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Unser geteiltes Leben Die Groen-Schwestern wachsen im Ost-Berlin der sechziger Jahre heran. Unterschiedlicher könnten die beiden Mädchen nicht sein: Charlotte, die ältere, brennt ebenso für den Sozialismus wie ihr Vater Johannes, der am Ministerium für Staatssicherheit Karriere macht. Die künstlerisch begabte Marlene hingegen eckt überall an und verliebt sich Hals über Kopf in Wieland, einen Pfarrerssohn, der die DDR kritisch hinterfragt. Mit jedem Tag wächst in dem jungen Paar die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit. Als die beiden beschließen, in den Westen zu fliehen, trifft Marlenes Vater eine Entscheidung – mit fatalen Folgen, die noch Jahrzehnte später spürbar sind …
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Seitenzahl: 570
Anja Baumheier
Kranichland
Roman
Unser geteiltes Leben
Die Groen-Schwestern wachsen im Ost-Berlin der sechziger Jahre heran. Unterschiedlicher könnten die beiden Mädchen nicht sein: Charlotte, die ältere, brennt ebenso für den Sozialismus wie ihr Vater Johannes, der am Ministerium für Staatssicherheit Karriere macht. Die künstlerisch begabte Marlene hingegen eckt überall an und verliebt sich Hals über Kopf in Wieland, einen Pfarrerssohn, der die DDR kritisch hinterfragt. Mit jedem Tag wächst in dem jungen Paar die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit. Als die beiden beschließen, in den Westen zu fliehen, trifft Marlenes Vater eine Entscheidung – mit fatalen Folgen, die noch Jahrzehnte später spürbar sind …
Anja Baumheier wurde 1979 in Dresden geboren und hat ihre Kindheit in der DDR verbracht. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet dort an einer Schule als Lehrerin für Französisch und Spanisch. «Kranichland» ist ihr erster Roman.
Endlich acht. Johannes schlug die Decke zurück, sprang aus dem Bett und rannte im Schlafanzug und mit zerzausten Haaren die Treppe herunter. Schwaches Licht fiel durch das Fenster in den Flur des alten Bauernhauses. Johannes hatte sich sehr auf seinen Geburtstag gefreut. Seine Mutter hatte versprochen, den ganzen Tag mit ihm zu verbringen. Nicht einmal zur Schule gehen müsse er, hatte sie gesagt. Von der letzten Treppenstufe aus hüpfte er in die Küche. In der Mitte des kleinen Raumes stand ein Tisch aus grobem Holz, an der Wand ein Regal mit Geschirr und neben der Küchenhexe der Ascheeimer. Doch seine Mutter war nicht hier, und auch die Wohnstube, die direkt neben der Küche lag, war leer. Johannes ahnte, was das bedeutete. Seine Mutter würde den ganzen Tag nicht aufstehen.
Die Tür zu ihrem Zimmer war nur angelehnt. Als er eintrat, empfing ihn der längst vertraute Geruch von Baldrian, Alkohol und feuchtem Holz. Die groben Leinenvorhänge waren nachlässig zugezogen. Durch einen Spalt sah Johannes das Schneetreiben vor dem Fenster, dem das fahle Morgenlicht etwas Gespenstisches verlieh. Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante. Seine Mutter hatte die Augen geschlossen, ihre langen schwarzen Haare lagen wirr auf dem Kissen, während sich ihr Brustkorb gleichmäßig hob und senkte. Der blasse Mund mit den aufgesprungenen Lippen und ihre weiße Haut ließen sie beinahe wächsern erscheinen, fast so, als wäre sie gar nicht da. Jetzt, so nahe bei ihr, roch Johannes ihren Schweiß und das Faulige aus ihrem halb geöffneten Mund. Auf dem Nachttisch lagen Tablettenschachteln mit lateinischen Namen, die ihm nichts sagten. Dahinter stand, an die Wand gelehnt, ein Foto mit gezackten Rändern, das noch vor Johannes’ Geburt aufgenommen worden war. Er hatte Mühe, die Frau im Bett und die auf dem Foto als ein und dieselbe Person zu erkennen. Die Frau auf dem Bild lächelte dem Fotografen zu, eine Hand hatte sie in die Hüfte gestützt. Ihre helle Haut leuchtete, das schwarze Haar war kurz. Er nahm das Bild in die Hand und drehte es um. Charlotte – 1916 stand in geschwungener Handschrift auf der Rückseite.
Seine Mutter öffnete die Augen. Sie waren rot gerändert und stumpf. «Alles Gute zum Geburtstag.»
Johannes beugte sich vor und wollte sie umarmen, doch sie schob ihn weg. «Nein, Hannes, so kriege ich keine Luft. Das weißt du doch.»
Johannes wich zurück und nickte. Sein Hals war wie zugeschnürt. Er blickte zur Seite und sah sich im Zimmer um. Aber seine Augen fanden keinen Halt. Schließlich blieben sie an dem Gemälde über der Kommode hängen. Eine Schneelandschaft war darauf zu sehen, und er hatte plötzlich das Gefühl, aus den weißen Flächen würden sich dunkle Schatten lösen und nach ihm greifen. Johannes senkte den Kopf. Ich weiß ja, dass es ihr nicht gutgeht. Aber es ist mein Geburtstag, sie hätte es wenigstens versuchen können, dachte er, sprach den Gedanken jedoch nicht aus. Den Fehler hatte er schon einmal gemacht. Daraufhin war seine Mutter in Tränen ausgebrochen. Meinst du, ich habe mir das ausgesucht, hatte sie damals gesagt.
Draußen klopfte es. Johannes drückte sich von der Bettkante hoch, ging in den Flur und öffnete die Haustür. Ida Pinotek, die Besitzerin des Nachbarhofes, stand davor. Sie hatte sich ein Tuch um den Kopf gebunden, trug eine karierte Stoffschürze und hielt einen großen Teller mit Schokoladenkuchen in der Hand. «Hannes, mein Sonnenschein. Alles Liebe zum Geburtstag. Schokolade ist hoffentlich noch immer dein Lieblingskuchen?»
Während Johannes nickte, presste Ida Pinotek ihn an sich. Sie war klein und erwartete ihr drittes Kind. Ihr Bauch war so ausladend, dass Johannes mit seinem Gesicht nur kurz ihr Dekolleté streifte.
Und dann konnte er die Tränen nicht zurückhalten.
Ida Pinotek streichelte ihm über die Wange. «Liegt Charlotte wieder im Bett?»
Er nickte.
«Ach, mein Junge.» Sie wollte noch etwas sagen, biss sich aber auf die Unterlippe. «Gräm dich nicht. Das geht vorüber. Und jetzt hopphopp zur Schule. Hubert und Hedwig warten schon.»
Johannes dachte kurz an das Versprechen seiner Mutter, daran, dass sie den Tag eigentlich mit ihm verbringen wollte. «Ich bin gleich so weit, Frau Pinotek.» Er ging noch einmal zu ihrem Zimmer und warf einen Blick hinein. Seine Mutter war wieder eingeschlafen. Schnell zog Johannes sich an, warf Mantel und Ranzen über und folgte Ida Pinotek nach draußen.
Als er am Nachmittag nach Hause kam, lag seine Mutter immer noch im Bett. Er ging in die Küche, wo Ida Pinoteks Schokoladenkuchen stand. Obwohl Johannes Hunger hatte, verursachte sein Anblick ihm Übelkeit. Er nahm den Kuchen, schlich hinters Haus und warf ihn auf den Komposthaufen. Vorsichtig schob er mit einem Ast ein paar verweste Abfälle darüber. Er wollte Ida Pinotek nicht enttäuschen.
Hubert und Hedwig Pinotek saßen am großen Tisch in der Stube und verzierten Plätzchen. Johannes lag auf dem Sofa und betrachtete eine Weihnachtsbaumkerze, deren Wachs auf den Holzboden tropfte.
«Willst du nicht mitmachen, Hannes?» Ida Pinotek legte ihre Hand auf Johannes’ Schulter.
«Nein, Frau Pinotek, ich möchte lieber hier liegen bleiben.»
«Ist gut, mein Junge. Deiner Mutter geht es bestimmt bald besser. Und du wirst sehen, im nächsten Jahr feiert ihr Weihnachten wieder zusammen.» Sie strich ihm über die dunklen Locken und ging zurück in die Küche, um ein weiteres Blech Plätzchen aus dem Ofen zu holen.
Zwei Wochen waren seit Johannes’ Geburtstag vergangen. Seitdem lag seine Mutter in ihrem Zimmer. Auf dem Schulweg hatte Johannes Hubert und Hedwig davon erzählt. Am Abend des gleichen Tages stand Ida Pinotek vor der Tür. In einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ, hatte sie Johannes aufgetragen, ein paar Sachen zusammenzupacken und zu ihnen zu kommen. Johannes hatte wie angewurzelt dagestanden. Und die Nachbarin hatte versprochen, dass er nur so lange bleiben musste, bis es seiner Mutter wieder besser ging. Seitdem wohnte Johannes bei den Pinoteks.
Mit einem Zischen erlosch die Kerze. Johannes richtete sich auf und hob den Blick. Und da sah er durch das Fenster Licht im Zimmer seiner Mutter gegenüber. Den ganzen Tag hatte er darauf gewartet und gehofft, er könne doch noch mit ihr zusammen den Heiligen Abend verbringen. Er sprang auf und rannte in Strümpfen über den Hof. Aber als er in den Flur kam, war in ihrem Zimmer kein Licht mehr. Johannes blieb stehen und lauschte in die Stille. Da hörte er ein Poltern auf dem Dachboden. Was war das? War seine Mutter da oben? Johannes nahm zwei Treppenstufen auf einmal und kam atemlos vor der alten Holztür an. Er wollte sie öffnen, aber sie war von innen verriegelt. «Mutter?» Zaghaft drückte Johannes gegen die Tür, als von unten die Stimme Ida Pinoteks erklang. «Hannes, was machst du denn? In Strümpfen durch den Schnee. Du wirst noch krank, mein Junge.»
«Sie war wach, Frau Pinotek, ich habe es genau gesehen. Aber in ihrem Bett ist sie nicht.» Er beugte sich über das Treppengeländer und sah nach unten.
«Was machst du denn da oben?»
«Es hat gepoltert, aber die Tür ist zu. Sonst ist sie immer offen.»
Ida Pinotek stieg langsam die Treppe hinauf. Mit der Hand stützte sie ihren Rücken. In vier Wochen war der Geburtstermin, und das Laufen fiel ihr zunehmend schwer. Die Stufen knarrten unter ihren Schritten. Als sie vor der Tür zum Dachboden stand, trat Johannes einen Schritt zur Seite. Mit aller Kraft stemmte sich Ida Pinotek gegen die Tür. Doch nichts passierte. Beim dritten Versuch gelang es ihr schließlich, die Tür zu öffnen. Johannes drängte sich an ihr vorbei.
Der Dachboden war dunkel, er konnte nichts erkennen.
«Hier ist niemand, Hannes. Lass uns wieder nach drüben gehen. Es ist langsam Zeit für die Bescherung», sagte Ida Pinotek und begann, die Treppe wieder hinabzusteigen.
Johannes suchte mit der Hand die Wand ab. Er fand den Lichtschalter. Die Glühbirne an der Decke flammte auf, zuckte kurz und erlosch. Aber er hatte sie gesehen, seine Mutter und das Seil am Dachbalken und den umgefallenen Hocker.
Schon durch den Aludeckel der Assiette hindurch konnte Theresa riechen, was es heute zum Mittag gab. Kartoffelbrei, Schweinebraten und Mischgemüse. Während sie den Deckel vorsichtig entfernte, drang laute Marschmusik aus dem Wohnzimmer nebenan.
«Herr Bastian, könnten Sie den Fernseher nicht ein wenig leiser stellen?»
«Wie bitte?» Die Stimme des Alten musste früher einmal sehr kräftig gewesen sein. Er hatte Theresa erzählt, dass er zu DDR-Zeiten bei der NVA gewesen war. Leutnant oder Hauptmann, genau konnte sie sich nicht mehr erinnern. Herrn Bastians Augen glänzten immer, wenn er von damals erzählte. Inzwischen war seine Stimme dünn geworden und kam gegen die Viervierteltaktgeräusche des Fernsehers kaum an.
Theresa steckte ihren Kopf durch die Durchreiche zwischen Küche und Wohnzimmer. «Könnten Sie das leiser machen?» Sie zeigte mit dem Finger auf den Fernseher neben der beigen Sprelacartschrankwand.
Herr Bastian lächelte und schaltete das Gerät ganz aus. Theresa stellte die lauwarme Assiette auf den Tisch. «Lassen Sie es sich schmecken. Schweinebraten, das ist doch Ihr Lieblingsessen.»
«Danke, Frau Matusiak, Sie sind eine Perle. Was würde ich nur ohne Sie machen? Wollen Sie sich nicht kurz zu mir setzen?»
«Nein, leider. Ich würde ja gerne. Aber unsere Zeitvorgaben sind so knapp.» Sie ging in den Flur und kam mit einem Staubtuch zurück. Immer wieder war sie erstaunt, dass Menschen sich Schrankwände in ihre Wohnzimmer stellten. Ihre Schwester Charlotte hatte auch eine, und wenn Theresa bei ihr war, zog sie sie damit auf. Während Theresa Vasen, Familienfotos und Sammeltassen abstaubte, hörte sie Herrn Bastian, der hinter ihr am Tisch saß, gemächlich kauen. Sein Gebiss knirschte. Er schmatzte und lobte das Essen in hohen Tönen. «Was macht die Ausstellung, haben Sie inzwischen alle Bilder fertig?»
Theresa stellte das Hochzeitsfoto zurück in die Schrankwand. «Eins muss ich noch malen, sonst reißt Petzold mir den Kopf ab. In drei Wochen ist die Vernissage.»
«Das wird schon, Frau Matusiak. Kommt Zeit, kommt Rat, wie man so schön sagt. Und mit all meinen Jahren kann ich wirklich bestätigen, dass das nicht nur irgendein blöder Spruch ist.»
Theresa schüttelte das Staubtuch aus. Vor dem Fenster ratterte die U2 vorbei. Der erste Wagen tauchte bereits in den Tunnel Richtung Pankow ein. Theresa mochte die Arbeit als Altenpflegerin, die alten Leute waren ihr im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen. Aber ihre eigentliche Leidenschaft war die Malerei. Sie hatte schon als Kind gemalt, aber nie zu hoffen gewagt, dass mehr daraus werden könnte als ein Hobby. Bis sie Albert Petzold traf. Er unterhielt eine kleine Galerie namens Kunststoff in der Oderberger Straße. Sie fand den Namen lächerlich, aber sie war froh, dass er ihr die Chance gab, ihre Bilder dort auszustellen. Davon hatte sie immer geträumt, aber lange nicht den Mut gefunden, jemand anderem als Charlotte und ihrer Tochter Anna die Bilder zu zeigen. Die Begegnung mit Petzold war nur einem Zufall zu verdanken. Vor einem halben Jahr war Theresa ins Naturkundemuseum gefahren, um das große Dinosaurierskelett im Lichthof zu zeichnen. Kurz bevor sie fertig gewesen war, hatte plötzlich ein Mann hinter ihr gestanden und ihr über die Schulter gesehen. Sie war mit ihm ins Gespräch gekommen, und Albert Petzold hatte vorgeschlagen, dass Theresa ihn in seiner Galerie im Prenzlauer Berg besuchen kommen und einige ihrer Arbeiten mitbringen sollte.
Theresa schloss das Fenster und schaute zur Kuckucksuhr über dem Sofa.
«Fertig, Frau Matusiak.» Herr Bastian hatte alles aufgegessen, nicht ein einziger Soßenrest war übrig geblieben. Er gehörte zu der Generation, die immer alles aufaß, egal, was es gab. Das Besteck lag quer auf der Assiette.
Theresa glitt in die Wanne. Das warme Wasser tat gut, der Tag war anstrengend gewesen, und sie hatte Rückenschmerzen. Sie schloss die Augen und freute sich auf einen ruhigen Abend. Sie würde sich eine Pizza bestellen und noch ein wenig an ihren Bildern arbeiten. Als sie gerade warmes Wasser nachlaufen lassen wollte, klingelte es. Sie zuckte zusammen und überlegte, wer sie um diese Zeit besuchen kommen könnte. Ihre Tochter Anna war es bestimmt nicht, denn die hatte einen Schlüssel und rief, wenn sie vorbeikommen wollte, vorher immer an. Wieder klingelte es. Theresa stand auf, wickelte sich ein Handtuch um den Kopf, zog ihren Bademantel über und ging zur Tür.
«Frau Matusiak, Theresa Matusiak?»
Theresa nickte.
«Wenn Sie hier bitte unterschreiben würden?» Der Postbote reichte Theresa ein Einschreiben.
Sie unterschrieb das Formular, bedankte sich und schloss die Tür. Unschlüssig drehte sie den Brief in den Händen. Warum bekam sie ein Einschreiben? Als Absender war ein Notariat mit dem Namen Herzberg und Salomon in der Schönhauser Allee vermerkt. Kurz entschlossen riss Theresa den Umschlag auf.
Sehr geehrte Frau Matusiak,
hiermit teilen wir Ihnen mit, dass Frau Marlene Groen ihr Testament in unserer Kanzlei hinterlegt hat. Nach Frau Groens Ableben vor einer Woche sind wir verpflichtet, Sie darüber zu informieren, dass Sie und Tom Halász als Erben für die Liegenschaft in Rostock eingetragen sind. Wir bitten Sie, sich unverzüglich mit uns in Verbindung zu setzen, um die Formalitäten zu klären.
Unser aufrichtiges Beileid.
Mit freundlichen Grüßen
i.A. Dr. Kai Herzberg
Theresa ließ das Einschreiben sinken. Marlene war jetzt erst gestorben? Das konnte nicht sein. Dieser Brief ergab überhaupt keinen Sinn. Ihre ältere Schwester war schon 1971 bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen. Marlene war mit ihrem Vater Johannes zum Segeln an der Ostsee gewesen und dabei ertrunken. Sie war gerade mal siebzehn, als sie starb. Der Schmerz über Marlenes Tod war für ihre Eltern damals unerträglich gewesen, und sie hatten auch später kaum über ihre verstorbene Tochter gesprochen.
Theresa ging zum Fenster. Ihre nassen Füße hinterließen feuchte Abdrücke auf dem Dielenboden. Nachdenklich blieb sie vor ihren Bildern stehen, die an der Wand lehnten. Auf den Leinwänden waren melancholische Gesichter zu sehen, die ein wenig an Modigliani erinnerten. Theresa fuhr mit den Fingern über die Wange einer Frau, bleich und mit großem Hut. Ihre Eltern Johannes und Elisabeth Groen hatten drei Töchter. Theresa, Marlene und Charlotte. Charlotte war die Älteste und Theresa die Jüngste. Theresa hatte Marlene nicht mehr kennengelernt, denn sie war vor ihrer Geburt gestorben. Nach Marlenes Tod war Elisabeth noch einmal ungeplant schwanger geworden und hatte es nicht übers Herz gebracht, sich gegen das Baby zu entscheiden.
Theresa riss sich vom Anblick des Bildes los und überflog erneut das Einschreiben. Bei den Worten Liegenschaft in Rostock stutzte sie. Liegenschaft? Das hatte sie vorhin gar nicht richtig wahrgenommen. Theresa wickelte das Handtuch vom Kopf und dachte an das Haus in Rostock, das ihren Eltern früher gehört hatte. Nach der Wende hatten sie es verkauft. Und jetzt sollte es die ganze Zeit Marlene gehört haben? Marlene, die doch angeblich schon seit Jahren tot war?
Theresas Hals war trocken. Sie ging in die Küche und trank einen Schluck Wasser direkt aus dem Hahn. Dann nahm sie ihr Handy vom Tisch und wählte die Nummer ihrer Schwester. Charlotte, die Ältere, die Vernünftige, die, die immer eine Lösung hatte. Vielleicht konnte sie Licht ins Dunkel bringen.
«Groen?»
«Lotte, ich bin es. Hast du einen Moment?» Theresa ging zurück ins Wohnzimmer und sah aus dem Fenster.
«Nur kurz. Ich fahre morgen früh zu einer Fortbildung nach Magdeburg und muss noch packen. Was ist denn los?»
«Also, ich habe gerade ein Einschreiben bekommen. Es geht um Marlene. Sie … offenbar hat sie bis vor einer Woche noch gelebt.»
Am anderen Ende der Leitung war nur Charlottes Atmen zu hören.
«Bist du noch dran?», fragte Theresa.
«Ja. Das … das kann nicht sein. Marlene ist tot, seit Jahren schon.»
«Eben. Darum ist das Ganze ja so rätselhaft. Und das Seltsamste ist, Marlene hat mir, wie es aussieht, das Haus vererbt.» Theresa setzte sich auf den Stuhl vor der Staffelei neben dem Fenster.
«Was denn für ein Haus?»
«Das in Rostock. Du weißt schon, das Haus, das Vati 1992 an einen Investor verkauft hat. Lotte, ich kann mir da einfach keinen Reim drauf machen. Hast du eine Erklärung?»
«Nein, leider gar nicht, das ist mir mindestens so schleierhaft wie dir. Ich glaube, du musst Mutter danach fragen, auch wenn das vermutlich schwierig wird.»
«Das mache ich. Gleich morgen früh. Vielleicht stellt sich alles als ein Missverständnis heraus, eine Verwechslung, wer weiß.» Nachdenklich sah Theresa auf das Einschreiben, das jetzt vor ihr auf der Staffelei lag. «Lotte … noch eine Frage. Kennst du einen Tom, Tom Halász?»
«Nein, das sagt mir nichts, warum?»
«Ach nichts, nur so ein Gedanke. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß.»
Am nächsten Morgen, nachdem Theresa mit der Sekretärin der Kanzlei von Herzberg und Salomon einen Termin ausgemacht hatte, fuhr sie mit der S-Bahn nach Lichtenberg, wo ihre Mutter Elisabeth seit fünf Jahren in einem Pflegeheim für Demenzkranke lebte. Im nahegelegenen Tierpark war Elisabeth früher oft mit Theresa und Charlotte spazieren gegangen, und die beiden hofften, die Aufenthalte im Park würden dem Verblassen von Elisabeths Erinnerung Einhalt gebieten. Oder die Vormittage, an denen die Pfleger mit ihr über das weite Gelände spazierten, würden wenigstens einen Teil der Erinnerung zurückbringen.
Das Pflegeheim war das Beste und verhinderte das Schlimmste. Nach Johannes’ Tod 1997 war Elisabeth aufgelebt und viel gereist. Theresa und Charlotte hatten sie in der Zeit selten zu Gesicht bekommen. Theresa machte damals eine schwere Zeit durch. Sie hatte sich gerade von Bernd, Annas Vater, scheiden lassen und musste sich daran gewöhnen, von nun an alleinerziehend zu sein. Charlotte war damit beschäftigt, für ihre Ausbildung zur Finanzbeamtin zu lernen und ihren Unmut darüber zu verwinden, dass ihr Abschluss als Staatsbürgerkundelehrerin nach der Wende nicht anerkannt wurde.
Doch nur drei Jahre später war es mit Elisabeth langsam, aber sicher bergab gegangen. Es begann damit, dass sie die Wohnungsschlüssel vergaß, wenn sie das Haus verließ, dann wusste sie nicht mehr, wo ihre Wohnung war, dann brachte sie die Namen ihrer Kinder durcheinander. Am Ende rief sie einmal die Polizei, als Charlotte in der Wohnung war, weil sie sie für eine Einbrecherin hielt. Mit der Vergesslichkeit ging eine Wesensveränderung einher, die es ihren Töchtern zusehends schwermachte, sich um sie zu kümmern. Elisabeth wurde aggressiv, sie beschuldigte Theresa, ihr Geld gestohlen zu haben, und als sie schließlich vergaß zu essen, gaben Theresa und Charlotte sie besorgt und mit schlechtem Gewissen in professionelle Hände.
Im Pflegeheim wurden gerade die Tabletts vom Mittagessen auf stählerne Wagen gestapelt und zur Küche geschoben. Theresa meldete sich am Empfang und stieg in den Fahrstuhl, der nach Desinfektionsmittel und Pfefferminztee roch. Sie drückte die Vier. Langsam schloss sich die Fahrstuhltür, und die verspiegelte Kabine setzte sich in Bewegung.
Die Tür zu Elisabeths Zimmer stand offen, und Theresa ging einfach hinein. Ihre Mutter saß aufrecht im Bett und starrte auf das Bild mit dem Schokoladenmädchen, das an der Wand hing. Es war eine verkleinerte Reproduktion des berühmten Gemäldes von Jean-Étienne Liotard und hatte früher im Wohnzimmer von Johannes’ und Elisabeths Wohnung an der Weberwiese gehangen. Es passte genauso wenig in das moderne und sterile Zimmer wie die antike Kommode mit der Vase aus Meißner Porzellan, die Elisabeth ebenfalls von zu Hause mitgebracht hatte.
Die Erkrankung hatte Elisabeth schnell altern lassen. Ihr Haar war dünn, die Augen trüb, der Mund ein bloßer Strich. Sie trug eine beige Bluse und darüber eine grobe Strickjacke, die sie noch magerer aussehen ließ, als sie ohnehin schon war. Theresa musste an die Hochzeitsbilder ihrer Mutter denken. Von der einst wunderschönen Frau war nur noch ein Schatten übrig.
«Hallo, Mutti, ich bin es.» Theresa flüsterte.
Elisabeth starrte weiter auf das Schokoladenmädchen, nur ihre Hand zuckte kurz.
Theresa hatte auf der Fahrt überlegt, wie sie ihre Mutter mit Marlene konfrontieren sollte, und war zu dem Entschluss gekommen, ganz behutsam auf das Thema zu sprechen zu kommen.
«Geht es dir gut?»
Elisabeth reagierte nicht.
Theresa setzte sich auf die Bettkante. «Ich bin hier, weil ich dich etwas fragen muss. Es geht um Marlene. Ich habe gestern ein Einschreiben bekommen …»
Elisabeth drehte den Kopf und sah Theresa in die Augen. «Schweig.»
Theresa zuckte zusammen. Woher besaß ihre Mutter die Kraft, so laut zu sprechen? Sie konnte ja nicht einmal mehr alleine essen. Und so viel Entschlossenheit in ihrer Stimme – Theresa wusste nicht, wann sie die das letzte Mal gehört hatte.
Elisabeth richtete ihre Augen wieder auf das Bild mit dem Schokoladenmädchen. «Marlene hat schon immer Ärger gemacht. Dem mussten wir einen Riegel vorschieben, sonst wäre unsere Familie zerbrochen.» Ihre Stimme zitterte.
«Was meinst du?» Theresa rückte näher an ihre Mutter heran, aber die reagierte nicht.
Theresa nahm Elisabeths Hand. Sie war eiskalt.
«Anton, der hat sie gerettet.»
Wer war Anton? Theresa hob verwundert den Kopf. Ihre Mutter hatte die Augen geschlossen. Langsam strich sie ihr über den Handrücken.
«Was meinst du damit?», wiederholte Theresa.
Doch Elisabeth blieb stumm, auch als Theresa ihre Frage ein weiteres Mal wiederholte.
«Wann kommt Vater wieder?»
Käthe nahm Elisabeths Hand. «Vielleicht im Frühling», sagte sie, ließ Elisabeths Hand los und stand auf. Fünf mal fünf Schritte, mehr Platz war nicht. Der Keller roch modrig, die Kerzen würden nur noch einen Tag reichen, und auch die Essensvorräte, Konserven und Einweckgläser gingen zur Neige. Der Toiletteneimer war voll und roch erbärmlich. Wieder hatte Käthe versucht, der Frage nach Emil auszuweichen. Vielleicht im Frühling. Warum hatte sie das gesagt? Ihr war klar, dass Elisabeth ihr nicht glaubte. Immerhin war sie inzwischen sechzehn.
Der Tag, an dem sie Emil abgeholt hatten, lag bereits fünf Monate zurück. Er wusste, worauf er sich einließ, als er zu den geheimen Treffen am Hafen ging und mithalf, Flugblätter gegen den Krieg zu verteilen. Seit drei Monaten wohnten Elisabeth und Käthe im Keller, aus Angst vor den Bombenangriffen und auch aus Angst, die Männer in den Uniformen würden zurückkehren. Der Eingang zu ihrem Versteck lag hinter einem Regal, eingelassen in einen Mauervorsprung. Die beiden unteren Bretter waren nur aufgelegt. Wenn man sie zur Seite schob, konnte man durch die Öffnung hindurchklettern. Nur selten gingen Elisabeth und Käthe nach oben ins Haus, um Wasser zu holen und nach dem Rechten zu sehen.
«Er kommt nicht zurück, oder?» Elisabeth nahm die letzte Kerze und drehte sie in der Hand.
«Ach, Lisbeth, du bist zu alt, als dass ich dir etwas vormachen könnte. Ich weiß nicht, wann dein Vater wiederkommt. Ich weiß nicht, ob er überhaupt jemals wiederkommt.»
In diesem Moment heulte eine Sirene los. Die beiden Frauen zuckten zusammen und schauten ängstlich durch das vergitterte Kellerfenster nach draußen. Es regnete. Bis auf ein kleines Stück Gehweg war nichts zu erkennen. Es war dunkel, und in immer kürzeren Abständen zuckten Lichtblitze über das nasse Kopfsteinpflaster. Dann waren Schuhe zu sehen. Kinderschuhe und grobe Damenschuhe, die am Fenster vorbei in Richtung Luftschutzbunker eilten. Frauen riefen, Kinder weinten. Elisabeth drückte sich an ihre Mutter.
Käthe legte ihre Hand auf Elisabeths Kopf. «Hier unten sind wir sicher, und so schlimm wie vor einem Jahr wird es bestimmt nicht mehr werden.» Ihren Worten zum Trotz hatte Käthe Mühe, die Fassung zu bewahren. Noch gut konnte sie sich an die schreckliche Nacht im April vergangenen Jahres erinnern. Tausende Bomben waren über Rostock niedergegangen, der Seewind hatte bei der Ausbreitung der Flammen geholfen. Nach dem Angriff war sie mit Emil bestürzt durch die zerstörten Straßen gelaufen. Zahllose Gebäude waren dem Feuer zum Opfer gefallen, ganze Straßenzüge ausgelöscht worden, und Hunderte Menschen irrten obdachlos umher. Die Altstadt glich einem Trümmerfeld, das Dach der Petrikirche war ausgebrannt und das Stadttheater, in dem Käthe und Emil so oft gewesen waren, zerstört.
Als die ersten Schüsse der Flak zu hören waren, schrie Elisabeth auf. Sie drückte sich noch enger an ihre Mutter. Käthes Hand auf Elisabeths Kopf zitterte. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Wenigstens eine von uns muss stark sein, dachte sie.
Draußen war es nun ganz still. Doch plötzlich war das Kreischen der Bomben zu hören. Dann gab es einen lauten Knall. Die Scheibe des Kellerfensters zerbrach, und die Scherben fielen auf die Matratze unter dem Fenster. Elisabeth fuhr zusammen, und Käthe merkte, dass ihre Unterhose nass wurde.
Erst weit nach Mitternacht war der Angriff vorüber, verklangen die Schüsse. Alles schien friedlich. Irgendwo bellte ein Hund. Wieder eilten Schuhe am Kellerfenster vorbei, diesmal in die andere Richtung. Schwefelgeruch drang durch das Gitter. Elisabeth löste sich aus den Armen ihrer Mutter, räumte die Scherben beiseite und legte sich auf die Matratze.
«Ich bin gleich wieder da.» Käthe stand auf, nahm die unteren Regalbretter heraus und kletterte durch die Öffnung. Dann griff sie nach dem Toiletteneimer und stieg langsam die Kellertreppe hinauf.
Das Haus war unversehrt, oben hatten sämtliche Fensterscheiben die Bomben überstanden. Neben der Tür stand eine Truhe. Käthe nahm eine frische Unterhose heraus, ging ins Badezimmer, weichte die alte in Seifenlauge ein und trat vor die Haustür. Noch immer hing Rauch über der Straße. Am Horizont, in Richtung Rostocker Hafen, stiegen Flammen in den Nachthimmel. Käthe sah sich vorsichtig um. Niemand war zu sehen. Sie ging die Stufen herunter und leerte den Toiletteneimer über dem Gully. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie etwas auf den Treppenstufen vor der Haustür. Sie ging näher heran und sah einen Krug frisches Wasser, Kerzen und einen Laib Brot, in eine Zeitung eingewickelt. Hastig hob Käthe die Sachen auf und trug sie ins Haus. Wer hatte in diesen Zeiten so viel übrig, dass er teilen konnte? Käthe ging noch einmal ins Badezimmer, wrang ihre Unterhose aus und hängte sie über die Leine.
Als sie zurück in den Keller kam, schlief Elisabeth. Die grobe Wolldecke lag neben der Matratze. Wie sehr sie doch ihrem Vater ähnelte. Die blonden Haare, der schmale Körperbau. Käthe nahm die Decke und legte sie vorsichtig über ihre Tochter. Auf einmal hörte sie ein Geräusch, ein leises Rascheln über ihrem Kopf. Ein Flugblatt war von außen gegen das Gitter des Kellerfensters geflogen und zappelte im Wind.
Käthe stand auf, zog den Zettel durch die Stäbe und las. Extrablatt. Deutsche Soldaten bei Stalingrad geschlagen und in russischer Kriegsgefangenschaft.
Johannes’ Beine versanken bis zu den Knien im Schnee. Er hatte Fieber und zitterte am ganzen Körper. Der Riemen seiner Ledertasche schnitt ihm in die Schulter, seine Hose war durchweicht und sein Mantel viel zu dünn für die kalten Temperaturen. Sein Fuß tat so sehr weh, dass er kaum auftreten konnte. Er musste sich setzen. Bei seiner überstürzten Abreise war er auf einer zugefrorenen Pfütze ausgerutscht und in einen Straßengraben gefallen. Eine Gartenzaunlatte diente ihm als Krücke, und er hatte Schwielen an den Händen. Zeit zurückzubleiben war nicht gewesen, die Gefahr zu groß. Seit Hitlers Truppen bei Stalingrad besiegt worden waren, rückte die Rote Armee unaufhaltsam voran. Die deutsche Bevölkerung Schlesiens musste fliehen.
Ein Mann mit einem Leiterwagen, der seit kurzem in seinem Treck mitlief, half ihm auf. «Wie alt bist du denn, mein Junge?»
«Gerade sechzehn geworden.»
Der Mann nickte. «Noch so jung und ganz alleine unterwegs. Komm, ein bisschen kann ich dich ziehen.»
Johannes hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zu bedanken. Er erhob sich und kletterte auf den Wagen. Zwischen Koffern, Kisten und einem Schlitten lag, in einen Damenpelz eingewickelt, ein schlafender Säugling. Johannes legte sich neben das warme Bündel. Ihm fielen die Augen zu, und er träumte von seiner Mutter.
Ein jähes Krachen schreckte Johannes aus dem Schlaf. «Was? Was ist los? Wo …?» Da sah er es.
Der Mann, der den Wagen gezogen hatte, stand neben der vorderen Achse. Sie war entzweigebrochen. «Den Wagen können wir vergessen.» Er schaute Johannes lange in die Augen. Sein Gesicht war ausgemergelt, seine Augäpfel gelb, und er hustete.
«Und nun?»
Wieder hustete der Mann. Aus der Tasche seines zerschlissenen Mantels zog er ein Tuch, das er sich vor den Mund drückte. Als der Hustenanfall vorüber war, sah er kopfschüttelnd hinein und hielt es dann Johannes hin. Es war blutig. «Ich werde es nicht schaffen. Deshalb habe ich eine Bitte: Kümmerst du dich um Hanna?»
«Wer ist Hanna?»
Der Mann steckte das Tuch zurück in seinen Mantel und zeigte mit der Hand auf den Leiterwagen. «Hanna. Meine Enkelin. Ich habe es meiner Tochter versprochen. Ich habe versprochen, Hanna in Sicherheit zu bringen.»
Johannes sah auf das Bündel neben sich. Das Kind hatte die Augen geschlossen. «Was ist mit Ihrer Tochter passiert?»
Der Mann antwortete nicht.
Hinter ihnen kamen weitere Flüchtlinge näher. Auch sie hatten einen Leiterwagen dabei, der von einem Pferd gezogen wurde, das so dünn war, dass es nur langsam vorankam.
«Also, du kümmerst dich um Hanna. Abgemacht?»
«Abgemacht.» Johannes zog sein Hosenbein ein wenig nach oben. Sein Knöchel hatte sich inzwischen dunkelblau verfärbt.
«Bin gleich zurück. Ich gehe mich nur kurz erleichtern.» Der Mann überquerte den Feldweg und verschwand im Schatten einer Schonung.
Johannes schob den Damenpelz zur Seite und legte seine Hand auf den Körper des Säuglings. Er war eiskalt. Schnell zog er seine Hand zurück und hielt sein Ohr vor die Nase der kleinen Hanna. Nichts. Sie atmete nicht mehr.
Ein Schuss fiel. Er kam aus Richtung der Schonung. Alles drehte sich, Johannes spürte seine Füße nicht mehr, seine Hände waren steif, und in seinem Kopf breitete sich ein bohrender Schmerz aus. Er legte sich neben den toten Säugling. Es war vorbei, Johannes’ Kraft war aufgebraucht, er spürte, wie ihm erneut die Augen zufielen.
Der nachrückende Tross war inzwischen auf Höhe des Leiterwagens, auf dem Johannes lag.
«Heda», rief eine weibliche Stimme.
Johannes öffnete die Augen. «Ja», flüsterte er.
«Du lebst ja doch, ein Glück.» Eine Frau stand neben dem Leiterwagen. «Komm runter da und bring das Kind mit.»
«Tot», sagte Johannes nur.
«Dann gib mir wenigstens den Pelz.»
Johannes bewegte sich nicht. Die Frau stieg auf den Leiterwagen, nahm das tote Kind aus dem Damenpelz und legte es zurück. «Komm weiter, Junge. Noch drei Tage Fußmarsch, dann sind wir in Rostock.»
Das Notariat befand sich im Vorderhaus, direkt am U-Bahnhof Eberswalder Straße. Theresa war eine Viertelstunde zu früh und betrachtete die goldglänzende Infotafel, die neben dem Eingang hing. Zwei Notare, eine Praxis für ästhetische Chirurgie, eine Lebensberatung, zwei Allergologen. Der Hausflur war mit weinrotem Teppichboden ausgelegt. Ein Pärchen kam die Treppe herunter. Sie sprachen spanisch miteinander und schienen sich zu streiten. Der Mann wies wild gestikulierend auf einen braunen Rollkoffer. Die Frau machte ein beleidigtes Gesicht. Ohne Theresa weiter zu beachten, drängten sie sich an ihr vorbei. Theresa fixierte ihr Spiegelbild in der Infotafel. Sie hatte eine weiße Bluse und eine elegante graue Hose angezogen und die Haare, die sie sonst am liebsten offen trug, zu einem strengen Zopf gebunden. Theresa stieg die Treppen zur ersten Etage hinauf und wollte gerade auf den Klingelknopf drücken, als die Tür geöffnet wurde. «Frau Matusiak?»
Theresa nickte.
Dr. Herzberg war etwa in Theresas Alter, was sie überraschte. «Schön, dass Sie da sind. Mein Beileid nochmals. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, Wasser, eine Brause?»
«Kaffee wäre toll.»
Eine übergewichtige Frau in einem lila Kostüm tauchte im Flur hinter ihm auf.
Dr. Herzberg drehte sich zu ihr um. «Frau Schmidt, zwei Kaffee bitte.»
«Selbstverständlich. Mit Milch und Zucker?»
Dr. Herzberg und Theresa nickten.
«So, Frau Matusiak, hier entlang bitte.»
Theresa folgte Dr. Herzberg durch den schmalen Flur, an dessen Ende er eine Tür öffnete. «Setzen Sie sich schon mal, ich bin gleich bei Ihnen.»
Theresa betrat das Büro und schaute sich um. Auch hier der weinrote Teppichboden. Vor dem Fenster stand eine beige Ledergarnitur. Dreisitzer. Zweisitzer. Sessel. Dazu ein Glastisch, auf dem eine Kristallschale mit Plastikobst stand. Theresa setzte sich in den Sessel. Warmes Licht schien durch das Fenster. Unzählige Regale mit Aktenordnern nahmen die gesamte Wandbreite neben dem Schreibtisch ein. Auf dem Schreibtisch standen zwei Bilder, eines mit einer Frau, das andere mit zwei Kindern. Dr. Herzberg kam zurück und schloss die Tür.
«So, Frau Matusiak, dann wollen wir mal.» Er stellte ein kleines Tablett mit zwei Kaffeetassen und einem Teller Gebäck auf die Glasplatte, holte zwei braune Umschläge von seinem Schreibtisch und setzte sich zu Theresa. Er öffnete den ersten und räusperte sich. «Ich, Marlene Groen, verfüge hiermit, dass Theresa Matusiak, geborene Groen, und Tom Halász nach meinem Ableben mein Haus in Rostock in der Sankt-Georg-Straße 1 erben.»
Theresa sank tiefer in das beige Polster. Dr. Herzberg reichte ihr den zweiten Umschlag. «Der ist für Sie persönlich.» Er war gepolstert. Theresa fuhr mit den Fingern darüber, etwas Hartes war darin, wahrscheinlich ein Schlüssel.
Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben, das Büro lag nun im Schatten und wirkte mit einem Mal kühl. Wortlos nahm Theresa die Tasse und nippte an ihrem Kaffee.
«Und?» Dr. Herzberg sah Theresa durch seine Brille an, und sie fand plötzlich, dass er Ähnlichkeit mit einem Schauspieler hatte, dessen Name ihr aber nicht einfallen wollte.
«Sind Sie sicher?»
«Sicher, was meinen Sie?» Dr. Herzberg nahm sich einen Keks und biss hinein.
«Na, hat denn das Schreiben juristisch …, ich meine, liegt da keine Verwechslung vor?»
Dr. Herzberg schob kauend seine Brille nach oben. «Alles hat seine Richtigkeit und ist juristisch wasserfest. Machen Sie sich da keine Sorgen.»
«Ich weiß nicht, was ich sagen soll.»
«Na, ich würde mich freuen, ein Haus zu erben, es hätte schlimmer für Sie kommen können. Meine Frau und ich», er wies auf das Bild auf seinem Schreibtisch, «wir suchen auch gerade. Die Mieten hier im Viertel sind ja inzwischen eine Unverschämtheit.»
Bis vor kurzem hatte Theresa nicht einmal gewusst, dass Marlene noch lebte. Alles hätte sich aufklären sollen bei ihrem Termin hier, alles hätte sich als ein Missverständnis herausstellen sollen. Aber Marlenes Testament war eindeutig, es lag keine Verwechslung vor.
«Eine Sache noch. Der Miterbe, Herr Tom Halász, ich kann ihn nicht erreichen. Wissen Sie vielleicht, wo er sich aufhält?»
Theresa schlug die Beine übereinander und überlegte, ob sie Dr. Herzberg erklären sollte, dass sie diesen Tom Halász überhaupt nicht kannte.
«Lassen Sie es uns noch einmal zusammen versuchen. Einverstanden?»
Theresa nickte langsam. Dr. Herzberg holte eine weitere Mappe von seinem Schreibtisch, schlug sie auf, tippte eine Nummer in sein Telefon und schaltete den Lautsprecher ein.
Nach dem dritten Klingeln sprang die Mailbox an. «Hier ist der Anschluss von Wohnungsauflösungen Halász. Im Moment bin ich nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht. Ich rufe Sie umgehend zurück.»
Irgendwo klingelte sein Handy. Tom zuckte zusammen, sein Kopf hämmerte, er stöhnte und öffnete die Augen. Endlich hörte das Klingeln auf. Er drehte sich auf die Seite. Neben ihm lag eine Frau. Sie war nackt, lag auf dem Bauch und hatte den Kopf zur Tür gewandt, sodass Tom ihr Gesicht nicht sehen konnte. Er versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern, aber erfolglos. Er konnte sich nur noch an die Bar erinnern, in der er gestern Abend mit seinem Kollegen Konstantin am Tresen gesessen hatte. Konstantin hatte sich kurz nach Mitternacht verabschiedet, und dann war da plötzlich diese Frau gewesen. Cindy? Melanie? Tom stand auf und ging ins Badezimmer.
Auf der Waschmaschine lag sein Handy. Dieselbe Nummer, die schon in den letzten Tagen mehrfach versucht hatte, ihn zu erreichen. Diesmal war eine Nachricht hinterlassen worden.
«Guten Tag, Herr Halász. Hier ist Dr. Herzberg vom Notariat Herzberg und Salomon. Es geht um Marlene Groen. Ich bitte Sie dringend um Rückruf.»
Tom starrte auf das Telefon in seiner Hand. Marlene. Wie hatte sie ihn nach all der Zeit ausfindig gemacht? Wie hatte sie es geschafft, sich wieder in sein Leben zu drängen? Und warum ließ sie einen Anwalt bei ihm anrufen? Wahrscheinlich ging es wieder mal um Geld.
Eine Computerstimme fragte, was Tom tun wolle. «Möchten Sie zurückrufen, dann drücken Sie die Eins, zum Löschen drücken Sie die Zwei, zum Speichern drücken Sie die Drei, um die Nachricht noch einmal zu hören, drücken Sie …»
Tom drückte die Zwei.
«Der Nächste bitte.» Elisabeth musste niesen. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Schreibtischschublade und schnäuzte sich. Eigentlich hätte sie zu Hause bleiben wollen, um ihre Erkältung auszukurieren, aber da ein weiteres Barackenlager für Flüchtlinge eingerichtet worden war, hatte man sie gebeten, trotz Krankheit zur Arbeit zu kommen.
Ein junger Mann stand vor ihr, den Blick fest auf seine Schuhe gerichtet.
«Gesundheit», murmelte er.
«Danke schön. Ihr Name bitte?»
«Johannes Groen.» Jetzt sah er sie an.
Wieder musste Elisabeth niesen.
«Na, da haben Sie sich aber ordentlich was eingefangen.» Der Mann lächelte, aber auf seinen Augen lagen Schatten. Die dunklen Locken fielen ihm strähnig in die Stirn, trotzdem hatte er etwas Anziehendes. Er trug eine fadenscheinige Hose, ein kariertes Hemd und darüber einen viel zu großen Mantel. Um seinen Hals hatte er einen grün-braun gestreiften Schal aus grober Wolle gewickelt.
Elisabeth richtete den Blick wieder auf die Schreibmaschine. «Herkunft?»
«Jaksonów, Schlesien. Ich sollte mich wegen einer neuen Unterkunft hier melden.»
Elisabeth musste ein weiteres Mal niesen.
Lächelnd nahm der Mann seinen Schal ab und reichte ihn ihr. «Hier. Das kann ich ja gar nicht mit anhören.»
«Und ich kann das nicht annehmen, Sie brauchen doch selber …» Elisabeth unterbrach sich. Sie musste den Mann nicht extra darauf hinweisen, in was für einem schlechten Zustand er war. Aber eigentlich ist es doch eine reizende Geste, dachte sie, nahm den Schal und bedankte sich.
«Eine hübsche Frau, die krank ist, das geht doch nicht.» Jetzt leuchteten seine Augen, und auf seinen Wangen hatten sich kleine Grübchen gebildet.
Elisabeths Hände begannen zu zittern. Sie schaute zur Tür. Die Schlange der Wartenden war lang, sie musste weitermachen, obwohl sie sich gerne noch länger mit diesem Johannes Groen unterhalten hätte. Sie wollte genauer wissen, wo er herkam und warum er seine Heimat hatte verlassen müssen, und nicht einfach nur die nötigsten Daten in ein Formular schreiben. Aber die Umsiedlerverwaltung war kein Ort, um Männer kennenzulernen. Sie hängte den Schal über ihre Stuhllehne, nahm zwei Formulare vom Tisch, legte ein Kohlepapier dazwischen und spannte den schmalen Stapel in die Schreibmaschine. «Alter?»
«Achtzehn.»
Elisabeth begann, mit geröteten Wangen zu tippen. Warum nur machte seine Anwesenheit sie so nervös? War es möglich, dass ein Unbekannter, der ihr seinen Schal gegeben hatte, ihren Herzschlag derart in Aufregung versetzte? Noch nie hatte ein Mann so etwas in ihr ausgelöst. Ihre Finger fanden die Buchstaben nicht, sie musste neu ansetzen. Eigentlich wollte Elisabeth eine Ausbildung zur Krankenschwester machen. Doch bis zum Ausbildungsbeginn war noch etwas Zeit, und ihre Mutter und sie konnten das zusätzliche Geld gut gebrauchen.
Als sie das Formular ausgefüllt hatte, hielt sie Johannes Groen den Durchschlag des Protokolls hin. Sie hoffte, er würde den feuchten Abdruck ihrer Hand auf dem Papier nicht bemerken.
Als er nach dem Durchschlag griff, berührten sich ihre Hände.
«Bei Gelegenheit hole ich mir den Schal wieder ab, einverstanden? Ich weiß ja, wo ich Sie finde.» Er lächelte noch einmal, drehte sich um und ging.
Das neue Barackenlager, in das Johannes gekommen war, war zwar größer, aber kaum in einem besseren Zustand als das alte. Es stank bestialisch. Seit Tagen war die Sickergrube hinter seiner Baracke nicht geleert worden. Er hielt die Luft an und verrichtete eilig seine Notdurft. Johannes war müde. Seit einigen Wochen half er, Trümmer aus der zerstörten Stadt abzutragen und Steine zu sortieren, um ein wenig Geld zu verdienen. Die Arbeit setzte ihm sehr zu, und er kam jeden Tag vollkommen erschöpft ins Lager, das ein wenig außerhalb der Stadt lag. Die Umsiedlerverwaltung hatte Johannes eine windschiefe Bretterbude zugeteilt, die er mit zwei anderen Männern in seinem Alter teilte. Edmund und Otto kamen beide aus Breslau, aber sie redeten kaum und waren meist unterwegs oder schliefen.
Sie hatten nicht mehr als das Nötigste. Einen Tisch, drei Holzplanken, die als Betten dienten, und an der Wand stand ein Regal für Kleidung und die wenigen Habseligkeiten, die sie auf ihrer Flucht hatten mitnehmen können.
Johannes legte sich auf das Bett und zog die kratzige Wolldecke über sich. Er war so müde, dass ihm sofort die Augen zufielen. Gerade als er eingeschlafen war, holten ihn Stimmen aus dem Schlaf. Gähnend setzte er sich auf. Durch das Fenster neben der Tür sah er eine Gruppe junger Männer. Sie trugen feldgraue Uniformen, einige von ihnen blaue Hemden mit einer gelben Sonne auf dem Ärmel. Darüber stand in weißen Buchstaben FDJ. Die Gruppe war gestern schon einmal da gewesen. Johannes stand auf, trat vor die Baracke und ging auf sie zu. Die Männer saßen um ein Lagerfeuer, sie hatten eine Gitarre dabei. Johannes hörte ihren Liedern eine Weile zu und wandte sich schließlich zum Gehen. Als er sich umdrehte, löste sich ein Mann aus der Gruppe und kam auf ihn zu.
Er rauchte. «Privjet malisch, mein Junge, warte mal.»
Johannes blieb stehen.
«Setz dich doch zu uns.» Der Mann zog eine Schachtel Papyrossi aus seiner Uniformjacke und hielt sie Johannes hin.
«Nein danke.»
«Du rauchst wohl nicht? Ist ja auch nicht gut für die Gesundheit.» Er lachte. «Wie heißt du?»
«Johannes.»
«Ein schöner Name. Bei uns sagt man Iwan oder Wanja.» Er hakte sich bei Johannes unter und führte ihn zum Lagerfeuer. «Ich bin Kolja.»
Das Feuer strahlte eine behagliche Wärme aus, die Gesänge der Gruppe waren heiter und erzählten von einer besseren Zukunft. Johannes setzte sich neben Kolja, der sich eine neue Zigarette anzündete.
«Kann ich doch eine haben?»
Kolja nickte und lächelte Johannes an. «Wanjuscha, wenn ich noch mehr für dich tun kann, als dir nur Zigaretten zu geben, sag Bescheid. Wir können immer Leute gebrauchen, die uns beim Aufbau des Sozialismus helfen.»
«Nach Berlin? So bald schon?» Elisabeth reichte Eva ein sauberes Bettlaken.
Seit sie vor vier Monaten gemeinsam die Ausbildung im Krankenhaus begonnen hatten, waren die beiden unzertrennlich. Sie erzählten sich alles und verbrachten jede freie Minute nach Arbeitsschluss gemeinsam. Wenn es sich einrichten ließ, legten sie sogar ihre Schichten zusammen. Eva hatte schon vor ein paar Wochen angedeutet, dass sie und ihr Mann Otto nach Berlin ziehen wollten, aber Elisabeth hatte gehofft, der Plan würde sich zerschlagen. Und jetzt sollte Eva in zwei Monaten schon weg sein?
«Ach Lisbeth, das ist eine einmalige Chance. An der Charité suchen sie händeringend nach Schwestern. Und Otto verdient in Berlin mehr Geld. Da gibt es gerade so viele Baustellen.» Eva zog das Bettlaken auf die Matratze. «Komm doch mit. Berlin ist grandios.»
«Ich weiß nicht.»
Eva nahm einen neuen Bettbezug aus dem Schrank. «Was hält dich denn hier?»
Elisabeth sah aus dem Fenster. Sie dachte an Johannes Groen. Schon seit Monaten dachte sie an ihn. Seinen Schal hatte sie jeden Tag getragen, und als ihre Mutter einmal wissen wollte, ob ein Schal im Frühling nicht viel zu warm sei, hatte Elisabeth lächelnd den Kopf geschüttelt.
«Ist es wegen diesem Johannes?»
«Kannst du jetzt schon Gedanken lesen?» Elisabeth rückte ihre Schwesternhaube gerade.
«Seit Wochen redest du von nichts anderem. Warum gehst du nicht einfach mal ins Barackenlager und besuchst ihn?» Eva strich ein letztes Mal über das Bett. Sie nahm ein paar Gummihandschuhe, puderte sie und klopfte die Hände an ihrem Schwesternkittel ab.
«Ich traue mich nicht. Wahrscheinlich habe ich mir einfach nur eingeredet, dass das mit dem Schal etwas zu bedeuten hat. Er ist ihn ja auch gar nicht mehr abholen gekommen. Bestimmt wollte er einfach nur höflich sein.»
«Glaub ich nicht. Kein Mann verleiht einfach nur so seinen Schal. Vielleicht hat er dich ja noch mal bei deiner alten Stelle besuchen wollen, und da warst du schon hier. Besuch ihn. Aufhören, an ihn zu denken, kannst du schließlich auch nicht.»
«Ich weiß, aber er sah ja auch richtig gut aus.» Elisabeth redete so laut, dass sich die Patientin im Bett am Fenster den ausgestreckten Zeigefinger an die Lippen hielt.
«Verzeihung.»
Die Patientin lächelte. «Wo die Liebe hinfällt. Schwester, als ich in Ihrem Alter war, ich sage Ihnen …»
Elisabeth nahm Eva die Puderdose aus der Hand und stellte sie zurück in den Schrank. «Johannes, allein schon der Name. Wunderschön.»
«Wunderschööön!» Eva lachte.
«Mach du dich nur lustig über mich. Aber vielleicht verrenne ich mich da wirklich in etwas. Wer weiß, ob er überhaupt noch in Rostock ist.»
Als Elisabeth eine Woche später nach ihrer Schicht aus dem Krankenhaus kam, traute sie ihren Augen kaum. Aber er war es tatsächlich. Johannes Groen saß auf einer Bank gegenüber dem Krankenhaus und las. Er trug eine Cordhose und ein blaues, kragenloses Hemd, darüber eine graue Wollweste und sah ganz anders aus als bei ihrer ersten Begegnung. Elisabeth überlegte, was sie tun sollte. Langsam ging sie auf ihn zu und blieb zwei Schritte vor der Bank stehen. Johannes Groen war so in das Buch vertieft, dass er sie gar nicht bemerkte. Er hatte sich wirklich verändert, hatte zugenommen, die Haut war nicht mehr so blass und sein Haar voller.
Elisabeth nahm all ihren Mut zusammen, holte tief Luft und räusperte sich. «Verzeihen Sie. Wir kennen uns, erinnern Sie sich?»
Johannes hob den Kopf. Er fuhr sich durch die Haare und schien zu überlegen.
Elisabeth senkte den Kopf. Natürlich hatte er sie nicht wiedererkannt, ihre Begegnung lag schließlich schon eine ganze Weile zurück. «In der Umsiedlerverwaltung, am Schreibtisch. Ich war erkältet …» Elisabeth ärgerte sich, dass sie keinen klaren Satz herausbrachte, obwohl sie das Wiedersehen mit Johannes in Gedanken so oft durchgespielt hatte. «Ich heiße Elisabeth Havelmann. Und Sie sind Johannes Groen, richtig?»
«Das stimmt.» Er stand auf und betrachtete sie, dann hellte sich seine Miene plötzlich auf. «Richtig, jetzt erinnere ich mich. Wie geht es meinem Schal?»
Elisabeth wurde rot.
«Was machen Sie denn hier im Krankenhaus?» Johannes steckte das Buch in seine Ledertasche.
«Eine Ausbildung zur Krankenschwester. Und Sie? Sie sehen doch kerngesund aus.» Auf Elisabeths Nase hatten sich Schweißtröpfchen gebildet.
«Ein Junge aus dem Lager ist krank. Ich habe ihn begleitet.» Johannes lächelte.
«Ist es denn etwas Ernstes?»
«Nein. Ich denke, er wird schon wieder. Elisabeth, darf ich mich dafür entschuldigen, dass ich nicht auf Anhieb wusste, wer Sie sind?»
«Was meinen Sie?» Elisabeth spielte an ihrem Ohrring.
«Wollen Sie morgen mit mir spazieren gehen?»
Am nächsten Tag stand er vor ihrem Haus. Die Spatzen lärmten in den Bäumen, und die Sonne hatte so viel Kraft, dass Elisabeth nur eine Strickjacke über ihrem grünen Kleid trug, als sie vor die Tür trat. Johannes hatte ein altes Fahrrad gegen den Gartenzaun gelehnt. Am Lenker hing ein Korb, auf dem eine karierte Decke lag.
«Kommen Sie, Elisabeth, wir machen einen Ausflug. Lassen Sie uns an die Warnow fahren.» Johannes malte mit seinen Schuhspitzen ein Muster in den Kies vor dem Haus.
«Auf einem Fahrrad? Wie soll das gehen?» Besorgt sah Elisabeth auf den rostigen Rahmen.
«Das hält schon, vertrauen Sie mir. Ich pass auf, dass Ihnen nichts passiert.»
Elisabeth raffte ihr Kleid zusammen, setzte sich auf den Gepäckträger, und Johannes fuhr los. Um nicht herunterzufallen, hielt sie sich an ihm fest. Sie hatte ihre Arme um seine Hüften geschlungen und konnte die Wärme seines Körpers durch sein Hemd spüren. Die Nähe tat gut, und obwohl die Kriegsschäden auf den Straßen Rostocks noch überall zu sehen waren, fühlte sich Elisabeth so wohl wie noch nie. Die Zeit im Keller, der Hunger, die Angst, das alles war weit weg in diesem Moment. Da war nur Johannes, Johannes, Johannes.
Der Weg zur Warnow war nicht weit, doch Johannes fuhr umständlich, bog falsch ab und schlug Schleichwege ein, die keine waren.
«Kennen Sie den Weg gar nicht?»
«Ich könnte einfach ewig so mit Ihnen weiterfahren.»
Elisabeth spürte, wie sich ihre Wangen röteten.
Am Ufer der Warnow breiteten sie die Decke auf dem Boden aus, und Johannes klappte den Deckel des Korbs hoch. «Ich hoffe, es ist etwas für Sie dabei?»
Elisabeth sah erstaunt auf die Heringe im Pelzmantel, die Pelmeni, die Watruschki, die Batontschiki und die zwei Flaschen Kwas.
«Kolja hat mir geholfen, all das hier zu besorgen. Auch das Fahrrad habe ich von ihm bekommen.»
«Wer ist denn Kolja?» Elisabeth nahm die zwei Flaschen Kwas und einen Öffner aus dem Korb.
«Ein Freund, eigentlich fast so etwas wie ein Vater für mich, obwohl er noch gar nicht so alt ist. Er kommt aus Moskau und ist hier, um zu helfen, alles wieder aufzubauen. Er hat mir sogar eine Arbeit besorgt. Vorher habe ich Trümmer weggeräumt. Jetzt arbeite ich in der Verwaltung, wenn man so will.» Johannes nahm Elisabeth eine Flasche ab und öffnete sie.
«Ihre Augen leuchten ja richtig, wenn Sie von ihm erzählen.» Elisabeth lächelte.
«Ich habe ja auch allen Grund dazu. Er sorgt sich um mich, gibt acht, dass es mir gutgeht. Endlich gibt es jemanden, der sich …»
«… der sich um Sie kümmert, meinen Sie?»
Johannes senkte den Blick.
«Und Ihre Eltern?»
«Das ist ein schwieriges Thema. Vielleicht nicht so passend für eine erste Verabredung.» Johannes trank einen großen Schluck. «Aber da Sie nun einmal gefragt haben: Meinen Vater kenne ich nicht, und meine Mutter war sehr krank. Eines Tages habe ich sie auf dem Dachboden gefunden.» Johannes stiegen die Tränen in die Augen. «Ich habe dann eine Zeitlang bei der Nachbarsfamilie gelebt. Aber irgendwann war kein Platz mehr, und ich bin in ein Waisenhaus gekommen.»
«Das tut mir leid.»
Johannes stellte die Flasche zurück in den Korb und sah gedankenverloren auf das Wasser. Ein Kahn tuckerte heran. An Deck saß ein alter Mann, schmauchte eine Pfeife und fixierte einen Punkt am Horizont. Auf seinem Schoß lag ein schlafender Dackel, der, als der Kahn auf Elisabeths und Johannes’ Höhe war, träge den Kopf hob und in ihre Richtung blickte.
Eine Weile saßen sie schweigend so da und sahen auf die Wasseroberfläche der Warnow, die kleine Wellen schlug.
Elisabeth fuhr zusammen, als ein trompetenartiges Krächzen die Stille durchbrach. Sie sahen zum Himmel auf. Johannes streckte den Finger aus. «Schauen Sie, Elisabeth, sie kommen zurück.»
«Kraniche. Und so viele. Das ist ein gutes Zeichen.» Als Kind war Elisabeth einmal mit ihren Eltern auf Rügen gewesen und hatte beobachtet, wie sich Hunderte Vögel auf einem Feld niederließen. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass die Kraniche auf Rügen Rast machten, um sich zu sammeln und im Herbst in wärmere Gefilde zu ziehen. Seitdem gab der anmutige Anblick der Vögel Elisabeth das Gefühl von Geborgenheit und Zuversicht. Sie lächelte.
«Wie meinen Sie das?»
«Kraniche bringen Glück.» Elisabeth löste ihren Blick vom Himmel und sah Johannes in die Augen. Dann lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter, und er legte seinen Arm um sie.
Als Theresa das Büro von Dr. Herzberg verließ und auf die Straße trat, sah sie ihre Tochter vor dem Café gegenüber auf einer Hollywoodschaukel sitzen. Anna stieß sich mit den Füßen, die in Turnschuhen steckten, vom Boden ab, und während sie hin- und herschwang, tippte sie auf ihrem Handy herum. Theresa trat auf die Fahrbahn. Dabei übersah sie eine Straßenbahn, die gerade um die Ecke bog. Die Bahn klingelte. Theresa machte zwar sofort kehrt, stieß aber gegen die Bordsteinkante, kam ins Stolpern und fiel hin. Als sie laut aufschrie, blickten sich einige Passanten erschrocken nach ihr um. Sie war auf die Knie gefallen, die unsagbar schmerzten, und sah an sich herunter. Auf ihrer hellen Hose breitete sich ein roter Fleck aus.
Anna sprang von der Schaukel und rannte auf ihre Mutter zu. «Alles in Ordnung, Mama?»
Theresa nickte und ließ sich hochhelfen.
Anna hakte ihre Mutter unter. «Du machst Sachen. Immer bei der Ampel über die Straße gehen, das hast du mir doch all die Jahre eingetrichtert. Schon vergessen?»
Theresa musste lächeln. Langsam gingen die beiden zum Café und setzten sich.
«Auf den Schreck brauche ich was Richtiges.»
Anna sah auf ihre Uhr. «Es ist gerade mal halb fünf.»
Theresa winkte die Kellnerin zu sich heran und bestellte einen Kaffee mit Wodka. Sie nahm eine Serviette vom Tisch und betupfte den Fleck auf der Hose. «Ich glaube, die ist hin.»
«Shampoo und kaltes Wasser, und der Blutfleck ist im Nu weg. Ist ein Life-Hack, hab ich mal bei YouTube gesehen.» Annas grüne Augen funkelten im Licht der Sonne.
Theresa legte die Serviette beiseite und betrachtete ihre Tochter. Wo war nur die Zeit geblieben? Seit Anna nach dem Abitur vor zwei Jahren in ihre eigene Wohnung gezogen war und sich an der Humboldt-Universität für Geschichte und Kulturwissenschaft eingeschrieben hatte, kam es Theresa vor, als würde die Zeit rasend schnell vergehen. Um sich neben dem Studium ein wenig Geld zu verdienen, gab Anna am Wochenende Führungen im Deutschen Historischen Museum Unter den Linden. Sie stand auf eigenen Beinen, und es tat Theresa gut zu wissen, dass sie bei ihrer Tochter wohl einiges richtig gemacht hatte.
«Wie war’s denn nun bei diesem Anwalt? Hattest du recht, war die Sache mit deiner Schwester ein Irrtum?» Anna stieß sich erneut vom Boden ab. Die Hollywoodschaukel setzte sich quietschend in Bewegung.
«Offenbar nicht. Marlene hat mir tatsächlich das Haus in Rostock vererbt. Mir und diesem Tom.»
«Seltsam. Erzähl mir noch mal, was du von Marlene weißt.»
Die Kellnerin brachte den Kaffee, und Theresa trank einen großen Schluck. Der Wodka tat schnell seinen Dienst, langsam wurde sie ruhiger. «Marlene ist mit siebzehn bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen. Sie war mit unserem Vater auf der Ostsee unterwegs, offenbar gab es da einen schrecklichen Sturm, und das Segelboot ist gekentert. Ihre Leiche hat man nie gefunden, und es gab wohl auch keine Beerdigung. Das ist eigentlich auch schon alles, was ich weiß. Ich war ja ein Nachzügler und habe Marlene gar nicht kennengelernt. Oma und Opa haben nie über sie gesprochen, und irgendwann habe ich aufgehört, nach ihr zu fragen, weil ich annahm, es würde sie zu sehr schmerzen, über ihre tote Tochter zu reden.» Theresa streckte die Beine unter dem Tisch aus.
«Aber nun sieht es so aus, als hätten Oma und Opa dich angelogen, und Marlene ist damals gar nicht gestorben.»
Theresa nickte.
«Und wer ist dieser Tom?» Anna tippte auf ihrem Handy herum.
«Jetzt leg doch mal dieses Ding weg.» Theresa klang wütender als beabsichtigt.
Anna ließ das Handy auf ihren Schoß sinken.
«Entschuldige», sagten sie beide zugleich.
Theresa lächelte kurz. Diese ganze Sache mit der Erbschaft brachte sie aus dem Konzept. Eigentlich brauchte sie jetzt all ihre Kraft für die Vorbereitung der Ausstellung. Aber seit Dr. Herzbergs Anruf hatte sie keinen einzigen Pinselstrich mehr gemacht. Alles war so absurd. Sie hatte das ehemalige Haus ihrer Eltern von ihrer totgeglaubten Schwester geerbt, und dann gab es da noch diesen Tom, von dem sie nie gehört hatte und mit dem sie nun zusammen das Haus besaß. Theresa gab der Kellnerin ein Zeichen und bestellte noch einen Kaffee mit Wodka. «Tom Halász heißt er. Mehr weiß ich nicht.»
Anna griff erneut nach ihrem Handy. «Das haben wir gleich. Augenblick.»
«Wohnungsauflösungen Halász, kann das sein?»
Theresa überlegte. Hatte sich dieser Tom auf seiner Mailbox vorhin nicht genauso gemeldet? «Ich denke, ja.»
Anna hielt Theresa das Handy hin. «Aber hallo, das nenn ich mal einen schmucken Kerl.»
Auf dem Display sah man einen jungen Mann, Theresa schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er lächelte, hatte braune Augen, einen dunklen Teint und eine Reihe tadellos sitzender Zähne. Theresa musste zugeben, dass dieser Tom, wenn es denn der Richtige war, ausgesprochen attraktiv aussah. Auf die Frage, warum Marlene ihnen beiden ein Haus vererbt hatte, gab sein Foto jedoch nicht die geringste Antwort.
«Und jetzt?»
«Keine Ahnung. Ich muss erst mal eine rauchen.» Theresa kramte in ihrer Tasche nach dem Tabakbeutel. Dabei fiel ihr Blick auf den Umschlag, den Dr. Herzberg ihr gegeben hatte. Sie legte ihn auf den Tisch. «Der ist auch noch von dem Notar.»
«Und das sagst du erst jetzt?» Anna griff nach dem Umschlag. «Darf ich?»
«Nur zu.» Theresa drehte sich eine Zigarette und zündete sie an.
Anna riss den Umschlag auf. Darin waren ein Schlüssel und ein Brief. Sie überflog die Zeilen.
«Hä, Aristoteles? Was soll das denn?»
«Was meinst du?»
«Hier, lies selbst.»
Liebe Theresa,
«Einen Fehler durch eine Lüge zu verdecken heißt, einen Flecken durch ein Loch zu ersetzen.» (Aristoteles)
Eigentlich wollte ich mich schon viel früher bei dir melden, aber ich war zu feige. Mir fehlte der Mut, und ich wollte nicht auch noch dich ins Unglück stürzen. Und nun fehlt mir die Kraft, der Krebs hat gewonnen. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können dafür sorgen, dass die Gegenwart besser wird. Darum wünsche ich mir, dass du, Tom und Anton dafür sorgt, dass die Lüge aus der Welt geschafft wird.
In Liebe,
Marlene
Theresa ließ den Brief sinken.
«Was denn für eine Lüge? Einen Flecken durch ein Loch zu ersetzen? Was meint sie damit?», fragte Anna.
Theresa zuckte mit den Schultern und sah nachdenklich auf das Blatt in ihren Händen.
«Und wer ist Anton?»
«Nicht einmal das weiß ich. Aber deine Oma Lisbeth hat den Namen auch erwähnt, als ich bei ihr war. Seltsam – ich bin sicher, dass ich bisher noch nie von einem Anton gehört habe.»
«Anton, Tom, das ist ja alles sehr mysteriös.» Anna nahm den Schlüssel vom Tisch und betrachtete ihn. «Ich schätze, wir sollten nach Rostock fahren. Und wir müssen versuchen, diesen Tom zu erreichen.»
«Das glaube ich auch.»
Auf einmal hielt sich Anna die Hände vor den Mund, sprang auf und verschwand im Café. Nach fünf Minuten kam sie zurück.
«Was war das denn, ist alles in Ordnung mit dir?»
«Geht schon wieder. Ich hab mir den Magen verdorben. Bei mir an der Ecke hat ein neuer Asia-Imbiss aufgemacht. Wahrscheinlich zu viel Glutamat.»
Anna nahm ihr Handy und hielt es sich ans Ohr.
«Und was machst du nun?»
«Na, Tom anrufen.»
«Woher hast du denn seine Nummer?»
«Die steht praktischerweise gleich auf der Homepage seiner Wohnungsauflösungsfirma und …» Anna hielt inne. «Verdammt, nur die Mailbox.»
Theresa zog ihr Portemonnaie aus der Tasche. Dabei fiel ihr Blick auf ihre Hose. Der Blutfleck war inzwischen eingetrocknet.
Es war den ganzen Tag nicht richtig hell geworden. Der Wind rüttelte an den Zweigen. Viele Bäume waren bereits kahl. Kolja und Johannes liefen durch den Park am Alten Friedhof. Das Laub raschelte unter ihren Füßen. Auf einer Lichtung ließen Kinder einen Drachen steigen und lachten vergnügt.
Johannes sah auf die Uhr. «Ich muss noch den Anzug aus der Schneiderei holen. Lisbeth wird Augen machen.»
Kolja nickte.
Die beiden Männer verließen den Park und erreichten bald die Friedrich-Engels-Straße. Schon von weitem sah man das kleine Haus der Familie Havelmann. Johannes liebte das gemütliche rot geklinkerte Häuschen mit dem Schieferdach. Im Garten gab es Apfel- und Pflaumenbäume und zahlreiche Kräuterbeete, und zur Warnow war es nicht weit. Seit nunmehr drei Wochen lebten Johannes und Elisabeth dort zusammen in der Dachkammer. Morgen sollte es offiziell werden. Johannes und Elisabeth würden vor den Traualtar treten.
«Du bist glücklich, Wanjuscha. Das freut mich sehr.» Unter Koljas Arm klemmte eine Zeitung. Auf der Titelseite wurde über die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik berichtet. Auf einem gelbstichigen Foto waren die lachenden Gesichter von Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck zu sehen.
«Nicht nur glücklich, Kolja. Überglücklich sogar. Du weißt, wie sehr ich mir immer eine eigene Familie gewünscht habe.» Johannes zog eine Schachtel Karo aus seiner Manteltasche. «Und morgen heirate ich meine Lisbeth. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. Obwohl, dir kann ich es ja sagen, immerhin bist du mein Trauzeuge. Lisbeth ist schwanger.»
«Glückwunsch, Wanjuscha.» Kolja klopfte Johannes auf die Schulter.
«Danke. Wenn es ein Junge wird, nennen wir ihn Kolja, versprochen.» Johannes lächelte. Die Gründung der DDR, seine Hochzeit und Elisabeths Schwangerschaft, alles im selben Jahr, das konnte nur ein gutes Omen sein. Nach der schrecklichen Zeit des Krieges hatte man den richtigen Weg eingeschlagen, davon war Johannes überzeugt. Er war froh, dass ihn bei seiner Flucht der Zufall hierhergeführt hatte. Nie wieder sollte ein Krieg von deutschem Boden ausgehen. Die Menschen hier lebten von nun an in Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit, ohne Bevormundung und Ausbeutung der Arbeiter. Neuanfang und Hoffnung. Johannes freute sich über dieses Augenzwinkern der Geschichte.
Feiner Nieselregen setzte ein. Johannes legte Kolja den Arm um die Schultern. «Komm, da drüben ist ein Lokal. Ich lade dich auf ein Bier ein. Als Junggesellenabschied, wenn man so will.»