Geisteswissenschaft im 21 Jahrhundert - Yeshayahu Ben-Aharon - E-Book

Geisteswissenschaft im 21 Jahrhundert E-Book

Yeshayahu Ben-Aharon

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Beschreibung

In diesen 1997–2012 gehaltenen Vorträgen spannt der Autor einen weiten Bogen über sein zentrales Thema: die Begegnung mit dem Ätherischen bereits wirksam erscheinenden Christus. Er umfasst die apokalyptischen Bedingungen des 20. und 21. Jahrhunderts, das konkrete Wirken und die Mission des Bösen und seiner Umwandlung in der Menschheitsgeschichte, den Kampf der Kulturen, den Dialog zwischen der Geisteswissenschaft und der Gegenwartsphilosophie bis zum ersten Aufleuchten einer neuen Geschwisterlichkeit in dem sich inkarnieren wollenden Zukunftsstrom und dem Verwandeln von Selbstliebe in Weltendenken.

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YESHAYAHU BEN-AHARON

Geisteswissenschaft im 21. Jahrhundert

Umwandlung des Bösen, Begegnung mit dem Anderen und Erwachen zur globalen Initiation der Menschheit

Vorträge von Yeshayahu Ben-Aharon 1997-2012

Titel der Originalausgabe:SPIRITUAL SCIENCE IN THE 21 st CENTURYVeröffentlicht 2013, von Virtualbookworm.com Publishing Inc., P.O. Box 9949, College Station, TX, 77842, US.

Herausgegeben von Scott E. Hicks.

Verantwortlich für die Übertragung ins Deutsche: Ulrich Morgenthaler

1. Auflage 2024

© der deutschen Ausgabe by Yeshayahu Ben-Aharon 2024

ISBN: 978-3-949064-16-6

Ereignis Verlag Fürstenrieder Str. 97, 80686 München www.ereignisverlag.de Umschlaggestaltung: Sylvia Waiblinger

Hinweise des Herausgebers der englischen Ausgabe

Obwohl die Quellen für das gesamte Material in diesem Buch letztlich Vorträge von Yeshayahu Ben-Aharon waren, wurden alle Vorträge von Transkriptoren, Übersetzern und dem/den Herausgeber(n) in dem einen oder anderen Umfang überarbeitet, gekürzt und korrigiert. Sie können daher von den ursprünglichen Vorträgen, die von den Teilnehmern gehört wurden, ziemlich stark abweichen. Der Autor konnte auch einige der Vorträge überarbeiten und erweitern. Vielen Dank an Cathy Sims-O’ Neil, die den größten Teil des Typoskripts durchlesen und weitere Korrekturen und Anregungen geben konnte. (Scott E . Hicks)

Hinweis zur deutschen Übersetzung

Neun im Original nicht enthaltene Anmerkungen sind der Übersetzung hinzugefügt und gekennzeichnet. Die Änderungen der sich daraus ergebenden fortlaufenden Nummerierung der Anmerkungen sind berücksichtigt durch die originalen Nummern in [] am Ende der betroffenen Anmerkungen.

Geisteswissenschaft und zeitgenössische Philosophie im Dialog

Beobachtungen zur Spiritualisierung des DenkensColmar 2007 (1)

Zunächst möchte ich euch sagen, wie sehr es mich freut, dass ich heute mit euch zusammen sein kann. Dies ist mein erster Arbeitsbesuch in Frankreich. Doch merkwürdigerweise, obwohl ich weder Französisch spreche, noch lesen kann, habe ich immer die Entwicklung des geistig-kulturellen Lebens in Frankreich im 20. Jahrhundert und auch heute sehr genau verfolgt. Insbesondere beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit französischem Denken und französischer Philosophie. In diesem Vortrag möchte ich euch darauf aufmerksam machen, welche Rolle französisches Denken in dem unsichtbaren spirituellen Drama unserer Zeit spielt.

In meinen Büchern Das spirituelle Ereignis des 20. Jahrhunderts und Die neue Erfahrung des Übersinnlichen habe ich darauf hingewiesen, was im 20. Jahrhundert hinter den Kulissen der Weltereignisse stattfand. Beide Bücher wurden zu Beginn der 90 er-Jahre des letzten Jahrhunderts geschrieben. Ich habe darin meine geisteswissenschaftlichen Untersuchungen über die esoterischen über- und untersinnlichen Realitäten beschrieben, die nur durch moderne geisteswissenschaftliche Forschungsmethoden erfasst werden können. Bis in die 60 er-Jahre wurde nur wenig Licht auf der Erde erzeugt – und so viel Finsternis. Nicht, dass die Finsternis erzeugenden Kräfte und Ereignisse seither zurückgegangen wären, im Gegenteil, sie nehmen exponentiell zu. Doch die gute Nachricht ist, dass in allen Bereichen des Lebens, nämlich des Denkens, der Wissenschaft, der Kunst und des sozialen Lebens in den 60 er-Jahren neue Hoffnungskräfte zu strömen begonnen haben. In meinen Büchern habe ich die verborgenen Quellen beschrieben, aus denen diese geistigen Kräfte fließen. Und einige dieser seltenen und kostbaren Lichtstrahlen gingen von der französischen Kreativität der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus.

Während der gesamten europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts – vor, zwischen und nach den beiden Weltkriegen und während des Kalten Krieges – fand eher gerade hier in Frankreich eine sehr intensive und entscheidende intellektuelle, jedoch auch kulturelle und politische Debatte statt. Die im Denken tätigen Kräfte waren bei all ihrem Scharfsinn doch nicht stark genug, die soziale und politische Realität zu durchdringen; viele hielten sie für so »revolutionär« und radikal, doch sie konnten nie wirklich zu neuen sozialen Ideen und gesellschaftlichen Formen durchbrechen. Auf dem Gebiet der Philosophie war das anders; hier entfaltete sich einiges an echter Kreativität, das tatsächlich danach strebte, neue Wege zu beschreiten. Das vergangene Jahrhundert hatte eine gewaltige, im Guten wie im Schlechten, mit den schwerwiegendsten und schicksalhaftesten Auswirkungen verbundene Aufgabe.

Diese Aufgabe kann auf verschiedene Weise beschrieben werden. Jedoch für unser Vorhaben heute Abend, da wir diese Aufgabe vom Gesichtspunkt der Entwicklung des Denkens aus betrachten, können wir sie verallgemeinernd nennen: die Spiritualisierung des Bewusstseins, oder genauer, die Spiritualisierung des Intellekts und des Denkens. Dies ist ein Ausdruck, den Rudolf Steiner häufig verwendete. Sein ganzer Impuls, die größten Anstrengungen seines Willens und seiner Liebe flossen ein in diese Tat. Und seine lebenslange Hoffnung war es, dass freie Menschen tun würden, was er selbst anstrebte: sich wahrhaft zu verwandeln! Er hatte gehofft, dass dies wenigstens von einer begrenzten Anzahl Menschen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreicht werden würde, dass es dann von immer mehr Menschen im Laufe des Jahrhunderts aufgegriffen werden und am Ende des Jahrhunderts einen gewissen intensiven Höhepunkt erreichen würde. In umgewandelter Form würde es dann die Weltbühne des 21. Jahrhunderts kraftvoll als Welt verändernde schöpferische Kraft betreten.

Neue Anfänger

Es genügt heute nicht mehr, wenn eine Person etwas allein tut, selbst wenn es der größte Eingeweihte ist, denn andere dürfen nicht mehr länger einfach nur geführt oder in seine Fußstapfen gedrängt werden – es sei denn, wir sprechen von Impulsen des Bösen. Das Gute kann nur aus der Tiefe freier menschlicher Herzen und Häupter entspringen, die zusammenarbeiten in gegenseitigem Helfen und Verstehen. Und wenn man die heutige Weltsituation, auch die Anthroposophie, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, kann man sicherlich sagen: »Nun denn, wir sind eindeutig erst am allerersten Anfang!« Wir sind darum alle herzlich eingeladen, neu anzufangen, neu zu beginnen. Wenn wir das oben Gesagte richtig verstehen, sind wir aufgerufen, uns selbst als echte Anfänger zu sehen. Immer mehr Menschen sollten verstehen, dass der Zeitgeist heute neue Anfänger sucht und genug hat von den vielen »Wissenden«, die ständig Unheil in unserem sozialen, spirituellen und wirtschaftlichen Leben anrichten.

Diese Vergeistigung des Intellekts ist der erste und unvermeidbare Schritt, der als Grundlage einer weiteren Umwandlung der menschlichen Natur und Gesellschaft erforderlich ist. Er ist die Voraussetzung für die Spiritualisierung unseres sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Lebens. Dies ist unser Hauptansatzpunkt, einfach, weil wir in den letzten Jahrhunderten zu denkenden Wesen geworden sind. Alles, was wir tun, beginnt mit dem Denken, und falsches Denken wird unmittelbar zu einer Quelle moralisch-sozialer Zerstörungskräfte, während wahrheitsgemäßes Denken eine aufbauende und heilende Kraft ist. Daher bezeichnete Steiner sein sogenanntes »nicht-anthroposophisches« Buch, Die Philosophie der Freiheit, als seine wichtigste spirituelle Schöpfung. Durch dieses Buch, so sagte er, kann jeder Mensch, wenn er es richtig versteht und praktiziert, könne jede Person ohne irgendein spirituelles Vorwissen oder Glauben von ihrem alltäglichen Denkbewusstsein, Wahrnehmungsbewusstsein, von täglicher moralischer Tätigkeit und sozialen Erfahrungen ausgehend, beginnen. Jede/r kann da beginnen, wo er/sie im wirklichen Leben steht.

Ich habe schon früh für mich selbst und mittlerweile auch mit Freunden und Schülern in der Welt die Erfahrung gemacht, dass Die Philosophie der Freiheit, wenn man sie in der richtigen Weise aufnimmt, uns tatsächlich kraftvolle Werkzeuge an die Hand gibt, um diese Spiritualisierung zu verwirklichen und ins Bewusstsein zu bringen. Dies war mein eigener spirituell-wissenschaftlicher Entwicklungsweg vom 21. zum 35. Lebensjahr. Nachdem ich zunächst mit Steiners allgemeinem anthroposophischen Werk begonnen hatte, konzentrierte ich mich dann insbesondere auf sein philosophisch-soziales Werk. Für den Aufbau der Harduf-Gemeinschaft einerseits und für meine geistige Forschung andererseits suchte ich nach dem verborgenen Werde-Strom der Anthroposophie, nach ihrer lebendigen übersinnlichen Fortsetzung.

Wie kann Steiners Ausgangspunkt für das Denken kontinuierlich aktualisiert und in den Strom des sich entwickelnden Zeitgeistes gebracht werden? Das war die brennende Frage, mit der ich täglich lebte. Ebenso waren mir die hemmenden Kräfte, die auch innerhalb seines Erbes wirksam sind, bekannt. Daher war ich mir schon früh bewusst, dass ich meinen eigenen Weg selbst erschaffen musste, während ich ihn ging, allein, und er nicht einfach von außen gegeben da ist. Und wenn man auf diese Weise sucht, gilt es, Michaels Fußstapfen in der Geschichte und im heutigen geistigen, kulturellen und sozialen Leben zu finden. Deswegen verfolgte ich intensiv die neuen Entwicklungen in den Wissenschaften, der Kunst, dem sozialen Leben und auch im Denken und in der Philosophie im Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts. Dann habe ich durch das Leben selbst, durch meine Arbeit – und das gilt nur für meine eigene Erfahrung, man kann das nicht verallgemeinern, festgestellt, dass, wann immer und wo immer ich nach einem Weg suchte, um nach 1925, nach Steiners Tod weiterzumachen, dieser Weg zur Weiterentwicklung des Denkens und zur Vergeistigung des Intellekts zu dem Abgrund führte, der sich mit den beiden letzten deutschen Denkern – dem konvertierten Juden Edmund Husserl und seinem nationalsozialistischen Schüler Martin Heidegger – in den Trümmern der europäischen Kultur im 2. Weltkrieg und in den 50 er- und 60 er-Jahren aufgetan hatte. Und auf diese Weise kam ich, den tragischen Spuren von Husserl und Heidegger folgend, zur französischen Philosophie; denn die französischen Denker waren die begeistertsten und aufnahmebereitesten Schüler des deutschen Denkens. Um einige zentrale Gestalten der französischen Philosophie vorzustellen, muss ich daher die entscheidende Wende in der deutschen Geistesgeschichte kurz zusammenfassen

Eine Exkursion nach Deutschland

Der erste deutsche Denker, dem unmittelbar klar war, dass die Zeit Goethes und des deutschen Idealismus für immer vorbei war und sie nicht wiederbelebt werden konnte, war – natürlich – der große und tragische Nietzsche. Er verlor buchstäblich seinen Verstand in seinem Bemühen, neue ungeahnte Räume für die Spiritualisierung des Denkens zu finden. Und als historisches Symptom und Hinweis auf den aufziehenden Sturm, der zur deutschen Tragödie führte, ist es bezeichnend, dass genau in diesen Jahren, dem Ende der 80 er-Jahre des 19. Jahrhunderts, Steiner an seiner philosophischen Dissertation Wahrheit und Wissenschaft als Grundlage der Philosophie der Freiheit arbeitete. Als letztere 1894 veröffentlicht wurde, schrieb er seiner engen Freundin, Rosa Mayreder, wie sehr er die Tatsache bedauerte, dass Nietzsche sie nicht mehr lesen konnte, denn »er hätte sie wirklich als eine persönliche Erfahrung verstanden.«

Edmund Husserl (1859–1938) hingegen war ein Zeitgenosse Steiners, er studierte ebenfalls Philosophie in Wien bei Franz Brentano, ein oder zwei Jahre nachdem Steiner dort studiert hatte, wahrscheinlich im Wintersemester 1881/1882. Sie wären sich sozusagen beinahe in Brentanos Vorlesungen begegnet. Das Karma hätte nicht deutlicher sprechen können, denn Husserl strebte danach, Brentanos Denken voranzubringen und entwickelte seine Phänomenologie in der Richtung von Steiners Philosophie der Freiheit. Doch Husserls Radikalität war nicht radikal genug, er hat die tiefergreifenden Beschränkungen der traditionellen Kantischen Philosophie nicht überwunden. Dies hinterließ im deutschen Denken vor, während und nach dem 1. Weltkrieg eine gähnende Lücke, einen Abgrund in der für die europäische und deutsche Geschichte entscheidendsten Zeit. Nun kam das Jahr, in dem Deutschlands Schicksal und damit das Schicksal Europas entschieden wurde: 1917. In diesem Jahr wurde Lenin von Ludendorff in einem versiegelten Waggon aus seinem Exil in Zürich nach Moskau geschmuggelt, um dort die bolschewistische Revolution im Osten zu organisieren, und die USA traten von Westen her in den Krieg ein. Mitteleuropas Schicksal lag in der Waagschale, die sich rasch zum Schlimmsten neigte und Steiner initiierte die soziale Dreigliederung als letzten Rettungsversuch. Nun starb Brentano 1917. Steiner veröffentlichte einen »Nachruf« auf Brentano in seinem Buch Von Seelenrätseln, in dem Philosophie, Anthropologie und Anthroposophie zum ersten Mal in einer vollständig modernen und wissenschaftlichen Weise zusammengebracht wurden, ohne irgendwelche theosophischen Rückstände, d. h. frei von traditionellen okkulten Begriffen und Formulierungen. Dieses Buch zeigt deutlich: Steiner ist nun bereit, seine wirkliche Lebensaufgabe als moderner Geisteswissenschaftler und gesellschaftlicher Erneuerer aufzunehmen. Doch seine Hoffnungen, eine weltweite sozial-spirituelle Bewegung zu schaffen, scheiterten schon vor seinem frühen Tod im März 1925.

Nach Steiners Tod konvertiert Max Scheler, ein originärer und freier Schüler Husserls, der Steiner begegnet war und ihn schätzte, 1927 zum Katholizismus, im selben Jahr, in dem Martin Heideggers einflussreiches Werk Sein und Zeit erscheint. Heidegger verkörpert in seinem Schicksal als letzter deutscher Denker das Schicksal seines Volkes. Er konnte sich weder mit der Phänomenologie zufriedengeben, und das zu Recht, noch konnte er sich für den neuen Impuls öffnen, der in Richtung der Philosophie der Freiheit wirkte. Stattdessen transformierte er Husserls Phänomenologie rückwärts anstatt vorwärts, um eine mächtige und hochsuggestive Umstülpung der Philosophie der Freiheit im deutschen intellektuellen Leben zu erzeugen. Zwischen Husserl und Heidegger spielt sich die Tragödie des deutschen spirituellen Lebens in den späten 20 er- und frühen 30 er-Jahren ab, bis dann Heidegger 1933 seine berüchtigte Rektoratsrede als neu gewählter Rektor der Freiburger Universität hielt, mit der er sich als begeisterter Nazi präsentierte. Er unterstützte später auch die Exkommunizierung seines alternden Lehrers nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935; zu seinem eigenen Glück starb Husserl 1938. Die bereits 1917 gefallene Entscheidung wurde nun vollständig sichtbar gemacht und mit ihr das Verhängnis Deutschlands und ganz Europas.

Seit Nietzsches und Steiners Zeit gibt es eine sehr deutliche Entweder-Oder-Situation: Das Denken kann entweder mit dem Zeitgeist gehen oder sich stark gegen ihn stellen. Und Heideggers unzweifelhafte Größe wurde massiv mobilisiert, um dem feindlichen Geist zu dienen, der Michael am stärksten entgegensteht. Doch nur ein abstrakt denkender Intellektueller oder ein religiöser Fanatiker würde heutzutage glauben, dass er im Voraus den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge kennt. Und Anthroposophie wird manchmal auch in dieser Weise aufgefasst.

Aus praktischer Sicht zeigt gerade der Fall Heideggers die tatsächlichen Schwierigkeiten, die einem begegnen, wenn man danach strebt, durch reale Erfahrung den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge zu erkennen, insbesondere dort, wo sie von der Schwelle reflektiert und abgelenkt werden. Stellt man die Schwellenebene als Spiegelfläche vor, dann erscheint der eine Teil des Paares als der unter der Schwelle stehende polare Bruder, ja als Zwilling – aber auf den Kopf gestellt, um ein Gegenbild zu erzeugen, ein gespiegelter Gegensatz seines Originals oberhalb der Schwelle! An dieser Stelle möchte ich auf eine bedeutsame Tatsache hinweisen, die mir bei meiner Arbeit über die Jahre hinweg gute Dienste geleistet hat: Indem man mit dem heutigen Denken in verschiedenen Gebieten ringt, entdeckt man, dass man nicht nur dadurch reich belohnt wird, dass man echte michaelische Inspirationen findet, sondern auch durch die schmerzhafte Aufdeckung von Gegenströmungen; diese können uns – aus erster Hand – genau deshalb eine Menge über Michaels wirkliche Intentionen sagen, weil sie das exakte Gegenteil anstreben!

Wenn wir die Dinge von dieser Warte aus betrachten, werden wir vielleicht ein großes Rätsel beginnen zu verstehen, nämlich warum Heidegger der eventuell einflussreichste Philosoph in der europäischen und insbesondere französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts war und warum Levinas – und er war ein enger persönlicher Student Heideggers in Freiburg – sagte: »Wir müssen es zugeben, unglücklicherweise waren wir alle Heideggers Schüler.«

Das französische philosophische Jahrhundert

Seit den 1920 er- und 30 er-Jahren, zwischen den Kriegen, während des Kalten Krieges und später, finden wir eine Vielzahl von französischen Denkern, deren Ausgangspunkt war, sich zunächst die deutsche Philosophie zu eigen zu machen. Die jüngste philosophische Nahrung für französische Denker kommt von den großen Vieren des großen deutschen Götterdämmerung-Stroms: Hegel, Nietzsche, Husserl und Heidegger. Lasst uns nun einige von ihnen kurz einladen und einführen. Diese Einführung kann jedoch nur episodisch und fragmentarisch sein, eine augenblicklich vorbeihuschende Beschriftung auf einem schmalen und sich schnell verlierenden Pfad. Machen wir den Anfang mit einem weiteren Menschen jüdischer Herkunft, Henri Bergson, ein Zeitgenosse Steiners, von Gilles Deleuze der Vergessenheit zu neuem Leben erweckt, der besonders Bergsons erstes Buch Materie und Gedächtnis von 1896 (zwei Jahre nach der Philosophie der Freiheit) als einen seiner Hauptausgangspunkte benutzte. Und dann haben wir den großen Phänomenologen Merley Ponty, dessen Buch Die Phänomenologie der Wahrnehmung eine ausgezeichnete Studie der Sinneswahrnehmung und des wahrnehmenden Bewusstseins ist und der später die Grenzen der Wahrnehmung zunehmend in das Übersinnliche verschob, indem er sich bemühte, die Sinneswahrnehmung und die Körpererfahrung in spirituelle Erfahrung umzuwandeln. Eher am anderen Pol steht der »dunkle« Maurice Blanshot, dessen Schriften über Der Raum der Literatur (1955) eine starke Faszination auf das folgende Jahrhundert ausübte und dann sind wir bereits bei dem äußerst einflussreichen Jean-Paul Sartre (1905–1980) .

Sartre verwandelte die grundlegende Ontologie Heideggers in den phänomenologischen Existenzialismus und schrieb sein Hauptwerk Das Sein und das Nichts (1943) während des Krieges als Antwort auf Heideggers Sein und Zeit von 1927. Lest nur einmal das Kapitel »Der Blick« in diesem Buch und ihr werdet eine sehr exakte und brillante phänomenologische Erforschung der Wahrnehmung und des Wesens des Anderen und der Beziehung zu ihm finden – etwas, das in der Geschichte der Philosophie oder der Wissenschaft ohne Beispiel ist. Nach dem Kriege sehen wir den Strom des französischen Strukturalismus auftauchen, unter anderen mit Levi-Strauss und seiner Schule. Sie hatten bis in unsere Zeit hinein einen ausgesprochen fruchtbaren Einfluss in der Anthropologie und der Soziologie, und im Studium der Mythen und alten Kulturen. Doch das war nur ein Prolog, der die Bühne bereitete für das, was die wirklich aufregenden dreißig Jahre – die 60 er-, 70 er-, 80 er-Jahre – werden sollten, in denen man nacheinander leuchtende, brillanteste Sterne über dem intellektuellen Horizont Frankreichs auftauchen sieht, die heute weltberühmt sind. Doch damals war alles am Anfang; ich bin sicher, ihr seid alle mit diesen bemerkenswerten Namen vertraut … Namen wie? … Namen wie …? (Keine Antwort und Gelächter im Saal.)

Zuerst lasst uns einen weiteren Menschen jüdischer Herkunft nennen – ja, sie sind noch überall zu finden, trotz mancher Bemühungen … – Ich meine Jacques Derrida, einen in Algerien geborenen Franzosen. Er ist heute der ziemlich berühmte, doch nicht immer wirklich verstandene, Begründer einer philosophischen Strömung, die er »Dekonstruktivismus« nannte. Derrida hat im Vergleich zu Foucault einen entgegengesetzten (oder polaren) Weg eingeschlagen und wird oft als sein Gegner porträtiert, zu Deleuze jedoch stand er in freundschaftlichem Verhältnis, wenn auch eher aus der Ferne. Seine Bemühungen richteten sich auf die Dekonstruktion und Demontage der zentralistischen und zentralisierenden, monotheistischen Kräfte des Vater-Gottes, die in der vergangenen und gegenwärtigen Philosophie und Literatur wirkten; nicht als ein Ziel an sich, sondern als ein Mittel, die in der Sprache und im Geschriebenen wirkenden peripheren Kräfte aufzudecken. Derrida entdeckte und beschrieb einige der gestaltenden Strategien der dezentralisierten, peripheren Kräfte, die in der Geisteswissenschaft »ätherisch gestaltende Kräfte« genannt werden und enthüllte die Textur des Textes, das Weben des Textes durch Kette und Schuss des kunstvollen Wandteppichs der Sprache.

Derrida war zunehmend von Levinas beeinflusst und richtete seine Aufmerksamkeit ethischen, politischen und religiösen Untersuchungen zu, indem er die Probleme der radikalen Andersartigkeit, des transzendenten Anderssein des Anderen als einen unüberbrückbaren Unterschied studierte. Er starb am 9. Oktober 2004 und hat einen sich stetig ausweitenden Einfluss, der hauptsächlich auf den amerikanischen Kontinenten stark spürbar ist. Derrida ist einer der wenigen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der als kulturelle Persönlichkeit außerhalb des philosophischen Milieus bekannt wurde. Der Begriff »Postmoderne« wird zum ersten Mal als ein philosophisches Konzept in François Lyotards Das postmoderne Wissen: Ein Bericht von 1979 verwendet. Inspiriert durch Kants Idee der Erfahrung und Erkenntnis des Erhabenen (ein Teil von Kants Kritik der Urteilskraft), versuchte er ein nicht positivistisches, »Ereignis-reiches« Konzept der Erkenntnis und Kunst zu schaffen und es auf soziale und politische Gedanken/Ideen zu übertragen. Wir könnten hier auch andere Namen genannt haben, insbesondere den wirklich brillanten Paul Virilio, ein originärer Denker der modernen und postmodernen Technologie, des Militärs, des Urbanismus und der Architektur. Und wie könnte man den im März 2007 verstorbenen Jean Baudrillard nicht erwähnen, ein scharfsinniger Beobachter und Kritiker der elektronischen Kommunikation, der globalisierten Medien und des Fernsehens, der nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York auch den kurzen und bemerkenswerten Text Geist des Terrorismus schrieb.

Und dann ist da noch der bereits im Kontext seines Lehrers Heidegger erwähnte Emmanuel Levinas, ein in Litauen geborener Jude, der nach dem Krieg zum orthodoxen Glauben übertrat und sein Leben lang die Gebote und die Thora einhielt. Er ist neben Derrida der bekannteste französische Philosoph unserer Zeit, und auch sein Einfluss wächst heute noch beständig. Er führt seinen bahnbrechenden und radikalen Begriff des »Anderen« nicht durch die Phänomenologie ein, wie sie von Husserl, Heidegger oder Sartre entwickelt wurde, sondern durch so bemerkenswerte Begriffe wie »das Gesicht des Anderen« und »die Sterblichkeit des Anderen« – des Anderen, für den ich vom Uranfang her verantwortlich bin. Dieser Weg, so glaubte Levinas, ist der einzige Weg, eine »Contra-Kain«-Kraft zu entwickeln, was er als die wahre Mission des Judentums ansah, die durch die westliche Philosophie, das Christentum und die mitteleuropäische Kultur unterdrückt wurde. Er war bestrebt, Abel auferstehen zu lassen und eine Antwort auf Kains uranfänglichen Brudermord zu finden, den er als im europäischen und im globalen Maßstab im 20. Jahrhundert sich wiederholend erlebte, insbesondere in der Vernichtung der Juden (als ursprüngliche Abel-Söhne) durch die Deutschen (als moderne Kain-Söhne), aber auch in jeder und jeglicher Verfolgung der Schwachen, wo immer sie auch seien. Dies macht die Essenz seines Gedankens aus: Ich bin meines Bruders Hüter! In dieser Weise versuchte Levinas einen neuen religiös-moralischen Impuls in den philosophischen und kulturell-politischen Diskurs und in das Bewusstsein der Welt nach dem Holocaust zu bringen.

Als letzte dieser großen Persönlichkeiten sei jetzt, da unsere Zeit knapp ist, Alain Badiou genannt, der noch heute lebt und arbeitet, ein militanter Maoist-Leninist, der als Schüler Sartres und des französischen Philosophen der Psychoanalyse, Jacques-Marie-Émile Lacan anfing und der sich bereit machte, der lebenslange Herausforderer von Deleuze zu werden. Er ist der mehr oder weniger einsame und letzte Stern, der noch in der Abenddämmerung eines wahrhaft wunderbaren französischen philosophischen Jahrhunderts leuchtet. Badiou schrieb für Studierende eine ausgezeichnete Einführung in seine Gedankenwelt, mit dem Titel Ethik: Ein Essay über das Begreifen des Bösen, und er schrieb das beste Buch über Paulus, das ich in der neueren Literatur gelesen habe; ja, das gehört zu der seltsamen und kühnen Symptomatik unserer Zeit: Ein nicht bekehrbarer französischer Maoist-Leninist schreibt das beste Buch über Paulus! Das sind sichtbarere Vertreter von Dutzenden von kreativen und originellen Denkern, Künstlern und Wissenschaftlern im 20. Jahrhundert, die in Frankreich lebten. Das sind nur die deutlicher hervorgehobenen Namen, die deutlicher sichtbaren Planeten, die vor dem Hintergrund einer ganzen geistig-kulturellen europäischen und französischen Konstellation leuchten, die zustande kam durch die Zerstörung Europas im letzten Jahrhundert und durch das mit dem Verschwinden des deutschen Denkens entstandene Vakuum.

Doch nun war da der eine, der so kühn und inspirierend in seiner Originalität war, dass er alle anderen in einer Weise überragte, sodass Deleuze sagte: »Der Autor, der Die Archäologie des Wissens schrieb, gibt uns die Möglichkeit zu hoffen, dass wahre Philosophie wieder möglich sein wird.« Und er meinte Michel Foucault. »Foucault ist Goethe näher als Newton« schreibt Deleuze in seinem ausgezeichneten Buch »Foucault«, denn so wie für Goethe »das Licht-Wesen ein streng unteilbarer Zustand ist, ein a priori, das einzigartig fähig ist, Sichtbarkeiten dem Auge und zugleich den anderen Sinnen zu öffnen«, so verhält es sich mit Foucaults neuem Begriff der Sprache und des Denkens: Ihr eigentliches Wesen ist die nicht wahrnehmbare Kraft, die überhaupt jeden Diskurs sichtbar und möglich macht. Und das ist der Grund, warum Foucault den Weg für den wahrlich bedeutendsten französischen Denker des 20. Jahrhunderts vorbereiten und öffnen konnte, nämlich für Gilles Deleuze selbst. Selbst der sonst so vorsichtige und eher zurückhaltende Derrida rief während seiner Ansprache bei Deleuzes Begräbnis aus: »Der Autor von Differenz und Wiederholung (eines von Deleuzes Hauptwerken) ist der großartige Philosoph des Ereignisses.« Wie eine Sonne, die all die intellektuellen französischen Sterne überstrahlt, sie jedoch auch in ihren Zusammenhang stellt, ihnen ihre historische Gestalt gibt und das Denken auf seinem Weg in die Flugbahn und Richtung seiner zukünftigen kosmischen Bestimmung und Konstellation hebt, verdient Deleuze uneingeschränkt die Aussage Foucaults: »Das ganze philosophische 20. Jahrhundert wird eines Tages das Deleuzianische Jahrhundert genannt werden.« Und an anderer Stelle: »… ein Gewittersturm wurde erzeugt, der den Namen Deleuze tragen wird: Neues Denken ist möglich; Denken ist wieder möglich!«

Es war Deleuze – allein und gemeinsam mit seinem Mitstreiter und Mitautor Felix Guattari – der in all seinen Schriften die zukünftige Rolle und Aufgabe der Philosophie aufzeigte. Greifen wir aphoristisch eine Aussage heraus, die – aus der in diesem Vortrag dargestellten Sichtweise – als symptomatischer Wegweiser in die Entwicklungsgeschichte der Philosophie eingeschrieben werden kann. Wir finden sie in seinem letzten Buch Was ist Philosophie, das er zusammen mit Felix Guattari geschrieben hat. Da finden wir diese Aussage:

Der alleinige Zweck der Philosophie ist es, sich des Ereignisses würdig zu erweisen. (2)

Diese gewaltige Umwandlung der Rolle der Philosophie durch Deleuze ist ein Ergebnis eines allgemeinen Projektes, zu dem jeder der oben erwähnten Denker beigetragen hat – angefangen mit Heidegger, der als Erster das »Ereignis« als einen zentralen philosophischen Begriff thematisierte. Es genügt hier zu sagen, dass Deleuze mit diesem Begriff ein kompliziertes und vielschichtiges Geschehen ausdrückt, das er in seinen Werken über drei Jahrzehnte hinweg wiederholt beschrieb und variierte. Ein Stück weit in unsere Worte übersetzt kann dieses »Ereignis« verstanden werden als pulsierende Systole und Diastole, als ein Atmen immanenten Lebens, der sich fortwährend ereignende Inkarnations- und Exkarnationsprozess in jedem einzelnen Element von Materie, Raumzeit und Bewusstsein. Deleuze erfasste Leben und Sinnlichkeit als überall in Natur, Kultur und Kosmos existierend, mit und ohne organisch-körperliche oder materielle Grundlagen. Wenn wir seine Aussage in diesem Sinne neu formulieren, können wir sie also folgendermaßen ausdrücken:

Der alleinige Zweck der Philosophie ist es, sich der ständig pulsierenden, atmenden, vibrierenden Bewegung des universellen, immanenten Lebens würdig zu erweisen.

Rätsel und Probleme der Vergeistigung des Denkens

Der revolutionären Neuformulierung von Sinn und Wesen der Philosophie durch Guattari und Deleuze wollen wir nun einige Aussagen Rudolf Steiners gegenüberstellen. Er sagt z. B., dass wir jetzt, da die Rolle der Philosophie erfüllt ist (d. h. am Ende des 19. Jahrhunderts), den Mut haben müssen, den Blitz des Willens durch das gänzlich singuläre Wesen der einzelnen Person direkt ins Denken einschlagen zu lassen. (3) Dieses Willenselement kann das Denken befeuern und aus seinen körperlichen Fesseln befreien, sodass es seine Flügel entfalten kann, um sich zu erheben und in das offene kosmisch-ätherische Universum aufzusteigen. Dann wird es nicht mehr dasselbe »Ich« sein, das denkt, sondern es wird der Strom des kosmischen Denkens sein, der durch mein verwandeltes Wesen fließt. »ES denkt in mir« wird eine wahrhaftige Erfahrung und ein wirkliches übersinnliches Ereignis werden. (4) Aber gerade diese bemerkenswerte geistige Errungenschaft – das »ES denkt« – wirft ernste Probleme der Erkenntnistheorie, der Identität und natürlich der Ethik auf, die mit den Mitteln der heutigen Philosophie und Wissenschaft nicht gelöst werden können.

Das Hauptproblem hier ist Folgendes: Wenn »ES in mir denkt«, wer ist dies »Ich« in dem und durch das »ES denkt«? In der Nacht, wenn das ES wirklich nicht nur in mir denkt, sondern auch die Grundlage meiner gesamten Existenz bildet und formt, zieht sich mein gewöhnliches Selbstbewusstsein vollständig zurück und ist völlig abwesend. Ich werde unbewusst, um dem ES zu erlauben, meine Existenz zu übernehmen, weil mein gewöhnliches Selbst noch gar nicht in der Lage ist, im spirituellen Selbstbewusstsein die notwendige Aufrechterhaltung meines ganzen Seins zu erfüllen. Deshalb bin ich in der Nacht, und auch unbewusst während des Tages, hingegeben an SEINE kosmische Führung und an SEINE heilenden Kräfte und an SEIN Wesen. Ich hoffe, es ist mir gelungen, dieses Problem für euch etwas problematischer und konkreter zu machen: Wie kann dieser Depersonalisierungs- und Überpersonalisierungsprozess bewusst erlebt werden? Wie kommt das eine Selbst – das gewöhnliche – heraus und das andere – das Höhere Selbst – herein? Und wer ist das »eine« (das jetzt schon zwei ist und sich weiter vervielfältigen wird, je weiter der Vergeistigungsprozess voranschreitet!), das diese zwei – und die vielen – gegenseitig erkennt, organisiert und in eine harmonische Komposition bringt? Und in welcher Art von Selbst-Bewusstsein würde dieses »ES denkt« bewusst werden?

Dasselbe Problem kann auch so zum Ausdruck gebracht werden. Steiner sagte, er betrachtete Descartes’ berühmte Aussage »Ich denke, also bin ich« als nichts Geringeres als »der größte Irrtum, der an die Spitze der neueren Weltanschauung gestellt worden ist; … denn genau dort, wo ich denke, bin ich nicht … denn das gewöhnliche Denken ist nur ein leeres Bild, ein Abbild, eine Vorstellung, und es ist jedes wirklichen, substanziellen Seins beraubt.« (5) Diese Aussage charakterisiert eine wesentliche wie auch existenzielle Erfahrung des zeitgenössischen philosophischen Denkens als Ganzes und insbesondere der oben genannten französischen Philosophen. Zu diesem ersten Aspekt gehört das, was zeitgenössisches philosophisches Denken in gewissem Umfang und auf verschiedene Weise und in unterschiedlichem Ausmaß erreichen konnte, nämlich die »Kosmisierung« des Denkens und die Verwirklichung des »Denkens des Außen« und des »ES denkt im Innern« (Foucault-Deleuze); jedoch war diesem Denken das Gefühl eigen, dass es die Realität des Subjekts, des Individuums, vollständig opfern musste, um dies zu erreichen. Diesem vollständigen Opfer können wir nicht zustimmen. Wir müssen jedoch auch zugeben, dass wir, wie oben erwähnt, von Steiners eigenem gelebten, initiatorischen Beispiel abgesehen, keine Beschreibungen aus erster Hand über eine erfolgreich durchgeführte erfahrungsmäßige Lösung dieses Dilemmas haben. Insgesamt können wir sagen: Die zeitgenössische Philosophie hat zwar auf originelle und neue Weise einige Aspekte im Kontext der Vergeistigung des Denkens entwickelt, blieb aber in Bezug auf die tieferen Probleme des »Ichs« an der Schwelle stehen. Die gefeierten, wenn auch wenig verstandenen Äußerungen Foucaults über den Tod des Subjekts und des Autors können nur als Symptome verstanden werden, die auf dieses ungelöste Problem hinweisen, wie wir später noch ausführlicher sehen werden.

Lasst mich kurz die ersten Hauptstufen im Prozess der Vergeistigung des Denkens zusammenfassen und dann die volle Bedeutung von Steiners Verständnis vom »alleinigen Zweck der Philosophie« aufzeigen. Wenn die Verwandlung des Denkens durch den »direkten Blitz des Willens« stattfindet und das Denken zu einem singulären Ereignis wird, und wenn ich mit der Vergeistigung meines eigenen Denkens so weit gekommen bin, dann habe ich in der Tat die Auslöschung und das Ausleeren meiner gewöhnlichen Seelen- und Geistesinhalte bewirkt. Da nun meine gewöhnliche Erfahrung meines Selbst nichts anderes ist als die Summe dieser Inhalte, verschwindet, indem sie verschwinden, auch mein gewöhnliches Selbst. Ich vergesse mein subjektives Innenleben, das sozusagen einschläft. An seiner Stelle flammt das »ES denkt« auf. ES fließt ein in den leeren, selbstlosen Ort, und ES durchdenkt diesen Ort als ein gänzlich anderes, andersartiges Selbst. Daraus kann sich Folgendes ergeben: ES rüttelt nun mein ansonsten unbewusstes reales Selbst auf – nicht das subjektive, bewusste, persönliche Selbst, das bereits ausgelöscht ist, – sondern ES rüttelt mein wahres Selbst aus dem physischen Leib heraus. Und dieses wahre Selbst darf seinen Weg zu dem Höheren Selbst der Menschheit finden, schwimmend und fliegend auf den Wellen und in den Strömungen des wirklichen »weltweiten Netzes«, ausgebreitet und vermischt mit unendlich vielen und verschiedenen nicht-organischen lebendigen kosmischen Kräften, Ereignissen und Wesen. Doch das ist das zentrale Problem: Das »ES-denkt« allein kann nicht garantieren, dass dieses Treffen stattfinden wird. Die Kraft, die erforderlich ist, um die Begegnung zwischen meinem wirklichen Selbst und dem Höheren Selbst der Menschheit zu ermöglichen, kann nur an einem anderen Ort gefunden werden. Aber wo?

Dafür ist es von immenser Bedeutung zu bemerken, wie Steiner in diesen Worten aus der Philosophie der Freiheit das reine Denken auch als reine Liebe bezeichnet. Wenn der Denker eins wird mit dem Strom der »Liebe in geistiger Art, der durch das Denken fließt«, verwirklicht und individualisiert er diese Erfahrung als eine »moralische Intuition«, die frei aus den geistigen Welten heraus empfangen und durch individuelle Taten der Liebe auf die Erde gebracht wird. Diese zweite Seite der Vergeistigung des Denkens hat mit der freien Liebe zur Erde, zur Menschheit und zum physischen Leben als Ganzem. Mit anderen Worten: Vergeistigtes Denken kann eine Verbindung zwischen den beiden Selbst – dem menschlichen und dem kosmischen – nur dann herstellen, wenn es zu einem Ausdruck der Liebe wird. Nur dann kann es eine Verbindung herstellen zwischen dem Höheren Selbst, das außerhalb des Körpers erfahren wird, und dem menschlichen Selbst, das die moralische Intuition empfängt und sie schützen und auf der Erde verwirklichen muss. Wenn man nun von beiden Seiten ausgeht, und zwar von der kosmischen Erfahrung eines Selbst als Teil der nicht-organischen Welt von Lebenskräften und Wesen und von der Quelle der moralischen Intuition, die auf der Erde verwirklicht werden soll, so kann die folgende Aussage Steiners in ihrer ganzen Tragweite gewürdigt werden. Er sagt, dass der zukünftige Zweck der Philosophie darin bestehen wird, »das menschliche Selbstbewusstsein zu retten«, damit das Selbstbewusstsein überhaupt erinnert werden kann, wenn die Menschheit in ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Vergeistigungsprozess weiter voranschreitet. (6) Wird dieses Erinnern des Selbstbewusstseins nicht erreicht, so wird der Vergeistigungsprozess dennoch weitergehen, denn die evolutionsgemäße Zeit dafür ist fällig. Er wird die Menschheit jedoch von ihrem wahren Selbst und ihrer wahren Mission auf der Erde und im Universum wegführen. Das bedeutet, dass Philosophie wirklich etwas hat, dessen sie »würdig« ist: die Rettung und Erlösung des Selbstbewusstseins für alle zukünftigen Stufen der Vergeistigung der Menschheit, ohne die das menschliche Bewusstsein nicht in der Lage sein wird, auf gesunde Weise in die geistigen Welten einzutreten. In Anlehnung an Deleuze-Guattari können wir nun endlich die oben zitierte Aussage aus ihrem Buch Was ist Philosophie? umformulieren. Wir können nun unsererseits antworten:

Der alleinige Zweck der Philosophie ist es, sich des Ereignisses der Vergeistigung des Selbstbewusstseins und der Erinnerung an das wahre »Ich« würdig zu erweisen.

Die ausgebliebene große Auseinandersetzung

Unsere Charakterisierung des »alleinigen Zwecks« der Philosophie ruft laut dazu auf, Deleuzes Herausforderung als Warnung und Ermahnung durch den Michael-Strom zu begegnen. Diese Warnung soll wirklich nicht der Pedanterie und dem Intellektualismus Vorschub leisten, sondern im Gegenteil den echten und realen, jedoch einseitigen Impuls der gegenwärtigen Spiritualisierung des Denkens ausgleichen. Gerade weil die Vergeistigung des Denkens tatsächlich weiter voranschreitet und real wird, und weil das Denken wirklich begonnen hat, mit dem Strom der kosmischen Kräfte zu verschmelzen, ertönt diese Botschaft aus den michaelischen Sphären und ermutigt den Denker, die Geheimnisse und Probleme nicht im Stich zu lassen, die mit den äußerst komplizierten und widersprüchlichen Beziehungen zwischen dem gewöhnlichen irdischen Subjekt der Persönlichkeit und dem Kosmischen Ich, auch Christus oder Höheres Spirituelles Selbst genannt, verbunden sind. Diese Aufgabe ist etwas völlig Neues in der menschlichen Evolution und ist vielleicht der entscheidende Impuls der unmittelbaren Gegenwart und der nahen Zukunft, nämlich eine selbstbewusste Brücke zwischen dem irdischen Selbst und dem übersinnlichen Bewusstsein zu schaffen. Auf diese Weise verstandene Philosophie bietet das einzige Mittel, »das selbstbewusste ›Ich‹, d. h. das Selbstbewusstsein als solches für das übersinnliche Bewusstsein zu retten.« Mit anderen Worten, der Hellseher muss bei der Erlangung eines wahren spirituellen Bewusstseins in der Lage sein, zurückzublicken und sich – in der ersten Stufe der spirituellen Entwicklung – an sein »Ich« zu erinnern. Und diese Rettung des Selbstbewusstseins kann nur durch vergeistigtes Denken in der von der Philosophie der Freiheit aufgezeigten Richtung erreicht werden.

Nun hat das postmoderne Denken, wie oben erwähnt, gerade durch den Begriff des »Ichs« die größten Schwierigkeiten, weil dieses Problem nicht allein durch reines Denken, sei es noch so vergeistigt, angegangen werden kann. Das »Ich«-Problem muss von einer polaren und entgegengesetzten Seite her angegangen werden; und diese Seite markiert auch im Denken von Deleuze den Ort der wirklichen Abwesenheit, obwohl, wie bei so vielen Aspekten von Deleuze, sein abwesendes »Ich« viel lebendiger ist als viele tote und eingefrorene Begriffe von diesem »Ich«! Von diesem Standpunkt aus möchte ich jetzt eure Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit eines bemerkenswert fruchtbaren geistigen Kampfes – hinsichtlich der Probleme des »Ichs« – und eines Dialogs – bezüglich des reinen Denkens – lenken, die stattfinden könnten, vorausgesetzt, das anthroposophische Denken ist so weit fortgeschritten, dass solche Probleme zu seinen wahren lebendigen Problemen werden. Wie oben schon erwähnt, habe ich selbst in den vergangenen dreißig Jahren sehr davon profitiert, diesen Kampf auszutragen. Und ich möchte versuchen, in euch auch einen kleinen Funken der Begeisterung für echten spirituellen Kampf, den wahren Dialog der Geister, der Köpfe und der Herzen zu entfachen. Hier hätte eine reiche und für beide Seiten lohnende »disjunktive Synthese« (um Deleuzes einzigartigen Ausdruck zu verwenden) stattfinden können – doch sie hat nie stattgefunden, denn was könnte traditionelle Anthroposophie authentisch auf diesem Gebiet beitragen? Wie soeben beschrieben, kann nur eine echte individuelle Leistung dieser Herausforderung wahrhaftig standhalten und sich der wirklichen Macht der Errungenschaften der zeitgenössischen Philosophie stellen.

Eine sich selbst verwandelnde Anthroposophie profitiert sehr von der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie – natürlich auch von der mit den Künsten und Wissenschaften. Das liegt daran, dass sich die zeitgenössische Philosophie eher unbewusst mit den gleichen Problemen auseinandersetzt, denen man begegnet, wenn man beginnt, die eigentlichen ersten Schritte zur Entwicklung eines übersinnlichen Bewusstseins zu verwirklichen. In Übereinstimmung mit der mittelalterlichen Art und Weise des Diskurses – die viel zivilisierter (d. h. wahrhaftiger) war als unsere – können wir den Begriff »Streit« für diesen seltenen und einzigartigen dialogischen Kampf oder gekämpften Dialog verwenden – für einen wahren Kampf der Geister. Die größte aller geistigen Schlachten war vorherbestimmt, wurde aber in der Geschichte nie ausgetragen, weil die geistige Schlacht des 20. Jahrhunderts, wie ich oben erwähnt habe, schon früh zum Schlimmsten entschieden wurde. Als in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts und vor allem gegen Ende des Jahrhunderts die große Kulmination der Anthroposophie hätte stattfinden sollen, kulminierte nur der andere Strom, allein. Sein wahrer Gegner war einfach nicht da draußen, um zu kämpfen, weil sein entscheidender Michael-Kampf bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts verloren war. In Michaels gegenwärtigem Zeitalter als Zeitgeist war dies jedoch nur das erste Jahrhundert, und die erste von drei großen Schlachten und so vielen kleineren dazwischen! In der Gegenwart bemühen wir uns in aller Bescheidenheit, einige geeignete Ausgangspunkte für die zweite große Schlacht – die Schlacht des 21. Jahrhunderts – vorzubereiten.

Jetzt, wo wir ernsthaft an der Selbstverwandlung und damit an einer wahren Vergeistigung des Intellekts arbeiten, fühlen wir uns stark zu unseren Rivalen oder deren Erbe hingezogen, denn unser lebendiges Streben verlangt nach einem wahren Dialog oder Kampf, ohne den es nicht gedeihen und sich weiterentwickeln kann. Und wir werden das Wesen Deleuzes, seine Führung und die Wesen seiner Kollegen an unserer Seite haben. Sie werden als eine kräftig aufrüttelnde, mahnende und wirklich herausfordernde Warnung dienen – und auch als starke Versuchung, damit wir auf der Erde jetzt und in naher Zukunft den großen übersinnlichen Kampf erkennen, der in den uns am nächsten liegenden geistigen Welten tobt zwischen Michael mit seinen Scharen und den gegnerischen – jedoch immer auch hilfreichen – Geistern!

Wir können also sagen, dass Gilles Deleuze bei dieser Aufgabe der Vergeistigung des Denkens am weitesten gekommen ist, aber er hat sie sehr einseitig erfüllt. Mit dem Deleuze’schen Denken haben wir am Ende des 20. Jahrhunderts das beste Beispiel vor uns, wie weit man hätte gehen können, um dieses Ziel zu einem bestimmten vorläufigen Höhepunkt zu bringen. Und während ich mich weiter mit der Entwicklung des Bewusstseins durch die wissenschaftlichen, politischen, künstlerischen, philosophischen und anthroposophischen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts beschäftigte, musste ich mir immer wieder sagen: Hier am Ende des Jahrhunderts haben wir über das ganze Jahrhundert hinweg diese wunderbare Reihe von Charakteren, von Denkern wie auch von Künstlern und Wissenschaftlern, so brillant, so strahlend originell, die danach streben, das Denken weiterzubringen. Dann schaute ich auf mein eigenes Bemühen: Um mein eigenes Denken weiterzuentwickeln, musste ich mich durch diese Denkschulen hindurcharbeiten, musste ich wirklich sehr tief und vorurteilsfrei in das Werk vieler einzelner Denker eintauchen. Ich musste wirklich ringen, um jedes Stadium, um das Denken jedes Einzelnen und um jedes Jahrzehnt umzuwandeln, um zu dem zu gelangen, was diese Entwicklungen als Teil des Stroms der fortschreitenden Vergeistigung des Intellekts bieten können: bereichernd, herausfordernd, auch verlockend und irreführend. Ich habe mich in diesem Kampf als ziemlich allein erlebt. Selbst unter denkenden Anthroposophen konnte ich niemanden finden, der sich explizit auf dieses Ringen, in diesem Sinne eines geistigen Kampfes, einlassen wollte. Es gab natürlich immer solche, die einander und auch die postmoderne Philosophie widerlegen wollten. Das war stets da; doch es ging mir nicht darum, irgendetwas oder irgendjemanden zu widerlegen, sondern ich versuchte, mich durch diese Denker mit den tieferen geistigen Impulsen, die am Werk waren, auseinanderzusetzen, die entweder unserem Zeitgeist entsprachen oder ihn bekämpften, oder beides auf viele bizarre Arten vermischten. Dort konnte ich einige wichtige und verborgene Schritte und Hinweise finden, die mich auf dem Weg der Spiritualisierung des Denkens leiteten. Natürlich ereignete sich die gleiche Nicht-Auseinandersetzung die ganze Zeit auch auf der anderen Seite. Man konnte bei den von mir genannten Denkern keinerlei Wunsch entdecken, Steiners Beitrag auch nur annähernd zur Kenntnis zu nehmen. Und ihr bewusstes Nichtwissen wurde durch die Abwesenheit der gegenwärtig engagierten Anthroposophen gut bedient!

Das war und ist auch heute noch eine seltsame Situation. Ich habe mich gefragt: Was geschieht hier? Es ist, als ob ich eine seltsame dramatische Aufführung beobachte. Die Bühne ist aufgebaut, und einige Schauspieler sind mit ihren Darbietungen beschäftigt; sie sprechen und handeln völlig unbewusst gegenüber der grotesken Situation. Sie sind sich nicht bewusst, dass die anderen Akteure, ihre Gegenspieler, gar nicht da sind! Was ich sehe, ist nur ein halbes Stück, ein in zwei Hälften geschnittenes geistiges Drama. Das wirkliche Drehbuch wird nicht durchgespielt, und was gespielt wird, ist überhaupt nicht das wirkliche Drehbuch! Es hätte eine ganze Kampfszene sein sollen, doch wir haben nur ein halbes Stück, die Spieler der anderen Gruppe spielen in dem Drehbuch, das sie selbst geschrieben haben, überhaupt keine Rolle! Sie schrieben es mutig im Geiste, mit der Kraft, die ihnen von den Michaeliten in der Sonnensphäre, in der übersinnlichen Michaeli-Schule, gegeben wurde; aber auf der Erde haben sie die Rollen, die sie vor der Geburt für sich selbst bestimmt hatten, vergessen und insofern auch verraten. Eigentlich hätte vom Beginn des Jahrhunderts bis zu seinem Ende ein ununterbrochener großer Kampf stattfinden müssen – und ein äußerst fruchtbarer Dialog, denn geistig gesehen ist ein wahrer, aufrichtiger Dialog immer auch ein Kampf. Ein echter brüderlicher Streit hätte zwischen den der Anthroposophie tief verbundenen Denkern und den oben genannten Denkern stattfinden sollen. Dies wurde sehr deutlich, als das Ende des Jahrhunderts näherkam. Dieser Streit wurde im Mittelalter vorbereitet und war prädestiniert für das 20. Jahrhundert. Doch wir leben im Zeitalter der Freiheit, in dem alle früher geschriebenen Drehbücher durch die heutigen Entscheidungen der heutigen Akteure leicht verändert werden! Vor etwa achthundert Jahren, unter völlig anderen geistigen und sozialen Bedingungen, fand diese Schlacht statt, im Hochmittelalter. Lasst mich auf diese besonderen historischen wie auch karmischen Hintergründe eingehen, um auch die gegenwärtigen und zukünftigen Schlachten zu skizzieren, die uns heute bevorstehen.

Der große Streit im Mittelalter

In der Hochscholastik des Mittelalters, die mit der platonischen Renaissance des 12. Jahrhunderts begann und sich im 13. und 14. Jahrhundert entwickelte, gab es einen enormen philosophischen, geistigen Kampf, hauptsächlich hier in Frankreich, in Paris und seiner Universität. Hier bemühten sich die großen Scholastiker unter der Führung von Thomas von Aquin, seinem älteren Lehrer Albertus Magnus und ihrem erweiterten Kreis von Schülern des Dominikanerordens mächtig darum, die christliche Theologie mit der aristotelischen Philosophie zu vereinen. Sie lieferten sich an mehreren Fronten erbitterte Kämpfe. Wir werden nur eine nennen und diese nur in groben Zügen andeuten. Ein mächtiger Gegenstrom kommt von Mitgliedern des Franziskanerordens. Dieser Orden weist eine Reihe herausragender religiöser und philosophischer Lehrer auf. Im 13. Jahrhundert wurden sie von »Doktor Seraphicus« geleitet, wie der heilige Bonaventura (geboren als Johannes von Fidanza) wegen seiner ekstatischen, religiös-mystischen Hingabe und seines Temperaments genannt wurde. Er wurde persönlich in einer wundersamen Heilung durch den heiligen Franziskus von Assisi eingeweiht. Bonaventura war ein Zeitgenosse und mächtiger Gegner von Thomas von Aquins Bestrebungen, die christliche Theologie mit seinem erneuerten Aristotelismus zu vereinen und dadurch zu verwandeln.

Nachdem Thomas 1274 gestorben war, ist die für uns interessanteste Persönlichkeit keiner seiner Zeitgenossen, sondern ein um 1266 geborener Denker und Theologe, der in Thomas’ Spur seinen denkerischen Werdegang entwickelte. Er ist auch kein so klarer Gegner. In den scholastischen Traditionen gilt er als einzigartiger Realist, im Gegensatz zur franziskanischen Haupttradition, und er betrachtete sich selbst als unabhängiger Schüler von Thomas und Aristoteles, eher als innovativer Nachfolger denn als Thomas’ Feind. In der Tat wich er in wesentlichen theologischen und philosophischen Fragen in vielerlei Hinsicht von Thomas ab und widersprach ihm auf originelle Weise. Ich spreche hier von dem wirklich brillanten und originellen Philosophen Johannes Duns Scotus, der als »Doktor Subtilis« bekannt ist, weil er es genoss, unterschiedliche und gegensätzliche Elemente in überraschend unkonventionellen Zusammenstellungen zu synthetisieren. (Lasst mich in Klammern anmerken, dass die Seins-Philosophie des Scotus, insbesondere seine Kategorien- und Bedeutungslehre Gegenstand von Heideggers »Habilitationsschrift« in Freiburg 1915 war; für die esoterisch-karmische Unterströmung unseres Vortrags ist dies auch eine symptomatisch bezeichnende Tatsache.)

Viele Unterschiede, die traditionell zwischen diesen rivalisierenden Strömen zu beobachten waren, müssen heute erheblich modifiziert werden; insbesondere im Fall von Duns Scotus sind sie weitaus komplizierter und in der Tat sehr interessant. Im üblichen Verständnis sind die Aristoteliker oder Dominikaner als Realisten bekannt. Was bedeutet es im Mittelalter, Realist zu sein? Es bedeutete zum einen, das Denken noch als Teil der kosmischen Intelligenz erleben zu können, und zum anderen, auf aristotelischer Seite, das Denken als stark mit der menschlichen Seele und dem menschlichen Geist, mit dem denkenden Individuum verbunden zu erleben. Die Dominikaner mit Thomas an der Spitze konnten noch die letzten Reste geistiger Inhalte und Substanzen erfassen, die in früheren Epochen aus den geistigen Welten gekommen waren, doch nun strebten sie danach, sie mit ihrem irdisch und menschlich gewordenen Denken klar zu begreifen. Vor allem kämpften sie mit dem, was schon fast 2000 Jahre zuvor ein Problem für Aristoteles war: das Rätsel der geistigen Natur des Menschen und das Problem der Unsterblichkeit.

Im christlichen Hochmittelalter wurde die Frage so formuliert: Religion verspricht die Hoffnung auf Erlösung und Unsterblichkeit durch den Glauben an die offenbarte göttliche Botschaft der Bibel; aber wäre es auch möglich, die Unsterblichkeit der individuellen menschlichen Seele zu denken – und im Denken nicht nur logisch zu beweisen oder zu widerlegen, sondern tatsächlich zu erfahren und zu verwirklichen? Ihre franziskanischen Gegner gehörten zu den sogenannten Nominalisten, weil sie das wahre geistig-universale Wesen des Denkens nicht mehr erfahren konnten. Aufgrund dieser Unfähigkeit versuchten diese Franziskaner, abseits der etablierten Religion Wissen über geistige Angelegenheiten auf mehr mystisch-ekstatische Weise zu erlangen. Eine interessante Begleiterscheinung ist, dass diese Vermeidung des Denkens in Angelegenheiten, die die tiefere spirituelle Suche betrafen, ihr Streben mit einem eigentümlichen mystischen und intuitiven Glanz schmückte. Es war mit einem Glanz des Übersinnlichen versehen, der für geistiger veranlagte Personen auf verführerische Weise überstrahlt die gewissenhafte, sorgfältige und scheinbar trockene Arbeit und Denkweise, die von den Dominikanern entwickelt worden war – jenen, die Steiner als wahrhaft treu bezeichnet gegenüber der kosmischen Intelligenz, die von Michael regiert wird. Ein weiterer interessanter Charakterzug einiger führender Franziskaner war ihr Bemühen, aristotelisch-platonische Ideen mithilfe von ansonsten ausgegrenzten stoischen Traditionen zu umgehen.

Die Stoiker assimilierten eine reiche und vielfältige Mischung philosophischer und religiöser Elemente, wobei sie sich auf gnostische und heidnische Traditionen stützten. Schon vor dem Neoplatonismus schenkten sie dem erwachenden inneren und individuellen Seelenleben der menschlichen Persönlichkeit große Aufmerksamkeit, genauso wie der ihr Schicksal auf der Erde und nach dem Tod umgebenden wachsenden Dunkelheit. Steiner beschrieb dieses unlösbare Problem in einem seiner Karma-Vorträge. Er erzählt von einer Diskussion zwischen einem jungen und einem älteren Dominikaner. Er spricht bewegend und intim, wenn er dieses Ereignis beschreibt. Der jüngere Dominikaner sprach zu seinem älteren Lehrer: »Sieh Meister, die alte spirituelle Kraft – ursprünglich die von Michael -, die noch das Denken von Platon und Aristoteles, Plotin und Johannes Scottus Eriugena inspirierte, ist am Aussterben. Die Menschen werden es in Zukunft nicht mehr erleben können.« Und er sagte weiter: »Wenn die Dinge so weitergehen, wie sie sind, dann werden die Menschen in Zukunft jede geistige Substanz und Wahrhaftigkeit in ihrem Denken verlieren. Und dieses Denken, die himmlische Intelligenz, die von Michael auf die Erde strömt, wird den ahrimanisch-dämonischen Geistern zum Opfer fallen, die es benutzen werden, um die Menschheit in den Abgrund von Materialismus und Korruption zu ziehen. Die kosmische Intelligenz Michaels, die in der Antike noch von den Göttern verwaltet wurde, wird sich in nicht allzu ferner Zukunft zunehmend in ahrimanisches Denken verwandeln.« Er fuhr fort, dass jetzt auf der Erde durch uns, in der menschlichen Seele selbst, etwas geschehen muss, um einen Samen für die zukünftige Umwandlung vorzubereiten, der verfügbar sein wird, wenn Michael seine neue Epoche beginnt. Dieser Samen muss jetzt vorbereitet werden, um in einem Zeitalter zum Leben zu erwachen, in dem sonst nur materialistisch-intellektuelles Denken vorherrschen wird. Und er sagte: »Im Moment müssen wir die Kräfte des Glaubens und des Denkens auseinanderhalten, aber in Zukunft wird diese Trennung der Menschheit nicht mehr dienen. Der neue Samen muss in dieser zukünftigen Zeit da sein, um zumindest wenigen Menschen zu ermöglichen, die gefallene Intelligenz in ihren Herzen und Köpfen zu vergeistigen und sie so wieder mit der wahren geistigen Realität zu verbinden.«

Der große Verfechter der Realisten, der »stille Ochse«, wie Thomas von Aquin genannt wurde, versuchte mit aller Kraft zu beweisen, dass der Mensch, wenn er mithilfe des nous poeitikos, des aktiven Intellekts, und nicht mithilfe des nous pathetikos, des passiven Intellekts, denkt, seine Seele innig mit der wirklichen geistigen Substanz vereinen kann; dann mag er mit Recht glauben, dass er nach seinem Tod, obwohl er auf den Flügeln des christlichen Heils in den Himmel getragen wird, seine Individualität wiederfinden kann, ausgestattet mit einem vollen, dem intensiven, aktiven menschlichen Selbstbewusstsein auf der Erde ähnlichen Selbstbewusstsein. All dies konnte nur erhofft und geglaubt, aber noch nicht vollständig in der individuellen Seele erfahren werden. Individuelle Unsterblichkeit konnte weder vor noch nach dem Tod zu einer selbstbewussten Erfahrung werden. Es war noch nicht möglich zu erfahren, wie die menschliche Individualität durch die Aktualisierung und Verwirklichung des lebendigen, intuitiven Denkens transformiert und die Unsterblichkeit als übersinnliche Erfahrung Wirklichkeit wird, sodass das menschliche »Ich« schon hier und jetzt und damit auch nach dem Tod als bewusstes ewiges Wesen in der geistigen Welt leben kann. Steiner fügt hinzu, dass in der Tat nur die Vorbereitung darauf erfolgen konnte, und dass Thomas von Aquin mit dieser brennenden Frage, diesem riesigen Problem, gestorben ist, weil er es zu seiner Zeit nicht lösen konnte. Und so formuliert Steiner diese Frage des Thomas: »Wie kann das Denken erlöst werden? Wie kann der Christus-Impuls [die geistige ›Ich‹-Kraft] in das Denken eindringen?« Was aber ist der sogenannte Christus-Impuls? Was ist diese geistige »Ich«-Kraft? Es ist die Kraft der Verwandlung, die Kraft der Metamorphose, die in der individuellen menschlichen Seele wirkt und auch in das Denken hineinreicht und es von innen heraus verwandelt und zurück in die geistigen Welten führt; und zwar so, dass die ewige Natur des »Ichs« dabei verwirklicht wird. Mit anderen Worten: Soll das »Ich« unsterblich werden, so muss es erst auf der Erde unsterblich werden, durch freie menschliche Aktivität. Dieses Werden ist es, was wirklich mit »dem Christus-Impuls« gemeint ist. Diesen konnte Thomas im 13. Jahrhundert nicht vollenden, doch Steiner erkannte und verwirklichte diese Aufgabe am Ende des 19. Jahrhunderts, als das neue Zeitalter Michaels begann. Diese Selbstverwirklichung drückte er in der Philosophie der Freiheit und in seinem gesamten späteren geisteswissenschaftlichen Werk aus.

Dies kann uns einen Einblick geben in das, was hinter dem Vorhang der Menschheitsgeschichte vor sich geht und wie Karma von einem Zeitalter zum anderen wirkt. Das 20. Jahrhundert sollte unter anderem wieder zu einer fruchtbaren Zeit einer großen neuen Auseinandersetzung zwischen den wiedergeborenen Dominikanern, zusammen mit ihren eher platonisch veranlagten Kollegen aus der Schule von Chartres, und den wiedergeborenen Franziskanern werden, die bereits im 13. und 14. Jahrhundert das Denken als ein gefallenes, irdisch-menschliches Element erlebten und an anderen Orten nach Erlösung suchten. Im 13. Jahrhundert sagten die Nominalisten und Franziskaner: Das Denken ist nur eine menschlich-irdische Fähigkeit; das Denken kann nur sinnlich wahrnehmbaren Objekten und menschlich erdachten Begriffen Namen geben. Wenn es eine universelle Intelligenz gibt (und viele von ihnen glaubten daran), dann tritt sie nicht in das menschliche Denken ein. Das menschliche Denken ist so sündhaft wie der ganze Mensch und kann nicht an der Gnade eines tatsächlichen, gegenwärtig realen himmlischen Ursprungs teilhaben. Die Gottheit in ihrem wirklichen Wesen ist gänzlich transzendental, völlig jenseits der menschlichen Erkenntnis; mit dem Denken kann kein Mensch die übersinnliche Wirklichkeit erfassen und dort seine ewige Individualität finden. Heute (als zeitgenössische Philosophen) sagen sie: Das menschliche Subjekt, die irdische Persönlichkeit, hat keine Bedeutung! Sie verkünden »den Tod des Subjekts«, wie sie im Mittelalter die Unsterblichkeit des »Ichs« verleugneten! Heute gilt die Bedeutung der menschlichen Persönlichkeit als solche als unerreichbar und unerkennbar. So wie damals umstritten war, ob es wirkliche Universalien gibt, so wird heute auch die Existenz des einzelnen Objekts, der einzelnen Persönlichkeit, geleugnet. Die große Auseinandersetzung des Mittelalters fand im 13. Jahrhundert zwischen Realisten und Nominalisten statt und äußerlich-historisch gesehen schienen die Realisten eine verlorene Schlacht zu führen. Innerlich jedoch bereiteten sie den Boden für das, was im neuen, dem gegenwärtigen Michael-Zeitalter in Erscheinung treten sollte. Und wir stehen immer noch am Anfang dieser neuen Schlacht, obwohl wir uns schon weit im zweiten michaelischen Jahrhundert befinden! Heute müssen gewöhnliche Menschen wie wir den Mut finden, wieder zu wahren Anfängern zu werden, demütig, aber aufrichtig zu versuchen, den ersten und elementarsten Schritt in diese Richtung zu tun. Können wir die eingekerkerte himmlische Intelligenz befreien und sie in unseren Herzen verwandeln, damit das Denken zu einer echten spirituellen Realität durchbrechen kann? Kann es zu einem wirklichen Ereignis werden? Können wir in diesem Prozess ein wirkliches geistiges »Ich« hervorbringen – ein individuelles, singuläres Wesen? Und was bedeutet es wirklich, weder eine einzeln-private Persönlichkeit noch ein abstrakt-allgemeines universelles Wesen, sondern ein wirklich »singuläres« Wesen zu werden?

Zurück zur Zukunft

Kehren wir zu dem zurück, was für die Realisten die Zukunft war, gehen wir zurück zum Ende des 19. und zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Steiner veröffentlicht 1894 Die Philosophie der Freiheit als individuell-singulär-spirituelle Errungenschaft, die von der allgemeinen mitteleuropäischen Kultur nicht akzeptiert und nicht anerkannt ist. Dabei ist dies das eröffnende Ereignis, mit dem der Grundstein gelegt wird, auf dem das künftige geistige Leben der Menschheit aufgebaut werden wird. Zum allerersten Mal in der Geschichte war ein Mensch individuell in der Lage, im und durch die Spiritualisierung des Intellekts, im und durch reines Denken eine tatsächliche Erzeugung und Schöpfung der ewigen, moralischen, spirituellen Substanz einer menschlichen Individualität als eine echte selbstbewusste geistige Realität zu verwirklichen. Und er konnte diese bemerkenswerte Tat als freier und moderner Mensch vollbringen, ohne auf irgendein vorgegebenes mystisches oder atavistisches übersinnliches Bewusstsein oder esoterische Traditionen angewiesen zu sein. Es ist eine freie Tat der Aktualisierung und Verwirklichung eines neuen Selbstseins durch kosmisches Denken. Die Kraft der Verwandlung, Transsubstantiation und Metamorphose war im Mittelalter so stark individualisiert worden, dass nun eine Antwort auf das ungelöste Rätsel und Problem gegeben werden konnte, mit dem Thomas von Aquin starb: Wie kann das Denken erlöst werden, und mit ihm und durch es das menschliche Selbst?

Dies war das Hauptthema meines 1995 erschienenen Buches Die neue Erfahrung des Übersinnlichen, das ich mit dem Untertitel Das Erkenntnisdrama der Wiederkunft versehen habe. Am Anfang dieses Buches habe ich drei Zitate gesetzt, die für mich das Drama vom Jahrhundertende zusammenfassen, den Höhepunkt des Kampfes, auch nur einen winzigen individuellen Samen dieser riesigen menschlichen Aufgabe zu verwirklichen. Zu diesen drei Zitaten füge ich nun auch ein Zitat von Deleuze hinzu. Das erste Zitat stammt von Heidegger, der das »Sein zum Tode« des Menschen feiert, um die Essenz seines Wesens auszudrücken. Das zweite ist Foucaults berühmte Aussage über das Verschwinden des Menschen, wie wir ihn kennen. Die dritte zeigt Deleuzes wirklichen Kampf mit dem Vermächtnis seiner franziskanischen Vorläufer, indem er mit aller Macht versucht, das Rätsel der individuellen Unsterblichkeit zu lösen. Das vierte stammt aus Steiners Worten, die er als prägnante Zukunftsweisung auf seinem Sterbebett schrieben. Diese Textstellen sind in einer gewissen aufsteigenden Reihenfolge angeordnet – von einer tiefen Verleugnung all dessen, was der Michael-Impuls unserer Zeit anstrebt (Heidegger), über die beiden größten Vertreter der zeitgenössischen französischen Philosophie, Foucault und Deleuze, bis zu Steiner, der zwar zuerst da war, jedoch immer der Letzte ist und sein wird, der von unserer Kultur verstanden wird.

Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts … macht den Menschen zum Platzhalter des Nichts. So endlich sind wir, dass wir gerade nicht durch eigenen Beschluss und Willen uns ursprünglich vor das Nichts zu bringen vermögen. So abgründig gräbt das Dasein die Verendlichung, dass sich unserer Freiheit die eigenste und tiefste Endlichkeit versagt.

Martin Heidegger, Was ist Metaphysik? (1929)

Indessen gibt es eine Stärkung und tiefe Beruhigung, wenn man bedenkt, dass der Mensch lediglich eine junge Erfindung ist, eine Gestalt, die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt, eine einfache Falte in unserem Wissen, und dass er verschwinden wird, sobald unser Wissen eine neue Form gefunden haben wird … Dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.

Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge (1966)

Jedes Ereignis ist wie der Tod, doppelt und unpersönlich in seiner Doppelheit … Nur der freie Mensch … kann … jedes tödliche Ereignis in einem einzigen Ereignis begreifen, das dem Unfall keinen Platz mehr macht … An diesem beweglichen und präzisen Punkt, an dem sich alle Ereignisse in einem einzigen versammeln, geschieht die Verwandlung: Dies ist der Punkt, an dem sich der Tod gegen den Tod wendet; an dem das Sterben die Negation des Todes ist und die Unpersönlichkeit des Sterbens nicht mehr nur den Moment anzeigt, in dem ich aus mir selbst verschwinde, sondern vielmehr den Moment, in dem der Tod sich in sich selbst verliert, und auch die Gestalt, die das einzigartigste Leben annimmt, um sich an meine Stelle zu setzen.

Gilles Deleuze, »21. Serie der Paradoxa: Vom Ereignis« in Logik des Sinns (1989)

Wäre es nur so, so leuchtete im Menschenwesen für einen kosmischen Augenblick die Freiheit auf; aber in demselben Augenblick löste sich auch die Menschenwesenheit auf. … Es ist in der Menschen-Entwickelung hier auf den Abgrund des Nichts gedeutet, über den der Mensch springt, indem er ein freies Wesen wird. Michaels Wirken und der Christus-Impuls machen den Sprung möglich.

Rudolf Steiner, Die Freiheit des Menschen und das Michael-Zeitalter in Anthroposophische Leitsätze, GA 26, Januar 1925

1929 nannte Heidegger den Menschen den Statthalter des Nichts – einen Platzhalter des Nichts