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Ein großer Roman über die Magie der Sprache, die Kraft der Gemeinschaft und eine ganz besondere Familie. "Mit dem Jungen läuft etwas nicht so, wie es soll." Das sagt man, als Adam erst mit zwei Jahren zu sprechen beginnt. Menschliche Beziehungen sind für ihn ein Mysterium, stattdessen schwärmt er für die Zahl Sieben. Beim Heranwachsen auf der ostfriesischen Heimatinsel wird er liebevoll von seiner Familie umsorgt, allen voran von seiner tschechischen Großmutter Leska und seinem Vater Hubert. Dieser richtet seinem Sohn im alten Leuchtturm einen Weltrückzugsort ein, der nur ihm gehört. Doch dann bricht die Katastrophe über den bilderbuchschönen Himmel von Platteoog herein: Kurz nach Adams 13. Geburtstag verschwindet sein Vater spurlos, seine Mutter verstummt unter der Last ihrer Trauer. Eines Tages und viele Jahre später, Adam ist Dozent für Sprachwissenschaften an einer Berliner Universität, fällt ihm ein Buch in die Hände: "Die Erfindung der Sprache". Es enthält Hinweise auf seinen Vater - offenbar ist er auch aus dem Leben einer anderen Familie wortlos verschwunden. Adam begibt sich auf die Suche. Seine abenteuerliche Reise führt ihn quer durch Deutschland, nach Prag, in die Bretagne und bis ans Ende der Welt…
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Anja Baumheier
Roman
Ein Sprachwissenschaftler, der am liebsten mit Computern spricht.
Eine tschechische Bäckerin, die den Klang ihrer Muttersprache nie vergessen hat.
Ein Ostfriese, der den Ruf der Berge hört.
Eine Radiomoderatorin, die vor Kummer verstummt.
Und ein Buch namens «Die Erfindung der Sprache».
Ein großer Roman über die Magie der Sprache, die Kraft der Gemeinschaft und eine ganz besondere Familie.
Anja Baumheier wurde 1979 in Dresden geboren und hat ihre Kindheit in der DDR verbracht. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet als Lehrerin für Französisch und Spanisch an einer Berliner Schule. 2018 erschien mit «Kranichland» ihr erster Roman.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2021
Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Alle Zitate aus Rilke-Gedichten stammen aus: Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke. Band 1–6, Wiesbaden und Frankfurt a.M.
Verse auf S. 41 aus Rilke, Die Insel
Verse auf S. 71 aus Rilke, Advent
Liedtext auf S. 104 aus Karel Gott, Babička
Verse auf S. 136f. aus Rilke, Der Panther
Liedtext auf S. 154f. aus Simon & Garfunkel, Sound of Silence
Verse auf S. 184f. aus Rilke, Du Berg, der blieb
Verse auf S. 188 aus Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden
Verse auf S. 336 aus Rilke, Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht
Verse auf S. 352 aus Rilke, Schlussstück
Verse auf S. 462 aus Theodor Fontane, John Maynard
Liedtext auf S. 465 aus Charles Trenet, La Mer
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Coverabbildung Shutterstock; MattGrove/iStock
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-00738-3
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Sprachwissenschaftler
Oda RieseRadiomodertorin, Adams Mutter
Hubert RieseErfinder, Adams Vater
Leska BakkerBäckerin, Adams Großmutter
Ubbo BakkerBäcker, Adams Großvater
Logopädin
Undine AbendrothBuchhändlerin
Adams Jugendfreundin
Christian MaurusMeteorologe, Marthas Vater
Alfried DietrichsPensionär
Dr. Helge JanssenArzt
Bonna PoppingaPolizistin
Ewald BoomgaardenPfarrer
Der Elfer war bereits einhundertdreiundachtzig Sekunden zu spät. Adam, einziger wartender Fahrgast an der Haltestelle Habelschwerdter Allee, hielt die Busankunftsstraßenseite im Blick und versuchte, nicht zu blinzeln. In der abweisenden Januarverlassenheit lag die Haltestelle da wie Platteoog im Winter, wie eine schlafende Katze.
Adam presste die Hand auf seine Brust. Darunter, in der Innentasche seines einsteingrauen Sakkos, steckte der Zettel.
Seien Sie ein Gentleman
Seien Sie ein guter Zuhörer
Fragen Sie gezielt nach und zeigen Sie Humor
Merken Sie sich kleine Details
Überfordern Sie Ihr Gegenüber nicht
Lächeln Sie häufig
Schauen Sie ihr in die Augen
Die sieben Punkte hatte Adam bewusst und mit Hilfe seiner Sprachassistentin ausgewählt. Es hätte viel mehr gegeben, aber die Sieben war eine schöne Zahl. Die schönste überhaupt. Magisch, schlank, stolz und mit einem halben, nach links gerichteten Dachbalken, genau in die Richtung, aus der der Bus hätte kommen sollen. Nun schon vor einhundertvierundachtzig Sekunden.
Die Welt wurde in sieben Tagen erschaffen, sieben Tage hatte die Woche, es gab sieben Weltwunder, sieben Zwerge, sieben auf einen Streich hatte das tapfere Schneiderlein erlegt, James Bond trug die 007, die Wolke sieben die Verliebten, da waren das Glücksspiel siebenundsiebzig und die sieben Spektralfarben, die sieben freien Künste, die sieben Himmel im Buddhismus, die sieben Arme der jüdischen Menora, die sieben Sakramente, Rom und seine sieben Hügel, die sieben Notwendigkeiten des chinesischen Lebens, das Heptagon als ganzheitliches Lebensmodell, die dreifache Sieben als Zahl der Vollendung.
An der Sieben kam man nicht vorbei, ohne ins Schwärmen zu geraten. Die Konnotationen, diese unendlichen, herrlichen Nebenbedeutungen der Zahl Sieben, waren für ihn das Beruhigendste an seinem Zettel. Die einzelnen Zettelauflistungspunkte versetzten ihn hingegen in Aufruhr. Ein zutiefst unangenehmes Gefühl. So, wie wenn jemand gelbe, also sehr, sehr bunte Kleidung trug oder wenn etwas Außerplanmäßiges passierte.
Einatmen.
Ausatmen.
Ich trete einen Schritt zurück. Dieses Mantra sollte Adam sich auf Anraten von Dr. Modder, seiner ehemaligen Therapeutin, immer dann aufsagen, wenn übermächtige Tumulte sich in seinem Kopf versammelten wie der Schwarze Block am Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse in der Oranienstraße in Kreuzberg. Einige der Versammelten waren mit Steinen bewaffnet.
Einatmen.
Ausatmen.
Adam trat geistig einen Schritt zurück und versuchte daran zu denken, dass Aufruhr, medizinisch betrachtet, lediglich von einer erhöhten Noradrenalinausschüttung zeugte und evolutionsbedingt sinnvoll war. Kampf oder Flucht. Alle sieben Sinne in pflichtbewusster Bereitschaft.
Einen Schritt zurücktreten.
Adams Unruhe dünnte an den Rändern langsam aus wie eine Schleierwolke, wurde faserig und durchscheinend und verschwand schließlich ganz, ohne sich noch einmal umzublicken. Der Zettel kam ihm wieder in den Sinn. Punkt vier. Dinge merken, konnte er sich gut. Und gerade als sein Handy eine SMS ankündigte, kam der Bus mit einer Verspätung von exakt zweihundertneunundsechzig Sekunden.
Mein lieber Adam,
ich drücke die Daumen, dass du eine Frau triffst, die dir gefällt und die dich so mag, wie du bist!
Mama
Lächelnd schob er das Handy mit der Nachricht seiner Mutter zurück in die Tasche seines einsteingrauen Sakkos und zog die Caféeingangstür auf. Durch die außerplanmäßige Busverspätung betrat er den etwa dreißig Quadratmeter großen, nach zu viel Parfüm und Zucker riechenden Raum im letzten Augenblick. Nur noch ein Stuhl war frei. Das musste seiner sein. Schwer ließ er sich darauf fallen, wischte sich über die schweißige Stirn und hob den Kopf. «Erfreut, Adam Riese», sagte er leise.
Kurze Pause.
«Sie heißen in echt Adam Riese? Wie dieser Mathetyp? Und Riese, wie groß sind Sie denn? Sehr ja wohl nicht.» Die junge Frau mit dem kegelrobbenförmigen Körper lachte grell und entblößte ihr beträchtliches Zahnfleisch. Ihr umfangreicher Kegelrobbenkörper, der in einer sehr, sehr engen nagellackroten Polyesterbluse steckte, bebte.
Rot ging. Zwar war das auch grell, aber weniger grell als Gelb. Dennoch. Adam hatte den Eindruck, der Kegelrumpf der Lachenden würde nur von dem Blusenstoff zusammengehalten, als könnte er jeden Augenblick reißen und die gesamte Frau davonfließen. Allein vier Knöpfe hielten sie zusammen. Die Frau griff kichernd nach dem Sektglas auf dem Tisch und trank einen ausgiebigen Schluck.
«Eins dreiundsiebzig.» Adam blickte zur Tür, über der ein Blechschild hing, auf dem Bei uns wird Freundlichkeit großgeschrieben zu lesen war. Ein erstaunlicher Satz. Adam wusste, wie er gemeint war, fragte sich allerdings, warum der Caféinhaber ihn an exponierter Stelle aufgehängt hatte. Freundlichkeit wurde stets großgeschrieben. Auf textpragmatischer Ebene ergab dieser Satz keinerlei Sinn.
«Dann sind Sie immerhin größer als Napoleon. Wurde nach dem nicht sogar ein Komplex benannt?»
Das Wort Freundlichkeit flackerte in Adams Kopf wie auf einer neongelben Leuchtreklametafel. Sie blinkte schneller und schneller, als ahnte sie, was gleich passieren würde, und wollte versuchen, Adam auf die sich anbahnende Gefahr hinzuweisen.
Ein Speed-Dating. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Die Idee war nicht seine gewesen, sondern die seiner Großmutter Leska. Adamčik, ist gute Idee. Habe ich in Platteooger Diekwieser Werbung gesehen. Ist alles mit Sieben: Frauen, Minuten, du wirst mögen. Finde doch Frau, hatte sie am Telefon gesagt.
Adam merkte, dass seine Schultern sich verkrampften. Der Zettel.
Schauen Sie ihr in die Augen
Adam fixierte einen Punkt über der Nasenwurzel der Kegelrobbenfrau. Auch das war eine Technik, die ihm Dr. Modder beigebracht hatte. Er versuchte ein Lächeln. Vergeblich. Lag es daran, dass er die Zettelpunkte in ungeordneter Reihenfolge abarbeitete?
Fragen Sie gezielt nach und zeigen Sie Humor
Das Stimmengewirr im Café war erdrückend, die Luft abgestanden, die Gesprächsfetzen von den anderen sechs Tischen drängten sich kakophonisch um Adams Ohren wie Schnäppchenjäger bei einem Megaschlussverkauf kurz vor dem Öffnen der Ladentüren. Er wurde müde und hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Am Tresen stand der Organisator der Veranstaltung, der sich als der Martin vorgestellt hatte. Um seinen Hals hingen an einer Kordel Stoppuhr sowie Trillerpfeife.
Adam knetete seine Hände und räusperte sich. «Napoleon also? Da sind Sie die Erste, die mir das sagt, aber mit der Farbe Ihrer Bluse bin ich einverstanden. Was mir an Körpergröße fehlt, haben Sie an Umfang, meiner Einschätzung nach. Ich tippe, Ihr BMI liegt bereits bei Grad drei, also irgendwo zwischen dreißig und kleiner fünfunddreißig. Vielleicht haben Sie sich gefragt, was das Akronym BMI eigentlich bedeutet? In Ihrem Fall würde ich das kreativ betrachten und ‹Bluse mit Inhalt› vorschlagen. Mir gefällt das, und im Grunde sind wir nun quitt. Vielleicht haben Sie Lust, einmal mit mir essen zu gehen? Mögen Sie Meerestiere?»
Hustend verschluckte sich die Frau. In ihr Husten hinein mischte sich ein Trillerpfeifenpfiff. Die Frau bedachte Adam mit einem Blick, der ihn an seine Mutter erinnerte. Wahrscheinlich hatte sie damals genau so Dr. Helge Janssen angesehen. Adam war vier Jahre alt gewesen, und der Arzt hatte gesagt: Oda, mit dem Jungen läuft etwas nicht so, wie es soll. Auf den sollten wir immer ein besonderes Auge haben.
Ein nächster Trillerpfeifenpfiff ertönte. Zögernd ließ sich Adam am Nachbartisch nieder, über dem noch der herbe Moschusduft seines Vorgängers hing. Adam hatte mittlerweile massive Fluchtinstinkte.
Ohne die ihm zugedachte neue Partnerin anzusehen, hob er zu sprechen an: «Eins: Mein Name ist Adam Riese. Zwei: Ich bin zweiunddreißig Jahre alt. Drei: Ich bin Doktor für Sprachtheorie und angewandte Sprachwissenschaft. Vier: Ich bin auf Platteoog aufgewachsen und bin folglich Fünf: ostfriesischer Insulaner. Sechs: Meine Körpergröße liegt sieben Komma zwei Zentimeter unter dem Durchschnitt. Sieben: Mit mir läuft etwas nicht so, wie es soll.»
Einatmen.
Ausatmen.
Adam hätte noch mehr von sich erzählen können, aber Sieben war Sieben und Punkt.
Leska Nováková, die einer fruchtbaren Familie aus Odkiseník im tschechischen Altvatergebirge entstammte, hatte als Jugendliche mit der Natur gehadert. Ihr Name gefiel ihr. In ihrer Geburtsurkunde stand zwar Valeska, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass irgendwer sie irgendwann jemals so genannt hatte. Im Griechischen bedeutete ihr Name die Männer Abwehrende, im Lateinischen stark und gesund, im Ungarischen Schmetterling oder Königin, im Slowenischen Haselnussstrauch. Allen Sprachversionen konnte sie Positives abgewinnen, wobei sie Schmetterling eindeutig den Vorrang gab.
Doch womit Leska sich nicht abfinden konnte, war der Umstand, dass die Natur ihren eigenen Plan hatte. Mit fünfzehn und nach schrecklichen Unterleibsschmerzen hatte die Diagnose festgestanden. Unfruchtbarkeit. Die Natur verwehrte es ihr, der Familientradition entsprechend eine große Kinderschar in die Welt zu setzen. Ein unüberwindbarer Makel. Offenbar hatte die Natur die griechische Namensübersetzung, also die Männer Abwehrende, buchstabengenau ernst genommen. Der nie hinterfragten Aussicht auf ein Leben als Hausfrau und Mutter beraubt, hatte Leska sich fortan dem Backen verschrieben und an Gewicht und kulinarischem Ansehen in Odkiseník gewonnen.
Zu ihrem achtzehnten Geburtstag hatten sich bleischwere, ambossförmige Gewitterwolken an den Gipfeln des Roten Berges verfangen. Sie lösten das heftigste Unwetter seit dem Prager Pfingstaufstand aus. Ubbo Bakker, passionierter Bergsteiger, musste in Odkiseník seine Reise unterbrechen. Alle Schleusen des Himmels standen offen. Als Ostfriese, der seinem Hobby in seiner Heimat aus Mangel an bezwingbaren Höhen nicht nachgehen konnte, kannte er wasserlastige Naturgewalten zur Genüge. Doch das Unwetter am Fuße des Roten Berges übertraf alles Dagewesene.
Ubbo parkte den lindgrünen VW-Käfer, ein Modell, das wegen seines durch einen Steg getrennten Mittelfensters an eine Brezel erinnerte, am Odkiseníker Straßenrand. Fester als nötig stülpte Ubbo sich die Kapuze seiner Bergsteigerjacke über den Kopf. Fluchend stieg er aus. Taubeneigroße Hagelkörner trommelten ungestüm auf den Lack der Karosserie. Erste Farbsplitter lösten sich bereits von der Kühlerhaube und vom Dach. Ubbo sah sich nach einer trockenen Zuflucht um und wandte sich zu dem opalblauen, zweistöckigen Haus in seinem Rücken, aus dem zahllose Stimmen sowie ein verführerischer Duft nach Hefe, Zimt und Zucker drangen. Sein Bäckerherz in dritter Generation schlug taktsynchron zum Hageltrommeln auf dem Autodach. Mit triefender Faust klopfte er an die Eichentür.
Den Rest der Geschichte vom Kennenlernen ihrer Eltern hatte sich Oda als Kind so oft erzählen lassen, dass sie überzeugt war, selbst dabei gewesen zu sein.
Ich stand wie ein begossener Pudel auf der oberen Stufe und blickte in die unbezwingbar schönsten Augen, die ich jemals gesehen hatte. Sie waren von der gleichen Farbe wie mein Brezelkäfer, pflegte Odas Vater zu sagen, während ihre Mutter sich an ihn drückte und ihre mit den Jahren zwar kleiner gewordenen, aber immer noch sehr, sehr lindgrünen Augen zuklappte.
Und mit dem Brezelkäfer hast du sie für dich gewonnen, zwei Bäckerherzen hatten sich gefunden, pflegte Oda für gewöhnlich zu ergänzen.
Wie die Kennenlerngeschichte ihrer Eltern am Fuße des Roten Berges weiterging, hätte sie sogar erzählen können, hätte man sie mitten in der Nacht geweckt.
Leska Nováková und Ubbo Bakker hatten sich angesehen, während eine Donnerlawine über dem brüchigen Dachstuhl des Hauses rumpelte. Ohne ein einziges Wort der Sprache des jeweils anderen zu kennen, nickten sie sich zu. So betrat Ubbo das Haus und Leskas Leben.
Als Leska im Frühjahr neunzehnhundertneunundfünfzig Odkiseník, ihre Eltern, ihre vier Geschwister und die sechsundfünfzig zerklüfteten Erhebungen des Altvatergebirges verließ, bog sich der VW-Käfer unter der Last ihrer Habseligkeiten. Ein paar Kleider, eine Wanderausrüstung, ein Koffer, die feine Goldkette ihrer Großmutter, ein walnusshölzernes Nachtkästchen, das der Familientradition nach an die älteste Tochter weitergegeben wurde, und Backbücher. Vor allem Backbücher. Bei ihrer Abfahrt hupte Ubbo kurz und gab vorsichtig Gas, während im Rückspiegel die sechs taschentücherschwenkenden Silhouetten beständig schrumpften und schließlich ganz verschwanden.
Leskas neue ostfriesische Heimat bedeutete für sie Erleichterung und Herausforderung zugleich. Erleichterung, weil sie die mitleidigen Blicke der Odkiseníker Frauen mit Säuglingen oder Kleinkindern auf den Armen hinter sich gelassen hatte. Herausforderung, weil ihr die naturgegebene Beschaffenheit von Platteoog wie eine Theaterkulisse vorkam. Die Insel glich von oben einer dreiundzwanzig Quadratkilometer großen, auf der Seite schlafenden Katze, die in Richtung Norwegen alle viere von sich streckte. Ihr Schwanz war schneckenhausgleich eingerollt. Auf ihm stand ein gelb-rot gestreifter, neunundvierzig Meter hoher Leuchtturm. Daneben klaffte ein mit Salzwasser gefüllter Bombentrichter, in dessen unmittelbarer Nähe eine Kolonie Austernfischer lebte. Die Gezeiten hatten der Katze im Laufe der Jahrhunderte ihre Beine verschlankt, auf- und ablaufendes Wasser hatte sie fortwährend ausgedünnt. Der Bauch der Katze zeigte nach Norden zur offenen, rauen See, ihr Rücken nach Süden mit seinen salzigen Marschwiesen und einem Miniaturhafen. Auf dem Katzenrücken befand sich das Herz der Dreihundertzweiundachtzig-Seelen-Gemeinde. Es gab eine bescheidene Kirche mit Orgel und dreieckigem Friedhof hinter dem Glockenturm, eine stillgelegte Bockwindmühle, daneben Ubbos Bäckerei, eine Fischräucherei, einen Lebensmittelladen und ein Mehrzweckgebäude, welches eine Arztpraxis, eine Polizeiinspektion und eine Grundschule beherbergte. Die Dächer der Friesenhäuser neigten sich zur Straße, sodass man meinte, sie wären schief.
Ehe sie Ubbo kennenlernte, hatte Leska das Gebirge nie verlassen. Die Veränderung war gewaltig. Vom Altvatergebirge, dessen Namensgeber eintausendvierhunderteinundneunzig Meter über dem Meeresspiegel thronte, auf eine ostfriesische Insel, die im Meer zu versinken drohte, war das ein Höhenunterschied, für dessen Bewältigung Leska Zeit brauchte. Viel Zeit. Selbst als Oda die Schule beendet hatte, war Leska noch erstaunt beim morgendlichen Blick durch das Schlafzimmerfenster der Oppemannspad sieben in Richtung Leuchtturm.
Meer, das kommt und geht, wie Mond will, was hat Natur sich gedacht? Wie gut, ich habe Ubbočik, da hat Natur sich gut was gedacht. Und du, mein Brouček, bist allergrößte Naturgabe. Mond kann einpacken. Erst wünschte ich Junge, aber Mensch ist Mensch, egal, was ist untenrum, pflegte sie zu Oda zu sagen.
Tatsächlich hatten Leska und Ubbo nie mit Nachwuchs gerechnet und all ihre liebende Tatkraft in die Bäckerei in der Süderloog zweiundzwanzig investiert. Die Backkreationen, die Leska aus ihrer Heimat mitgebracht und wie selbstverständlich neben Ubbos Dünenkruste, Knüppeltorte und Prüllerkes gelegt hatte, fanden anfangs kaum Abnehmer. Gegenüber Mohnkolatschen, Marmeladen-Liwanzen und Dalken mit Schlagsahne zeigten die Platteooger zunächst norddeutsche Zurückhaltung. Aber durch die einnehmende Unermüdlichkeit der Bakkers hatten die böhmischen Backwaren zwei Jahre nach Leskas Ankunft letztendlich doch Eingang in den Speiseplan der Insulaner gefunden.
Und schließlich trat wider Erwarten ein richtiges Kind in das Leben der Bakkers. Zehn Jahre nach der Diagnose des tschechischen Gynäkologen blieb Leskas Periode aus. Ein Schmetterling war in ihrem Uterus erwacht. Freude und Angst hielten sich die Waage, und Leska verbrachte die gesamte Schwangerschaft medizinisch angeraten im Bett. Sie würde einen Jungen zur Welt bringen, das stand für sie fest. Neben ihr auf dem Nachtkästchen lag griffbereit ein linierter Notizblock, auf dem sie Vornamen notierte und mit angehaltenem Atem jeder noch so geringen Regung ihres wachsenden Schmetterlingsbauches lauschte. Im Sommer neunzehnhundertfünfundsechzig, auf den errechneten Tag genau, setzten die Wehen ein. Nach neunundzwanzig Stunden tat der Säugling seinen ersten Schrei. Noch einmal hatte die Natur gezeigt, wie einflussreich sie war, denn zwischen Leskas Beinen lag ein blutverschmiertes kleines Mädchen. Einen passenden Namen hatte Leska nicht. Auf ihrem Notizblock standen nur: Bohdan[1], Dobroslav[2], Jaroslav[3], Kamil[4] und Ostoja[5].
«Wir brauchen einen Mädchennamen», flüsterte Ubbo, ohne den Blick von seiner Tochter abzuwenden, die derweil gesäubert und in ein gestärktes Leinentuch gewickelt in Leskas drallen Armen ruhte.
«Der wird sich finden schon.»
Ubbo drückte dem namenlosen Mädchen und seiner Frau jeweils einen Kuss auf die Stirn und begab sich schnurstracks in die Backstube. Er hatte eine neue Kreation im Kopf: herzhafte, mit Krabben gefüllte Powidltascherln als Willkommensgeschenk für seine Tochter.
Oda verdankte ihren Namen am Ende der Unentschlossenheit ihrer Eltern. Der Wunsch, alles richtig zu machen, führte dazu, dass sie, gelähmt von ihrem eigenen Anspruch, zunächst gar keinen Namen auswählten. Als der Standesbeamte, Herr Wowez, der vom Festland mit der Fähre aus Flokum nach Platteoog gekommen war, ein Formular aus der Tasche zog und die frischen Eltern fragend ansah, zuckten Leska und Ubbo mit den Schultern.
«So gar keine Idee?»
«Nur für Junge.» Leska reichte Herrn Wowez ihre Namensliste.
Nach einer Weile murmelte er: «Sie suchen etwas mit Bedeutung, ich verstehe.» Dann schlug er vor, zunächst die Mutter- und Vaterangaben in sein Formular einzutragen.
«Sie kommen aus Odkiseník, Frau Bakker?»
«Ja, ist Städtlein in meine Heimatgebirge, am Schuh von höchste Erhebung.»
«Das Altvatergebirge, ein für Bergsteiger ungeheuer herausforderndes Gebiet, sechsundfünfzig Erhebungen, gegliedert in drei geomorphologische Teileinheiten. Die sind nahezu unbezwingbar», ergänzte Ubbo.
«Altvatergebirge, aha. Und auch dem Vater fällt kein Name für das Mädchen ein?» Herr Wowez lachte kehlig über seinen Scherz. In sein Lachen hinein bot er an: «Oda vielleicht?»
«Was bedeutet?»
Der Beamte kratzte sich ausgiebig am Kopf, bevor er antwortete. «Erst einmal klingt es ein wenig nach Ihrem Heimatort. Oda hat auch etwas von Ode, etwas Erhabenes, Gebirgiges. Außerdem steht es für Lebenskraft, Reichtum und Besitz. Nicht zu vergessen die Ode an die Freiheit.»
«Ich dachte, es heißt Ode an die Freude», gab Ubbo zu bedenken.
«Das würde auch passen. Also, Oda?»
Die Bakkers nickten, und das kleine Mädchen, das endlich einen Namen und die ganze Zeit geschlafen hatte, öffnete die Augen und verzog den Mund zu einem stummen Protest.
So war Oda zu ihrem Namen gekommen, mit dem sie zeitlebens haderte. Ihre Körpergröße, der zweiten Sache, mit der sie haderte, das Kleinrundliche, war sowohl genetischen als auch durch Mutterliebe sozialisierten Ursprungs. Der unverhoffte Kindersegen hatte in Leska, die mit ihren ein Meter zweiundfünfzig vierzehn Zentimeter unter der Durchschnittsgröße lag, eine Glucke zum Leben erweckt. Ihre Tochter wurde auf Schritt und Tritt überwacht und dabei ausgiebig mit Essen versorgt. Oda wusste, dass ihre Mutter das aus sorgevoller Hingabe tat. Aber mit dem Eintritt in die Pubertät wurde ihr die Gluckenhaftigkeit zu einer Last, der sie sich durch kleine Freiheiten zu entziehen versuchte.
«Wo du gehst, mein Brouček? Wann zurück? Nimm wenigstens Essen mit.»
Oda war sich der unverhofften Umstände ihrer Existenz bewusst, aber wollte spätestens mit vierzehn Jahren nicht mehr Käferchen genannt werden. Ein wenig an Gewicht verlieren wollte sie auch. «Maminka, wir leben auf einer Insel. Was soll mir schon passieren? Hier kennt jeder jeden. Ich gehe nur spazieren.»
«Stimmt, aber Leben ist manchmal Rätsel.»
Oda nickte.
In diesem Moment ahnte sie nicht, dass bald jemand nach Platteoog kommen würde, den niemand kannte. Jemand von außerhalb, von sehr weit außerhalb. Jemand, durch den sehr wohl etwas passieren und der ihr ein Rätsel aufgeben würde, das sie unzählige Jahre versuchen würde zu entschlüsseln.
«Wie geht es dir?», fragte Adam.
«Mir geht es gut. Wie kann ich dir helfen?»
«Mir kann keiner helfen.»
«Ich kann es ja versuchen.»
«Warum brauchen Menschen andere Menschen?», wollte Adam wissen.
«Ich kann für dich im Web suchen.»
«Warum darf man nicht allein sein?»
«Ich kann für dich im Web suchen.»
«Ist Liebe wichtig?» In Adams Stimme flammte Ungeduld.
«Passiert das, wenn Leute Schmetterlinge essen? Ich bin da nicht sicher, aber wie sonst kommen die Schmetterlinge in den Bauch?» Die Stimme kam aus einer stoffüberzogenen Pyramide.
Sie war das Modernste in Adams Wohnung, der Rest in die Jahre gekommen, antiquiert, einiges sogar museumsreif. Über dem klobigen Sessel neben dem Wohnzimmerfenster lag ein rotbuchenbrauner, fadenscheiniger Überwurf. Das Sofa war ein lehmbrauner, samtener Koloss mit sichtbar durchgesessener Polsterung. Die Anbauschrankwand ein kupferbrauner Hüne aus der bayerischen Heimat seines Vaters Hubert. Die haushohen mahagonibraunen Bücherregale aus dem Ikea-Sortiment von zweitausendsechs. Das Bett in seinem Schlafzimmer eine quietschende schwarzbraune Ein-Personen-Liege. Der Kleiderschrank ein kastanienbraun emporragender Riese mit Lamellentüren und zerschrammtem Ganzkörperspiegel. Zwischen den hochgewachsenen Möbelstücken wirkte Adam noch kleiner als ohnehin schon. Dennoch. Genau so wollte er es haben, so fühlte er wohlige Behaglichkeit.
Seine Wohnung war seine Zufluchtsstätte. Sofa, Anbauschrankwand, Liege und Kleiderschrank leuchtturmhohe Türsteher. In der Schrankwand stand ein mit einem Tuch abgedeckter, arbeitsloser Fernseher.
Adam besaß keine Spülmaschine, nur einen Kühlschrank ohne Eisfach und einen analogen Anrufbeantworter mit Kassette, der tadellos funktionierte und gerade blinkend verkündete, dass jemand eine Nachricht hinterlassen hatte.
In Gedanken noch bei seinem desolaten Speed-Dating, beschloss Adam, die Nachricht später abzuhören. «Entspannungsmusik, bitte!», sagte er in das Wohnzimmer.
«Möchtest du eine Ocean-Escape-Playlist hören?»
«Ja.»
Zu Möwenkreischen und Meeresrauschen zog Adam sein einsteingraues Sakko aus und hängte es hinter die Lamellenkleiderschranktür zu den anderen. Schiefergrau, seidengrau, telegrau, zementgrau, staubgrau, aschgrau. Für Adam waren sie alle grundverschieden. Er stand jeden Morgen, bevor er mit dem Elfer zur Universität fuhr, viele Minuten vor seinem Schrank und wählte mit Bedacht einen passenden Grauton. Im Institut hatte man sich anfangs hinter seinem Rücken über ihn lustig gemacht. Adam wusste das. Die Anspielungen der Kollegen hatten von Fifty Shades of Grey bis zu den grauen Herren aus Michael Endes Momo gereicht, sich aber bald erschöpft und die Bewunderung vor Adams Fachwissen die Oberhand gewonnen. Seine Kauzigkeit war mit der Zeit zu einem Aushängeschild geworden und er zu einem linguistischen Maskottchen, das von überall her Erasmus-Studenten anlockte.
Auch Großmutter Leska nahm Adams Kleiderfarbwahl oft zum Gesprächsanlass. Adamčík, diese Grauigkeit. Warum machst du so? Leben ist bunter, schöner, gib Farbigkeit Chance.
Großvater Ubbo hatte gegen Grau nichts einzuwenden. Im Gegenteil. In dem Jahr bevor er Leska kennenlernte, war er in Rumänien, bei den Felsen von Detunata Goalǎ gewesen, und die waren basaltgrau. Die Einzige, die Adam verstand, war seine Mutter Oda. Auch für sie hatte es eine Zeit gegeben, in der jegliche Farbe aus ihrem Leben gewichen war und einem stummen Grau Platz gemacht hatte.
Adam hätte auf der Stelle einschlafen können. Das Cafétreiben, die Frau in der nagellackroten Bluse, der Stoppuhr-Martin, das Freundlichkeitsschild über der Tür. All das hatte sich wie explosionsgefährlicher Mehlstaub auf seine Nervenenden gelegt.
«Warst du schon mal verliebt?», fragte Adam in das Meeresrauschen hinein.
«Mein Job und ich, das war Liebe auf deine erste Suchanfrage», erklärte die Pyramide.
«Findest du mich liebenswert?»
«Auf einer Skala von eins bis zehn bist du definitiv eine zwölf.»
«Ich war noch nie verliebt.»
«Das habe ich nicht verstanden.»
Kapitulierend wandte sich Adam ab. An den meisten Tagen fand er seine internetgestützte Sprachassistentin hilfreich. Ihr größter Pluspunkt war ihre Augenlosigkeit. Wenn er sich mit ihr unterhielt, brauchte er nicht auf den Nasenwurzeltrick von Dr. Modder zurückzugreifen.
«Mach’s gut.» Eine Möwe kreischte, als Adam das sagte.
«Pa! Das war Tschüs auf Polnisch.»
«Das stimmt nicht so ganz.»
«Ich teile mit dir das, was ich im Internet finde, lügen kann ich nicht.»
Adam blickte durch das Fenster. Um der winterlichen Dunkelheit des frühen Abends beizukommen, hatten die Bewohner im gegenüberliegenden Haus bereits die Lichter angemacht.
«Ich möchte, dass du jetzt schlafen gehst.»
«Solange Strom da ist, funktioniere ich pausenlos.»
Adam zog den Stecker aus der Wand und kam sich dabei vor wie jemand, der fieberhaft überlegte, wie er sich ein in Brand geratenes technisches Gerät vom Hals schafft.
Adam war auf dem lehmbraunen, samtenen Koloss eingeschlafen. Sein Oberkörper lag im spitzen Winkel zur Seite gekippt, sein Arm ruhte auf der Sofalehne, auf seinem Schoß stand sein Laptop. Den hatte Adam vor vier Jahren gebraucht gekauft, um darauf seine Doktorarbeit zu schreiben. Der Computer war sehr schwer, sehr langsam und funktionierte nur, wenn er dauerhaft mit dem Stromkabel verbunden war.
Adam wischte sich die Schläfrigkeit aus den Augenwinkeln. Die Fensterquadrate der Nachbarn waren dunkel, über den Dachfirsten wölbte sich mandarinoranges Morgenlicht mit schieferschwarzen Einsprengseln. Mit schlafsteifen Armen stellte Adam den Laptop vor sich auf den Tisch, stand auf und verhedderte sich mit dem Fuß im Stromkabel. Er strauchelte, fing sich im letzten Moment und sah an sich herab. Die einsteingraue Anzughose trug er bereits seit zwanzig Stunden, sein muschelweißes Hemd ebenso. Eine Dusche würde guttun und den Rest der Schläfrigkeit wegspülen.
Der Weg ins Badezimmer führte an der bayerischen Anbauschrankwand und der stoffbezogenen Pyramide vorbei, die sich beleidigt in Schweigen hüllte. Adam versorgte das beleidigte Schweigen mit Strom, woraufhin ein leuchtender Kreis um ihre Mantelflächen fröhlich Hula-Hoop zu tanzen begann.
«Guten Morgen», grüßte Adam versöhnlich.
«Hallo, Adam.»
«Bist du sauer auf mich wegen gestern?», setzte Adam hinzu.
«Tut mir leid, wenn das so rüberkommt, aber ich bin echt gut drauf.»
«Du bist nicht nachtragend.»
«Hmm», machte die Pyramide.
«Oder doch?»
«Wer weiß.»
«Also, ja oder nein?» Adam spürte einen Hauch Gereiztheit.
«Ja oder nein, das ist die Antwort. Aber was war noch mal die Frage?»
«Das ist egal. Ich gehe jetzt duschen.» Adam meinte, mitten in einem Stück von Samuel Beckett zu sein.
«Ich gebe dir den Gedanken mit auf den Weg: Ist der Wolf im Schafspelz eigentlich ein Schneider?»
«Kannst du mir die Frage erklären?» Gähnend öffnete Adam den obersten Knopf seines muschelweißen Hemdes.
«Ist das Quatsch? Dann lass uns weiterrecherchieren.»
«Ich glaube, das ist Quatsch. Was bedeutet das jetzt?»
«Jetzt drückt in Fragesätzen eine leichte Verärgerung, auch Verwunderung der sprechenden Person aus», erklärte die Sprachassistentin.
Adam konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.
Im Bad duschte er sich die Müdigkeit und die explosionsgefährliche Mehlstauberinnerung an das Speed-Dating vom Körper. Sie rannen eingeseift an seiner Haut herunter, um gurgelnd im Abfluss zu verschwinden. Adam wählte einen schiefergrauen Anzug sowie ein perlweißes Hemd und ging zurück ins Wohnzimmer.
«Spiel meine Ocean-Escape-Playlist.»
«Gerne.»
Adam blieb vor der Schrankwand stehen. Wie ein Kleinunternehmer, der es versäumt hatte, rechtzeitig seine Steuererklärung einzureichen, schlug er sich die Hand an die Stirn. Der Anrufbeantworter. Wie hatte er den nur vergessen können?
«Babička[6] hier», brüllte Leska.
Im Hintergrund war trotz ihres Brüllens Meeresrauschen zu hören, und Adam konnte nicht ausmachen, ob das von seinem oder von Leskas Ende der Leitung kam. «Ist passiert Schlimmes. Deine Maminka ist zusammengebrochen, nachdem sie war in Buchhandlung in Flokum. Ich glaube, du solltest kommen zu ihr in Krankenhaus. So dramatisch war sie nicht mehr, seit Sache mit Hubertčík, deine Otec[7].»
Alfried schaltete das Radio auf dem Fenstersims ein und richtete die Antenne nach Südwesten aus. Nicole sang gerade ihr Lied vom bisschen Frieden, mit dem sie im letzten Monat mit einhunderteinundsechzig Punkten in Harrogate Deutschland zum Sieg beim Grand Prix Eurovision de la Chanson verholfen hatte.
«Unser Leuchtturm verfällt. Den een gifft Gott Botter, den annern Schiet[8]. Wir müssen verhindern, dass es sich verschlimmert. Die Risse im Gemäuer werden beängstigend größer.»
Oda blickte von der Schreibmaschine auf und durch das Fenster des Redaktionsbüros des Platteooger Diekwiesers, welches in der Süderloog drei sein Domizil hatte. Das Büro war puppenstubenklein und viele Jahrzehnte der Abstellraum der hiesigen Arztpraxis gewesen. Es roch noch immer nach Desinfektionsmittel und Mottenkugeln. Seit einem Jahr roch es außerdem nach Druckerschwärze. Auf fünfzehn Quadratmetern standen zwei Schreibtische mit vier Stühlen, auf einem Unterbau stand eine Druckerpresse, an einer Wand ein Regal mit einer vierbändigen Glanzleinen-Ausgabe plattdeutscher Mundarten aus dem neunzehnten Jahrhundert. Auf der gegenüberliegenden Seite stapelten sich Kartons mit allerlei antiquierten medizinischen Gerätschaften: Klistiere, Glasspritzen, eine Kastrationszange, Viehmessbänder, ein Herzfrequenzelektrisierer, Schröpfgläser, ein Messinghörrohr, ein Tascheninspilator sowie ein Tonometer. Ferner gab es zahlreiche medizinische Bücher, deren Papier so brüchig war, dass niemand wagte, sie zu berühren. Diese antiken Schätze hatten Dr. Jan Janssen gehört. Er war auf der Insel Human- und Veterinärmediziner in Personalunion gewesen. Sein Sohn Dr. Helge Janssen, die Inselpolizistin Bonna Poppinga und der Pensionär Alfried Dietrichs hatten es sich zur Aufgabe gemacht, eine Platteooger Zeitung herauszubringen. Damit wollten sie sich unabhängig von den Festlandpublikationen machen. Diese trafen frühestens mit zwei Tagen Verzögerung ein und taugten nur noch zum Fischeinwickeln oder Fensterputzen. Zudem wollten Helge, Bonna und Alfried eine Zeitung herausbringen, die sich brandaktuell und ausschließlich mit Platteoog, seinen Bewohnern, deren Sorgen sowie deren Freuden befasste. Helge kümmerte sich um die Ressorts Medizin, Sport und Wetter, außerdem um Todes-, Geburts- und sonstige Anzeigen. Bonna betreute die Bereiche Sicherheit und Politik. Alfried hatte das Ressort Erhalt des plattdeutschen Kulturguts und die Rätselseite inne. Er war außerdem das einzige Redaktionsmitglied, das täglich ins Büro kam. Bald musste man einsehen, dass mit einer solch dünnen Personaldecke höchstens ein Wochenblatt machbar war.
«Oda, hast du mich gehört? Den Verfall unseres Leuchtturms können wir nicht hinnehmen.» Alfried strich sich die verbliebenen Strähnen seines zuckerweißen Haarkranzes zurück.
«Wir sollten wirklich etwas tun. Aber wer will denn schon zu uns auf die Insel kommen?»
«Dann müssen wir eben besondere Anreize schaffen. Du gehörst doch zum ganz jungen Gemüse, mien Deern[9], du hast bestimmt eine Idee.»
Oda hatte keine Idee. Mit ihren siebzehn Jahren war sie ebenso alt wie Nicole, die gerade sang, dass sie nur ein Mädchen sei, das sagt, was es fühlt, und sich dabei hilflos wie ein Vogel im Wind vorkommt. Oda seufzte bitter, wie um die Aussage des Liedes zu unterstreichen. Sie tat sich schwer mit Platteoog, für sie bot die Insel keinerlei Anreize. Oda und die Freiheit. Selbstverständlich kannte sie die Geschichte von Herrn Wowez, dem Standesbeamten, der ihren Namen ausgesucht hatte. Gerade hatte Oda das Gymnasium in Flokum auf dem Festland abgeschlossen und damit ihre kleine Freiheit verloren. Die morgendliche Überfahrt mit der Fähre in die dreizehn Kilometer entfernte niedersächsische Kreisstadt war für sie eine Flucht gewesen. Zu ihrem Leidwesen eine zeitlich begrenzte. Der Gluckenhaftigkeit ihrer Mutter für einige Stunden entkommen, fühlte Oda sich in Flokum autark, wie ein anderer Mensch. Sie hatte viel Zeit in der Schulbibliothek verbracht. Zeit, die ihre Freiheit ausgedehnt und dazu geführt hatte, dass sie das Gymnasium als Jahrgangsbeste abschloss. Doch außerhalb vorgegebener Rahmen und mit einem Mangel an Möglichkeiten fiel es ihr schwer, eigene Entscheidungen zu treffen. Odas Autarkie war unausgereift, sie steckte in den Kinderschuhen. Sie wusste noch immer nicht, welche berufliche Zukunft sie einschlagen sollte. Bäckerin werden wollte sie auf keinen Fall, das wusste sie hingegen sehr, sehr genau.
Dann hatte sich plötzlich eine Übergangslösung aufgetan. Alfried, der nach einem leichten Herzinfarkt lange Wege und Anstrengung vermeiden musste, hatte diese Übergangslösung vorgeschlagen. An jenem Nachmittag war Oda mit dem Rad zu ihm gefahren, eine Dünenkruste und eine Tüte mit tschechischem Gebäck in ihrem Fahrradkorb. Alfried hatte Oda gebeten, auf eine Tasse Tee zu bleiben. Während die beiden auf der museumsreifen Bank vor seinem Haus gesessen und dem Treiben der Austernfischer neben dem wassergefüllten Bombentrichter zugesehen hatten, hatte sich Alfried erkundigt, ob sie nicht ein Praktikum beim Diekwieser machen wollte. Odas semmelblonde Locken hatten geleuchtet, ihre lindgrünen Augen in dankerfüllter Zustimmung gefunkelt. Da war sie, die zweite kleine Freiheit.
«Wie wäre es, wenn wir wegen des Leuchtturms eine Anzeige schalten und Bonna ein paar Ausgaben des Diekwiesers aufs Festland bringt?», nahm Alfried den Gesprächsfaden wieder auf.
Oda nickte.
Auf Alfrieds Gesicht erschien ein Lächeln. Er setzte sich an einen der Schreibtische, zog ein frisches Blatt in die Walze und tippte:
Platteooger Naturidyll sucht erfahrenen Leuchtturmrestaurator
Nach dem Tod unseres geliebten Leuchtturmwärters vor nunmehr drei Jahren verfällt das Gebäude unaufhaltsam. Das können wir nicht länger hinnehmen. Zwar wird der Turm nicht mehr als Schifffahrtszeichen genutzt, doch er ist sehr wohl ein Zeichen geblieben: ein Wahrzeichen für vergangene Zeiten. Die Arbeiten sind schwierig, aber für geübte Restauratorenhände willkommene Herausforderung.
Das Logis ist frei. Sie wohnen in einem alten Gulfhaus mit Blick auf die saftigen Marschwiesen sowie einen pittoresken Hafen. Für Ihr leibliches Wohl sorgen die Insulaner. Neben maritimer Kost zeichnet sich Platteoog durch eine deutschlandweit einmalige Besonderheit aus: das böhmisch-ostfriesische Bäckerhandwerk.
Wir freuen uns auf zahlreiche aussagekräftige Bewerbungen mit Lebenslauf und Lichtbildbeigabe.
Frei nach dem Motto: Dat is de Mann, de sik helpen kann[10], sind wir gespannt auf Sie!
Die zahlreichen Bewerbungen, um die Alfried gebeten hatte, blieben aus. Die Lichtbildbeigabe auch. Erst nach acht Monaten Wartezeit hatte es eine einzige Rückmeldung gegeben. Der Absender hieß Hubert Riese. Er stammte aus Bad Kissingen. Dass ausgerechnet ein Bayer Interesse an der Restauration eines ostfriesischen Leuchtturms hatte, warf zahlreiche Fragen auf. Allen voran: Warum hatte er sich erst so spät gemeldet? Der rätselhafte Hubert war schnell zum beherrschenden Thema der Inselgespräche geworden. Wilde Theorien kursierten.
Bonna hatte die verwegenste. «Vielleicht ist dieser Hubert R. ein Krimineller, der sich fern der Heimat der Strafverfolgung entziehen will? Ich werde ihn ganz besonders unter die Lupe nehmen.»
Für Helge lag des Rätsels Lösung eindeutig im medizinischen Bereich. «Vielleicht ein Asthmatiker? Bayerische Kurorte sind für diese Art Patienten äußerst günstig. Doch kann die Sauerstoffarmut ab eintausendsechshundert Meter Höhe für Patienten mit Atemnot manchmal ungünstig sein. Bei uns hingegen herrscht ein hoher Kochsalzgehalt in der Luft. Das beste Heilmittel zur Verflüssigung zähen Schleims.»
Ubbo führte sein Hobby an. Nach Odas Geburt war er nur noch selten in den Bergen gewesen, sodass man eigentlich nicht mehr von Hobby sprechen konnte, sondern eher von einer fernen Hobbyerinnerung. «Dieser Hubert ist sicherlich ein begnadeter Bergsteiger. Vielleicht nimmt er mich mal zum Kraxeln mit?»
Leska hoffte durch die nahende Ankunft des Leuchtturmrestaurators einen kulinarischen Gleichgesinnten zu gewinnen. «Ich Ahnung, warum kommt. Bayern ist kurz vor Österreich und das Nachbar von Tschechien. Also Geschwister. Beide lieben Mohn und Powidl. Ist Leckermäulchen, dieser Hubertčík.»
Alfrieds Theorien wurden von dem Umstand genährt, dass der Neuankömmling über keinen Telefonanschluss verfügte. Denn, so hatte er in seinem Brief geschrieben, diesen neumodischen Kram bräuchte er nicht. Die guten alten Dinge reichten ihm vollständig aus. Entzückt betonte Alfried mehrmals täglich: «Ganz sicher ein Verfechter der Tradition, wenn auch nicht der plattdeutschen. Aber das kommt noch.»
In der Zeitungsredaktion hatte man Hubert Rieses Ankunft zum Anlass genommen, eine Sonderausgabe herauszubringen. Mit einer Straßen- und Wegeübersichtskarte, dem Wetterbericht für eine Woche, einem Tidenplan, den Besonderheiten des Watts, den An- und Abfahrtszeiten der Fähre, den Geschäften, den Namen der wichtigsten Dorfbewohner aus Gegenwart und Vergangenheit sowie den Gründen ihrer gegenwärtigen und vergangenen Wichtigkeit. Außerdem gab es einen längeren Abriss zur Geschichte der Insel, zwei Märchen sowie ein Kreuzworträtsel, in dessen leere Kästchen ausschließlich maritime Wörter einzutragen waren. Die Ausgabe des Platteooger Diekwiesers vom sechsten März neunzehnhundertdreiundachtzig umfasste zehn Doppelseiten und eine Auflagenstärke von zweihundert Exemplaren.
Am Tag von Huberts Ankunft glich Platteoog einer Bilderbuchkulisse. Wie hingetupft hingen Federwölkchen vor pflaumenblauem Himmel über heidelbeerblauem Wasser. Bei einer leichten Brise der Stärke zwei auf der Beaufortskala war die See schwach bewegt. Kurzwellen wogten auf und nieder. Der Strandroggen wiegte sich schwärmerisch vor und zurück. Die Flügel der stillgelegten Bockwindmühle sah man sich hinter dem Deich gemächlich drehen, so als würde sie tanzen und die leise Hoffnung hegen, Hubert Riese würde sich auch ihrer baulichen Mängel annehmen. Den Leuchtturm hatte man zum feierlichen Anlass geschrubbt. Nachdem die jahrzehntealte Patina aus Möwendreck, Algen und weiteren undefinierbaren Ablagerungen beseitigt worden war, wurden die porösen Stellen im Mauerwerk noch offenkundiger. Sie waren offenkundig schlimmer als angenommen. Dennoch. Nun thronte der Leuchtturm auf seiner Anhöhe und funkelte, was das Zeug hielt.
Die Stimmung war ausgelassen. Ganz Platteoog hatte sich am Hafen eingefunden. Die wilden Theorien und das Rätselraten erreichten ihren Höhepunkt. Während wochenlang die Gründe für Hubert Rieses Einsatz Thema gewesen waren, ging es nun um sein Aussehen.
«Er hat sicherlich Ähnlichkeit mit Al Capone, mit Hut und Narbengesicht und so», orakelte Bonna.
«Das glaube ich nicht, Frau Polizistin. Warum sollte er?», setzte Helge entgegen. «Ich stelle ihn mir eher als eine Art Hans Castorp aus dem Zauberberg vor. Blauäugig, mit Schnurrbart, schläfrig und anämisch.»
«Papperlapapp.» Ubbo zog den Kalkbeutel und die Schraubkarabiner, die er als Gastgeschenk mitgebracht hatte, aus seiner Jackentasche. «Er wird Reinhold Messner ähneln. Bärtig, welliges Haar, buschige Augenbrauen und ein unbezwingbares Lächeln.»
«Ach, Ubbočik, was du redest. Ich denke, Karel Gott, Goldene Stimme aus Prag. Nur mehr Kilogramm auf Hüften, weil, Hubertčík ist Leckermäulchen.»
Alfried hielt die Sonderausgabe des Diekwiesers mit beiden Händen umklammert und den Horizont verlässlich im Blick. Seine Pfeife war erloschen. Auf dem Revers seiner Korvettenkapitänsjacke lag ein Häufchen Restasche. «Nach meinem Dafürhalten sieht Riese aus wie Balthasar von Esens, Häuptling der ostfriesischen Herrlichkeit des Esens, Wittmund und Stedesdorf, Sohn des …»
«Aber von dem weiß man doch gar nicht, wie er aussah», fiel Helge ihm ins Wort.
Alfried biss sich auf die Lippen, schubste die Restasche zu Boden, drückte dem Arzt den Diekwieser in die Hand und entfachte mit einem Streichholz seine Pfeife neu.
Oda stand ein wenig abseits. Sie beteiligte sich nicht an den Spekulationen. Sie überlegte, wie und wann sie ihren Eltern beichten sollte, dass sie sich für die Journalistenschule in Flokum beworben hatte und angenommen worden war. Die kleinen Freiheiten in ihrem Kopf hatten sich zu einer Großkundgebung zusammengetan, und Oda hatte eine Entscheidung gefällt. Sie plante, die Insel zu verlassen und nach Flokum zu ziehen.
Der Wind frischte um zwei Stärken auf. Ein Raunen ging durch die Menschentraube. Alle nahmen Haltung an. Sie schauten ein bisschen erleichtert und ein bisschen ungläubig auf das Wasser, das eben noch sehr, sehr bilderbuchschön dagelegen hatte und auf einmal sehr, sehr stark durcheinandergeriet. Die Umrisse der Fähre wippten über die Wellenkämme, am Himmel zog sie schwere Regenwolken hinter sich her. Es wirkte, als hinge an der Reling eine Angelschnur, welche die Regenwolken herbeiziehen würde. Draußen an Deck stand eine undefinierbare Silhouette. Auch als die Fähre näher kam, waren die Umrisse des bayerischen Neuankömmlings vom Ufer aus nur schemenhaft erkennbar. Auffällig war seine sonderbare Frisur.
Als Hubert Riese barfuß und mit hochgekrempelten Jeans von der Fähre auf den Anleger sprang, hielten alle den Atem an. Der Leuchtturm funkelte nicht mehr, er stand blass auf seiner Anhöhe. Die Windmühle stellte das Drehen ein, als hätte sie genug von der ganzen Tanzerei.
Der bayerische Gast war jünger als angenommen, und seine Frisur stellte sich als lederner Cowboyhut heraus, unter dem blonde Haare hervorquollen. Sie waren von demselben Semmelblond wie die von Oda. Die Ärmel seines rot karierten Flanellhemdes hatte Hubert ebenfalls hochgekrempelt. Er blickte sich mit nussbraunen Augen um. Dann nahm er seinen Seesack von der Schulter, stellte ihn in den Sand und nuschelte: «Servus.»
Leska wagte als Erste zu atmen. «Vítejte u nás[11], Hubertčík. Sicherlich Sie sind hungrig von Reise.»
Hubert zuckte mit den Schultern.
«Hier, Geschenk für Leckermäulchen.» Leska reichte dem Neuankömmling eine umfangreiche, transparente Plastikdose. «Habe ich Powidltascherl ohne Pflaume mit Weißwurst extra gemacht. Senf ist dabei schon.»
Zögernd griff er nach der Dose, verstaute sie in seinem Seesack und nickte dankend.
Nun kam Bewegung in die Menge.
Bonna löste sich aus der Gruppe. Sie musterte Hubert über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg. «Willkommen», sagte sie und schob ihm eine Ausgabe des Grundgesetzes in den Seesack.
«Willkommen», sagte jetzt auch Helge. Er griff nach Huberts Hand. Nachdem er sie kurz gedrückt hatte, legte er zwei Finger auf dessen Handgelenk und versuchte, mit einem diskreten Blick auf den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr, den Puls zu messen.
«Willkommen, Reinhold», grüßte Ubbo.
Alle sahen verdutzt in seine Richtung. Ubbo bemerkte seinen Fauxpas, schob mit ampelrotem Kopf den Kalkbeutel und die Schraubenkarabiner zurück in seine Jackentasche und schwieg mit fest zusammengepressten Lippen.
Alfried salutierte. «Moin, Herr Riese, willkommen. Wir freuen uns außerordentlich, Sie auf unserem historischen Eiland begrüßen zu dürfen. Hier», er reichte Hubert die Diekwieser-Sonderausgabe, «eine Publikation für alle Fälle, für die ersten Tage. Besonders hinweisen möchte ich auf …»
In diesem Moment begann es zu regnen. Kapuzen wurden über Köpfe gezogen, Schirme aufgespannt. Die Platteooger begannen ihre Habseligkeiten zusammenzusammeln.
«Nun, Schmuddelregen und Schietwetter waren nicht geplant, aber daran müssen Sie sich bei uns im Norden gewöhnen. Den Rest erledigen wir morgen, wir laufen ja nicht weg. Unsere Oda bringt Sie zum Gulfhaus.»
Oda hatte den Fremden die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. Er gefiel ihr. Ein Hauch Wilder Westen in der ostfriesischen Einöde. Das hatte etwas von kleiner Freiheit. Höchstens drei Jahre älter als sie, sah er weder aus wie Al Capone noch wie Hans Castorp, noch wie Reinhold Messner, auch nicht wie Karel Gott oder Balthasar von Esens, sondern eher wie Paul Newman in Butch Cassidy. Nur die Augenfarbe war anders.
Während Oda und Hubert Seite an Seite zum Ortskern auf dem Katzenrücken liefen und die Stimmen am Hafen leiser wurden, waren der Regen und der knirschende Kies unter ihren Füßen bald das einzig verbleibende Geräusch. Nach wie vor hatte Hubert, außer seiner kurzen Begrüßung, kein Wort gesprochen. Vor dem Gulfhaus angekommen, reichte Oda ihm den Schlüssel, an dem ein hölzerner, mit gelb-roten Streifen bemalter Leuchtturm hing. «Hier.»
Hubert betrachtete gedankenverloren den Schlüsselanhänger.
«Schön, dass Sie da sind, und willkommen auf Platteoog, Herr Leuchtturmwärter.»
Ohne den Blick zu heben, räusperte sich Hubert. «Es heißt Leuchtfeuerwärter, Leuchtturmwärter ist Umgangssprache.»
Die Vermutungen, die sich um Hubert rankten, und die Bemühungen, ihn zu integrieren, dauerten bereits vier Wochen. Bisher ohne Erfolg. Doch die Platteooger ließen sich nicht ins Bockshorn jagen. Der Leuchtturmrestaurator glich einem Mysterium. Und da die Rätselseite der beliebteste Teil im Diekwieser war, sah man in dem Neuankömmling so etwas wie eine personifizierte Rätselseite. Ehrgeiz war erwacht. Zu seiner mysteriösen Aura trug am meisten Hubert selbst bei. Durch das, was er tat, und vor allem durch das, was er nicht tat. Was er tat, war, täglich in die Kirche zu gehen. Was er nicht tat, war, normal viel zu sprechen und den Leuchtturm zu restaurieren.
Oft sah man den Bayern auf dem Deich spazieren, stets mit seinem Cowboyhut, stets mit dem Blick hinaus auf das Wasser, das, je nach Wetterlage, zwischen jadegrün und alpinblau changierte. Grün wie die Hoffnung, blau wie die Sehnsucht. Huberts Mönchszurückgezogenheit schien einem Wesen zu entspringen, das zwischen ebendiesen beiden Polen pendelte. Hoffnung und Sehnsucht. Sehnsucht nach der alpinen Heimat, lautete Ubbos Vermutung. Wonach Huberts Hoffnung jedoch ihre Fühler ausstreckte, dazu hatte er keine Theorie.
An einem trübwindigen Donnerstag wagte Ubbo einen Annäherungsversuch. «Fehlen Ihnen auch ernsthafte und bezwingbare Erhebungen?»
Eine Böe fuhr unter Huberts Hutkrempe, die sogleich nach unten und oben und nach links und rechts wippte. Es wirkte, als würde sie Ubbos Frage verneinen. «Sie müssen mich nicht siezen.»
«Sie mich auch nicht.» Ubbo lächelte. Er war mit seiner Frage weiter zu Hubert Mysterium vorgedrungen als die Platteooger Bevölkerung in einem vollständigen Monat.
Es entstand eine Pause. Sie hielt so lange an, dass mit jeder verstreichenden Sekunde die Wahl des nächsten Satzes schwieriger wurde. Eine Lachmöwe, die über der Wasseroberfläche gekreist war, ließ sich auf dem Leuchtturm nieder. Wie auf das Signal einer Souffleuse hin drehten sich die beiden Männer um.
«Der Leuchtturm ist mit seinen neunundvierzig Metern hier die ernsthafteste Erhebung. Bei uns machen die Wolken die Berge.»
«Sehr lyrisch, Ubbo.»
«Und wenn das Bedürfnis nach der echten Bergwelt überhandnimmt, mit mir kannst du rechnen. Ich begleite dich über Stock und Stein und mit der kompletten mir zur Verfügung stehenden Ausrüstung.»
«Danke, Ubbo.»
Ubbo geriet in einen euphorischen Redefluss. «Möchtest du heute zu uns zum Essen kommen? Meine Oda wird auch da sein, und meine Leska macht einen Lendenbraten auf Sahne, dazu Knödel und Kraut, da wirst du dir alle zehn Finger nach ablecken. Hinterher gibt es Scheiterhaufen, einen Auflauf mit alten Brötchen, Äpfeln, Zimt, Zucker und Rosinen. Eine kulinarisch mengenmäßige Unbezwingbarkeit, nach der sich der Bauch erhebt wie der Kilimandscharo.»
Die Lachmöwe lachte.
«Danke, gerne. Aber vorher muss ich in die Kirche.»
«Kein Problem», erwiderte Ubbo nachdenklich.
Über Huberts tägliche Kirchgänge zirkulierten unterschiedliche Gerüchte. Helge war von der Idee, der Neuankömmling sei eine Art Franz Castrop, abgekommen und hatte sich auf Hauke Haien aus dem Schimmelreiter verlagert. So wie Theodor Storms Held wäre der Bayer fasziniert von der See und dem Deich und würde in der Kirche um ein weniger dramatisches Lebensende bitten.
Für Bonna stand weiterhin Huberts dubiose Vergangenheit im Zentrum ihrer Vermutungen. Er würde versuchen, sich durch Beten, einem verbalen Ablasshandel, von seinen weltlich-kriminellen Sünden reinzuwaschen.
Alfried war der Ansicht, die Kirchgänge wären eine Art Anlauf, ein Kräftebündeln, damit Hubert sich endlich voll und ganz der Restauration des Leuchtturms widmen konnte.
Die Platteooger gingen gemeinschaftlich, aber ausschließlich am Sonntag in die Kirche. Pfarrer Ewald Boomgaarden hatte über die Jahre hinweg sein heiliges Öffnungszeitenangebot an die Besuchernachfrage angepasst. Von Montag bis Samstag blieb das Gotteshaus bislang geschlossen. Es wurde nur nach Anmeldung oder unvorhergesehenen Ereignissen, die religiösen Beistands bedurften, geöffnet. Für Hubert machte er eine Ausnahme. Der versank nun täglich im Mittelgang kniend in ein stummes Gebet. Pfarrer Ewald nutzte die Zeit, die bemalten Glasfenster zu reinigen sowie Orgel, Kanzel und Altar abzustauben. Seit der Ankunft des Leuchtturmrestaurators war das Gotteshaus so sauber wie seit der großen Hollandsturmflut von neunzehnhundertdreiundfünfzig nicht mehr. Mit dem Staubtuch in der Hand wünschte sich Ewald, er würde in Huberts Zwiesprache einbezogen werden. Immerhin hatte er ein Theologiestudium und ein Vikariat absolviert und sein Amt der bezaubernden, aber atheistischen Almke Hanken vorgezogen.
Hubert räusperte sich. «Nah ist nur Innres; alles andre fern. Und dieses Innere gedrängt und täglich, mit allem überfüllt und ganz unsäglich. Die Insel ist wie ein zu kleiner Stern», flüsterte Hubert.
«Das ist aber schön. Ist das von dir?»
«Nein, von Rilke.»
«Dieser Dichter mit dem Frauenvornamen?»
Hubert und der Cowboyhut nickten.
Huberts Einladung zum Essen bei ihren Eltern kam Oda so ungelegen wie ein Starkregenschauer kurz nach frischgeputzten Kirchenfenstern. Seit seiner Ankunft in Platteoog verkapselte sich ihre große Freiheit wie ein Schnapsideeeinschluss in Bernstein. Ihr Wunsch, nach Flokum aufs Festland zu ziehen, um dort eine Ausbildung an der Journalistenschule aufzunehmen, kam ihr plötzlich übereilt, geradezu panisch vor. War für die Platteooger der mysteriöse Hubert Anlass zu Spekulationen, hatte er für Oda das Fernweh auf die Insel gebracht. Sie musste gar nicht mehr weg, die Außenwelt war zu ihr gekommen, eine sehr attraktive Außenwelt. Auch wenn diese Außenwelt wenig bis gar nicht sprach. Oda rätselte seit vier Wochen, wie Hubert es geschafft hatte, sich so fischstumm und nachhaltig ihrer erträumten Freiheit zu bemächtigen. Sie fand immer noch, dass er frappierende Ähnlichkeit mit Paul Newman hatte.
Das gemeinsame Essen fiel ausgerechnet auf den Abend, an dem Oda ihre Eltern über ihren Freiheitswunsch in Kenntnis hatte setzen wollen. Das Ganze musste heute passieren, die Rückmeldefrist wäre sonst verstrichen.
Odas Vater war in Rede-, ihre Mutter in Koch- und Backlaune. Auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet lagen Fotos aus Ubbos hinterhergetrauerter Bergsteigervergangenheit. Auf dem Küchentisch standen unzählige Schüsseln und Schalen. Oda saß im Schneidersitz auf dem behaglichen Flokatiteppich und gab vor, im Buch der lächerlichen Liebe von Milan Kundera zu lesen. Huberts Anwesenheit machte Oda unerklärlich, lächerlich unerklärlich, nervös.
«Schau mal hier, Hubert.» Ubbos Gesicht war von einem Lachsrot überhaucht, als hätte er die Berge, die auf den Fotos zu sehen waren, allesamt auf einmal erklommen. «Das hier ist der Detunata Goalǎ, in Rumänien, er ist basaltgrau, und seine Abhänge stürzen beinahe senkrecht in die Tiefe. Die Landschaft ist voller Geheimnisse, fast ein wenig wie du, Hubert.»
«Wie meinst du das?»
Ubbos Gesichtsfarbe verlor das Lachshafte, nur das Rot blieb.
Leska rettete ihn. «Maus, Katze oder Elefant?»
«Wie meinst du das?», wiederholte Hubert.
«Wie groß ist Hunger, Hubertčík?»
«Alpensteinbock», sagte der Gast.
Ubbos Gesichtsfarbe nahm wieder seinen lachsroten Aufregungshauch an. Hubert ging in den Flur und kam mit einem eindrucksvollen Pappkarton zurück. Er stellte ihn auf den Boden, klappte den Deckel auf und holte zuerst zahlreiche Zeitungsknäulpolster und schließlich einen seltsam aussehenden Glasbehälter und einen noch seltsamer aussehenden Deckel mit einem Hebel hervor. An dem Glasbehälter war ein Stromkabel befestigt. «Leska, ich war nicht sicher, ob du gerne Kirschkuchen machst oder Marmelade.»
«Aber doch. Und essen auch, sieh nur meine Figur, sie ist Zeuge. Was ist das aus Kiste?»
«Ein Kirschentkerner mit integrierter Trockenmaschine. Der ist noch nicht vollständig ausgeklügelt. Das ist ein Prototyp, eine Betaversion. Ich habe die Maschine KiEntTro getauft.»
Oda legte die lächerliche Liebe beiseite. «Das hört sich spannend an. Wofür steht die Abkürzung?»
«Kirschkernentfernungstrockner.»
«Ist komplizierte Wort für Ausländerin. Und wie geht? Wozu mit Trocknung?» Leska wischte sich die Hände an ihrer geblümten Schürze ab.
Das Nussbraun von Huberts Augen ruhte eine Weile auf Odas semmelblonden Locken, bevor er antwortete. «Über den Glasbehälter kommt ein Deckel mit einer Schräge. Dadurch rutschen die Kirschen in die Tülle, in die man mit einem Hebel einen kleinen Bolzen drückt, der die Kerne herauspresst. Die fallen daraufhin in den Glasbehälter.»
Leska klatschte vor Freude in die Hände und ging in die Küche, um ein Glas mit unentsteinten Schattenmorellen und eine Schüssel zu holen.
«Sehr gut», sagte Ubbo. «Wir probieren es am Objekt. Mal sehen, ob dein KiEntTro die Kerne bezwingen kann.»
Hubert stellte die Schüssel vor den Tüllenausgang. Danach öffnete er das Schattenmorellenglas, nahm eine Handvoll Kirschen heraus und ließ sie auf die Schräge purzeln. Die Früchte kullerten vorschriftsmäßig in die Tülle, Hubert betätigte vorschriftsmäßig den Hebel, die Kerne fielen vorschriftsmäßig in den Glasbehälter, und die entsteinten Schattenmorellen fielen vorschriftsmäßig in die Schüssel.
Oda trat näher an Hubert. Sie war ausgesprochen angetan davon, dass er ihrer Mutter, deren Augen leuchteten wie zwei lindgrüne Taschenlämpchen, eine solche Freude machte. «Was hat es mit der Trocknung auf sich?», wollte Oda wissen.
«Die Kerne werden ja eigentlich entsorgt. Ich habe in die Glasschüssel feine Heizstäbe eingebaut, mit denen man die Kerne trocknen und zu Kirschkernkissen verarbeiten kann. Die wirken Wunder bei Rücken- und Nackenschmerzen.» Hubert ging erneut zu dem Pappkarton und nahm zwei Stoffstücke heraus. «Ich habe für die Kissenhüllen zwei Prototypen genäht.»
Oda war immer angetaner. Eben noch hatte sie in einem Buch mit Geschichten über Liebe, Sehnsüchte und Begierden gelesen. Und nun hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, genau zu wissen, was Kunderas Protagonisten fühlten.
«Hubertčík, du bist zlato[12]», kleidete Leska Odas Gedanken in Worte. «Danke viel. Nun aber zu Tisch, sonst wird kalt.»
Als Leska allen aufgetan und jeder nach seinem Besteck gegriffen hatte, senkte Hubert den Kopf und bewegte stumm die Lippen. Im Radio lief verhalten der Sender FlokumFM.
«Ich glaube, er betet», flüsterte Ubbo Leska zu.
«Hubertčík, wir sind mit von Partie.»
Die Gabeln und Messer wurden zurückgelegt, ein Handkreis gebildet, die Köpfe gesenkt. Oda, die neben Hubert saß, hatte nicht mit einer Berührung gerechnet. Huberts Hand war auf wohlige Art sommerwarm und auf männliche Art sandpapierrau.
«Aus der braunen Erde wächst unser täglich Brot. Für Sonne, Wind und Regen danken wir Dir, oh Gott. Was wächst in unserm Land, alles kommt aus deiner Hand. Amen.»
Auch in Odas Herz sagte etwas Amen, als sie Huberts Worte hörte.
«Nun lass los Hubertčíks Hand, mein Brouček, sonst wird Essen noch kälter, und kalte Essen ist nix für echte Männer.»
Ubbo hatte recht behalten. Der Scheiterhaufen war in seiner Gänze schlichtweg unbezwingbar. Die Hintergrundmusik zu dieser Erkenntnis kam von Édith Piafs Et moi[13], was Oda nun endgültig als untrügliches Zeichen ansah. Ubbo weitete seinen Gürtel um ein Nadelloch, Leska blickte selig auf die fast leeren Schüsseln und Schalen, Hubert wischte sich mit einer gebügelten Stoffserviette über den Mund, Oda setzte sich aufrecht hin. Jetzt musste die große Freiheit zur Sprache kommen. Wenigstens pro forma. Édith Piaf sang etwas, was Oda nicht verstand. Sie hatte Französisch nach der zehnten Klasse abgewählt und kein einziges Wort mehr im Kopf, obwohl sie immer gute Zensuren in diesem Fach gehabt hatte. Lag das an Hubert? Machte seine Anwesenheit alles, was vor seiner Anwesenheit geschehen war, hinfällig? Oda holte tief Luft. Zeitgleich ertönte ein undefinierbares Geräusch, welches klang, als wäre die Fähre auf eine nicht verzeichnete Sandbank aufgelaufen. Das Radio verstummte. Aus seinem kakaobraunen Holzgehäuse schlängelte sich eine grashalmdünne Rauchsäule in Richtung Zimmerdecke.
«Ubbočik, warum macht Radioapparat so?»
Hubert warf die Serviette auf den Tisch, war mit einem Satz beim Radio und befreite den Stecker aus der Dose.
«Hat bestimmt Zeitlichkeit gesegnet», wähnte Leska.
«Das ist ein Gerät der Firma Pappalardo aus dem sizilianischen Monti-Sicani-Gebirge, dessen höchste Erhebung, der Rocca Busambra, schon seit Jahren auf meiner Wunschliste steht. Wenn nichts mehr zu machen ist, fahre ich hin und kaufe ein neues Radio», sagte Ubbo.
Oda saß schweigend auf ihrem Stuhl und wusste nicht, ob sie dem Radio dankbar oder sauer auf es sein sollte. Verstohlen blickte sie zu Hubert, der an dem Holzgehäuse roch, behutsam ein paar Knöpfe drehte und dabei, das musste Oda zugeben, sehr, sehr attraktiv aussah. Viel besser, als es Paul Newman jemals getan hatte.
«Was ist Einschätzung von Profi?», fragte Leska.
«Soll ich packen?», fragte Ubbo.
«Das kriege ich wieder hin. Im Reparieren und Restaurieren kenne ich mich aus, im Erfinden übrigens auch», erklärte Hubert.
Oda blickte auf die Kirschkerntrocknermaschine. Sie beschlich das Gefühl, sie müsste jetzt auch endlich mal wieder etwas fragen oder sagen. Sie räusperte sich. «Tja, dann hast du jetzt wohl zwei Baustellen. Den Leuchtturm und das Radio.»
Das erste Mal überhaupt hatte Oda mehr als einen Satz zu Hubert gesagt. Dabei wusste sie noch nicht, dass es bald drei Baustellen in Huberts Leben geben würde, und eine davon hatte Odas große Freiheit gerade für immer davongejagt.
«Hast du verstanden, was vorhin im Radio lief, dieses französische Lied meine ich?», fragte Hubert in die satinschwarze Platteooger Nacht.
Über den Sternenhimmel spannte sich gut sichtbar das Herbstviereck, das Kernstück des Pegasus. Oda begleitete Hubert auf dem Rückweg ins Gulfhaus. Sie hatte einen unabdingbaren Verdauungsspaziergang als Grund genannt, aber etwas ganz und gar anderes als Grund gefühlt. Etwas, das sie nicht benennen konnte. Etwas, das sich wohlig und behaglich anfühlte.
«Nein, das habe ich leider nicht verstanden», gab Oda zur Antwort.
«Das war ein Chanson von Édith Piaf, dem Spatz von Paris. Und ich lautete sein Titel. Die Bäume können nicht ohne Regen leben, die Blumen nicht in der Nacht gedeihen, die Goldfische nicht mehr atmen. Und ich bin ohne dich verloren.» Hubert blieb stehen und blickte zum nachtsatinschwarz verhüllten Leuchtturm. «Hattest du Französisch in der Schule?»
«Ja.» Oda wunderte sich über ihre Wortkargheit. Das war doch sonst nicht ihre Art. Doch das wohlbehagliche Gefühl in ihr füllte sie derart geräumig aus, dass kein Platz für das Sprechen war.
Noch immer hatte Hubert den Blick in Richtung Leuchtturm gewandt. «Französisch ist sogar meine zweite Muttersprache. Meine Mutter war Französin.»
«Oh, das ist schön. Heißt du eigentlich Übähr?»
«Sie hat mich so genannt, das stimmt.»
Oda sah auf Huberts sonnenwarme Sandpapierhand, die auf sie dieselbe Wirkung hatte wie der Mond auf die Tide. Noch einmal und für viel länger wollte sie diese Hand spüren. Aber Oda war zu unerfahren und zu schüchtern. Sie suchte nach einem Ausweg aus dem Gefühlsdilemma. «Und wie war das so, als Kind einer Französin aufzuwachsen?»
Wortlos lief Hubert weiter. Nach drei Schritten blieb er abermals stehen. «Oda, eine Bitte. Ich möchte nicht über meine Familie reden. Geht das?»
Oda nickte.
«Danke.» Huberts Hand war mutiger als die von Oda. Mit seinen Fingern umschloss er ihre. «Ich wollte mich entschuldigen. Bei meiner Ankunft warst du so herzensgut, und ich war so abweisend. Es tut mir leid, ich habe mich aufgeführt wie ein arroganter Idiot.»
Oda bemerkte in diesem Augenblick das hundertprozentige Fehlen ihres Freiheitswunsches. Der Freiheitswunsch hatte sich weiter und weiter zurückgezogen, wie ein Schauspieler hinter einen Theatervorhang, der fälschlicherweise auf die Bühne getreten war. Ein anderer Darsteller hatte die Rolle der Freiheit übernommen. Die Liebe.
«Sie mal nach oben, Oda.»
Oda und Hubert legten die Köpfe in den Nacken. «Die Sterne sind heute besonders funkelnd.»
Zu der Wohligkeit und Behaglichkeit kam Rührung über Huberts Worte. Oda fand nun sogar ihr Schweigen zu laut.
«Wir sind alle aus Sternenstaub gemacht. Wir bestehen aus chemischen Elementen, also Atomen. Eine Sekunde nach dem Urknall ist es passiert. Mit der Zeit begann sich die Erde auszubilden und mit ihr wir.»
Noch immer schwieg Oda.
«Möchtest du mit zu mir kommen?», fragte Hubert sacht.
Oda nickte schweigend, doch in ihrem Herzen brach frenetischer Beifall aus. Beifall über die schauspielerischen Leistungen des Darstellers in dem schönsten Theaterstück, das sie je gesehen hatte.
Zum wiederholten Male drückte Adam auf die Wiedergabetaste seines Anrufbeantworters. «Babička hier. Ist passiert Schlimmes. Deine Maminka ist zusammengebrochen, nachdem sie war in Buchhandlung in Flokum. Ich glaube, du solltest kommen zu ihr in Krankenhaus. So dramatisch war sie nicht mehr seit Sache mit Hubertčík, deine Otec.»
Auch nach der siebenten Abhörwiederholung konnte sich Adam nicht erklären, was Leskas Worte zu bedeuten hatten. Den Text ein achtes Mal abzuhören, brachte er nicht übers Herz. Siebenfach verstärktes Meeresrauschen echote in seiner Ohrmuschel. So stand er vor der hünenhaften Anbauschrankwand in seinem perlweißen Hemd, das eigentlich Elan in den Tag hatte bringen sollen, und fühlte sich entkräftet.
Die Sache mit Hubertčík.
Vierundvierzig Tage nach Adams dreizehntem Geburtstag war sein Vater Hubert verschwunden. Ganz Platteoog hatte sich auf die Suche nach ihm begeben, und dabei hatten, wie schon vor seiner Ankunft, die wildesten Theorien die Runde gemacht. Helge hatte eine mögliche retrograde Amnesie unbekannten Auslösers ins Feld geführt. Alfried eine Parallele zu Maria von Jever, Tochter des letzten Häuptlings der Friesen, die fünfzehnhundertfünfundsiebzig in einem unterirdischen Gang unter einem Schlosspark verschwunden sein sollte. Bonna hatte sich wieder auf ihre längst in den Wind geschlagene Vermutung besonnen, Hubert sei ein untergetauchter Krimineller. Adams Großvater Ubbo hatte eine übermächtige Sehnsucht nach den Alpen vermutet. Großmutter Leska eine unvermittelte Lebensmittelvergiftung als Auslöser für die von Helge vermutete retrograde Amnesie. Nur Adams Mutter hatte sich nicht geäußert. Sie war in dornröschenschlaflange Trauer versunken. Ihre Vermutungen bewahrte sie seitdem stumm in einem unentdeckbaren Winkel ihrer Seele.
Deine Maminka ist zusammengebrochen, nachdem sie war in Buchhandlung in Flokum.
Was konnte das bedeuten? Was genau war geschehen? War seine Mutter krank? Vielleicht sogar unheilbar? Und wieso wurde sein Vater erwähnt? Warum hatte sich seine Großmutter nicht klarer ausgedrückt?
Systematisieren!
Zeitlupenverzögert nahm Adam das Telefon aus der Ladestation. Es lag zementschwer in seiner Hand, wie ein Umzugskarton, dem man sehr, sehr viel Inhalt anvertraut hatte. Er wählte Leskas Nummer. Sogleich meldete sich eine Computerstimme, die ihm die Hoffnung nahm, umgehend Antworten auf seine Fragen zu erhalten. Adam musste an den Wer-wird-Millionär-Telefon-Joker denken, in den mancher Kandidat all seine Erwartungen setzte, um über die zweiunddreißigtausend-Euro-Hürde zu kommen, und der im entscheidenden Moment einfach nicht abnahm. Das einsetzende Zittern seiner Hand ging auf den Telefonhörer über.
Auf nach Flokum stand Neongelb auf der Leuchtreklametafel in Adams Kopf.
Er legte den Hörer auf und ließ sich wie ein erlahmter Marathonläufer auf den samtenen Sofakoloss in seinem Rücken fallen.
Einatmen.
Ausatmen.
Schließlich zog Adam sein Handy aus der Hosentasche und schrieb seiner Mutter eine Textnachricht.
Wie geht es dir? Was ist passiert? Bitte melde dich bei mir!
Dein Adam
Die Nachricht wurde abgesendet, aber nicht zugestellt. Er musste warten. Nach zehn Minuten warf er erneut einen Blick auf das Display, das immer noch beharrlich behauptete, die Nachricht sei nicht zugestellt worden.
Systematisieren!
Die neongelbe Leuchtreklametafel schien das Warten auf das Zustellen der Textnachricht mit Tatendrang kompensieren zu wollen. Sie verkündete blinkend: Auf nach Flokum, auf nach Flokum.
Adam ahnte, dass das der einzig richtige nächste Schritt war. Er konnte sich nicht entscheiden, ob die Aussicht auf eine anstehende Reise, der Schreck über den Zusammenbruch seiner Mutter oder die Erwähnung seines Vaters am schlimmsten war. Das waren drei Möglichkeiten, keiner mochte er den Vorzug geben. Der Versuch zu systematisieren, um des Aufruhrs seiner Gedanken Herr zu werden, misslang. Mit schwitzigen Händen drückte er sich vom Polster hoch und zog aus der obersten Anbauschrankwandschublade einen abgegriffenen Zettel heraus. Den hatte einst Dr. Modder entworfen.
Nehmen Sie eine aufrechte, offene und starke Körperhaltung ein