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Das Herzstück dieses Buches ist eine existenzielle Frage. Ohne das Licht der Geisteswissenschaft bleibt die Begegnung mit dem ätherischen Christus nur eine persönliche Erfahrung und die Anthroposophie bleibt ohne die neuen, aus dem ätherischen Christus strömenden Lebenskräfte ein erstarrtes physisches Wissensgebäude. Beide brauchen sich gegenseitig. Wie aber soll die sich wechselseitig belebende Brücke zwischen beiden gebaut werden für die drei Begegnungen? Ben-Aharon spricht freimütig über seinen persönlichen spirituellen Weg und seine inneren Bewusstseinskämpfe und geht dieses grundlegende Dilemma an in diesem Auftakt zur kommenden, zweiten Ausgabe seines Buches Die neue Erfahrung des Übersinnlichen.
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Seitenzahl: 268
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YESHAYAHU BEN-AHARON
Auftakt zur Neuauflage vonDie neue Erfahrung des Übersinnlichen
Titel der Originalausgabe:THE THREE MEETINGS, Christ, Michael and Anthroposphia, Prelude to the new edition of The New Experience of the Supersensible
First published 2022 byTemple Lodge Publishing Ltd., Hillside House, The Square, Forest Row, RH18 5ES England
© Yeshayahu Ben-Aharon 2022
Ins Deutsche übertragen von Ulrich Morgenthaler unter Mitwirkung von Katharina Bausch
ISBN: 978-3-949064-15-9
1. Auflage 2022
© der deutschen Ausgabe by Yeshayahu Ben-Aharon 2022
Ereignis Verlag
Fürstenrieder Str. 97, 80686 München
www.ereignisverlag.de
Umschlaggestaltung: Sylvia Waiblinger
Druck und Verarbeitung: buchbücher.de GmbH
Vorwort
Einleitung
Kapitel 1
Das Urphänomen der modernen Christus-Erfahrung
Die Christus-Erfahrung des Paulus und die Geburt des christlichen Platonismus
Kapitel 2
Michaelisches Yoga
›Diesen neuen Joga-Willen, den müssen wir entwickeln‹
Kapitel 3
Der platonisch-aristotelische Wesenstausch am Ende des 20. Jahrhunderts
Kapitel 4
Die Begegnung mit dem ätherischen Christus
Kapitel 5
Der Abgrund und das Ereignis der Schwelle
Kapitel 6
Das Erkenntnisdrama der Wiederkunft
Kapitel 7
Die Begegnung mit Michael
Kapitel 8
Die Begegnung mit Anthroposophia
Zitierte Bände aus der Gesamtausgabe Rudolf Steiners
Weitere Arbeiten des Verfassers
Anmerkungen
Fußnoten – Hinweis
Sechs im Original nicht enthaltene Fußnoten sind der Übersetzung hinzugefügt und gekennzeichnet. Die Änderungen der sich daraus ergebenden fortlaufenden Fußnotennummerierung sind berücksichtigt durch die originalen Nummern in [ ] am Ende der betroffenen Fußnoten.
Die unlösbare Frage, mit der Thomas von Aquin starb, lautete: »Wie trägt man die Christologie in das Denken hinein? Wie wird das Denken christlich gemacht? – Diese Frage steht welthistorisch da in dem Augenblicke, als Thomas von Aquin 1274 stirbt. Bis zu diesem Momente konnte er sich nur durchringen zu der Frage. Die Frage steht mit aller Herzinnigkeit da in der europäischen Geisteskultur.« (1) Ein Jahrhundert zuvor stand Alanus ab Insulis, der führende Platoniker von Chartres, der gleichen Frage »mit aller Herzinnigkeit« gegenüber, wie aus seinem Werk Bücher von der himmlischen Erschaffung des Neuen Menschen hervorgeht. (2) Die ungelöste Frage von Thomas und Alanus beantwortete Rudolf Steiner 1894 in der Philosophie der Freiheit, dem Urquell der modernen Geisteswissenschaft. Am Ende des 20. Jahrhunderts lebte die Frage in dieser Form erneut mit großem Widerhall auf: »Wie kommt der ätherische Christus in die Geisteswissenschaft?« Diese Frage stand da in der Weltgeschichte, als Rudolf Steiner 1925 starb. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte die Anthroposophie nur bis zu dieser Frage vordringen, die »mit aller Herzinnigkeit« dasteht in der Geisteskultur der Menschheit.
In meinen frühen 20er-Jahren war das neue Damaskus-Ereignis, das Rudolf Steiner vorausgesagt hatte, für mich eine gegebene übersinnliche Tatsache. Ebenso war es die physische Form der Anthroposophie. Für mich war klar, dass ohne das Licht der Geisteswissenschaft die Begegnung mit dem ätherischen Christus nur eine persönliche Erfahrung bleibt. Und ohne die neuen Lebenskräfte, die von dem ätherischen Christus strömen, bleibt die Anthroposophie ein physisches Wissensgebäude. Beide brauchen einander. Das neue Christus-Ereignis muss von der Geisteswissenschaft erforscht werden, um der Menschheit bekannt zu werden, und die Anthroposophie bedarf Seiner Lebenskräfte, um wiedergeboren zu werden. Ich habe mich mit größter Intensität mit dieser Frage auseinandergesetzt: Wie kommt der ätherische Christus in die Geisteswissenschaft? Die geisteswissenschaftliche Erkenntnis des ätherischen Christus zu erlangen und eine Auferstehung der Anthroposophie herbeizuführen, wurde zu meiner täglichen geistigen Arbeit. Aber zuerst musste ein Weg geschaffen werden, um die wechselseitigen Beziehungen zwischen ihnen zu bewirken.
Der erste Schimmer einer Antwort auf diese Frage leuchtete für mich auf, als ich zum ersten Mal die Philosophie der Freiheit las. Ich fühlte, dass sie mich frei mit der Christus-Erfahrung und mit der Anthroposophie atmen ließ und mir erlaubte, sie immer mehr zusammenzubringen. Die durch die Philosophie der Freiheit angeregte Denktätigkeit erzeugte ein geistiges Licht, das die Christus-Erfahrung erhellte und die Anthroposophie wieder auferstehen ließ und eine anfängliche Brücke zwischen beiden errichtete. Ich fühlte, dass ich mit dem lebendigen Licht der Philosophie der Freiheit auf das Ziel der Vermählung der Anthroposophie mit dem ätherischen Christus hinarbeiten konnte, und dies erwies sich als der Anfang des Weges, der in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die Kräfte des ätherischen Christus immer mehr in die Geisteswissenschaft einfließen lassen sollte.
Die Frage wurde von Rudolf Steiner 1917 auch auf diese Weise formuliert: »Wie kommt man nun dem Christus, der ja seine ätherische Gegenwart hereinversetzen wird in die Welt in diesem Jahrhundert, – wie kommt man dem Christus durch entsprechende Seelenvorbereitung ganz besonders nahe? Wie findet man den Weg gerade in unserer Zeit, ihm nahe zu kommen?« (3) Heute muss sie entsprechend umformuliert werden: »Wie können sich unsere Seelen mit dem ätherischen Christus verbinden, den wir seit Ende des letzten Jahrhunderts in der ätherischen Welt erleben? Welche Schritte müssen wir im zweiten Jahrhundert des Michael-Zeitalters tun, um uns mit Ihm zu vereinigen?«
In der ersten Ausgabe der Neuen Erfahrung des Übersinnlichen, die in ihrer deutschen Übersetzung 1997 veröffentlicht wurde, nannte ich den Weg, der zur Beantwortung dieser Frage entwickelt wurde, »das Erkenntnisdrama der Wiederkunft«. Da ich jetzt, nach 30 Jahren, die Neuauflage dieses Buches vorbereite, habe ich erkannt, dass es ein stark erweitertes Werk werden muss. Die drei Begegnungen habe ich als Auftakt geschrieben, um die Neuausgabe von Die neue Erfahrung des Übersinnlichen in einer Form vorzustellen, die auch einem größeren Leserkreis zugänglich sein kann.
Im Zentrum der Evolution der Menschheit und der Erde steht das Mysterium von Golgatha, durch welches der Christus-Impuls in die Erde eingetreten ist. Rudolf Steiner hat darauf hingewiesen, dass die Anthroposophie zu Beginn des letzten Jahrhunderts gegeben wurde, um auf das zweite große Christus-Ereignis in der Menschheitsentwicklung vorzubereiten, die ätherische Wiederkunft, die 1933 begann. Infolge der Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie sie in Menschendämmerung und Auferstehung der Menschheit beschrieben ist, wurde die Wiederkunft auf der Erde in ihr böses Gegenteil umgekehrt. Nach Rudolf Steiners Tod 1925 wurde die Anthroposophie von der neuen Christus-Offenbarung und dem sich entwickelnden Michael-Strom abgetrennt, und diese Trennung dauerte bis zum Ende des Jahrhunderts. Die Begegnungen mit dem ätherischen Christus, mit Michael und mit Anthroposophia, die in diesem Buch, dem Auftakt zur zweiten Ausgabe der Neuen Erfahrung des Übersinnlichen, beschrieben werden, sind möglich durch die Wiederkunft des Christus. Sie ist die Pforte, die zu den mächtigen und umgestaltenden Ereignissen führt, die sich gerade jetzt im gegenwärtigen Zeitalter in der ätherischen Welt abspielen.
Wir müssen unterscheiden zwischen zwei Aspekten der Begegnung mit dem ätherischen Christus in der modernen Christus-Erfahrung. Der erste ist, dass die Begegnung mit dem ätherischen Christus in der ätherischen Welt ein Geschenk der Gnade ist. Sie wird durch den Christus initiiert und dem Menschen geschenkt. Rudolf Steiner betonte, dass zwischen dieser Begegnung und der Art und Weise wie ein Eingeweihter den Christus aus freiem Willen in der geistigen Welt wahrnimmt, ein »gewaltiger Unterschied« besteht:
Es ist ein großer Unterschied zwischen dem, was die geschulten Hellseher erleben, und dem, was hier geschildert wird, was naturgemäß erlebt wird. Der geschulte Hellseher erlebt den Christus seit undenklichen Zeiten durch gewisse Übungen. Auf dem physischen Plan, wenn ich da einem Menschen begegne, so habe ich ihn vor mir; hellseherisch kann ich ihn wahrnehmen an ganz anderen Orten, da trete ich ihm nicht unmittelbar gegenüber. Hellseherisch wahrnehmen den Christus, ist immer möglich gewesen. Aber ihm zu begegnen, weil er jetzt anders zur Menschheit steht, nämlich so, daß er einem von der Ätherwelt aus hilft, das ist etwas, was – außer uns – eine von unserer hellseherischen Entwickelung unabhängige Tatsache ist. Vom zwanzigsten Jahrhundert an, in den nächsten dreitausend Jahren werden gewisse Menschen ihm begegnen können, ihm objektiv als ätherischer Gestalt dann begegnen. Das ist etwas anderes, als wenn ein Wesen durch innere Entwickelung bis zu seinem Anblick hinaufsteigt. (4)
Diese geschenkte Begegnung ist ein Ausdruck dafür, dass der Christus heute »anders zur Menschheit steht«, und »er einem von der Ätherwelt aus hilft«. Mit anderen Worten, in dieser Begegnung kommen wir so mit dem Christus in Begegnung, als ob »ich … einem Menschen begegne«, und deshalb »habe ich den Christus vor mir«. Es handelt sich also um eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht, genauso wie wir in der physischen Welt einem anderen Menschen von Angesicht zu Angesicht begegnen. Bei solchen Begegnungen sind Wahrnehmen und Erleben des Christus unmittelbar, und sein Eindruck umfasst alle Ebenen und Merkmale unserer menschlichen Konstitution und Existenz.
Dies ist der erste Aspekt der Begegnung, der als ein gegebenes Gnadengeschenk erfahren wird, das keine spirituellen Vorkenntnisse voraussetzt. Sie kann aber zum Ausgangspunkt einer geisteswissenschaftlichen Entwicklung werden, die zu einer zweiten, auf freiwillige Weise gewonnenen Begegnung führt. In diesem Fall müssen wir – wie bei Parzivals Weg zum Gral – unterscheiden zwischen der ersten Begegnung, die als Gnadengeschenk gegeben ist, und der zweiten Begegnung, die durch bewusste spirituelle Weiterentwicklung gewonnen wurde. Das 4. Kapitel von Die neue Erfahrung des Übersinnlichen beschreibt die geschenkte Begegnung, das 5. Kapitel die durch willentliche geistige Entwicklung gewonnene zweite Begegnung.
Die zweite, selbstgewollte Begegnung mit dem Christus wurde von Rudolf Steiner folgendermaßen beschrieben:
Wenn sich die Seelen zum Verständnis solcher Geheimnisse anfachen lassen durch die Geisteswissenschaft, wenn unsere Seelen sich einleben zu solchem Verständnis, so werden die Seelen reif, im Anblick jener heiligen Schale das Mysterium von dem Christus-Ich, von dem ewigen Ich, zu dem jedes Menschen-Ich werden kann, kennenzulernen. Da ist es, dieses Geheimnis – herbei nur sollen sich die Menschen rufen lassen durch die Geisteswissenschaft, dieses Geheimnis als Tatsache zu verstehen, um das Christus-Ich im Anblick des Heiligen Gral zu empfangen. … wenn die Menschen immer mehr vorbereitet sein werden zum Empfang des Christus-Ich, dann wird sich das Christus-Ich immer mehr in die Seelen der Menschen ergießen. Sie werden dann sich hinaufentwickeln dahin, wo ihr großes Vorbild, der Christus Jesus, stand. Die Menschen werden dadurch erst verstehen lernen, inwiefern der Christus Jesus das große Menschheitsvorbild ist. (5)
In einem anderen Vortrag betont Rudolf Steiner die Aktualität dieses Prozesses:
Ja, es warten diese geprägten Abbilder der Christus-Jesus-Individualität, daß sie aufgenommen werden von den Seelen, sie warten! (6)
Der Weg von der in diesem Kapitel beschriebenen ersten, geschenkten Begegnung mit dem Christus hin zur zweiten Begegnung, in der wir eine bewusste Aufnahme Seines »Ich« verwirklichen, ist der Weg des Erkenntnisdramas der Wiederkunft. Sein Ziel ist es, das Geschenk der gegebenen Begegnung in eine voll bewusste Aufnahme und Individualisierung Seiner »Ich«-Kopie zu verwandeln. Aber je mehr wir den Weg weiterentwickeln, der zur selbstgewählten zweiten Begegnung und zum Empfang von Christi »Ich« führt, erkennen wir, dass sein geistiger Samen bereits eingeschlossen war in der ersten, geschenkten Begegnung. Wenn die gegebene Begegnung in die willentliche Begegnung umgewandelt wird, bemerken wir, dass die Kopie von Christi »Ich«, die wir bewusst empfangen und individualisieren, schon enthalten war in dem Wesen des Christus, das wir in der ersten Begegnung erfahren haben. Das Erkenntnisdrama der Wiederkunft führt uns dazu, »das Christus-Ich im Anblick des Heiligen Gral zu empfangen.« Dann begreifen wir im Licht der vom Heiligen Gral ausstrahlenden geistigen Erkenntnis, dass der Christus selbst die Quelle der Kopien Seines »Ich« ist. Wir verstehen »im Anblick jener heiligen Schale das Mysterium von dem Christus-Ich, von dem ewigen Ich, zu dem jedes Menschen-Ich werden kann«, und durch das Erkenntnisdrama nehmen wir aktiv an diesem Werden teil.
Deshalb ist die gnadenvoll geschenkte Begegnung mit dem ätherischen Christus nicht als abgeschlossenes Einzelereignis zu verstehen, sondern als das Pflanzen eines feurigen geistigen Samens Seines »Ich« in den menschlichen Geist, die menschliche Seele und den menschlichen Leib. Die moderne Geisteswissenschaft bietet das erforderliche spirituelle Wissen und die Praxis, um den gegebenen Samen des Christus-»Ich« vollständig zu empfangen und zu individualisieren. Dieses Ereignis ist nur der Beginn eines lebenslangen, ja ewigen Prozesses des geistigen Werdens. In den oben zitierten Worten Rudolf Steiners wird der fortschreitende Charakter dieses Prozesses betont. »Das Christus-›Ich‹ … wird die Seelen der Menschen in immer höherem Maße durchdringen, sodass sie hinauf streben können, um sich der Stellung zu nähern, … wo ihr großes Vorbild, der Christus Jesus, stand.« Der Anschauung des »Ich-Abbildes«, die Rudolf Steiner verwendet, sollten wir auch die Anschauung des Samens hinzufügen. Was mit diesem Samen nach seinem gnadenvollen Gegebenwerden geschieht, hängt ganz von unserer freien geistigen Tätigkeit ab. Der allmähliche Prozess des geistigen Wachstums und der Entwicklung, der in einem einmaligen Gnadenereignis begann, ist das Pflanzen eines Samens in den fruchtbaren spirituellen Boden des menschlichen Herzens, und durch das Sonnenlicht der modernen geistigen Erkenntnis kann er sich entwickeln und viele Früchte tragen.
Wenn die wahre Natur der ersten und zweiten, der gegebenen und der willentlichen Begegnung mit dem Christus voll erfasst wird, können wir in Wahrheit mit Rudolf Steiner sagen: »Christus gibt mir mein Menschenwesen.« (7) Das bedeutet, dass es in unserer Zeit durch die ätherische Wiederkunft immer mehr Menschen möglich wird, sich auf den Empfang der »Ich«-Kopie des Christus vorzubereiten und zu sagen: »Und aufblickend zum Christus stehe immer in unserer Seele: Der Christus ist das Urbild des Ich, es strebe mein Ich danach, zu werden ein Abbild dieses Urbildes.« (8)
Rudolf Steiners geisteswissenschaftliche Forschungen haben gezeigt, dass das Erlebnis des Paulus vor den Toren von Damaskus ein Urbild ist für die Erfahrung des ätherischen Christus in Seiner Wiederkunft, die ab den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts und in den kommenden 3000 Jahren für immer mehr Menschen möglich werden wird. (9)
Das Einzigartige an Paulus’ Erfahrung war, dass sie drei Ströme zu einer völlig neuen spirituellen Synthese verband. Zum einen empfing Paulus die Gabe der neuen geistigen Fähigkeiten, die es ihm ermöglichten, den ätherischen Christus als ein gegebenes Ereignis zu erleben. Für die Menschheit konnten diese Fähigkeiten erst nach 1933 anfänglich in Erscheinung treten. Zweitens war Paulus gründlich geschult in der griechischen und römischen Philosophie seiner Zeit. Und drittens war er bereits vor diesem Erlebnis ein »Eingeweihter der alten Kabbala«. (10) Daher war es seine bahnbrechende Aufgabe, diese drei Ströme in einen durch den neuen Christus-Impuls vergeistigten Strom zu vereinen. Seine Mission war es, aus den dreien die neue Synthese des christlichen Einweihungsweges zu bilden, unter vollständiger Berücksichtigung der Tatsache, dass nach der Menschwerdung Christi – beginnend mit Platon und Aristoteles – die kosmische Sonnenintelligenz die Hände Michaels verließ und auf die Erde herabstieg. Diese Synthese war die originäre spirituelle Schöpfung des Paulus. Das heißt, die paulinische, bewusst erforschte Christus-Erfahrung ist das erste – und archetypische – Beispiel für die selbstbewusste und freie, aktive, wechselseitige Verbindung zwischen einer gegebenen Christus-Erfahrung, dem aktiven Denken und dem Prinzip der Einweihung, die zusammen ein klares und präzises geistiges Erkennen des Christus ermöglichen. Dieselbe Synthese muss auch heute erreicht werden, und zwar durch unsere individuelle geistige Tätigkeit, durch moderne Geisteswissenschaft.
Die Quelle der geistigen Schöpfung des Paulus ist heute dieselbe Quelle wie vor 2000 Jahren, denn der ätherische Christus Selbst ist die Quelle dieser Schöpfung. Unsere Aufgabe ist es, durch die Geisteswissenschaft alle Kräfte der Bewusstseinsseele aufzubringen, um dem ätherischen Christus zu begegnen, um die bewusste moderne Begegnung mit dem Christus zu untersuchen, so wie Paulus es im vierten nachatlantischen Zeitalter mit den Kräften der Verstandes- oder Gemütsseele tat.
Rudolf Steiner hat Paulus’ einzigartige Schöpfung, die er die »Paulinische Methode« nennt, so charakterisiert:
Der erste, welcher eine Impression hatte von der kosmischen Bedeutung des Christus, war Paulus; Paulus, der wahrnehmen konnte, wie hereingeströmt war die Kraft der Christus-Wesenheit in die Erdenaura. Dasjenige, was dem Paulus für einen bestimmten Punkt der Christus-Erkenntnis aufgegangen war, das kann, wenn wir den Okkultismus unserer Tage vertiefen, für weitere Felder der Christus-Erkenntnis dem Menschen aufgehen. Denn indem das Schauen des Paulus … ausgedehnt wird von dem, was bei Paulus fast nur die Wahrnehmung ist des Jesus von Nazareth, auf das Leben des Christus Jesus, dann wird gewissermaßen die Paulinische Methode von einem einzigen Zentrum aus über die ganze große Erscheinung des Christus Jesus-Lebens verbreitet. Indem wir auf diese Weise heute durch eine hingebungsvolle okkulte Forschung in die Lage kommen können, die Paulinische Methode gleichsam allgemein zu machen für die Christus-Erkenntnis, hat sich ein wirklicher Fortschritt in der Erkenntnis des Christus vollzogen. (11)
Für diejenigen, die heute danach streben, eine individualisierte »Paulinische Methode« zur Erforschung des modernen Damaskus-Ereignisses auszubilden, ist dieser Hinweis von großer Bedeutung, weil er das Damaskus-Ereignis mit den grundlegenden Problemen und Aufgaben der geisteswissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in der physischen und geistigen Welt in Verbindung bringt. Das wird sofort deutlich, wenn Rudolf Steiner darauf hinweist, dass das erste Problem, auf das Paulus aufgrund seiner Christus-Erfahrung stieß, die Frage nach der wahren Natur des menschlichen Denkens war:
So kam Paulus dazu, einzusehen, daß die Menschheitsentwickelung von einem Feinde ergriffen war, und daß dieser Feind der Quell des Irrtums auf der Erde ist. … Nur in einer Welt – so konnte jetzt Paulus empfinden –, in welcher ergriffen wird die menschliche Wesenheit von den ahrimanischen Mächten, kann der Irrtum eintreten, der zum Kreuzestod hat führen können. Und jetzt, als er das begriffen hatte, erkannte er eben erst die Wahrheit des esoterischen Christentums. … Die Aufnahme des Todes in das Leben, das ist das Geheimnis von Golgatha. Vorher hatte man das Leben ohne den Tod gekannt, jetzt lernte man den Tod als einen Bestandteil des Lebens kennen, als ein Erlebnis, welches verstärkt das Leben. … Die Menschheit muß stärker leben, wenn sie durch den Tod durchgehen will und dennoch leben will. Und der Tod bedeutet … den Intellekt … der Intellekt macht uns innerlich kalt, macht uns innerlich tot. Der Intellekt lähmt uns. Wir leben eigentlich nicht, wenn wir den Intellekt entwickeln. Man muß das nur empfinden, daß man ja eigentlich nicht lebt, wenn man denkt, daß man sein Leben ausgießt in tote Verstandesbilder. … Das habe ich versucht darzustellen in meiner Philosophie der Freiheit. Diese Philosophie der Freiheit ist eigentlich eine Moralanschauung, welche eine Anleitung dazu sein will, die toten Gedanken als Moralimpulse zu beleben, zur Auferstehung zu bringen. (12)
Und weiter:
Was Paulus meinte mit dem auferstandenen Christus, war, daß der Christus den Tod zu erleben hatte und erlebt hat, daß er aber über den Tod siegte, daß er als Geistig-Lebendiges siegreich mit der Auferstehung aus dem Tode hervorgegangen ist und seither mit der Menschheit weiterlebt für diese Menschheit, die ohne den Christus nur das tote Denken hätte. … Während früher das Denken in alten Zeiten selber noch seinen lebendigen Charakter auf das Erdenleben heruntergetragen hat, kann sich die Erdenseele seit dem dritten, vierten Jahrhundert … im unmittelbaren Anblick des Mysteriums von Golgatha das Denken auferwecken lassen. (13)
Selbstverständlich verwendet Rudolf Steiner, wenn er von der Philosophie der Freiheit im Zusammenhang mit der »Paulinischen Methode«, der »Epistemologie« oder der »Erkenntnistheorie« spricht, diese Begriffe nicht im gewöhnlichen philosophischen Sinn. Rudolf Steiner und Paulus sind Geisteswissenschaftler, nicht bloße Denker, und deshalb betrachten beide die Spiritualisierung des Denkens als die erste Stufe der wirklichen übersinnlichen empirischen Erfahrung. Die Philosophie der Freiheit ist nicht ein gewöhnliches philosophisches Buch, für welches es oft gehalten wird. Es ist genauso empirisch und wissenschaftlich wie jedes andere anthroposophische Buch oder jeder Vortrag Rudolf Steiners, und wenn wir es als ein solches erleben, werden wir durch das Denken erfahren, dass wir an einer lebendigen geistigen Wirklichkeit teilnehmen, und wir werden in der Lage sein, die Mitteilungen aus den höheren Welten nicht nur zu verstehen, sondern auch die Realität dieser Mitteilungen zu erleben, weil wir das wirkliche geistige Leben bereits durch reines und intuitives Denken erfahren haben.
»Das Geheimnis des esoterischen Christentums: die Aufnahme des Todes in das Leben«, welches Paulus’ bedeutendste Entdeckung vor 2000 Jahren war, ist auch die grundlegende Entdeckung, die in der gegenwärtigen ätherischen Christus-Erfahrung gemacht wird. Die Überwindung der unserem modernen ahrimanischen Intellekt innewohnenden Todeskräfte ist in der Tat der Ausgangspunkt für das Erkenntnisdrama der Wiederkunft, das im 5. Kapitel der Neuen Erfahrung des Übersinnlichen dargestellt wird, wie weiter unten ausgeführt. Und die Quelle der Auferstehungskräfte, welche die Überwindung des Todes möglich machen, wird gefunden in der Erscheinung, in den Worten und Taten des ätherischen Christus. Daher ist dies auch die Quelle für unsere Suche nach einer »Paulinischen Methode«, um das gegenwärtige Christus-Ereignis in die Geisteswissenschaft zu bringen. Dazu müssen wir, so wie Paulus es tat, unsere Beobachtung auf das Wesen des Christus Selbst richten.
Rudolf Steiner wies darauf hin, dass der im nathanischen Jesus inkarnierte Christus dasselbe Wesen ist, das sich auch in Krishna verkörperte. Das Wesen, das den orientalischen Yogastrom seit Urzeiten geschaffen und inspiriert hat, ist also dasselbe Wesen, in dem sich der Christus in Palästina inkarniert hat. Diese Erkenntnis hat sich als von größter Bedeutung für unsere Arbeit erwiesen. Dieses Geheimnis offenbart sich heute, wenn wir die ätherische Erscheinung des Christus untersuchen. In dieser Begegnung entdecken wir, wie das alte Yoga christianisiert wurde und mit ihm der gesamte Strom des westlichen Denkens in all seinen platonischen, neuplatonischen und aristotelischen Ausprägungen. Hier entdecken wir die innere Verbindung zwischen der paulinischen Methode der Erforschung der Christus-Erfahrung und der ersten Form der Praxis des Michaelischen Yoga. Sie hat ihren Ursprung in der übersinnlichen Begegnung des Paulus mit dem Christus, und sie wiederholt sich in jeder Begegnung. Ihre Quelle liegt in der lichtausstrahlenden, lebensspendenden geistigen Aura des Christus, dem Nathan-Krishna-Wesen, in das der Christus auch heute noch eingehüllt ist.
Es war dasselbe Krishna-Nathan-Jesus-Wesen, das sowohl Arjuna als auch Paulus die Geheimnisse des »Ich«-Daseins, des Selbstbewusstseins und seiner Spiritualisierung lehrte – den einen vor, den anderen nach dem Mysterium von Golgatha. »Der Geist, der durch Krishna wirkt, erschien ja nun wiederum in dem Lukas-Jesusknaben aus der nathanischen Linie des Hauses David. In dieser Persönlichkeit war also im Grunde alles dasjenige, was an Impulsen vorhanden war zur Verselbstständigung im Menschen, zum Loslösen von der äußeren Wirklichkeit.« (14) Dies war die reifste Form der vor Golgatha erfolgten Erscheinung des ursprünglichen Adam-Nathan-Wesens der himmlischen Menschheit, das zum Träger des Christus wurde. Krishna erneuerte auf diese Weise die Essenz des alten Yoga und verband sie mit dem Christus. »Es spricht zu den Lehrern im Tempel [als Jesus 12 Jahre alt war] nun nicht nur der Zarathustra – [sondern einer] der spricht als Ich – , er spricht mit den Mitteln, mit denen einstmals der Krishna den Yoga verkündet hat; er spricht über einen Yoga, der wiederum eine Stufe in die Höhe gehoben ist; er vereinigt sich mit der Krishna-Kraft, mit dem Krishna selber, um bis zum dreißigsten Jahre heranzuwachsen.« Da er »über einen Yoga, der wiederum eine Stufe in die Höhe gehoben ist«, sprach, als er sich bei der Taufe durch Johannes im Jordan mit Christus vereinigte, konnte er nach dem Mysterium von Golgatha Paulus die neue Essenz des Yoga offenbaren. »Als Paulus seine Erscheinung vor Damaskus hat, da ist dasjenige, was ihm erscheint, der Christus. Der Lichtschein, in den sich der Christus kleidet, ist der Krishna. Und weil der Christus den Krishna zu seiner eigenen Seelenhülle genommen hat, durch die er dann fortwirkt, ist enthalten in dem, was aufstrahlt, ist in dem Christus auch alles das, was einstmals Inhalt der erhabenen Gita war. … Diese alte Krishna-Lehre ist aber dadurch eine Sache der ganzen Menschheit geworden.« (15)
Dies ist eine höchst bedeutsame, unbemerkt gebliebene Tatsache, dass das neue Michaelische Yoga seine Substanz und Kräfte aus dem Nathan-Krishna-Wesen bezieht. Aber das ist einfach eine Tatsache des modernen Damaskus-Ereignisses, und deshalb musste auch das Buch, das dieses Ereignis beschreibt, auf dem neuen Michaelischen Yoga beruhen, denn es ist Michael, der unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkt, dass »in dem, was aufstrahlt, … auch alles das [enthalten ist], was einstmals Inhalt der erhabenen Gita war.« Dieses Licht leuchtet heute als das neue Grals-Licht, in dessen Anschauung das Christus-»Ich« dem Menschen durch den Christus im Erkenntnisdrama der Wiederkunft gegeben wird.
Das ist der eigentliche Grund, warum der Christus, wenn wir Ihn wahrnehmen, wie Er sich heute wieder in Seiner strahlenden Lichtaura zeigt, als die Quelle und der Lehrer des neuen Michaelischen Yoga der Seelen- und Geist-Atmung erscheint, spricht und handelt. Dies ist einfach eine ätherische Tatsache, die mithilfe der imaginativen Wahrnehmung direkt erfasst wird und sich im rhythmischen ätherischen Leben und Licht der neuen ätherischen Erscheinung Christi offenbart. Das bedeutet, dass die Quelle des modernen Yoga in seiner anthroposophisch-michaelischen Form, wie sie Rudolf Steiner 1919–20 beschrieben hat, die ätherische Christus-Erscheinung ist, denn in dieser Erfahrung wird man mit seinem Ätherleib Teil dieses neuen ätherischen Atmens, und man lernt, dieses ätherische Atmen bewusst zu entwickeln und zu regulieren, und zwar durch die Ätherisation des Denkens und der Sinneswahrnehmung, wie sie in Michaelisches Yoga: Sich selbst einen neuen Ätherleib und ätherische Individualität erschaffen ausführlich beschrieben ist. (16)
Auf diese Weise lassen wir auch heute – nun auf der ätherischen Ebene der Wiederkunft – den Ursprung und die Entwicklung des christlichen Platonismus wieder auferstehen. Im Damaskus-Erlebnis des Paulus begann der lebendige esoterische Strom des platonischen und neuplatonischen Christentums zu fließen. Die moderne Damaskus-Erfahrung, die Ende des 20. Jahrhunderts anfing, bringt die michaelische Auferstehung und Transformation dieses 2000 Jahre alten Stroms mit sich. Wir fühlen uns heute eingebettet in diesen Strom und sind uns der Tatsache bewusst, dass wir seine Auferstehung und seinen Neubeginn erleben, und zwar auf einer höheren Ebene, verwandelt und vergeistigt durch das Erkenntnisdrama der Wiederkunft. Die alte Anthroposophie wurde an der Schwelle vom zweiten zum dritten Jahrtausend wiederbelebt und umgewandelt durch die ätherische Erscheinung Christi in Seiner Wiederkunft, so wie die Mysterien von Eleusis und Platons Philosophie wiederbelebt und transformiert wurden durch die Christus-Erfahrung des Paulus vor den Toren von Damaskus. Auf diese Weise sind das erste und das zweite Kommen – das erste und das zweite Mysterium von Golgatha – heute miteinander verbunden im neuen Michael-Impuls im 21. Jahrhundert.
Vor 2000 Jahren wurden in der von Dionysios Areopagita, dem Schüler des Paulus, in Athen gegründeten esoterischen Schule zum ersten Mal auf der Erde die beiden Sonnenströme miteinander verbunden: der Strom des im Mysterium von Golgatha von der Sonne auf die Erde herabgestiegenen Christus, der Sein Wirken in der geistigen Aura der Erde begann, und der Sonnenstrom Michaels kosmischer Intelligenz, der in Seiner Nachfolge herabstieg, um zum menschlichen Denken zu werden. Durch Paulus und Dionysius wurde der noch mit den Mysterien von Eleusis verbundene platonische Strom des griechischen Denkens zum ersten Mal mit dem Christus vereint, und dieser vereinigte Strom spiritualisierte die Evolution des Denkens in Europa weiter, bis Rudolf Steiner ihn in der Philosophie der Freiheit zu Beginn des neuen Michaelzeitalters in die moderne Geisteswissenschaft umwandelte. Und unsere zentrale Aufgabe seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist es, die Schöpfung Rudolf Steiners mit der ätherischen Erscheinung des Christus zu vereinen und so die Anthroposophie im 21. Jahrhundert zu einer Offenbarung der neuen Christus-Erscheinung zu machen. Verschaffen wir uns also einen kurzen Überblick über die wichtigsten Etappen der Entwicklung dieses vereinigten michaelisch-christlichen, irdisch-menschlichen Sonnenimpulses in den letzten 2000 Jahren.
In der esoterischen Schule von Paulus und Dionysios Areopagita in Athen wurde das platonische und neuplatonische Christentum begründet. »Unter ihm [Dionysius] hatte diese Schule ihre Blütezeit, denn Dionysius hat diese Mysterien in einer ganz besonderen Weise gelehrt, während Paulus die Lehre exoterisch ausbreitete.« (17) Wir können diese Schule jetzt nicht ausführlicher beschreiben und möchten nur anmerken, dass unsere Untersuchungen ihrer Mysterien von der Tatsache geleitet wurden, dass »wenn man den Blick wirft auf die eleusinischen Mysterien, die mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurden: in den ersten Jahrhunderten nach dem Mysterium von Golgatha ging der Wiederauferstandene selber in den Mysterien herum, um diese zu reformieren« (18), ein Prozess, der mit großer Intensität im gegenwärtigen ätherischen zweiten Mysterium von Golgatha erlebt wird.
Um die Verwandlung der alten Anthroposophie durch den neuen Christus-Impuls besser zu verstehen, müssen wir uns durch das paulinische Damaskus-Christus-Ereignis in dieses Geburtsmoment des dionysisch-paulinischen christlichen Platonismus vertiefen, weil dieser heute im Erkenntnisdrama der Wiederkunft wiederaufersteht.
Im Vortragszyklus über die Philosophie des Thomas von Aquino beschrieb Rudolf Steiner die dionysisch-paulinische Geburt des neuen, michaelisch-christlichen Yoga. Wie wir oben gesehen haben, wurde es durch die unmittelbare Wahrnehmung des ätherischen Christus inspiriert, wie dieser dem Paulus durch seine lichtspendende Aura des Nathan-Krishna Jesus erschien. Und dieses neue michaelisch-christliche Yoga wurde von Dionysius in seiner esoterischen Schule in Athen erschaffen und praktiziert:
Dieser Dionysius wird ja gewöhnlich so geschildert, als ob er zwei Wege zum Göttlichen hätte. … Wie kommt man zurecht mit einer Persönlichkeit, die einem nicht eine Theologie gibt, die einem zwei Theologien gibt, eine positive und eine negative, eine rationalistische und eine mystische Theologie? … Für ihn [Dionysius] war die Gottheit ein Wesen, dem man sich nähern mußte auf rationellem Wege durch Namengebung und Namenfindung. Aber geht man nur diesen einen Weg, dann verliert man den Pfad, … man muß noch einen anderen Weg gehen. Das ist eben der, der das Namenlose anstrebt. Geht man jeden allein, dann findet man ebensowenig die Gottheit; aber geht man beide, so kreuzen sie sich, und man findet in dem Durchkreuzungspunkte die Gottheit. Es genügt nicht, zu streiten darüber, ob der eine Weg oder der andere Weg richtig sei. Beide sind sie richtig; aber jeder einzelne, für sich gegangen, führt zu nichts. Beide gegangen führen, wenn die Menschenseele sich im Kreuzungspunkte findet, zu dem, was angestrebt wird. (19)
Dies ist der Umstülpungspunkt des Atmens, in dem sich alles um und von innen nach außen wendet: »In dem Durchkreuzungspunkte« findet die Seele den Weg zum Göttlichen, das heißt zum ätherischen Christus, wenn sie »sich [selbst] im Kreuzungspunkte findet.« In der modernen Auferstehung dieses dionysischen Mysteriums laufen drei Mysterien zusammen und werden durch den Christus-Impuls erneuert: Die antiken Mysterien von Eleusis, in denen der jüngere Dionysius in seiner ätherischen Form erschien und lehrte; die Platonische Akademie in Athen, in der sich Dionysius als Platon reinkarnierte, der mit seinem Lehrer Sokrates zusammenarbeitete, um aus der antiken dionysischen Einweihung in die Mysterien das reine Denken zu schaffen (20); und die oben beschriebene erste Schule des esoterischen Christentums, die von dem Schüler des Paulus, Dionysius Areopagita, eröffnet wurde. Dieser wurde im neuen Yoga direkt geführt durch den Nathan-Krishna Jesus, um die geistige Essenz des Platonismus, Aristotelismus und Neuplatonismus mit der paulinischen Erfahrung des ätherischen Christus zu vereinen.
Der neue Krishna, der nathanische Jesus, bewirkte die Auferstehung seiner alten Yogalehre und wandelte sie um – in der Schule des Paulus und des Dionysius in Athen – in den neuen Weg des esoterischen Christentums. In seiner alten Lehre enthüllte er das esoterische Geheimnis der Atmung. »Indem er den einatmenden Atem in den ausströmenden Atem und den ausströmenden Atem in den einatmenden Atem gibt, neutralisiert der Yogi diese beiden Atemzüge; so befreit er die Lebenskraft aus dem Herzen und bringt sie unter seine Kontrolle.« (21) Krishna lehrte, dass der archetypische Austausch der Essenz von Mensch und Kosmos durch die Atmung stattfindet. Als kosmisches Sonnenwesen verwirklichte der im Wesen Krishnas inkarnierte Christus im Mysterium von Golgatha den Wesenstausch von Mensch und Gott, als Er das göttliche Wesen individualisierte und das menschliche Wesen vergeistigte. Er verleiblichte das göttliche Wort und vergeistigte das menschliche Fleisch.
Die Vergeistigung des Atmens fand ihren ersten philosophischen Ausdruck in der dialektischen Methode Platons und entwickelte sich weiter in der neuplatonischen Philosophie des Proklos im 5. Jahrhundert. Bei Fichte, Schelling und Hegel fand sie einen abstrakten modernen Ausdruck, und Herbert Witzenmann wandte sie an auf die Philosophie der Freiheit. (22) So ist beispielsweise nicht schwer zu erkennen, dass die dialektische Bewegung des Denkens bei Hegel eine transformierte Übung der Yoga-Atmung ist. In der ersten Stufe seiner Logik stellt Hegel das »Sein« als These und das »Nichts« als Antithese auf, so wie Einatmen und Ausatmen einander gegenüberstehen. Wenn sich das »Sein«, das Einatmen, und das »Nichts«, das Ausatmen, verbinden, sublimieren und gegenseitig transformieren, entsteht das »Werden«.
Im Sinne der oben zitierten Gita ist dies ein umgewandelter Prozess, bei dem »der einatmende Atem dem ausatmenden Atem angeboten wird und der ausatmende Atem dem einatmenden Atem angeboten wird, und der Yogi neutralisiert diese beiden Atemzüge.« Das setzt die reine Kraft des Geistes frei, die »Seele der Dialektik«, wie Hegel es nannte, oder in den Worten der Gita, es setzt »die Lebenskraft aus dem Herzen frei und bringt sie unter seine Kontrolle.« Im unten beschriebenen Michaelischen Yoga findet dieser Wesenstausch zwischen dem Einatmen der Sinneswahrnehmung und dem Ausatmen des reinen Denkens und der Synthese beider statt. Aber für Platon war das Denken noch nicht ein rein abstrakter Schatten der göttlichen Atemrhythmen des Kosmos. Er konnte noch erleben, dass das Denken, wenn es in der menschlichen Seele zum Leben erwacht, ein Geschenk der Götter an die Menschen ist, und er erlebte den ersten Funken der kosmischen Intelligenz Michaels als eine echte geistige Offenbarung.
Diese Erfahrung findet einen deutlichen Ausdruck in Platons Dialog Philebos