die Stoßstange. Der Motor heulte auf, die Räder drehten durch, dann machte der Wagen einen Satz nach vorne. Karl verlor das Gleichgewicht, fiel vornüber in den Schnee und landete auf einem Stein. Sein Knie brannte, auf seiner Hose bildete sich ein dunkler Fleck. Der Schmerz war so stark, dass Karl die Augen schloss.

«Ich hole schnell Verbandsmaterial», hörte er die Fleischerin sagen.

«Meinst du, wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen?», fragte Willi.

«Das wird schon, das ist bestimmt nur ein Kratzer», antwortete seine Frau.

Karl öffnete die Augen und sah in Christas Gesicht.

Mit einer Mischung aus Schreck und Besorgnis blickte sie ihn an. «Du machst ja Sachen. Wenn das Goethe sehen könnte, würde er sagen: Alles auf der Welt kommt auf einen gescheiten Einfall und einen festen Willen an.»

Karl schwirrte der Kopf, und er war sich nicht sicher, ob das nur an seinem Sturz lag. «Woher kannst du denn Goethe-Zitate auswendig?», wollte er wissen.

Christa zeigte auf das Fenster der Schule, hinter dem gerade das Licht angegangen war.

«Hätte ich mir denken können. Sag mal, Christa … Hast du vielleicht Lust, also, nur wenn du magst, nach der Schule mal mit mir spazieren zu gehen oder am Sonntag?»

«Gerne.» Christas Wangen röteten sich. «Aber erst einmal müssen wir dein Knie verarzten. Sonst kommen wir nicht weit.»

Sie half Karl auf und stützte ihn, während er in Richtung Bank unter der Kastanie humpelte, wo Frieda schon mit ihrem Erste-Hilfe-Köfferchen wartete.

«Ach was, Gefühle sind doch stärker als Pflaster», hörte Karl Willi Minkler murmeln, der ihm im Vorbeifahren zuzwinkerte.

Kapitel 4

Peleroich, 1953

Die Strahlen der Frühlingssonne fielen sanft durch das Blätterdach der Thomas-Mann-Kastanie, unter der Karl und Christa saßen. Die Luft war mild, und der Dorfplatz lag friedlich da.

«Zwölf, dreizehn, vierzehn.» Karl blickte sich um, zählte die Fahnen an den Fenstern und strich sich über das frischrasierte Kinn. Kurz nach seinem fünfzehnten Geburtstag war auf seiner Oberlippe endlich ein zarter Flaum zum Vorschein gekommen. Als schließlich sogar am Kinn die ersten Härchen zum Vorschein kamen, hatte Karl vergeblich versucht, sich einen Bart wachsen zu lassen. Doch die Natur wollte nicht so, wie er es sich wünschte, und seitdem rasierte er sich alle drei Tage.

«Alle bis auf Bert haben sie draußen», sagte er. «Seit Jahren jedes Mal dasselbe.»

Christa legte ihre Wange an Karls Schulter. «Ludwig wird sich um die Angelegenheit kümmern, jede Wette.»

Ludwig Lehmann, der Bürgermeister, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, aus Peleroich ein sozialistisches Vorzeigedorf zu machen. Dabei war es ihm ein besonderes Anliegen, dass sich alle nach außen hin mustergültig zeigten, erst recht an so einem wichtigen Feiertag wie dem 1. Mai. Mit dem Bäcker Bert Struck war er deshalb schon mehrfach aneinandergeraten.

«Wette angenommen. Aber ich glaube nicht, dass er es schafft, ihn umzustimmen. Und wenn ich recht behalte, darf ich dich ins Kino einladen.» Karl griff nach einem Zipfel von Christas Halstuch. «Und nach dem Film könnten wir noch einen Spaziergang am Strand oder durch den Forst machen. Was hältst du von einem Picknick unter den Windflüchtern?»

Christa lächelte und gab Karl einen Kuss. Ständig redete er von Blütenständen, vom Duft der Kiefern, dem eleganten Flug der Seeschwalben und dem Kreischen der Möwen. Er kannte jeden Stock und jeden Stein im nahe gelegenen Forst, und ganz besonders die Windflüchter am Waldrand zur Ostsee hin hatten es ihm angetan. Christa fand diese Bäume, deren Wuchs durch den Wind vom Meer her eigenartig verformt war, eher gespenstisch als hübsch, aber Karls Herz schlug nun einmal für alles, was grünte und blühte. Schon als kleiner Junge war er am liebsten im Wald gewesen, hatte sich dort versteckt, Vögel beobachtet und war auf Bäume geklettert. Zum Verdruss seiner Mutter war er jeden Tag mit harzverklebter Kleidung nach Hause gekommen. Christa konnte seine Begeisterung für die örtliche Flora und Fauna nur bedingt teilen, aber sie mochte es, wenn er so leidenschaftlich davon sprach.

«Picknick klingt gut», erwiderte sie, stand auf und zog Karl in Richtung Bäckerei, aus deren Abzug der Duft von Hefe, Mandeln und karamellisiertem Zucker auf die Straße stieg. Trotz des Feiertags sahen sie Bert durch die Fensterscheibe in der Backstube arbeiten.

Vor der Fleischerei stand Frieda Kraft und hantierte an einer Gulaschkanone, die sie wie jedes Jahr zum 1. Mai vorbereitete. Als Christas Blick auf den Bürgermeister fiel, der, ein Klemmbrett in der Hand, mit ausladenden Schritten in Richtung Bäckerei eilte, legte sie ihre Hand auf Karls Arm.

«Komm», flüsterte sie. «Jetzt werden wir sehen, wer die Wette gewinnt.»

Karl und Christa betraten die Bäckerei, die Stäbe eines Windspiels schlugen im Luftzug leise klingend gegeneinander. Gegenüber der Eingangstür befand sich eine Theke mit Apfelkuchen, Hohlhippen, Bienenstich, Mürbeteigkeksen und einer tönernen Form mit Kirschpfanne. Rechts neben der Tür zur Backstube hing ein Auslagenregal mit Broten.

Bert Struck kam aus der Backstube, sein breites Gesicht war gerötet, an seiner rechten Augenbraue klebte Puderzucker. «Karl und Christa, was für eine Freude. Was kann ich für euch tun?»

«Wir hätten gerne zwei Stück Bienenstich», sagte Karl.

«Aber gern. Zwei Mal Bienenstich für das schönste Paar im Dorf.» Zwinkernd legte Bert zwei Stück Kuchen auf eine Pappe und wickelte sie in Einschlagpapier. Christa und Karl blickten sich verlegen an, froh, dass erneut das Windspiel ertönte und es ihnen ersparte, etwas erwidern zu müssen.

Ludwig stand in der Tür, das Klemmbrett in der Hand und die Lippen fest aufeinandergepresst. «Bert! Könnte es sein, dass du etwas vergessen hast?»

Der Bäcker legte den eingeschlagenen Kuchen auf die Theke. «Weiß nicht, was du meinst.»

«Jetzt tu doch nicht so, es ist jedes Jahr dasselbe. Hast du mal einen Blick auf den Kalender geworfen?»

«Sicher. 1. Mai.»

«Du hast wieder nicht geflaggt.» Ludwig wedelte mit seinem Klemmbrett in der Luft, als wäre es eine Fahne, die im Wind flatterte.

«Macht siebzig Pfennige.» Bert schob Karl den Bienenstich hin, nahm das Geld entgegen und ließ die Münzen in die Kasse fallen.

«Ich bitte dich, wenigstens in diesem Jahr. Du bist der Einzige, der keine Fahne rausgehängt hat.»

Rasch drehte sich Bert zur Backstube. «Ludwig, ich muss wieder, nicht, dass mir noch was anbrennt.»

«Bitte, nur dieses eine Mal. Es ist hoher Besuch angekündigt.»

Zögernd drehte Bert sich wieder um. «Ach so? Wer kommt denn?»

Der Bürgermeister streckte den Rücken durch, hob das Kinn und flüsterte ehrfurchtsvoll: «Die Kreisleitung meint, dass Genosse Ulbricht kommt, wenn es sein Zeitplan zulässt.»

In diesem Moment klingelte es in der Backstube.

«Ich muss jetzt wirklich.» Bert hob bedauernd die Schultern.

«Warte!» Verzweifelt wendete Ludwig sich an Karl und Christa. «Nun helft mir doch, Kinder!»

«Das ist ja spannend.» Karl griff nach dem Kuchenpaket. «Aber muss der nicht in der Hauptstadt sein?»

«Nur vormittags, danach will er vorbeikommen. Wahrscheinlich ist ihm zu Ohren gekommen, dass hier alles vorbildlich läuft, und er will sich davon selbst ein Bild machen. Genosse Ulbricht in Peleroich, das ist doch eine Sensation.»

«Aha.» Bert klopfte sich Mehlstaub von der Hose.

«Und?», fragte Ludwig.

«Ich weiß nicht.»

«Jetzt zier dich doch nicht so. Häng die Fahne raus. Was macht das denn sonst für einen Eindruck? Andernfalls … müsste ich melden, dass du an einem freien Tag deinen Backofen anhast und sogar Kuchen verkaufst.»

Bert schnaubte und blickte zu Karl und Christa, so als wolle er sich entschuldigen. «Na gut, wenn es unserem Dorf hilft, will ich mal nicht so sein.»

«Ich glaube, ich muss jetzt eine Runde Kino spendieren.» Christa lachte und folgte Karl zur Tür hinaus.

«Bert, ich könnte dich knutschen.» Ludwig spitzte die Lippen.

Der Bäcker hob abwehrend die Hände. «Lass mal. Ich pack dir lieber ein bisschen Bienenstich ein, denn ein leerer Magen demonstriert nicht gern.»

 

Die Maiabschlusskundgebung fand auf dem Rondell vor dem Ernst-Thälmann-Kulturhaus statt, der Schriftzug leuchtete rot in der grellen Sonne, die in diesem Jahr bereits für ungewöhnlich hohe Temperaturen sorgte. Die Kapelle der Freiwilligen Feuerwehr spielte die Nationalhymne und marschierte über das Kopfsteinpflaster, vorbei an der Fleischerei, am Kastanienhof, vorbei an der Schule, der Kirche und dem Konsum. Neben der Tür der Bäckerei schaukelte die DDR-Fahne im Wind. Der Lehrer Franz Ossenbeck lief vorneweg und schwang einen Taktstab. Etwa drei Dutzend Peleroicher hatten im Halbkreis Aufstellung genommen, sie trugen ihre beste Kleidung und beschatteten mit den Händen ihre Augen, um besser sehen zu können.

Anerkennend schaute Willi Minkler zu seiner Frau Agathe, die wie gewöhnlich aus der Menge hervorstach. Sie sah in ihrem blauen Samtkleid und den farblich passenden Spangenschuhen aus, als hätte sie einen Besuch in der Oper geplant. Er hingegen trug nur ein kariertes Hemd, seine Haare allerdings waren akkurat gescheitelt.

Otto Jaworski, der leicht untersetzte Pfarrer mit rotblondem Bart und Sommersprossen, stellte sich zu den beiden und schüttelte den Kopf. «Auferstanden aus Ruinen … Wenn ich mir den Zustand meiner Kirche anschaue, finde ich, da ist gar nichts aus Ruinen auferstanden. Ich höre eher die Posaunen von Jericho.»

«Warte nur ab, bis sie Bau auf, bau auf spielen, dann wird es wirklich makaber», lachte Willi.

«Pst, nicht so laut.» Agathe legte einen Finger an die Lippen. «Wenn Ludwig das hört!»

Doch der Bürgermeister war zu beschäftigt mit seiner offiziellen Funktion, um Gespräche der Dorfbewohner hören zu können. Mit einem andächtigen Gesichtsausdruck stieg er auf eine umgedrehte Gemüsekiste und räusperte sich. «Liebe Bürger, leider hat es mit dem Besuch aus der Hauptstadt nicht geklappt. Genosse Ulbricht hatte fest vor, uns einen Besuch abzustatten, war jedoch kurzfristig verhindert.»

Ein mürrisches Raunen ging durch die Menge. Aber der Bürgermeister blickte durch die aschenbecherdicken Brillengläser weiter feierlich in die Runde. «Dennoch kann ich verkünden, wie stolz ich darauf bin, dass alle Peleroicher mit solcher Inbrunst an den Feierlichkeiten zum Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse teilnehmen.»

Verhaltener Applaus war zu hören.

«Ein schönes Bild mit all den Fahnen hier, und ich begrüße ganz herzlich die Pioniere, die Vertreter der FDJ sowie die Arbeiter und Bauern. Unsere Republik, unser Peleroich hat sich schöngemacht.»

Der Lehrer schwang seinen Taktstab, die Kapelle spielte einen Tusch.

«Die DDR, erwachsen aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges, ist heute ein blühendes Land.»

Der Pfarrer schüttelte hustend den Kopf.

«Die Werte und die Lebenskraft unseres Landes und die Überbietung der anspruchsvollen Aufgaben sind in unserem schönen Peleroich schon weit gediehen.»

«Na ja.» Willi sah durch die Fensterscheibe nachdenklich auf die leeren Konsumregale.

Agathe drückte seine Hand und flüsterte: «Jetzt sei schon ruhig, das klären wir besser nicht in der Öffentlichkeit.»

«Aber, liebe Peleroicher, es liegt noch ein weiter Weg vor uns, da dürfen wir uns nichts vormachen, und, das möchte ich betonen, wir müssen alle mit anpacken. Denn wie sagte schon Lenin: Die Stärke der Kette wird durch das schwächste Glied bestimmt. Und nun lasst uns feiern!»

Die Kapelle spielte einen letzten Tusch, Ludwig stieg von der Gemüsekiste und erklärte die Kundgebung für beendet, woraufhin die versammelte Dorfgemeinschaft zu Frieda und ihrer Gulaschkanone strömte, um bei Erbsensuppe mit Speck und einem Glas Bier den informellen Teil der Feier zu beginnen.

 

Friedrich Wannemaker ging in die Hocke, legte die Hände unter das Bierfass, hob es mit einem Ruck hoch und stellte es zur Seite. Auf dem Holzboden im Keller des Kastanienhofs standen ein Dutzend dickbauchige Glasballons, in denen Wannemakers selbstgekelterter Apfelwein lagerte. Friedrichs verschwitztes, hochrotes Gesicht spiegelte sich in ihnen. Dass er zusammen mit seiner Frau Dora den Kastanienhof bewirtete, war einem unglücklichen Ereignis geschuldet. Der Vorbesitzer war im vorletzten Kriegswinter an der Front gewesen und nicht zurückgekehrt. Zuerst hatte Friedrich den Betrieb nur sporadisch wiederaufgenommen, dabei mit seiner warmen, herzlichen Art aber so viel Zuspruch gefunden, dass er bald täglich hinter dem Tresen und in der Küche des Gasthofs stand. Seine Bratkartoffeln waren in Peleroich schon jetzt legendär, und wann immer es etwas zu feiern gab, fanden sich die Dorfbewohner im Kastanienhof ein.

«So, Junge. Jetzt das Neue. Es wird Zeit, dass du lernst, wie man einen Bierkopf wechselt.» Friedrich klopfte Karl aufmunternd auf die Schulter.

Der wuchtete das Bierfass unter das Zulaufventil, setzte den Zapfkopf auf den Deckel und drückte ihn nach unten.

«Nicht übel. Wenn du willst, kannst du bei mir anfangen. Dein Taschengeld ist wahrscheinlich nicht so üppig, und in deinem Alter, da hat man doch Träume. Du willst deiner Christa bestimmt hin und wieder eine Freude machen, und seit Dora …»

«Ach, hier bist du.» Der kehlige Husten der Gastwirtin ließ die beiden Männer herumfahren. Dora trug einen blau-orangen geblümten Morgenmantel, ihre Haare hingen strähnig auf die Schultern.

«Du sollst doch im Bett bleiben, hat der Arzt gemeint.»

Dora lächelte matt. «Ich weiß, ich weiß, aber oben ist die Hölle los. Nach der Kundgebung wollen alle was trinken.»

«Wir kommen gleich. Leg du dich wieder hin. Schau mal, ich habe uns Unterstützung besorgt. Karl arbeitet jetzt bei uns, nicht wahr?»

Karl nickte, obwohl er eigentlich nicht vorgehabt hatte, im Kastanienhof auszuhelfen. Nach der Schule und wann immer er der Mutter nicht auf dem Hof zur Hand gehen musste, zog es ihn in den Sprevelsricher Forst. Schon beim Gedanken an den Wald roch er den harzigen Nadelbaumduft, er hörte das raschelnde Wiegen der Blätter und das Knacken des Hochstands. Er sah einen rotbraunen Eichhörnchenpinsel zwischen den Baumkronen aufleuchten und die Trittsiegel von Wildschweinen auf dem Boden. Mehr brauchte Karl nicht zum Glücklichsein. Aber da Dora nach einer Fehlgeburt das Bett hüten und Friedrich den Kastanienhof allein bewirtschaften musste, brachte er es nicht übers Herz, nein zu sagen.

«Natürlich helfe ich gerne aus», sagte er.

Zufrieden klopfte Friedrich ihm erneut auf die Schulter. «Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann, Junge. Du hast was gut bei mir.»

«Danke. Ich komme bestimmt darauf zurück.»

Friedrich öffnete das Zulaufventil des Bierfasses. «Gut. Dann wollen wir mal. Erster Tag, und gleich geht’s in die Vollen. Morgen wirst du vor lauter Muskelkater nicht einmal deine Zahnbürste halten können.»

 

«Wenn das mal kein erfolgreicher Tag war.» Der Bürgermeister legte seine schwere Brille neben das Bierglas.

Die Luft im Gastraum war rauchgeschwängert. Zehn Tische aus massivem Eichenholz gab es im Kastanienhof. Über der Tür mit der altersblinden Fenstereinlassung hing ein vergoldetes Hirschgeweih, gegenüber standen zwei ausgestopfte Feldhamster auf dem gemauerten Kaminsims. An den Wänden hingen historische Aufnahmen von Peleroich, eine von Friedrichs alten Angeln und, rechts vom Eingang zur Küche, ein Abreißkalender mit Aphorismen, Zitaten und praktischen Alltagstipps. Die kartoffelbraune Farbe des Tresens war abgeblättert, hinter der Zapfanlage hatte Friedrich, neben dem Regal mit den Gläsern, eine Tafel angebracht, auf der die Gäste anschreiben ließen. Neben dem Tresen stand ein altes Klavier, dessen Gehäuse zerkratzt war.

Der Wirt nahm zwei volle Aschenbecher vom Tablett und leerte sie im Mülleimer aus. «Erfolgreich war der Tag? Nur weil alle ihre Fahnen draußen hatten? Ulbricht hat das jedenfalls verpasst.»

«Es geht doch ums Prinzip.» Ludwig stand auf, schwankte, fiel alkoholträge zurück auf die Holzbank und griff nach seiner Brille. «Ich habe vorhin einen Anruf bekommen», sagte er, als er sie sich auf die Nase geschoben hatte.

Bert und Franz, die mit am Tisch saßen, blickten interessiert auf.

«Jetzt spann uns nicht so auf die Folter.» Der Bäcker hob die Augenbrauen.

«Es gibt ja seit geraumer Zeit Beratungen über den Fortgang der Landwirtschaft. Pläne, wie wir die Produktivität erhöhen können … Ideen zur Über…erfüllung des Plans.» Ludwigs Zunge schien ihm nicht mehr zu gehorchen.

«Verschon uns bitte damit. Übererfüllung, wenn ich das schon höre.» Bert drehte sich zum Tresen, hinter dem Karl Geschirr spülte, und hob sein leeres Glas. «Machste mir noch eins?»

Karl stellte ein leeres Bierglas unter den Zapfhahn und füllte es geschickt. Als er aufblickte, sah er, dass seine Mutter die Gaststube betreten hatte und in Richtung Stammtisch ging.

Ludwig war inzwischen eingeschlafen. Sein Kinn lag auf der Brust, und langgezogene Schnarchgeräusche, die an ein Walross erinnerten, drangen aus seinem halbgeöffneten Mund.

Franz rüttelte ihn am Arm. «Lass dich nicht so gehen, wir haben Damenbesuch.»

Schmatzend zuckte Ludwig zusammen, öffnete die Augen und zwickte sich in die Wangen.

«Wir waren bei deinen Plänen stehengeblieben», erinnerte ihn Bert.

Franz sah Isolde fragend an. «Was wünscht die Dame zu trinken? Gehe ich recht in der Annahme, dass ein Schoppen lieblicher Apfelwein das Richtige ist?»

Isolde nickte und setzte sich.

«Karl, einen Apfelwein für deine Frau Mutter, bitte.»

Ludwig räusperte sich. «Also, im Zuge der Vergenossenschaftlichung sollen sich die kleinen Höfe und auch alle anderen Landwirtschaftsbetriebe zusammenschließen. Denkt nur mal an die Vorteile: Die Umgestaltung des Landes wird vorangetrieben, die Mitglieder zahlen weniger Steuern als Einzelbauern, sie erhalten bessere Maschinen, staatliche Subventionierungen und klare Urlaubsregelungen. Das wird eine ganz große Sache.»

Karl stellte das Weinglas vor seine Mutter auf den Tisch, Isolde griff danach und trank einen großen Schluck.

Dann blickte sie den Bürgermeister an: «Und für wen soll das bitte eine große Sache sein? Für uns Landwirte ja sicherlich nicht.»

Ludwig gähnte ungerührt.

«Ich will meine Eigenständigkeit nicht aufgeben, dafür habe ich mich nicht all die Jahre kaputtgeschuftet», fuhr Isolde fort und bekam dann einen Hustenanfall.

Karl setzte sich neben seine Mutter und strich ihr sacht über den Rücken.

Hustend griff Isolde nach ihrem Weinglas, bekam es aber nicht zu fassen. Es fiel klirrend zu Boden, augenblicklich wurde es still in der Gaststube.

«Mein Hof ist seit Ewigkeiten in Familienbesitz, er ist zwar klein, aber er gehört mir. Vielleicht will Karl ihn einmal übernehmen und mit Christa …» Isolde wurde erneut von einem Hustenanfall geschüttelt.

«Ach, Isolde, das ist ja erst mal nur eine Idee.» Franz bückte sich, um die Scherben beiseitezuschieben.

Karl ging hinter den Tresen, um seiner Mutter etwas Neues zu trinken zu holen. Er warf einen Blick auf die Uhr neben dem Eingang und dachte daran, dass Christa jeden Moment eintreffen müsste, um ihn abzuholen. Lächelnd goss er ein Glas Mineralwasser ein.

Ludwig stöhnte und spielte mit dem Parteiabzeichen an seinem Revers. «Denkt ihr, ich lasse unser schönes Peleroich ins Verderben rennen? Wir werden alle davon profitieren, so glaubt mir doch. Habt ihr etwa schon vergessen, dass die Partei nur unser Bestes will?»

Bert erhob sich drohend. «Du überangepasster Mitläufer. Ich zeig dir gleich, was am besten für dich ist.»

Friedrich war aus der Küche in den Gastraum gekommen und schlug mit der Faust auf den Tisch. «Was soll denn das Geschrei? Ihr fliegt hier gleich alle raus.»

«Causa finita», sagte Franz zustimmend. «Ihr seid schlimmer als all meine Abc-Schützen zusammen. Wie kleine Kinder, denen man verbietet, die Kuchenteigschüssel auszukratzen. Ich empfehle mich.» Er nahm seinen grauen Filzhut von der Garderobe und ging zum Tresen. «Karl, arbeitest du jetzt hier?»

«Ein bisschen, als Aushilfe. Aber nur so lange, bis es Dora wieder bessergeht.»

«Aber dass mir die Schule nicht zu kurz kommt.»

«Keine Sorge. Soll ich anschreiben?»

«Gerne. Sag mal, wo ist eigentlich Christa? Man sieht euch ja für gewöhnlich nur zusammen.»

«Da kommt sie gerade.» Karl lächelte und nickte zum Fenster hinüber. Christa näherte sich dem Kastanienhof. Sie entdeckte Karl und rannte winkend auf ihn zu.

«Also, ich mache da nicht mit, Ludwig, da kannst du dich auf den Kopf stellen und mit den Ohren wackeln», hörte Karl seine Mutter sagen. Er trocknete sich die Hände an seiner Hose ab und ging Richtung Tür, um Christa zu begrüßen.

«Vergenossenschaftlichung, so ein Mist. Die ganze Sache wird uns noch um die Ohren fliegen. Ich unterstütze Isolde beim Nichtunterstützen dieses wahnwitzigen …», brüllte Bert.

In diesem Moment knallte es und dann war alles still, nur die Zapfanlage gluckerte leise.

Die Anwesenden sahen zum Tresen. Das Regal mit den Gläsern, unter dem eben noch Karl gestanden hatte, hatte sich aus der Wand gelöst und war zu Boden gefallen. Ungläubig starrten alle auf den Scherbenhaufen, dann zu Karl. Isolde sprang auf und umarmte ihren Sohn.

Christa betrat den Gastraum und Isolde, Karl noch immer an ihre Brust gedrückt, flüsterte: «Ach, mein Junge, die Liebe hat dir das Leben gerettet.»

Karl blickte zu Christa, sie strahlte. Die kleine Zahnlücke, die dabei zum Vorschein kam, machte ihr Lächeln zum schönsten der Welt. Ihr honigblonder Zopf glänzte im Licht der untergehenden Maisonne, das durch das Fenster fiel. Das konnte nur ein gutes Omen sein, dachte Karl und lächelte zurück, obwohl ihm der Schreck noch in den Gliedern saß.

Die Luft war abgestanden, die Decke lag zusammengeknüllt am Fußende des Bettes, im Fernseher lief stumm eine Quizsendung. Auf dem Tisch standen leere Bierflaschen, ein voller Aschenbecher und eine halbaufgegessene Fertig-Lasagne.

Als im Fernsehen eine Dokumentation zum Fall der Mauer vor bald dreißig Jahren begann, stand er auf, schaltete das Gerät aus und öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Hinter ihm raschelte Papier. Erschrocken drehte er sich um und sah, dass die Zeitung, die alles ausgelöst hatte, in der Zugluft zappelte. Vergessene Orte im Osten – Findet sich ein Investor oder bleibt am Ende nur die Abrissbirne? In zwei Wochen fällt die Entscheidung.

Diese Worte waren es gewesen. All das längst Vergessene, in einen hinteren Winkel der Vergangenheit Geschobene, all das Tragische und Traurige war zurück ans Tageslicht gekommen.

Peleroich, sein Peleroich, sollte abgerissen werden. Er war sicher, dass sich kein Investor finden würde. Der Ort war dermaßen heruntergekommen, die früheren Bewohner fast alle weggezogen, die nötigen finanziellen Mittel, um alles zu sanieren, wären exorbitant hoch. Wer sollte das bezahlen? Wenn kein Wunder geschah, dann würde Peleroich dem Erdboden gleichgemacht und vielleicht bald ein Autobahnzubringer durch sein Heimatdorf gebaut werden.

Peleroich, ein kleines Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Es gab Beispiele von anderen alten DDR-Dörfern, die nur sich und der Natur überlassen worden waren, in denen gar nichts mehr blühte, außer der Verfall.

Gleich nachdem er den Artikel in der Zeitung entdeckt hatte, hatte er gewusst, dass er beichten musste. Hinzu kam sicherlich die Angst vor der ausstehenden Diagnose, aber das war nicht der Hauptgrund. Kurz hatte er gezögert, doch die Erleichterung, die er spürte, als er einmal den Entschluss gefasst hatte, zeigte ihm, dass es die richtige Entscheidung war.

Seine Beichte konnte nur einer Person gelten: Elise. Er hatte sich ihre Pariser Adresse im Internet herausgesucht. Auf dem Foto auf der Website ihrer Boutique hatte er sie sofort wiedererkannt, auch wenn ihre Gesichtszüge älter geworden waren. Ihr Lächeln war dasselbe wie in seiner Erinnerung, und auch nach all den Jahren war es ihm noch ganz vertraut.

Er hatte sich an seine Schreibmaschine gesetzt, einen Brief geschrieben, ihn zusammen mit dem Zeitungsartikel in ein Kuvert gesteckt und mit zittriger Hand die Adresse darauf geschrieben.

Kapitel 5

Peleroich, 1959

Ungeduldig sah Willi auf die Kirchturmuhr, als er mit dem Pritschenwagen vor dem Konsum vorfuhr.

«Willi! Alles in Ordnung?», rief Otto Jaworski vom Kirchvorplatz herüber. «Du machst ja ein Gesicht, als hätte dir jemand in den Kaffee gespuckt.» Der Pfarrer stütze sich auf seine Harke. Er trug ein graues Hemd und eine braune Hose, sein Talar lag auf der Bank unter der Thomas-Mann-Kastanie.

«Ja, ja, alles gut. Ich habe nur leider gerade keine Zeit.» Willi musste sich beeilen, gleich würde seine Lieblingsradiosendung im RIAS beginnen.

Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Willi war gerade in Sprevelsrich gewesen, um für den Konsum einzukaufen, und unzufrieden mit seiner Ausbeute: Ata, Fewa, Zwieback, Bier, Schnaps und Zigaretten. Wieder war kein Toilettenpapier dabei gewesen. Wie gut hatten sie es doch drüben im Westen.

Willi stapelte zwei Kartons und schloss die Tür zum Konsum auf. Die Regale waren so leer, dass Agathe die wenigen Produkte, die sie zum Verkauf anbieten konnten, ganz nach vorn auf die Bretter gestellt hatte, damit es nach mehr aussah. Auf der Ladentheke standen eine Registrierkasse mit Kurbel und die Tafelwaage, daneben Holzkisten mit Äpfeln, Kartoffeln, Zwiebeln, Kohlrabi und Möhren. Für einen kurzen Moment war Willi froh, auf dem Land zu leben. Obst und Gemüse konnte man wenigstens selbst anbauen und war nicht auf andere angewiesen. Er ging durch den Vorhang neben der Ladentheke ins Lager und stellte die Kisten ab. Dann setzte er sich auf einen Stuhl und schaltete das Radio ein.

Noch fünf Minuten, dann begann die Satiresendung Pinsel und Schnorchel. Willi streckte die Beine aus, nahm sich eine Flasche Bier und schloss die Augen. Pinsel und Schnorchel, zwei fiktive SED-Funktionäre, die sich jeden Samstagabend in der Kneipe Zur Roten Mühle trafen, nahmen in der Sendung den Alltag in der DDR auf die Schippe. Wie recht sie doch hatten mit ihren Persiflagen zum Arbeiteraufstand im letzten Jahr, zur Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, zu Reparationszahlungen und zur Normerhöhung, zur LPG oder zur Parteilinie.

Willi setzte die Flasche an die Lippen. Als die Sendung begann, musste er grinsen, heute ging es ausgerechnet um die Lebensmittelversorgung. Pinsel, der naivere der beiden Genossen, war in Westberlin gewesen und wollte nicht verraten, warum. Auf Nachfrage seines linientreuen Freundes gab er schließlich zu, dem Fleischer einen Besuch abgestattet zu haben.

Nach einer Ausrede suchend, stammelte er: «Ich wollte die Fleischer für den Friedenskampf gewinnen. Ich rief ihnen zu: Höher das Banner, der patriotische Fleischer reiht sich ein in die Front.»

Vor Lachen klopfte sich Willi auf die Schenkel, eine Strähne löste sich aus seinem Scheitel. Er zog den Stielkamm aus der Hosentasche und fuhr sich damit durch die Haare.

Ein leises Quietschen verriet, dass die Tür des Konsums geöffnet wurde. Das musste Agathe sein, sie war bei einer Nachbarin gewesen, um ihr beim Rhabarbereinkochen zu helfen.

Im Radio erzählte Pinsel, dass sich der westliche Fleischermeister nicht hatte gewinnen lassen. Pinsel hatte ihm daraufhin von den HO-Fleischern in der DDR erzählt. «Die sind so mit dem Friedenskampf beschäftigt, dass sie nicht mal mehr Zeit fürs Verkaufen haben. Ihre Läden sind geschlossen, und geschlossen stehen sie auch in den Reihen der friedliebenden …»

Willi prustete los, Bierschaum rann ihm aus der Nase.

«Also, das glaube ich jetzt nicht!», polterte es in seinem Rücken.

Entsetzt fuhr Willi hoch. Ludwig Lehmann stand im Lager. Der Bürgermeister hatte die Hände in die Hüften gestemmt, die Augen hinter seinen dicken Brillengläsern fixierten bewegungslos das Radio.

Eine Fliege setzte sich auf Willis Hand, der nicht wagte, sie zu verscheuchen. «Ich … Ludwig, hör zu.»

«Feindsender. Wieso hörst du den Feindsender? Bist du nicht dankbar dafür, dass dir unser Land ein sicheres Leben ermöglicht?» In Ludwigs Kiefer zuckte ein Muskel.

«Mein Vertrauen ist erschüttert, Pinsel», donnerte Schnorchel aus dem Radio.

Pinsel erwiderte: «Bitte, ich versichere dir, ich werde unserer Vitalade treu bleiben. Ich trenne mich nicht von Igelit und Margarine Sorte zwei.»

Ludwig schnappte nach Luft.

Mit einem Satz war Willi beim Radio, schaltete es ab und betrachtete den Boden zu seinen Füßen. «Ludwig, ich … das war das erste Mal, glaub mir.»

In Ludwigs Augen lag ein schwer zu deutendes Funkeln. Er drehte sich um, und Willi verstand nicht, was er murmelte, während er den Konsum verließ. Nachdenklich schaute er dem Bürgermeister nach. Der Parteifunktionär Schnorchel hatte in Willis Vorstellung große Ähnlichkeit mit Ludwig. Es gab nur einen Unterschied: Schnorchel war ausgedacht und konnte ihm nicht gefährlich werden. Ludwig schon.

«Hörst du mir überhaupt zu?» Karl drückte sich vom lauwarmen Kachelofen weg, der in diesem Jahr schon seit Ende Oktober ununterbrochen beheizt werden musste. Im Laufe der letzten Jahre hatte die Natur Karl mit dem langersehnten Bartwuchs bedacht. Mit seinen einundzwanzig Jahren sah Karl wesentlich jünger aus, als er war, und er hoffte, ein Bart würde diese Laune der Natur wettmachen. Zwar war er noch immer nicht so dicht, wie Karl es sich wünschte, aber Christa gefiel er, und das war die Hauptsache.

Gedankenversunken ging Karl zum Küchentisch neben dem Fenster, an dem seine Mutter saß. Sie war blass, ihre Augen starrten ins Nichts, mit dem Zeigefinger malte sie Achten auf die Tischdecke.

Als er seine Hand auf ihre legte, zuckte sie kurz zusammen. «Was hast du gesagt?»

«Nicht so wichtig. Ist es wegen der Vergenossenschaftlichung?»

Isolde zog ihre Hand unter Karls hervor und ließ sie weiter auf der Tischdecke kreisen. Sie seufzte. «Fast alle Bauern im Umkreis sind inzwischen in der LPG. Es ist nicht einfach, eine der Letzten zu sein, die sich dagegen wehrt. Anfangs gab es ja noch kritische Stimmen. Aber seit Ludwig sich Hilfe von ganz oben geholt hat und dieser Funktionär aus Sprevelsrich hier ist, sind sie alle eingeknickt. Aber ich bleibe bei meiner Entscheidung. Ich will mich nicht an die Vorgaben einer Genossenschaft halten müssen, ich will selbst entscheiden, was ich wann wie mache.»

Karl überlegte, was er sagen konnte, um seine Mutter zu trösten, doch ihm wollte nichts einfallen. Sie in diesem Zustand zu sehen, bedrückte ihn. Genauso hatte es sich angefühlt, als er sie vor ein paar Jahren zur ersten LPG-Versammlung im Kulturhaus begleitet hatte. Ludwig hatte lange versucht, sich Gehör zu verschaffen. Aber die Worte, mit denen er für die Vorteile der Kollektivierung der Landwirtschaft hatte werben wollen, waren ungehört verklungen. Schließlich hatte der Bürgermeister sein Redemanuskript zerknüllt, in den Papierkorb geworfen und war wütend auf einen Absacker in den Kastanienhof gegangen. Aber mittlerweile waren alle anderen Bauern der Umgebung in die LPG eingetreten, Isolde kämpfte ganz allein und wirkte abgespannter als je zuvor.

Kurzentschlossen nahm Karl eine Flasche Kartoffelschnaps vom Küchenbuffet und schenkte seiner Mutter ein Glas ein.

«Ich weiß, dass ich dir mit dem Thema schon lange in den Ohren liege, Karl, und das tut mir leid. Aber ich will mir nicht …» Isolde griff nach dem Schnapsglas und leerte es in einem Zug. «Ach was, genug lamentiert. Reden wir lieber über die schönen Dinge des Lebens. Bist du aufgeregt?»

«Und wie. Ich wünschte, es wäre schon Abend.»

«Das glaube ich.» Isolde warf einen Blick zum Wecker, der neben dem Herd stand. «Was meinst du, sollen wir die Uhr einfach vorstellen?»

Karl grinste. «Wenn das so einfach wäre. Heute werde ich übrigens spät nach Hause kommen, wahrscheinlich schläfst du dann schon.»

«Ist gut. Was hast du heute Nachmittag zu tun?»

Weit vor dem letzten Schultag hatte Karl genau gewusst, welche berufliche Richtung er einzuschlagen gedachte: Förster wollte er werden. Mittlerweile hatte er die Ausbildung absolviert und verbrachte seitdem noch mehr Zeit im Sprevelsricher Forst als vorher. Am liebsten saß er mit einer Thermoskanne Tee auf dem Hochstand und betrachtete die Natur.

«Ich bin mitten in der Wildbestandsschätzung.» Karl nahm das Brot aus dem Kasten und schnitt drei Scheiben ab.

«Und das Geschenk für Christa, nimmst du das mit?»

Mit strahlenden Augen nickte Karl und klopfte auf seine Jackentasche.

 

Als der Bus sich in Bewegung setzte, drehte sich Christa ein letztes Mal um. Das langgezogene, dreistöckige Gebäude des Instituts für Lehrerbildung wurde beständig kleiner, je weiter sich der Bus entfernte. Die Ausbildung zur Unterstufenlehrerin hatte ihr Spaß gemacht, aber sie war froh, sie nun abgeschlossen zu haben. Gleichzeitig wusste sie, dass sie ihre Kolleginnen vermissen würde. Da das Institut in Königsfeldhausen rund drei Stunden von Peleroich entfernt lag, hatte sie während ihrer Ausbildung in einem Zimmer im Wohnheim gelebt.

Die Wochenenden aber hatte sie stets in Peleroich verbracht, Karl hatte jeden Freitagabend an der Haltestelle vor dem Kastanienhof auf sie gewartet. Von der Bustür aus war sie ihm direkt in die Arme gefallen und hatte ihre Nase tief in seinen Nacken gedrückt, der nach Tannennadeln, Erde, frischgeschlagenem Holz und salziger Ostseeluft roch. Ein Geruch, der für Christa Heimat war.

Als das Institut vollends aus Christas Sichtfeld verschwunden war, drehte sie sich um und schlief zum bedächtigen Schaukeln des Busses schnell ein.

 

«Fräulein, wollten Sie nicht in Peleroich aussteigen?»

Christa schreckte hoch, nickte dem Busfahrer dankend zu, nahm ihre Tasche und stieg aus.

Karl stand vor dem Kastanienhof und trat von einem Bein auf das andere. Die Sonne war fast untergegangen und tauchte den Abendhimmel in ein warmes Orangerot, das Christa an die Pfirsiche aus Isoldes Garten erinnerte.

«Herzlichen Glückwunsch, Frau Lehrerin, und willkommen zu Hause.»

Christa ließ sich in seine Arme fallen und brauchte einen Moment, bis sie verstand, was passierte, als Karl die Umarmung löste und langsam auf die Knie ging. Aus der Innentasche seiner Jacke zog er ein gepunktetes Stück Stoff hervor. Es war derselbe wie der von Christas Rock, der damals, am ersten Schultag, gerissen war. Karls Hände zitterten, als er den Stoff auseinanderwickelte. Ein selbstgeschnitzter Ring kam zum Vorschein, und noch ehe Karl etwas fragen konnte, sank Christa ebenfalls auf die Knie, umarmte ihn und sagte ja.

«Ist der Ring aus Kirschholz?»

«Etwas anderes kam nicht in Frage. Die Bänke in der Schule, der Rock, deine Tränen.»

Christa legte ihre Hand in Karls und küsste ihn.

Vor dem Kulturhaus standen die Dorfbewohner. Sie hatten ihre Schürzen, Arbeitshosen, Kopftücher, Kittel, Bäckerhauben und Gummistiefel ab- und ihren frischaufgebügelten Sonntagsstaat angelegt. Einige erkannten ihre Nachbarn erst auf den zweiten Blick. Alle waren guter Stimmung. Nur dass Karl und Christa ausgerechnet im Winter heiraten mussten, stieß auf wenig Gegenliebe, waren die gestärkten Hemden, die frischgewaschenen Kleider und die blankgeputzten Schuhe doch eher für Sommertage geeignet.

Willi Minkler, der Brautvater, zog seinen Stielkamm aus der Hosentasche, als Dora Wannemaker in einem Kleid, das über ihrem Schwangerschaftsbauch spannte, zettelschwenkend auf ihn zueilte.