5,99 €
Der berühmte Meisterdieb Victor Hugenay ist tot! In einem rätselhaften Testament hinterlässt er Hinweise auf bisher unentdecktes Diebesgut: einige wertvolle Gemälde. Eine Herausforderung für Justus` Superhirn! Aber der erste Detektiv lässt sich diesmal von seiner Arbeit ablenken. Was ist los mit dem Kopf der drei Detektive? Als ein geheimnisvoller Unbekannter ebenfalls hinter dem Bilderversteck her zu sein scheint, müssen Justus, Peter und Bob zeigen, was in ihnen steckt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 164
Veröffentlichungsjahr: 2014
Das Erbe des Meisterdiebs
erzählt von André Marx
Kosmos
Umschlagillustration von Silvia Christoph
Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage
der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele
weitere Informationen zu unseren Büchern,
Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und
Aktivitäten findest du unter kosmos.de
© 2014, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan
Based on characters by Robert Arthur.
ISBN 978-3-440-14193-9
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
»Entschuldigung, gehörst du hier zum Schrottplatz?« Die Stimme war die einer jungen Frau.
Justus Jonas saß an einem Tisch im Freien und war über ein dickes, eng beschriebenes Buch gebeugt, den Stift gezückt und eine unübersichtliche Liste in der krakeligen Handschrift seines Onkels auf dem Schoß: die Buchführung der neuen Waren. Wenn Justus jetzt aufblickte, verlor er die Zeile in der Preisliste und musste wieder von vorne anfangen. »Gebrauchtwarencenter«, sagte er abwesend. »Dies ist das Gebrauchtwarencenter Titus Jonas, kein Schrottplatz.«
»Verzeihung. Ich war so naiv anzunehmen, dass es sich bei einem riesigen Platz voller Gerümpel und Müllberge um einen Schrottplatz handeln müsste. Wie konnte ich nur.«
Nun blickte Justus doch auf – direkt in ein spöttisches Lächeln. Und in die funkelndsten hellblauen Augen, die er je gesehen hatte. Sie war kaum älter als er. Und sie war unglaublich hübsch. »Na ja, also … also eigentlich ist es auch einer. Aber wir haben eben nicht nur Schrott, sondern auch Gebrauchtwaren. Deswegen ja auch Gebrauchtwarencenter. Verstehst du?« Was redete er da für einen Schwachsinn?
»Jaja, schon klar. Und du gehörst zu diesem … Gebrauchtwarencenter?«
»Ja. Ich bin der Neffe meines Onkels.«
Das Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, das vollkommene, strahlend weiße Zähne entblößte. »Das sind die meisten Neffen.«
»Was?«
»Na, Neffen ihres Onkels. Oder ihrer Tante.«
Justus brach innerlich zusammen. »Ich meinte –«
»Ich bin auf der Suche nach alten Reklameschildern. Habt ihr so was?«
»Was? Ja, klar! Natürlich!« Justus stürzte sich dankbar auf den Themenwechsel. »Was darf’s denn sein? Waschmittel? Zigaretten? Bier?«
»Coca-Cola. Mein Vater sammelt dieses Zeug. Er hat demnächst Geburtstag. Ich finde die Teile ja ziemlich altmodisch, aber er steht drauf.«
»Komm mit!« Justus erhob sich von seinem Arbeitsplatz im Schatten des Bürohäuschens, schlug das Buch zu und führte das Mädchen quer über den Platz. Überall türmten sich Schrottberge auf, dazwischen standen Verkaufstische mit den mühsam entstaubten Waren, die Onkel Titus zusammengetragen hatte: alte Lampen, Uhren, Stühle, Türrahmen, Werkzeug, Sparschweinsammlungen, Geschirr, Bilder, Bücher, Schuhe, Anglerausrüstungen, Modellflugzeuge, Kinderspielzeug, Hörspielkassetten, Kaffeekannen und Hutschachteln. Bei Titus Jonas gab es nichts, was es nicht gab. Das war in Rocky Beach und dem gesamten Umland bekannt und ihr kleines Familienunternehmen war sehr stolz darauf. Kleiderbügel, Schmuckkästchen, Radios – und Werbetafeln aus Emaille.
»Da wären wir. Du hast Glück, ein paar Cola-Schilder sind auch dabei.«
»Das mit dem Weihnachtsmann sieht klasse aus.« Sie nahm das Schild in die Hand und betrachtete den knollennasigen, grinsenden Mann mit dem weißen Bart, der roten Mütze und der Colaflasche in der Hand genauer. »Wusstest du, dass der Weihnachtsmann, wie wir ihn heute kennen, so mit rot-weißen Klamotten und Rauschebart, eigentlich eine Erfindung von Coca-Cola ist? Sie haben ihn für die Werbung erschaffen. Und heute glauben alle Kinder, Santa Claus sehe wirklich so aus.«
Justus lächelte überlegen. »Das ist ein weit verbreiteter Irrglaube.«
»Ach? Du weißt, wie der Weihnachtsmann wirklich aussieht?«
»Nein, das meine ich nicht. Sondern die Sache mit Coca-Cola. Das ist eine moderne Legende. Die erste Weihnachtsmann-Werbung der Firma erschien 1931, aber bereits zehn Jahre früher finden sich Illustrationen in Kinderbüchern und auf Postkarten, die Santa Claus im typischen rot-weißen Outfit zeigen. Trotzdem behauptet der Konzern liebend gern das Gegenteil. Man könnte fast meinen, die Coca-Cola-Company hätte diese Geschichte selbst erfunden.«
Justus erntete einen bewundernden Blick. »Woher weißt du das alles?«
Verlegen zuckte er mit den Schultern. »Hab ich irgendwo mal gelesen.«
»Soso. Und was soll dieses Blechschild kosten?«
»Das ist kein Blech, sondern Emaille, ein glasartiger Kunststoff, der vorwiegend dazu verwendet wird … äh … ist ja auch egal.«
»Lass mich raten: Du hast es irgendwo mal gelesen.«
»Rede ich zu viel?«
»Nein! Ich mag schlaue Jungs. Besser als die ganzen Deppen, die bei mir an der Schule herumlaufen.«
»Tat… tatsächlich?« Justus’ Mund war staubtrocken. Und er war sprachlos. Das passierte ihm nie! Ein höchst beunruhigender Zustand.
»Also, was kostet das … Emailleschild denn nun?«
»Fünfundzwanzig Dollar.«
»Was? So viel?«
»Sorry, aber für diese Schilder werden inzwischen Sammlerpreise bezahlt. Das hier ist von 1957 und fünfundzwanzig Dollar ist ein guter Preis.«
»Hast du das auch irgendwo gelesen?«
»Hör zu, ich würde dir gerne einen besseren Preis machen, aber der Betrieb gehört meinem Onkel und ich kann nicht einfach seine Preise ändern.«
Sie setzte zu einer Erwiderung an, doch das war gar nicht mehr nötig. Justus sah in ihre hellblauen Augen und sagte: »Okay, zwanzig Dollar.«
»Zwanzig Dollar für das Schild und einen kleinen Freundschaftsdienst«, schlug sie vor.
»Zum Beispiel?«
»Du gehst morgen mit mir ins Kino. In der Matinee läuft ein alter Hitchcock-Film.«
Justus’ Mund wurde zur Wüste. Er brachte keinen Ton heraus. Und offenbar machte er auch keinen besonders glücklichen Gesichtsausdruck, denn das Mädchen starrte ihn befremdet an.
»Was ist? Magst du Hitchcock nicht?«
»Oh, doch, doch, klar mag ich Hitchcock, ich meine, wer mag ihn nicht? Ich habe zwar alle seine Filme schon dutzendfach gesehen, aber – kein Problem. Ich meine, gerne. Aber … warum? Ich meine …«
»Ich bin neu hier in der Gegend. Meine Eltern und ich sind erst letzte Woche nach Rocky Beach gezogen. Ich kenne noch niemanden. Ich gehe gerne ins Kino, aber ungern alleine. Und du machst einen ganz netten Eindruck.«
Justus lächelte. Das heißt, er wollte lächeln. Doch das Lächeln geriet zu einem breiten Grinsen und er spürte die Hitze in seinem Gesicht aufsteigen. »Ich kenne noch nicht einmal deinen Namen.«
»Brittany.« Sie streckte ihm die Hand hin.
»Ich heiße –«
»Juuustuuus!«
Justus zuckte zusammen. »Das ist meine Tante Mathilda. Wenn sie so nach mir ruft, heißt das im Klartext: Herkommen! Bleib hier, ich bin sofort wieder zurück!« Er joggte rüber zum Wohnhaus der Familie Jonas und versuchte dabei trotz seiner unübersehbaren Körperfülle sportlich zu wirken. Tante Mathilda wartete auf der Veranda auf ihn, die Hände energisch in die Hüften gestemmt.
»Was hüpfst du denn so albern über den Schrottplatz?«
»Albern? Hat das albern ausgesehen?«, keuchte Justus, bereits völlig außer Puste.
»Justus, du müsstest inzwischen wissen, dass du beim Joggen keine allzu glückliche Figur machst. Sag mal, kommen Bob und Peter heute noch vorbei?«
»Nicht dass ich wüsste. Wieso?«
»Titus hat gerade angerufen, er kommt gleich mit einer riesigen Ladung von einem Einkauf zurück. Ihr müsst ihm beim Abladen helfen.«
Justus seufzte. »Okay.«
»Er wird jeden Moment hier sein. Das Abladen muss schnell gehen, er muss nämlich gleich danach wieder weg.«
»Okay.«
»Also, ruf Bob und Peter an, damit sie dir helfen!«
»Okay.«
»Jetzt gleich!«
»Jaja, schon gut, Tante Mathilda!« Justus drehte sich um und kehrte zu Brittany zurück, diesmal gemächlichen Schrittes. Er wollte sich nicht noch einmal zum Trottel machen. »Meine Tante«, stöhnte er. »Eigentlich ist sie ein herzensguter Mensch, aber manchmal kann sie ein richtiger Feldwebel sein. Tut mir Leid, ich muss mal schnell telefonieren.«
»Kein Problem.«
Justus ging zu dem alten, staubigen Campinganhänger hinüber, der am Rande des Schrottplatzgeländes stand. Auf den ersten Blick hätte niemand vermutet, dass das Ding noch benutzt wurde. Geschweige denn, dass sich mehr als ein Haufen Schrott im Innern des Wagens befand.
Brittany folgte ihm irritiert. »Wolltest du nicht telefonieren?«
»Ja«, antwortete Justus und öffnete die Tür zur Zentrale. »Das Telefon steht hier.«
»Wow!«, entfuhr es Brittany. »Was ist denn das?«
»Das ist unser Büro«, antwortete Justus nicht ohne Stolz. »Willst du es dir ansehen?«
»Na klar!«
Eigentlich war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass niemand außer Justus, Bob und Peter die Zentrale betrat, schon gar kein Fremder. Aber die Alternative wäre gewesen, sich von Brittany zu verabschieden, und das wollte Justus auf keinen Fall.
Sie kletterte die kleine Stufe hinauf ins Innere des Anhängers. »Wow!«, wiederholte sie. »Das ist ja Wahnsinn!«
Die Zentrale war mit allem ausgestattet, was ein richtiges Büro brauchte: ein Computer, eine Telefonanlage, ein Aktenschrank und bequeme Sessel und Stühle. Im hinteren Teil befanden sich ihr kleines Kriminallabor und die Dunkelkammer. Das alles war nicht sonderlich aufgeräumt oder sauber, doch das schien Brittanys Begeisterung nicht zu trüben.
»Sieh dich ruhig um!«, sagte Justus und griff zum Telefonhörer, um schnell Bob und Peter Bescheid zu sagen. Während er mit seinen Freunden sprach, beobachtete er heimlich, wie Brittany bewundernd durch den Wagen schritt, hier und da stehen blieb und ein Buch begutachtete oder mit dem Finger über die Akten fuhr, die im Regal standen.
»Okay, raus mit der Sprache!«, forderte sie, nachdem Justus aufgelegt hatte. »Was ist das hier?«
»Unser Büro.«
»Unser?«
»Von meinen Freunden und mir. Wir sind … ähm … Detektive.«
»Detektive«, wiederholte Brittany tonlos und hob eine Augenbraue.
»Ja.« Justus kramte in den Papierbergen auf dem Schreibtisch und fischte eine Visitenkarte heraus:
»So richtig mit Fällen und so?«
»So richtig mit Fällen.« Justus lächelte verlegen. Bisher war er immer stolz gewesen, wenn er von den detektivischen Erfolgen der drei ??? berichten konnte. Diesmal war es ihm fast peinlich.
»Und du nimmst mich nicht auf den Arm?«
»Nein! Wir –«
Das Läuten des Telefons unterbrach ihn.
»Sekunde! Justus Jonas von den drei Detektiven?«
»Hallo Justus, hier spricht Cotta.«
»Herr Inspektor!« Inspektor Cotta war ihr Ansprechpartner bei der Polizei von Rocky Beach. Er hatte ihnen in der Vergangenheit schon manches Mal aus der Klemme geholfen – meist gegen seinen Willen. Es war jedoch selten, dass er von sich aus in der Zentrale anrief. Justus war überrascht. Und alarmiert. Irgendetwas musste passiert sein! Er warf einen schnellen Blick zu Brittany, die die Stirn gekräuselt hatte und ungläubig flüsterte: »Inspektor?«
»Ich möchte dich nicht lange stören, Justus. Aber mir ist gerade eine Meldung auf den Tisch geflattert, von der ich denke, dass sie dich interessiert.«
»Schießen Sie los!«
»Erinnerst du dich an Victor Hugenay, den Kunstdieb aus Europa?«*
»Selbstverständlich.« Wie sollte Justus Hugenay vergessen können! »Was ist mit ihm?«
»Er ist tot.«
»Das war jetzt kein Scherz, oder?«, fragte Brittany, nachdem Justus aufgelegt hatte. »Das mit dem Inspektor, meine ich. Da war wirklich jemand von der Polizei am anderen Ende?«
Justus nickte abwesend. »Inspektor Cotta. Wir arbeiten mit ihm zusammen. Manchmal jedenfalls. Na ja, irgendwie auch nicht richtig.«
»Und was wollte er? Hat er einen Fall für euch?«
Der Erste Detektiv schüttelte langsam den Kopf. Sein Blick ging ins Leere. »Er wollte mir nur mitteilen, dass jemand gestorben ist. Victor Hugenay.«
»Oh, nein«, sagte Brittany bedauernd. Sie trat auf ihn zu und berührte sacht seinen Unterarm. »Das tut mir Leid. War er ein Freund von euch?«
Justus lachte leise. »Nein, das kann man nicht gerade sagen. Hugenay ist ein Dieb. Ich meine, er war. Ein Kunstdieb. Er hat auf der ganzen Welt wertvolle Gemälde gestohlen. Wir hatten in der Vergangenheit ein paar Mal mit ihm zu tun. Aber obwohl wir alle Fälle aufklären konnten, ist Hugenay uns jedes Mal entkommen.«
»Warum?«
»Weil wir ihm kein Verbrechen nachweisen konnten. Oder weil er ein bisschen schneller war als wir.« Justus schwieg einen Moment. »Tja, das war es dann wohl, Mr Hugenay.«
»Und nun? Bist du erleichtert, weil ihr nun nicht mehr in Gefahr seid?«
»Erleichtert? Nein. In Gefahr waren wir bei Hugenay nie. Er war zwar unser Gegner, aber deswegen nicht gefährlich. Er war kein brutaler Verbrecher, eher ein Gentleman, der körperliche Gewalt verabscheute. Das hatte er gar nicht nötig, dafür war er viel zu gerissen. Hugenay hätte uns niemals etwas angetan.«
»Ein Gentleman-Meisterdieb«, sagte Brittany. »Wie spannend!«
»Er sprach sogar davon, mit uns zusammenarbeiten zu wollen.«
»Was, echt? Als Detektiv?«
Justus lachte erneut. »Eigentlich hatte er eher gehofft, wir würden uns an seinen kriminellen Machenschaften beteiligen.«
»Weil ihr so schlaue Kerlchen seid«, vermutete Brittany und wieder blitzte leichter Spott in ihren Augen auf.
»Genau.«
Das laute Rumpeln des Pick-ups auf dem Schrottplatz kündigte Onkel Titus’ Rückkehr an. »Ich muss arbeiten«, seufzte Justus.
»Und ich muss nach Hause. Soll ich dich morgen Vormittag abholen?«
Augenblicklich wurde Justus wieder rot. »Gern.«
»Okay, dann bis morgen!« Brittany schenkte ihm noch einen vergnügten Blick, dann verließ sie die Zentrale. Justus sah ihr bewundernd nach, bis sie durch das Schrottplatztor auf die Straße getreten und um die Ecke verschwunden war.
Ein lautes Hupen riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn zusammenzucken. »He, Justus!«, rief Onkel Titus vom Pick-up herüber. »Willst du dort Wurzeln schlagen? An die Arbeit!«
Das Abladen des LKW in der prallen Nachmittagssonne war eine schweißtreibende Angelegenheit. Glücklicherweise kamen Bob und Peter ihm bald zu Hilfe. Gemeinsam fiel ihnen die Arbeit viel leichter.
Justus erzählte ihnen weder von seiner neuen Bekanntschaft noch von Cottas Anruf. Erst musste die Arbeit erledigt werden. Schweigend wuchteten sie die schweren Möbel und Kisten von der Ladefläche, bis sie komplett leer war.
»Danke schön, Jungs«, sagte Onkel Titus. »Das ging ja wirklich schnell. Ich muss gleich wieder los. Wäre nett, wenn ihr in einer Stunde noch hier seid, dann komme ich mit der zweiten Fuhre zurück.«
Justus nickte schnaufend. Was sollte er auch anderes tun? Immerhin gestattete Onkel Titus ihnen die Benutzung des Wohnwagens. Als Gegenleistung halfen sie ihm manchmal bei der Arbeit. Ein fairer Tausch, auch wenn Justus in Momenten wie diesen gerne auf den Wohnwagen verzichtet hätte.
»Was für eine Plackerei!«, stöhnte Peter, als der Pick-up zurück auf die Straße rollte. »Und das am Samstagnachmittag!« Er setzte sich auf die Veranda, wo Tante Mathilda Orangensaft und Kirschkuchen bereitgestellt hatte. Hier im Schatten, fern vom Staub des Schrottplatzes und mit all den Köstlichkeiten vor der Nase, ließ es sich aushalten. »Aber das ist die Mühe wert!«
»Mmm-hmm«, mampfte Bob zustimmend. »Der Kirfkuchen deiner Tante ift wirklif grofartig.«
»Was gibt es Neues, Just?«, fragte Peter und langte ebenfalls zu. »Du bist so schweigsam. Und außerdem bist du der Letzte, der zum Kuchen greift. Bist du krank?«
»Nur etwas nachdenklich.«
»Öfter mal was Neues. Vergiss nicht, an deiner Unterlippe zu zupfen! Ist was passiert?«
»Ja. Victor Hugenay ist tot.«
Bob hustete und hundert feuchte Kuchenkrümel flogen über den Tisch.
Peter, der gerade in sein Stück beißen wollte, ließ es fallen und biss ins Leere. »Was?«
Justus berichtete seinen Freunden von Cottas Anruf. »Er wusste selbst nicht viel über die Sache. Auf seinem Schreibtisch landete nur die Meldung, dass der seit Jahren gesuchte Kunstdieb Victor Hugenay in den französischen Alpen tot aufgefunden wurde. Er ist offenbar beim Bergsteigen umgekommen.«
»Ich wusste gar nicht, dass er Bergsteiger war«, murmelte Bob. »Andererseits … sportlich war er ja.«
»Nicht sportlich genug«, bemerkte Peter. »Sonst wäre er ja nicht abgestürzt.« Er seufzte schwer. »Armer Hugenay. Ich weiß nicht … er war zwar ein Verbrecher, aber irgendwie mochte ich ihn trotzdem.«
»Nicht nur du, Peter«, sagte Justus. »Ich hätte nicht gedacht, dass sein Tod mich so beschäftigen würde. Ich bin nicht richtig traurig, schließlich kannten wir ihn kaum, aber ein bisschen Leid tut er mir schon. Er war der einzige ehrenhafte Dieb, mit dem wir es je zu tun hatten. Falls es so was überhaupt gibt.«
»Na ja, nun mach mal halblang«, meinte Bob. »Er war ja nicht gerade Robin Hood. Er hat zwar von den Reichen gestohlen, dann aber vergessen, es den Armen zu geben.«
»Trotzdem«, sagte Justus. »Wenn alle Übeltäter dieser Welt so wären wie Hugenay, ginge es uns allen ein bisschen besser.«
»Das sagst du doch nur, weil er dich gefragt hat, ob du nicht an seiner Seite arbeiten willst. Du fühltest dich vom Angebot des großen Meisterdiebs geschmeichelt!«
»Quatsch.«
»Natürlich!«, beharrte Bob. »Ist doch auch nicht schlimm. Ich meine, wenn einer der intelligentesten Verbrecher unserer Zeit mich als Partner haben wollte, würde ich mich auch geschmeichelt fühlen.«
»Trotzdem Quatsch. Ich rechne es Hugenay hoch an, dass er immer gewaltlose Methoden angewendet hat, um seine Ziele zu verwirklichen. Das hat mit seinem Lob nichts zu tun. Dass ich ein hochintelligenter junger Mann bin, weiß ich selbst.«
Peter verdrehte die Augen. »Jedenfalls ist er jetzt tot. Das bedeutet wiederum, dass wir nie wieder etwas mit ihm zu tun haben werden. Und darüber bin ich ehrlich gesagt heilfroh.«
Als Justus am Montagnachmittag aus der Schule kam, klemmte ein Briefumschlag in der Tür zur Zentrale.
Werbung oder Rechnung?, überlegte Justus und hoffte inständig auf Werbung. Denn falls es die Telefonrechnung war, hatte er keine Ahnung, wie sie die bezahlen sollten. In der Gemeinschaftskasse der drei ??? herrschte mal wieder gähnende Leere.
Auf dem Umschlag stand in geschwungenen Lettern, die ganz und gar nicht nach Werbung oder Rechnung aussahen, sein Name. Justus’ Herz tat einen kleinen Sprung. Vielleicht war der Brief von Brittany? Der gestrige Kinobesuch hatte vielleicht nicht nur ihm sehr gut gefallen. Aufgeregt riss Justus das Kuvert auf. Es war mit dunkelblauem Seidenpapier gefüttert. Der Brief selbst war in klarer Handschrift mit schwarzer Tinte auf edlem Büttenpapier geschrieben.
Lieber Justus,
wenn du diese Zeilen liest, bin ich bedauerlicherweise unter vermutlich unglücklichen Umständen ums Leben gekommen. Ich habe jedoch Vorsorge getragen und einen meiner raren Vertrauten gebeten, dir im Falle meines Ablebens diesen Brief zu schicken.
Ich kann es nicht verhehlen: Insgeheim hege ich die Hoffnung, dass dich diese Nachricht zumindest für einen kurzen Moment aus der Fassung bringt. Andererseits ist es jedoch auch gut möglich, dass du bereits von diesem Unglück erfahren hast. Immerhin warst du deiner Umwelt schon immer eine Nasenlänge voraus. Dieses bemerkenswerte Talent habe ich immer zu schätzen gewusst, auch wenn es mir manches Mal fast zum Verhängnis geworden wäre.
Ob du es glaubst oder nicht, Justus, ich war in den letzten Jahren dein ständiger Begleiter im Geiste. Durch meine privaten Kontakte nach Rocky Beach war ich immer bestens über die Erfolge eures Detektivteams und die damit verbundenen Glanzleistungen deines überlegenen Intellekts informiert. Gespannt verfolgte ich, soweit es mir möglich war, jeden eurer Fälle, las jeden Zeitungsartikel, der über euch erschien, und war euch einige Male räumlich näher, als ihr euch vorstellen könnt. Insgeheim hatte ich wohl immer gehofft, dass wir uns noch einmal begegnen würden. Zu meinem Bedauern ist es nie dazu gekommen. Ich hätte gern ein letztes Mal meine Kräfte mit den deinen gemessen, um unsere beständige Pattsituation in einen klaren Sieg für die eine oder andere Seite zu verwandeln. Doch jetzt ist mir das Schicksal zuvorgekommen. Es wird also kein weiteres Kräftemessen mehr geben – jedenfalls nicht in der Form, die mir immer vorschwebte.
Doch wie wäre es mit einem Wettkampf der etwas anderen Art, Justus Jonas? Ich mag zwar körperlich tot sein, doch mein Geist lebt fort, solange man sich an mich und mein Vermächtnis erinnert.
Es gibt einen geheimen Ort, an dem eine Reihe von Kunstwerken versteckt sind, die ich zwar stehlen, aber nicht wieder verkaufen konnte: ›Die Maske des Rosenräubers‹ von Godart, ›Odysseus‹ von Stevenson, ›Monotone Strafen‹ von Kollenberg, ›Spaziergang im Mai‹ von Stingwood, ›Leise im Garten‹ von Strachinsky und ›Der kleine Dieb‹ von Sanchez. Gemälde im Wert von einigen Millionen Dollar. Ein Schatz, den es sich zu bergen lohnt, nicht wahr?
Ich habe lange darüber nachgedacht, wer diese Kostbarkeiten nach meinem Tode erhalten soll. Verdient hat sie niemand. Ich habe mir in meinem Leben nicht viele Freunde gemacht. Und die wenigen, die behaupteten, meine Freunde zu sein, haben mich im Laufe meines Lebens verraten. Ich selbst kann mit dem Vermögen nun nichts mehr anfangen, also stellte ich mir die Frage: Was tun mit den sechs Bildern? Soll ich sie in ihrem Versteck verrotten lassen?