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Die drei ??? übernehmen ihren 125. Fall! Dabei treffen sie auf ihren alten Widersacher, den Bilderdieb Victor Hugenay. Doch schnell zeigt sich, dass es noch weitere Gegner gibt, die hinter dem Gemälde "Feuermond" her sind. Werden die drei Detektive Das Rätsel der Meister (Teil 1) lösen können? Oder verirren sie sich auf dem Pfad der Täuschung(Teil 2)? Die Nacht der Schatten (Teil 3) wird es zeigen ... Alle drei Bände der Jubiläumstrilogie in einem E-Book.
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Seitenzahl: 451
Feuermond
Die Trilogie im E-Book
erzählt von André Marx
Kosmos
Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin
Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage
der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele
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Aktivitäten findest du unter kosmos.de
© 2020, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan
Based on characters by Robert Arthur
ISBN 978-3-440-50282-2
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Feuermond
Teil 1Das Rätsel der Meister
erzählt von André Marx
Kosmos
Die Nacht war ungewöhnlich kühl und neblig, als Bob Andrews den Kinosaal verließ und hinaus auf die nächtliche Straße trat. Die wenigen anderen Zuschauer, die die Spätvorstellung des kleinen Kinos in Pacific Palisades besucht hatten, waren schon während des Abspanns gegangen. Bob sah auf die Uhr. Er musste dringend nach Hause. Das Zeitlimit, das seine Eltern ihm für heute Abend gegeben hatten, war schon um zwanzig Minuten überschritten. Bob öffnete das Fahrradschloss, schwang sich auf den Sattel und radelte los.
Wegen des starken Nebels beschloss er, einen kleinen Umweg durch die Berge zu nehmen, anstatt die Küstenstraße entlangzufahren. Dort wurde man bei diesen Witterungsverhältnissen als Radfahrer manchmal einfach übersehen.
Zehn Minuten später erreichte Bob den Stadtrand von Rocky Beach. Das kleine kalifornische Küstenstädtchen lag dunkel und ruhig vor ihm. Niemand war mehr unterwegs. Ein Hund bellte irgendwo in der Ferne. Eine schwarze Katze, die von links nach rechts die Straße überquerte, huschte unter ein geparktes Auto, als das Licht der Fahrradlampe sie erfasste. Der Rest der Stadt schien längst zu schlafen.
Bob fuhr an einer seit Jahren verlassenen Tankstelle und der elektrischen Umspannstation vorbei. Direkt dahinter lag das alte Verwaltungsgebäude der Stadt Rocky Beach, ein hässlicher, verwitterter Betonklotz. Es stand inzwischen leer und sollte zum Glück bald abgerissen werden, da die Stadtverwaltung in das Rathaus umgezogen war.
Während Bob munter die Filmmusik aus dem Abspann pfiff und sich auf sein warmes Bett freute, geschah es:
Aus den Augenwinkeln sah er einen grellen Lichtblitz, ein Knall wie von einer Bombe betäubte seine Ohren, und eine Sekunde später wurde Bob wie von einer unsichtbaren Faust getroffen vom Fahrrad geschleudert. Er landete zwei Meter neben seinem Rad hart auf dem Asphalt und ein heißer Schmerz zuckte durch seine Schulter. Er schützte seinen Kopf mit seinen Armen und blieb atemlos liegen.
Etwas prasselte auf ihn herab. Er hörte das Fauchen von Feuer, roch beißenden Qualm, und eine Welle glühender Luft fegte über ihn hinweg. Bob riskierte einen Blick.
Das Verwaltungsgebäude brannte lichterloh. Rabenschwarze Rauchpilze quollen aus den zersprungenen Fenstern, deren Scheiben in winzigen Splittern auf ihn herabgeregnet waren. Die Straßenbeleuchtung war erloschen. Der Strom schien ausgefallen zu sein.
Bob starrte auf das Flammenmeer. Das Flackern spiegelte sich in den Speichen seines Fahrrads, dessen Reifen sich noch drehten. Die Hitze brannte auf seiner Haut. Jede Sekunde erwartete er eine zweite Explosion. Trotzdem konnte er sich nicht von der Stelle rühren. Er war wie gelähmt. Erst als ihn jemand plötzlich von hinten berührte, erwachte Bob aus seiner Starre.
Er wandte sich um. Ein Mann mit ungepflegten, langen, grauen Haaren stand hinter ihm. Sein Gesicht war schmutzig, seine Zähne fleckig und er roch schlecht. Besorgt blickte er Bob an. »Alles in Ordnung, Bob Andrews?«
»Rubbish-George!«, brachte Bob hervor, als er den Stadtstreicher erkannte.
Rubbish-George sagte irgendetwas, doch Bob hatte ein schreckliches Piepen im Ohr und konnte ihn kaum verstehen.
»Alles klar«, sagte er schnell. »Es ist alles in Ordnung. Mir geht es gut.«
Ein gewaltiges Krachen ließ ihn herumfahren. Ein Stück Außenwand des Gebäudes sackte wie ein Kartenhaus zusammen, stürzte herab und schlug krachend in einer Staubwolke auf. Ein stockwerkhohes Stück Beton kippte auf das Gelände der Umspannstation und knickte einen Strommast um wie einen Zahnstocher. Rubbish-George zerrte Bob auf die Füße und brachte ihn in sichere Entfernung. Bobs Beine sackten weg, als er versuchte, allein zu gehen. Er setzte sich wieder hin. Nun kamen die ersten Menschen heran. Viele trugen nur Pyjamas und Morgenmäntel. Entsetzt starrten sie auf das zerstörte Gebäude und die tosenden Flammen.
Die Feuerwehr traf ein. Innerhalb von Minuten wurden drei große Löschzüge in Stellung gebracht und an Hydranten angeschlossen. Das Wasser, das die Feuerwehrleute durch die geborstenen Fenster spritzten, hatte kaum Wirkung gegen das Feuer. Während sich weißer Wasserdampf in den schwarzen Qualm mischte, trafen die Krankenwagen ein. Sanitäter liefen eilig umher und suchten nach Verletzten. Einer von ihnen trat auf Bob zu. »Was ist mit dir, Junge? Geht es dir gut?«
»Ich … ja, ich … ich bin nur vom Fahrrad gefallen. Ich …« Weiter kam er nicht. Der junge Mann brachte ihn zum Krankenwagen, wo er sich auf die Pritsche setzen konnte. Jemand legte ihm eine Wolldecke um die Schulter, maß seinen Puls, stellte ihm Fragen und untersuchte die schmerzende Schulter.
»Nur ein blauer Fleck«, hieß es schließlich, und Bob bekam einen Becher Kaffee in die Hand gedrückt. »Dein Kreislauf ist etwas angeschlagen. Du hast einen leichten Schock. Bleib einfach hier sitzen. Wir rufen deine Eltern an, damit sie dich abholen.«
»Was? Nein. Das … geht schon. Danke.« Bob versuchte ein Lächeln und nippte an seinem Kaffee, der höllenstark war. Die Straße rund um das brennende Gebäude war notdürftig abgesperrt. Die Menge der Schaulustigen wurde immer größer. Ein Kamerateam tauchte auf. Doch Bob hatte nur Augen für die Flammen, die ungebremst in den Himmel loderten, bevor sie sich im schwarzen Qualm verloren.
Es war ein seltsames Gefühl, als Peter Shaw den Boden unter den Füßen verlor. Als hätte eine göttliche Macht die Schwerkraft ausgeschaltet. Plötzlich schwebte er gen Himmel, weiter und weiter hinauf. Unter ihm glitzerte der Ozean und die Küstenlinie breitete sich als gigantisches Panorama vor ihm aus. Je höher er stieg, desto stiller wurde es. Das Knattern des Motorbootes unter ihm ging langsam im leisen Rauschen des Windes unter. Es herrschte eine himmlische Ruhe. Peter fühlte sich plötzlich, als sei er der einzige Mensch auf der Welt. Am liebsten wäre er ewig weitergeschwebt.
Die Titelmelodie von ›Mission Impossible‹ riss ihn jäh aus seinen Träumen. Sein Handy. Verdammt! Wieso hatte er es überhaupt bei sich?
Wer wagte es, ihn anzurufen, während er gerade an der kalifornischen Küste entlangflog? Eigentlich kam dafür nur eine Person in Frage. Peter überlegte einen Moment, ob er es einfach klingeln lassen sollte. Doch schließlich siegte seine Neugier.
Justus hielt sich nicht mit Begrüßungen auf. »Zweiter! Wo steckst du?«
»Wenn du es genau wissen willst: Du störst meine Meditation in der Schwerelosigkeit. Ich hänge nämlich gerade unter einem nagelneuen Gleitschirm und lasse mich von Jeffreys Motorboot in luftige Höhen ziehen. Es ist super, du solltest unbedingt –«
»Toll, Peter! Aber komm so schnell wie möglich zurück auf den Boden der Tatsachen! Es ist etwas passiert! Wir treffen uns in der Zentrale!«
Den ganzen Rückweg vom Strand bis zum Gebrauchtwarencenter T. Jonas schwankte Peter zwischen Ärger und Sorge. Der Ausflug in luftige Höhen hatte ein abruptes Ende gefunden. Aber Justus hätte nicht darauf bestanden, wenn es nicht wirklich wichtig wäre. Peter schaltete einen Gang höher.
Das Gebrauchtwarencenter war genau genommen kaum mehr als ein Schrottplatz, auch wenn sein Besitzer, Justus’ Onkel Titus, das nicht gern hörte, da er sich weitgehend vom Schrotthandel verabschiedet und sich auf Trödel aller Art spezialisiert hatte. Doch trotz der ausgeprägten Ordnungsliebe seiner Frau Mathilda war es den beiden niemals wirklich gelungen, das Chaos, das das Gelände beherrschte, zu bändigen. Daher passte der Name ›Schrottplatz‹ nach wie vor.
Peter raste mit seinem Mountainbike durch das geöffnete, schmiedeeiserne Tor auf den Platz und kollidierte beinahe mit dem Briefträger. Peter riss an den Bremsen und kam Staub aufwirbelnd einen halben Meter vor dem Mann zum Stehen.
»He, nicht so stürmisch, junger Mann!«, rief dieser lachend.
»’tschuldigung. Aber ich habe es wirklich eilig.«
»Hier.« Der Briefträger reichte ihm einen Umschlag. »Post für die drei Detektive. Das seid ihr doch, oder?«
Peter nickte. »Danke. Schönen Tag noch!« Er steuerte auf den baufälligen, von der Sonne ausgeblichenen Campinganhänger zu, der in der hinteren Ecke gleich neben der Freiluftwerkstatt stand. Der Anhänger fügte sich so gut in das Durcheinander des Schrottplatzes ein, dass man ihn auf den ersten Blick gar nicht wahrnahm. Doch das war Peter, Justus und Bob nur recht, denn in Wirklichkeit war der Anhänger das Hauptquartier der drei ???, die Zentrale. Der äußere Schein trog: Im Innern war der Wohnwagen mit den modernsten Geräten ausgestattet. Im Laufe der Jahre hatten die drei Detektive nicht nur einen Computer und ein Telefon zusammengetragen, sondern auch diverse technische Spielereien und ein vollständig eingerichtetes Kriminal- und Fotolabor.
Und einen Fernseher. Der ungewöhnlich laut gedreht war, als Peter die Zentrale betrat. Justus hockte davor, das Gesicht nur eine Armlänge vom Bildschirm entfernt. Der Erste Detektiv drehte sich nicht einmal zu Peter um, sondern wies nur stumm auf die laufende Nachrichtensendung.
Ein brennendes Haus bei Nacht. Peter erkannte sofort das alte Stadtverwaltungsgebäude am Stadtrand von Rocky Beach. Stumm vor Schreck lauschte er dem Sprecher, der die Bilder dokumentierte.
»Und so sah es letzte Nacht um null Uhr zwanzig aus: Im Innern des Gebäudes gab es eine Explosion, die einen Teil der Außenwand zusammenbrechen ließ. Eine benachbarte Umspannstation wurde schwer beschädigt, woraufhin der Strom in Rocky Beach für eine Stunde ausfiel. Die ebenfalls in unmittelbarer Nähe gelegene Tankstelle ist glücklicherweise nicht mehr in Betrieb, sonst hätte das Feuer eine noch größere Katastrophe auslösen können. Wie durch ein Wunder kam durch die Explosion nur eine Person zu Schaden: Ein vorbeifahrender Radfahrer wurde leicht verletzt. Da das Verwaltungsgebäude schon seit einigen Wochen leer steht und ohnehin in naher Zukunft abgerissen werden sollte, ist der Sachschaden überschaubar. Die Straße wird jedoch für unbestimmte Zeit gesperrt bleiben, bis sichergestellt ist, dass nicht noch weitere Teile des Gebäudes einstürzen. Und nun live vor Ort: Sharon Lockwood.«
Das Fernsehbild schaltete um und man sah das ausgebrannte Haus am Tag. Die Flammen waren erloschen, dafür glänzte die Fassade schwarz vom nassen Ruß. Die Kamera schwenkte auf Sharon Lockwood, die Reporterin vom Regionalsender. Sie war wie immer perfekt gestylt und sah mit ernster Miene in die Kamera. »Dieses Bild der Zerstörung bietet sich heute Morgen den geschockten Bewohnern von Rocky Beach. Da das Feuer erst vor wenigen Stunden gelöscht werden konnte, ist die Ursache der Explosion noch ungeklärt. Inspektor Cotta vom Polizeirevier Rocky Beach hielt weder eine defekte Gasleitung noch Brandstiftung für ausgeschlossen. Die Stromversorgung der Stadt konnte bereits in der Nacht wiederhergestellt werden. Wie lange die Aufräumarbeiten insgesamt dauern werden, steht noch in den Sternen. Der Bürgermeister von Rocky Beach versicherte jedoch, dass die 200-Jahr-Feier der Stadt, deren Vorbereitungen bereits auf Hochtouren laufen, wie geplant stattfinden wird.«
»Unglaublich«, sagte Peter, als er sich endlich von den Bildern losreißen konnte. »Eine Explosion hier bei uns in Rocky Beach! Ich muss geschlafen haben wie ein Baby, sonst wäre ich bestimmt davon aufgewacht. Meine Güte, was da alles hätte passieren können!«
»Es ist etwas passiert«, antwortete Justus. »Deshalb habe ich dich ja herbestellt. Bob hat angerufen.«
Peter schluckte. »Und?«
»Und Bob war mal wieder mittendrin«, kam eine Stimme von der Tür. Justus und Peter drehten sich um. Der dritte Detektiv stand im Eingang.
»Bob!«, rief Peter entsetzt. »Du siehst ja furchtbar aus!«
»Vielen Dank, Peter. Das sind aufbauende Worte von einem wahren Freund.«
»Aber was ist denn geschehen?«
»Ist das so schwer zu erraten? Ich war der Fahrradfahrer, der leicht verletzt wurde.« Bob deutete auf den Fernsehschirm und ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen. Augenblicklich wurde er von Peter und Justus mit Fragen bestürmt. Bob hatte die ganze Geschichte schon mehrfach erzählt: der Polizei, die noch während der letzten Nacht seine Zeugenaussage aufgenommen hatte, und seinen Eltern, die vor Sorge fast gestorben waren. Schlaf bekommen hatte er nur wenig. Doch Bob fügte sich seinem Schicksal und berichtete ein weiteres Mal, was geschehen war. Justus und Peter hörten gebannt zu.
»Das war’s«, schloss Bob seinen Bericht. »Und ich kann euch sagen: Auf die Erfahrung, mich in unmittelbarer Nähe eines explodierenden Hauses zu befinden, hätte ich gern verzichtet. Ihr solltet nicht versuchen, mir das nachzumachen. Obwohl ich dir, Justus, bereits ansehe, dass du liebend gern mit mir getauscht hättest. Oder?«
»Liebend gern wäre übertrieben. Aber ich frage mich, ob es nicht durch eine genaue Beobachtung des Vorgangs möglich gewesen wäre, etwas über die Ursache der Explosion herauszufinden.«
Bob schüttelte den Kopf. »Es war kein Vorgang, Justus, es war eine Katastrophe! Und glaub mir, kein Mensch der Welt hätte in dieser Situation irgendwas beobachten können. Es ging alles so schnell. Als ich begriffen hatte, was überhaupt geschehen war, stand Rubbish-George schon neben mir.«
»Rubbish-George?«, fragte Peter verwundert.
»Äh … ja.« Bob runzelte die Stirn. »Er tauchte plötzlich auf und hat mir geholfen. Aber … seltsam. Ich hatte das ganz vergessen. Jetzt gerade ist es mir erst wieder eingefallen. Ich stand wohl so unter Schock …«
»Hast du Inspektor Cotta erzählt, dass Rubbish-George ebenfalls vor Ort war?«
»Sagte ich doch gerade: Es fiel mir erst in dieser Sekunde wieder ein.«
Justus tippte gegen seine Unterlippe. »Dann gibt es also einen weiteren Zeugen, von dem die Polizei nichts weiß. Möglicherweise konnte Rubbish-George den Vorfall genauer beobachten.«
»Aber was soll er schon beobachtet haben?«, fragte Peter. »Es war bestimmt eine defekte Gasleitung. So etwas kommt doch mal vor. Und schließlich sollte das Gebäude abgerissen werden. Kann doch gut sein, dass da schon was kaputt war.«
Justus zuckte mit den Schultern. »Möglicherweise. Wie dem auch sei: Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist, Bob.«
Bob nickte dankbar und ergriff die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. »Was ist denn das überhaupt für ein Brief in deiner Hand, Peter? Ist der an uns?«
»Der Brief?« Peter blickte auf den Umschlag, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Den hatte ich ganz vergessen. Der Postbote hat ihn mir gerade erst in die Hand gedrückt.« Er drehte den schlichten, weißen Umschlag zwischen den Fingern. »Komisch. Gar kein Absender.« Er warf einen Blick auf den Poststempel. »Aber er wurde ganz in der Nähe abgeschickt.«
»Mach auf!«, forderte Bob.
Peter nickte und öffnete ihn. Zum Vorschein kam ein zweifach gefaltetes Blatt Papier, auf dem drei mit der Schreibmaschine getippte Zeilen standen. Peter las sie – und runzelte die Stirn. Er drehte den Zettel um. Die Rückseite war leer. Er las die Zeilen ein weiteres Mal. Dann schüttelte er den Kopf.
Justus riss der Geduldsfaden. »Nun sag schon, Zweiter! Was steht drin?«
»Pff!«, machte Peter. »Etwas, das wohl witzig sein soll.«
»Geht es etwas präziser?«
Wortlos reichte Peter Justus den Brief.
Der Stromausfall letzte Nacht war kein Zufall.
Es geht um Jaccards Vermächtnis.
Santa-Monica-Pier, vier Uhr, heute.
»Lässt du mich bitte an deiner Sprachlosigkeit teilhaben?«, fragte Bob, nachdem Justus eine Weile schweigend auf den Brief gestarrt hatte. Schließlich nahm er ihn dem Ersten Detektiv einfach aus der Hand und las selbst.
»Stromausfall?«, fragte Bob verständnislos. »Was für ein Stromausfall?«
»Der, der letzte Nacht durch die Explosion verursacht wurde«, antwortete Justus.
»Verstehe ich nicht. Natürlich war der Stromausfall kein Zufall. Die Explosion war schuld. Oder … Moment mal … soll das heißen, dass die Explosion kein Zufall war?«
»Kein Zufall – und damit auch kein Unfall«, bestätigte Justus. »Sondern Absicht.«
»Kein Unfall, kein Zufall und vor allem: kein Absender«, sagte Peter. »Da will uns doch jemand auf den Arm nehmen!«
»Meinst du?«
»Klar. Es kann doch kein Mensch wissen, was die Ursache der Explosion war. Noch nicht einmal die Polizei hat es bis jetzt herausgefunden. Das muss ein Scherz sein.«
»Und von wem?«, fragte Bob.
»Keine Ahnung.«
Der Erste Detektiv schüttelte entschieden den Kopf. »Dieser Brief ist kein Scherz. Er kann gar keiner sein. Ich fürchte, du übersiehst ein entscheidendes Detail, Zweiter.«
»Nämlich welches?«
Justus verzog den Mund. »Du kommst selbst drauf, wetten?«
Peter verdrehte die Augen. »Sag schon, Just!«
»Wie ist dieser Brief zu uns gekommen?«
»Das habe ich doch gerade erzählt: mit der Post.«
»Exakt. Und was sagt das über die genaue zeitliche Abfolge der Ereignisse aus?«
Der Zweite Detektiv schüttelte unwillig den Kopf. Er wusste nicht, was Justus mit seiner Frage meinte.
»Natürlich, Just!«, rief Bob plötzlich. »Es bedeutet, dass er bereits gestern losgeschickt wurde! Also vor der Explosion!«
»Vor der Explosion? Aber das … das heißt ja …«
»Dass der Absender dieses Briefes mindestens einige Stunden vorher wusste, dass es einen Stromausfall geben würde. Der Poststempel ist von gestern. Es gibt also keinen Zweifel: Dieser Brief ist kein Scherz, Kollegen. Vielmehr ein anonymer Hinweis. Die entscheidende Frage ist: Wer hat ihn uns geschickt? Und wieso?«
»Wir sollen mehr über die Sache herausfinden«, vermutete Bob. »Der Brief ist beinahe so etwas wie ein Auftrag. Und es sieht aus, als müssten wir nur heute Nachmittag zum Santa-Monica-Pier gehen, um ihn anzunehmen.«
»Erstklassig kombiniert, Kollege«, lobte Justus und rieb sich die Hände. »Aber wer auch immer dahintersteckt: Wir sollten uns nicht unvorbereitet zum Treffpunkt begeben.«
Peter glaubte eine Sekunde lang, sich verhört zu haben. »Moment mal. Heißt das, du willst da hingehen?«
»Wir«, korrigierte Justus. »Wir gehen da hin.«
»Wir? Bin ich denn bescheuert? Nur weil irgendein Unbekannter einen Brief schreibt?«
»Peter, dieser Unbekannte weiß etwas, das liegt auf der Hand! Und der Treffpunkt ist die einzige Spur, die wir in diesem Fall weiterverfolgen können.«
»Fall? Was denn für ein Fall?«
»Ich würde die Explosion des Verwaltungsgebäudes schon als Fall bezeichnen.«
»Aber doch nicht für uns! Dass Bob zufällig Zeuge der Explosion war, macht sie noch lange nicht zu einem Fall für die drei Detektive! Das ist Sache der Polizei, Justus!«
»Das scheint der Absender dieses Briefes anders zu sehen. Ich bin nicht der Meinung, dass Bobs Anwesenheit die Angelegenheit zu unserem Fall macht. Aber dieser Brief schon.«
Peter holte Luft, um dem Ersten Detektiv zu widersprechen, doch ihm fiel nichts mehr ein.
»Hör zu, Peter«, fuhr Justus in versöhnlichem Tonfall fort. »Die Sache ist vollkommen harmlos.«
»Die Explosion eines Hauses ist doch nicht harmlos!«
»Von der Explosion ist im Brief ja auch gar nicht die Rede. Sondern von einem Stromausfall.«
»Ja, aber …« Peter wusste nicht mehr, was er sagen sollte. »Was denn nun? Explosion oder Stromausfall? Ich verstehe das alles irgendwie nicht.«
Justus nickte. »Und genau deshalb werden wir zum Santa-Monica-Pier fahren und sehen, wer der Unbekannte ist und was er zu sagen hat. Wenn es irgendwie gefährlich ist, steigen wir natürlich sofort aus.« Justus sah auf die Uhr. »Wir haben noch ein paar Stunden Zeit, bevor wir uns auf den Weg machen müssen. Die sollten wir nutzen.«
»Was hast du vor, Just?«, fragte Bob.
»Recherche. Ich werde Inspektor Cotta anrufen. Vielleicht gibt es schon Ergebnisse von der Spurensuche, von denen die Presse noch nichts weiß. Und dann haben wir noch die Botschaft selbst.« Der Erste Detektiv tippte auf den Brief. »Jaccard. Dieser Name ist der einzige konkrete Hinweis. Die Zeit sollte reichen, um mehr über diesen Mann in Erfahrung zu bringen.«
»Na ja«, begann Bob zögernd. »Ein bisschen weiß ja wohl jeder über ihn: Jean Marie Jaccard, weltberühmter französischer Maler, seit zwanzig Jahren tot. Ein paar seiner Werke sind so bekannt, dass jeder sie schon mal gesehen haben dürfte, zum Beispiel das ›Lilienfeld‹ oder die ›Dame mit Hut‹. Auf Auktionen erzielen seine Bilder Höchstpreise. Ich meine, mal gelesen zu haben, dass drei oder vier der zehn teuersten Gemälde der Welt von Jaccard stammen.«
»Sechs«, sagte Justus. »Es sind nicht weniger als sechs.«
»Die Frage ist, ob wirklich der Jaccard gemeint ist.«
»Da hast du Recht, Peter. Trotzdem sollten wir erst mal mehr über den Jaccard herausfinden, solange uns eine weitere Spur fehlt. Das wird deine Aufgabe sein, Bob.«
»Lass mich raten«, sagte Peter. »Für mich hast du auch schon einen Auftrag, stimmt’s?«
»So ist es, Zweiter: Du wirst Rubbish-George ausfindig machen und ihn zu den Ereignissen der vergangenen Nacht befragen. An die Arbeit, Kollegen!«
Es gab genau genommen nur zwei Orte, an denen Rubbish-George, der in ganz Rocky Beach bekannte Stadtstreicher, sich aufhielt: Entweder er war in seinem Holzverschlag, den er sich in einer weniger schönen Ecke der Stadt in einem Hinterhof gebaut hatte. Oder er saß an der Strandpromenade, ließ sich die Sonne aufs wettergegerbte Gesicht scheinen und wartete darauf, dass ihm die Spaziergänger ein paar Cent in den Plastikbecher warfen, der immer bereitstand.
Trotz fehlender Sonne hatte Peter am Strand Glück. Rubbish-George hatte es sich auf einer Bank bequem gemacht und biss gerade in ein Sandwich von der kleinen Strandbar, als der Zweite Detektiv auf ihn aufmerksam wurde. Er ging auf den bärtigen Mann zu.
»Guten Morgen, Rubbish-George!«
»Ah, sieh an! Ein Detektiv! Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?« Rubbish-George grinste. »Detektive am Morgen bringen Kummer und Sorgen, so war es doch, nicht wahr?«
»Detektive am Morgen vertreiben Kummer und Sorgen!«, widersprach Peter und setzte sich neben den Mann. »Sagen Sie, George, mir ist da etwas zu Ohren gekommen, worüber ich gern mit Ihnen reden würde. Und zwar über die letzte Nacht.«
»Zu Ohren gekommen? Ha, wem nicht! Das war ein ganz schöner Knall, was? Na, guck nicht so verdattert! Ich rede von der Explosion! Du doch auch, oder?«
»Äh, ja genau! Mein Freund Bob war ganz in der Nähe, als es passierte. Und er sagte, Sie wären auch da gewesen.«
»Hmmm«, murmelte Rubbish-George zustimmend und biss in sein Sandwich. »Möbliff.«
»Bitte?«
Rubbish-George kaute, bis er den Mund wieder leer hatte. »Möglich.«
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht etwas gesehen haben.«
»Nur zu.«
»Bitte?«
»Na, frag doch!«
»Also, äh … haben Sie letzte Nacht etwas beobachtet, das mit der Explosion zusammenhängt?«
»Hmmm … ja.«
»Was denn?«
Anstatt zu antworten, biss Rubbish-George ein weiteres Mal in sein Sandwich. Während er kaute, griff er scheinbar geistesabwesend nach seinem Plastikbecher und ließ ein paar Centmünzen darin klimpern.
Peter begriff. Er hatte sowieso nicht erwartet, dass er die Informationen von Rubbish-George kostenlos bekommen würde. Seufzend holte er seinen Geldbeutel hervor, kramte fünfzig Cent heraus und warf sie in den Plastikbecher.
Wie eine Jukebox, in die man Geld geworfen hat, sprach George weiter: »Ich war gerade damit beschäftigt, die Mülltonnen in der Gegend nach Brauchbarem zu durchsuchen, als Bob Andrews auf seinem Fahrrad an mir vorbeifuhr. Und dann machte es plötzlich Peng und Bob wurde vom Rad geschleudert. Ich eilte ihm zu Hilfe und machte mich dann aus dem Staub.« Rubbish-George widmete sich wieder seiner Mahlzeit.
»Aber George, das weiß ich doch schon längst!«, beschwerte sich Peter.
Die listigen Augen des Stadtstreichers blitzten auf. »Hast du etwa geglaubt, du würdest wertvollere Informationen bekommen – für lächerliche fünfzig Cent?«
»Gibt es denn überhaupt wertvollere Informationen?«
Rubbish-George nickte. »Oh ja, die gibt es. Für Detektive wie euch ganz sicher.«
»Informationen, an denen auch die Polizei Interesse hätte?«
»Ganz bestimmt sogar.«
»Aber Sie haben der Polizei nichts gesagt?«, vermutete Peter.
»Sie hat mich nicht gefragt.«
»Na schön. Wie viel ist Ihre Information wert?«
»Zehn Dollar.«
Peter lachte ungläubig auf. »Wie bitte? Zehn Dollar? Das ist ja wohl ein Scherz!«
Rubbish-George zuckte mit den Schultern und steckte sich den Rest des Sandwichs in den Mund. »Bie bu meinft.«
Peter biss die Zähne zusammen. »Fünf Dollar.«
»Okay.« Rubbish-George hielt ihm den Becher hin und Peter warf widerwillig einen Fünf-Dollar-Schein hinein. »Also: Da war noch jemand. Unmittelbar bevor Bob mit dem Fahrrad vorbeikam, stieg jemand genau vor dem Verwaltungsgebäude in ein Auto und fuhr davon.«
Augenblicklich hatte Peter den Verlust des Geldes vergessen. »Tatsächlich?«, fragte er aufgeregt. »Konnten Sie erkennen, was für ein Jemand das war? Ein Mann oder eine Frau? Woher kam die Person? Wohin fuhr sie? Und was war das für ein Wagen?«
Rubbish-George grinste und hielt Peter erneut den Plastikbecher hin. »Für die andere Hälfte des Geldes bekommst du die andere Hälfte der Information.«
»Nein«, sagte Peter entschieden. »Sie kriegen kein Geld mehr von mir.«
»In Ordnung.« George wandte sich ab und blickte versonnen hinaus aufs Meer. Er tat so, als säße Peter gar nicht mehr neben ihm.
Der Zweite Detektiv rang mit sich. Einerseits glaubte er Rubbish-George. Er war ebenso schlitzohrig wie ehrlich. Aber weitere fünf Dollar würden ein empfindlich großes Loch in Peters Kasse reißen. »Ich habe überhaupt nicht mehr so viel«, unternahm er einen lahmen Versuch.
»Wie bedauerlich«, war Rubbish-Georges lakonische Antwort.
Eine Weile starrten beide schweigend aufs Meer. Rubbish-George machte keine Anstalten, ihm noch irgendetwas zu erzählen. Schließlich zückte Peter seinen Geldbeutel ein weiteres Mal, überprüfte zähneknirschend seine Barschaft und sammelte die letzten Dollar zusammen. »Hier«, sagte er wütend und ließ eine Hand voll Kleingeld in den Becher klimpern. »Das sind vier Dollar und fünfundachtzig Cent. Mehr habe ich wirklich nicht.«
»Na schön, dann will ich mal nicht so sein«, sagte Rubbish-George und kippte den Inhalt des Bechers schnell in seine Jackentasche, wohl um bei den Passanten nicht den Eindruck zu erwecken, er benötigte für heute keine Spenden mehr. »Es war ein Mann. Groß, kräftig gebaut, in einen schwarzen Mantel gekleidet. Er kam aus Richtung des Verwaltungsgebäudes. Ob er wirklich drinnen war, weiß ich nicht. Er stieg in eine schwarze Corvette, Baujahr 1958, ein Wahnsinnswagen, und fuhr Richtung Küste davon. Das ist alles, was ich gesehen habe.«
Peter nickte. Das war tatsächlich mehr, als er erwartet hatte, und durchaus neun Dollar fünfundachtzig wert. »Noch etwas?«
»Ja«, sagte Rubbish-George, und der amüsierte Ausdruck war gänzlich aus seinem Gesicht verschwunden. »Die letzte Information gibt es gratis obendrauf, zwecks Aufrechterhaltung unserer guten Geschäftsbeziehungen: Es gibt nicht viele Menschen in dieser Gegend, die eine auf Hochglanz polierte 58er Corvette fahren. Ich kenne den Wagen. Er gehört einem Mann, den man in bestimmten Kreisen den Nachtschatten nennt. Natürlich kann ich mich irren. Aber wenn es wirklich der Nachtschatten war, dann solltet ihr Detektive euch besser von der Angelegenheit fern halten.«
Peter schluckte. »Und wieso genau? Was ist das für ein Kerl?«
»Jemand, der die schmutzige Arbeit für andere Leute macht, wenn man ihm genug dafür bezahlt. Er ist skrupellos. Mit solchen Leuten ist nicht zu spaßen, Peter Shaw. Passt also auf euch auf!« Rubbish-George grinste. »Es wäre doch sehr bedauerlich, wenn eine meiner profitabelsten Spendenquellen versiegen würde.«
Am Nachmittag war ein starker Wind aufgekommen, der kalte Luft vom Pazifik mitbrachte und die drei Detektive auf den Fahrrädern frösteln ließ.
»Brrr!«, machte Bob, als sie den Santa-Monica-Pier erreichten und die Fahrräder anschlossen. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es jemals so kalt gewesen ist. Fehlt ja nur noch der Schnee! Und das in Kalifornien, dem angeblichen Sonnenstaat. Dass ich nicht lache!«
»Für Schnee ist es definitiv noch zu warm, auch wenn er prinzipiell nicht ausgeschlossen ist«, sagte Justus. »Wir haben Spätherbst und noch dazu in diesem Jahr mit den Auswirkungen der Klimaanomalie El Niño zu kämpfen. Sei froh, dass wir nicht noch weiter im Süden leben. Dort toben schon seit einigen Wochen immer wieder schwere Unwetter.«
»Kann alles noch kommen«, orakelte Bob.
»Ich hätte nichts gegen Schnee«, sagte Peter. »Snowboarden würde mein Fitnessprogramm perfekt ergänzen!«
»Schon klar, Peter.«
Trotz des schlechten Wetters war der Santa-Monica-Pier voller Menschen. Am Riesenrad, das auf dem kleinen Vergnügungspark am Anfang des Piers stand, hatte sich sogar eine kurze Schlange gebildet. Musik, Kindergeschrei und das Rattern der kleinen Achterbahn drangen zu den drei ??? herüber, als sie die Uferbefestigung betraten.
Die drei Detektive kamen an einem Eiswagen vorbei. »Die sollten Glühwein statt Eis verkaufen«, bemerkte Peter und steuerte auf eine freie Bank am Anfang des Piers zu. Bob und Justus setzten sich dazu und gemeinsam beobachteten sie die vorbeiströmenden Menschen.
Justus sah auf die Uhr. »Wir haben noch Zeit genug, um die Rechercheergebnisse zu besprechen. Ich habe mit Inspektor Cotta telefoniert. Der war wenig begeistert, dass ich mich für die Explosion interessierte. Er glaubte, wir wären schon wieder in irgendwas verwickelt. Aber ich konnte ihm klar machen, dass Bob gewissermaßen ein persönliches Interesse an der Sache hat. Das leuchtete ihm schließlich ein.«
»Und?«
»Wie zu erwarten war, ist die Spurensicherung noch nicht besonders weit. Aber ein Ergebnis gibt es immerhin schon: Die Explosion war kein Unfall. Vielmehr haben die Beamten Spuren einer Bombe gefunden.«
Peter schluckte hörbar. »Einer Bombe? Du meinst, es war ein Anschlag?«
»Es sieht so aus. Wer die Bombe gelegt hat und warum, ist noch nicht klar. Und es wird auch noch dauern, bis man mehr darüber weiß. Falls man überhaupt etwas herauskriegt. Cotta sagte, der Täter hätte seine Spuren gut verwischt.«
»Nun ja«, murmelte Peter unruhig. »Nicht ganz so gut, wie die Polizei glaubt. Ich habe mit Rubbish-George gesprochen. Er hat einen Mann gesehen, kurz bevor die Bombe explodierte. Den Nachtschatten.«
»Nachtschatten?«, wiederholte Bob stirnrunzelnd.
Peter berichtete in allen Einzelheiten, was er von Rubbish-George erfahren hatte. »Am Ende hat er mich gewarnt. Wir sollen die Finger von der Sache lassen, hat er gesagt.«
»Na, nun entspann dich mal«, sagte Justus. »Wir treffen uns nur mit einem Informanten, das ist vollkommen harmlos.«
»Aber wenn tatsächlich dieser Nachtschatten für die Explosion verantwortlich ist … dann ist der Brief vielleicht von ihm! Vielleicht hat er mitbekommen, dass Bob die Explosion gesehen hat, und will seinen einzigen Zeugen nun beseitigen.«
»Peter«, sagte Justus ruhig. »Die Sorgen, die du dir um deine Freunde machst, sind rührend, aber unnötig. Der Absender hat den Brief bereits vor der Explosion losgeschickt, erinnerst du dich? Zu diesem Zeitpunkt wusste er also gar nicht, dass es einen Zeugen geben würde. Außerdem hat Bob keine schwarze Corvette gesehen, also ist es unwahrscheinlich, dass er andersherum vom Fahrer des Wagens bemerkt wurde.«
Bob warf dem Ersten Detektiv einen dankbaren Blick zu. Justus’ Einwand war logisch und überzeugend wie immer.
»Nichtsdestotrotz sind das wertvolle Informationen, die wir im Auge behalten sollten. Was ist denn bei deinen Recherchen herausgekommen, Bob?«, fragte Justus.
»Nicht viel. Ich habe mir ein wenig Wissen über Jaccard, sein Werk und sein Leben angelesen. Tja, was soll ich sagen? Er war ein berühmter Maler und hat hunderte von Bildern gemalt, die in Museen in der ganzen Welt hängen. Sein Talent zeigte sich schon in jungen Jahren. Er bekam begehrte Stipendien an Kunstakademien und so weiter. Mit siebzehn hatte er seine erste Ausstellung, und von da an ging es steil bergauf. Er heiratete die Halbinderin Nandita Rai, die seine Managerin wurde. Die beiden hatten einen Sohn. Jean Marie Jaccard starb nach einer schweren Krankheit im Alter von achtundsechzig Jahren. Seine Frau Nandita ist inzwischen ebenfalls tot. Was der Sohn heute treibt, habe ich nicht herausfinden können. Wenn ihr mehr wissen wollt: Ich habe ein paar Bücher über Jaccard aus der Bibliothek in der Zentrale deponiert. Außerdem konnte ich eine Adresse ausfindig machen, über die wir sicherlich mehr erfahren können, wenn es nötig sein sollte: Es gibt eine Jaccard-Gesellschaft, die sich mit dem Leben und Werk des Malers beschäftigt, Ausstellungen organisiert und so weiter. Aber da habe ich noch nicht angerufen, warum auch. Interessant ist vielleicht noch, dass einer von Jaccards engsten Freunden, der Maler Raoul Hernandez, hier in der Gegend lebte. Er war Mexikaner, hat sich aber später in Kalifornien niedergelassen, genauer gesagt in Oxnard. Jaccard war daher häufiger in Kalifornien zu Besuch. Sein Freund Hernandez ist aber auch schon seit zehn Jahren tot.«
»Und was hast du zum Stichwort ›Vermächtnis‹ gefunden?«
»Eigentlich gar nichts. Jaccard hat bereits zu Lebzeiten einen Riesenhaufen Geld mit seinen Bildern verdient. Das hat er ausgegeben, als er noch lebte, und vererbt, nachdem er gestorben war. Da gibt es kein großes Geheimnis oder so, wenn du das meinst.«
»Hm«, machte Justus enttäuscht. »Na schön, warten wir ab, was uns der geheimnisvolle Absender zu sagen hat.«
Peter kratzte sich am Kopf. »Vor allem soll er uns erzählen, was ein Vermächtnis mit einer Explosion zu tun hat. Oder mit einem Stromausfall. Oder wie auch immer. Das ist nämlich das größte Rätsel, wenn ihr mich fragt.«
Justus sah auf die Uhr, dann blickte er sich suchend auf dem Pier um. »Ob er wohl schon hier ist?«
»Gut möglich«, sagte Bob. »Dummerweise wissen wir nicht, nach wem wir Ausschau halten sollen. Der Pier ist ja nicht gerade klein. Und hier treiben sich viel zu viele Leute herum.«
»Keine Sorge«, antwortete Justus. »Der Absender des Briefes weiß offenbar genau, mit wem er es zu tun hat. Er wird schon mit uns Kontakt aufnehmen, da bin ich ganz sicher. Aber halten wir trotzdem die Augen offen, Kollegen! Schaden kann es nicht!« Justus erhob sich und die drei Detektive schlenderten den Pier hinunter zum Wasser. Dabei beobachteten sie ihre Umgebung ganz genau. Dieser Mann im weißen Leinenanzug dort vorn – er stand schon seit zwei Minuten fröstelnd an eine Laterne gelehnt. Wartete er auf jemanden? Oder die junge Frau, die Hot Dogs verkaufte – sah sie nicht ständig zu ihnen herüber? Justus, Peter und Bob hatten ihre Augen überall. Sie gingen bis zum Wasser, blickten hinaus aufs bleigraue Meer und spazierten langsam an der hölzernen Brüstung entlang und wieder zurück.
»Schon kurz nach vier«, bemerkte Bob. »Vielleicht haben wir doch etwas falsch gemacht. Vielleicht hätten wir uns auffälliger benehmen sollen. Vielleicht –«
Jemand tippte ihm von hinten auf die Schulter. Bob drehte sich um. Vor ihm stand ein Junge auf Rollerblades. Er war etwa in seinem Alter und trug eine Baseballmütze, unter der struppiges, hellblondes Haar hervorquoll. Seine verspiegelte Sonnenbrille war so groß, dass sie die Hälfte seines Gesichts verbarg. Wortlos hielt er Bob ein dünnes, grob in Papier gewickeltes Päckchen entgegen.
»Verzeihung?«, fragte Bob irritiert.
»Das soll ich euch geben«, sagte der Junge unwirsch.
Justus drängte sich vor. »Von wem?«
»Spielt keine Rolle. Und jetzt nehmt schon!«
»Moment mal! Wer bist du? Wer hat dich beauftragt? Und was ist das überhaupt?«
Der Junge sah sich ungeduldig um. »Hör zu, du Wichtigtuer: Ich habe keine Ahnung, klar? Ich kriege zehn Dollar dafür, dass ich euch das hier in die Hand drücke. Der Rest ist mir egal. Und jetzt nehmt schon!«
Justus verschränkte die Arme vor der Brust. »Erst wenn du uns sagst, wer dich geschickt hat.«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Dann eben nicht.« Er ließ das Päckchen fallen, drehte sich um und rollte davon. Die drei Detektive waren viel zu verdattert, um ihn aufzuhalten. Kurz bevor er in der Menschenmenge verschwand, wandte er sich noch einmal um und rief: »Ach ja, ihr habt nur eine Viertelstunde Zeit!«
»Das gibt’s doch nicht!«, stieß Peter verblüfft hervor. »Was sollte denn das? Was hat das zu bedeuten?«
»Das bedeutet, unser Informant möchte noch ein Weilchen inkognito bleiben«, antwortete Justus grimmig und bückte sich nach dem Päckchen. »Zu dumm, dass ich an diese Eventualität nicht gedacht und entsprechende Vorkehrungen getroffen habe.«
»Niemand ist unfehlbar, Just«, tröstete Bob ihn. »Was ist denn nun in dem Päckchen? Denk dran, wir haben nur eine Viertelstunde. Was immer der Typ damit meinte.«
Justus nickte und schlug das Papier zur Seite. Zum Vorschein kamen drei leicht vergilbte und an der oberen Seite aufgerissene Briefumschläge, die mit verblasster Tinte beschrieben waren.
»Raoul Hernandez, 12 Sunset Cliffs Boulevard, Oxnard, Kalifornien«, las Justus die Adresse auf dem ersten Umschlag laut vor. Dann hielt er ihn dichter vor die Nase, um auch die kaum lesbaren Absender in der linken oberen Ecke entziffern zu können. »Jaccard«, sagte er und blickte seine Freunde überrascht an. »Na also!«
29. Juni
Lieber Raoul,
es ist kaum vorstellbar, aber allein das Sitzen am Tisch, das Halten des Stifts und das Konzentrieren auf die Worte, die ich schreiben will, kosten mich heute viel Kraft. An Tagen wie diesem bin ich überzeugt, dass mir nicht einmal mehr eine Woche bleibt. Aber eine Woche ist zu wenig, Raoul! Ich brauche mehr Zeit, um ‚Feuermond’ zu malen. Im Moment mache ich kaum Fortschritte. Schon die Größe der Leinwand jagt mir Angst ein. Und nichts klappt auf Anhieb. Ich hoffe nur, dass ich es schaffen werde, das Bild zu beenden, bevor mein Leben zu Ende geht.
Du weißt, wie viel mir das Bild bedeutet. Es ist vielleicht das wichtigste, das ich je gemalt habe.
Ich bin zu müde, um mehr zu schreiben.
Grüße vom anderen Ende des Lebens
Jean Marie
Justus blickte von dem Brief auf und sah Bob und Peter an, die neben ihm auf der Bank saßen und mitgelesen hatten. »Ein Brief von Jean Marie Jaccard an seinen alten Freund Raoul Hernandez, den er offenbar kurz vor seinem Tod geschrieben hat«, sagte der Erste Detektiv. »Aber wie kommt der in die Finger von diesem Skaterburschen?« Justus faltete das Papier zusammen und schob es vorsichtig in den Umschlag zurück. Dann nahm er sich den zweiten Brief vor.
7. Juli
Raoul, mein Lieber!
Ich komme vorwärts! In den letzten Tagen ging es mir besser. Viel, viel besser als die Wochen zuvor. Vielleicht kann ich sogar bald reisen. Mit ‚Feuermond’ mache ich große Fortschritte. Plötzlich geht mir die Arbeit so leicht wie nie von der Hand. Es bereitet mir fast schon Sorgen. Selbst in meinen besten Phasen habe ich nicht so gut und mit so viel Energie gearbeitet. Hätte ich vielleicht schon viel früher auf dich hören und ‚Feuermond’ malen sollen? Oder ist das das letzte Aufbäumen meiner Kreativität, weil ich tief in meinem Innern weiß, dass es nun jederzeit zu Ende sein kann?
Der Arzt hat mir bei seinem letzten Besuch Ruhe geraten. Aber du kennst mich. Ruhe! Als ob es das wäre, was ich brauche. Als ob ich mich je im Leben hätte ausruhen wollen! Nein, wenn ich sterben muss, dann sicherlich nicht ruhig, lieber Raoul. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie wir mit ‚Feuermond’ umgehen sollen. Bisher war ich der Meinung, die Wahrheit sollte unbedingt ans Licht, sobald ich sterbe. Aber inzwischen sehe ich die Dinge anders.
Ich habe in den letzten Wochen viel über mein Leben nachgedacht. Über die wichtigen und die unwichtigen Dinge. Was am Ende bleibt und was nicht. Ich habe Fehler in meinem Leben gemacht. Ich bereue zum Beispiel sehr, dass ich nie eine richtige Vater-Sohn-Beziehung zu Ignace aufbauen konnte und dass mein Sohn so früh fortgegangen ist. Verglichen damit sind all die Erfolge in der Kunst, denen ich jahrzehntelang hinterhergelaufen bin, vollkommen unwichtig geworden. Ruhm und Ehre interessieren mich immer weniger. Daher habe ich eine Entscheidung getroffen:
Wir verraten niemandem etwas. Absolut niemandem. Ich werde ohnehin nicht mehr miterleben, wie die Kunstwelt ‚Feuermond’ aufnimmt. Und es ist mir auch vollkommen egal. ‚Feuermond’ soll ein Geheimnis bleiben. Unser Geheimnis. Es würde mir ein diebisches Vergnügen bereiten, wenn ‚Feuermond’ niemand jemals zu Gesicht bekommt.Was denkst du?
Optimistisch dem Ende entgegenlächelnd
Jean Marie
»Rätsel und Geheimnisse«, murmelte Justus, nachdem er zu Ende gelesen hatte. »Kollegen, mir scheint, als seien wir hier wirklich auf etwas gestoßen.« Er hob den Kopf und sah sich auf dem Pier um. Während der Lektüre hatte er vollkommen seine Umgebung vergessen. Doch nun fiel ihm ein, dass ihr Informant sie vielleicht in diesem Augenblick beobachtete. Der Mann im weißen Leinenanzug stand immer noch an der Laterne. Er sah nicht zu ihnen herüber, aber das bedeutete nichts. »Peter, Bob«, raunte er leise. »Ich werde euch den dritten Brief leise vorlesen. Ihr beide tut so, als würdet ihr mitlesen. Aber ich möchte, dass ihr euch die Leute genau anseht. Vielleicht beobachtet uns jemand.«
»Okay«, antwortete Peter und begann sogleich, die Menschen auf dem Pier zu mustern.
Währenddessen nahm Justus sich den dritten Brief vor:
3. August
Mein lieber Raoul,
dies ist mein letzter Brief. Es ist eine bittere Erkenntnis, aber es gibt keinen Zweifel: Ich schaffe es nicht mehr. Seit einer Woche bin nicht mehr aufgestanden, und heute ist der erste Tag, an dem ich mich stark genug fühle, dir zu schreiben. Es ist seltsam, zu wissen, den definitiv letzten Brief an seinen besten Freund zu schreiben, und trotzdem nicht genug Kraft zu haben, an jedem Satz, an jedem Wort, an jeder Silbe zu feilen, wie ich es gern tun würde. Wir werden uns nicht mehr sehen können. Für mich der schmerzlichste Teil des Sterbens. Aber so ist es nun einmal. Ich will nicht hadern mit dem Ende, das mir zugedacht worden ist. ‚Feuermond’ ist fertig. Und es ist großartig geworden. Deine Idee, Hinweise auf den Gräbern zu hinterlassen, ist gut. So werde ich lächelnd aus dem Leben scheiden können in dem Wissen, dass nur die Klügsten jemals hinter das Geheimnis kommen und einen Blick auf die Wahrheit werfen werden. Wenn überhaupt jemand. Otto ist auf dem Weg zu dir. Lassen wir dem Schicksal nun freien Lauf.
Raoul, mein Lieber, meine Zeit ist gekommen. Du weißt, dass du der beste Freund bist, den sich ein Mensch nur wünschen kann. Ich habe es dir oft genug gesagt. Deshalb spare ich mir nun alle hehren Worte und belasse es bei einem einfachen Danke. Danke, dass ich dich gekannt habe und dass du mein Freund warst. Ich wünsche dir alles erdenklich Gute für dein hoffentlich langes, erfülltes Leben. Wir sehen uns auf der anderen Seite. Das ist ein Versprechen.
Dein Jean Marie
Einige Sekunden lang sprach keiner der drei Detektive ein Wort.
»Ist ja richtig traurig«, meinte Bob schließlich. »Schon seltsam. Jaccard ist so berühmt, dass er für mich immer nur ein Name war, nie ein Mensch. Aber dieser Brief … Er scheint diesem Raoul sehr nahe gestanden zu haben.«
Justus nickte. »Bevor wir uns jedoch weiter mit dem Inhalt der Briefe befassen: Ist euch etwas aufgefallen? Hat uns jemand beobachtet?«
»Ich habe nichts bemerkt«, raunte Peter.
»Ich auch nicht«, sagte Bob. »Dieser Typ im hellen Anzug da drüben sieht irgendwie merkwürdig aus. Aber er hat kein einziges Mal zu uns rübergesehen.«
»Und unser Bote, der uns die Briefe gebracht hat?«
»Keine Spur von ihm.«
»Tja, dann –«
Es geschah so schnell, dass keiner der drei Detektive reagieren konnte. Wie aus dem Nichts griff eine Hand von hinten über die Rückenlehne der Bank und entriss Justus die Briefe.
Der Erste Detektiv wirbelte herum. Der Junge mit den Rollerblades hatte sich die Briefe in voller Fahrt geschnappt und erhöhte nun sein Tempo.
Peter sprang von der Bank und nahm die Verfolgung auf. Der Dieb schoss auf seinen Blades durch die Menschenmenge, als sei sie gar nicht vorhanden. Einige Leute schrien erschrocken auf, als er haarscharf an ihnen vorbeischrammte, doch das veranlasste ihn nicht, sein Tempo zu verringern.
Peter sah schon nach wenigen Sekunden, dass er keine Chance hatte. Der Dieb war einfach zu schnell. Doch dann rammte der Bursche plötzlich einen Spaziergänger und geriet ins Taumeln. Für einen Moment ruderte er mit den Armen und versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden, aber ein im Weg stehender Mülleimer wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Der Junge stürzte. Und Peter sprintete los. Er jagte an Kleinkindern und Rentnern vorbei, sprang über einen angeleinten Hund und schlängelte sich zwischen zwei Kinderwagen hindurch. Der Dieb rappelte sich auf. Sah sich hastig nach Peter um. Setzte sich wieder in Bewegung. Doch dann war der Zweite Detektiv bei ihm. Er bekam den Burschen am Ärmel seines T-Shirts zu fassen. Eine Tätowierung auf dem Oberarm blitzte auf. Peter zog. Doch anstatt den Dieb zu Fall zu bringen, gelang es Peter nur, ihn auf seinen Rollerblades zu drehen. Er machte eine Pirouette, riss sich los und fuhr weiter. Zwanzig Meter weit war Peters Hand nur Zentimeter von der Schulter des Jungen entfernt, doch dann gewann dieser schließlich an Tempo, und der Abstand vergrößerte sich immer mehr. Am Ende des Piers, wo die Menschenmassen sich auflösten, hatte Peter keine Chance mehr. Der Dieb war nun so schnell, dass er es mühelos mit dem Verkehr auf der Straße aufnehmen konnte. Peter wurde langsamer, blieb schließlich stehen und blickte ihm schwer atmend nach, bis er an der nächsten Straßenecke verschwunden war.
»Alles in Ordnung, Peter?«, fragte Bob besorgt, als er und Justus den Zweiten Detektiv endlich eingeholt hatten.
»Ja«, sagte Peter immer noch keuchend. »Ich hätte ihn fast gehabt. Aber eben nur fast.«
Justus starrte finster in die Ferne. Dorthin, wo der Dieb um die Ecke gebogen war. »Warum?«, murmelte er. »Warum spielt uns jemand Briefe von Jean Marie Jaccard zu, nur um sie uns eine Viertelstunde später wieder wegzunehmen? Das ergibt doch keinen Sinn!«
»Wir sollten die Briefe lesen, so viel steht fest«, meinte Bob.
»Und wozu?«, fragte Peter.
»Damit wir auf etwas aufmerksam werden, vielleicht. Damit wir wissen, was es mit Jaccard und seinem Vermächtnis auf sich hat.«
Peter seufzte schwer. »Also, ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich habe immer noch keine Ahnung, was das alles soll. Erst die Explosion, jetzt diese Briefe – wo ist denn da der Zusammenhang?«
»Ich gestehe, ich weiß es nicht«, sagte Justus. »Aber es muss einen geben. Wir werden der Sache schon auf die Spur kommen. Auf jeden Fall sollten wir uns bemühen, die Briefe so schnell wie möglich aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, bevor wir die Details vergessen. Das Kurzzeitgedächtnis speichert Informationen nur etwa zwanzig Minuten lang, danach wird es schwierig werden, sich an Details zu erinnern. Bob, hast du etwas zu schreiben dabei?«
»Aber immer!«, sagte Bob und zückte seinen Notizblock. Die drei setzten sich auf eine nahe gelegene Treppe und schrieben alles aus den Briefen nieder, woran sie sich erinnerten.
»In Ordnung«, sagte Justus und seufzte. »Das ist schon mal ein Anfang. Und nun zu dem Dieb selbst: Ohne seine riesige Brille und mit anderer Kleidung würde ich ihn wahrscheinlich nicht mal erkennen, wenn er in diesem Moment an uns vorbeiginge. Aber es wäre trotzdem gut, wenn wir einen Anhaltspunkt hätten, wer er ist. Peter, du bist ihm am nächsten gekommen. Ist dir etwas aufgefallen?«
Der Zweite Detektiv überlegte einen Augenblick. »Seine Rollerblades waren von ›Speedsport‹, das habe ich gesehen. Aber das dürfte uns nicht viel nützen, die Marke ist ziemlich verbreitet. Ach ja, und dann war da noch ein Tattoo auf dem Oberarm.«
»Was für ein Tattoo?«
»Miller.«
»Miller?«
»Ja. Miller. Wie der gleichnamige Cornflakes-Hersteller. Der Typ hatte den Namen auf seinen Arm tätowiert, und zwar in genau dem gleichen Schriftzug wie auf den Cornflakes-Packungen.«
Justus runzelte die Stirn. »Wer lässt sich denn ein Firmenlogo auf den Arm tätowieren? Überaus ungewöhnlich. Aber umso besser. Über dieses Merkmal können wir den Dieb vielleicht aufspüren. Kommt, Kollegen, fahren wir zurück in die Zentrale! Wir haben ein paar Anrufe zu erledigen!«
Auf dem Weg zurück nach Rocky Beach trat Justus so schnell wie selten zuvor in die Pedalen. Er hatte Bob und Peter nicht verraten, was er vorhatte, doch die beiden hatten bereits eine Ahnung. Die bestätigte sich, als sie das Telefonat mitverfolgten, das Justus führte, sobald sie die Zentrale betreten hatten.
»Hallo, Henry? Ich bin’s, Justus. Ich habe dir doch mal von unserer Telefonlawine erzählt, oder? – Ja, genau. – Es ist mal wieder so weit. Wir suchen jemanden, der eine besondere Tätowierung auf dem Oberarm hat. Den Schriftzug der Cornflakes-Firma Miller. – Ja, auf dem Oberarm. Du kennst nicht zufällig jemanden mit einem solchen Tattoo? – Na ja, wäre auch ein großer Zufall gewesen. Aber dafür gibt es ja die Telefonlawine. Pass auf, es wäre nett, wenn du vier oder fünf Leute anrufst und die Frage weiterverbreitest. Diese Leute bittest du dann, ebenfalls ein paar Freunde und Bekannte anzurufen und so weiter. So verbreitet sich die Suche über die ganze Stadt und darüber hinaus. Wer jemanden mit einem Miller-Tattoo kennt, soll sich bei uns melden, die Nummer hast du ja. – Ja, Peter und Bob machen auch mit. Ich denke, dass wir auf diese Weise noch im Laufe des Abends einige Tausend Jugendliche im Großraum Los Angeles erreichen werden. Wäre doch gelacht, wenn da niemand dabei ist, der Miller kennt. – Danke, Henry! Bis bald!«
Justus legte auf und grinste seine Freunde zufrieden an.
»Die Telefonlawine, habe ich es mir doch gedacht«, meinte Peter.
»Dieser Fall eignet sich einfach perfekt für ihren Einsatz«, sagte Justus. »So eine Tätowierung ist auffällig. Und wenn es dann auch noch das Miller-Cornflakes-Logo ist, ist sie vielleicht sogar einzigartig.« Justus nahm erneut den Hörer zur Hand und rief einen weiteren Freund an. Nach fünf Gesprächen reichte er das Telefon an Peter weiter. Eine halbe Stunde später hatten sie alle Anrufe getätigt. Die Lawine rollte.
»Jetzt heißt es warten«, sagte Justus. »Ich tippe darauf, dass wir nicht vor morgen eine Rückmeldung bekommen. Bis dahin sollten wir die Zeit nutzen und uns näher mit Jaccard und seinen Briefen beschäftigen.« Er tippte auf die Notizen, die sie auf der Treppe gemacht hatten. »Er hat in den letzten Wochen seines Lebens wie besessen an einem Bild gearbeitet. An einem besonderen Bild. ›Feuermond‹. Am besten sehen wir es uns mal an. Bob?«
Der dritte Detektiv war schon dabei, in einem dicken Bildband zu blättern, den er aus der Bibliothek mitgebracht hatte. Doch ohne Erfolg. Er fand kein Bild namens ›Feuermond‹. Auch nicht in den anderen Büchern. »Komisch«, murmelte Bob. »Vielleicht kennt man es unter einem anderen Namen. Oder es ist gänzlich unbekannt geblieben.«
»Unbekannt? Wohl kaum. Immerhin war es sein letztes Bild«, überlegte Justus. »Aber Moment mal, wie hieß es in seinen Briefen? Es würde ihm ein großes Vergnügen bereiten, wenn niemand von ›Feuermond‹ erführe? Womöglich hat er diese Idee wirklich in die Tat umgesetzt und niemandem das Gemälde gezeigt.«
Peter runzelte die Stirn. »Aber wozu sollte das gut sein – ein Bild, das niemand sieht?«
»Nicht niemand. Nur die Klügsten, das schreibt Jaccard zumindest. Irgendwas wird er sich schon dabei gedacht haben. Auf jeden Fall ist es ein Geheimnis.« Ein begeistertes Leuchten war in Justus’ Augen getreten.
»Okay«, sagte Peter. »Es geht also um das letzte Gemälde eines der berühmtesten Maler der Welt. Ein Gemälde, das es gar nicht gibt, irgendwie dann aber doch. Und du willst das Rätsel natürlich lösen, Just. Klingt vorerst nicht weiter gefährlich. Ich bin dabei.« Er grinste.
»Ich hatte nichts anderes erwartet. Zunächst sollten wir so viel wie möglich über Jaccard und seinen Freund Hernandez herausfinden. Weiterhin hoffe ich, dass die Telefonlawine bald erste Ergebnisse hervorbringt. Denn solange wir nicht wissen, wer uns die Briefe erst zugespielt und gleich darauf wieder weggenommen hat, habe ich kein gutes Gefühl bei der Sache. Dann noch diese Explosion …«
»Und Rubbish-Georges Warnung!«, fügte Peter hinzu.
Justus nickte. »Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein.«
Als Bob an diesem Abend nach Hause kam, saßen seine Eltern mit einem Glas Wein im Wohnzimmer. Im Kamin prasselte ein warmes Feuer.
»Na, mein Sohn?«, begrüßte sein Vater ihn. »Ärger gehabt? Du siehst betrübt aus. Hat Mathilda Jonas euch mal wieder zum Aufräumen auf dem Schrottplatz verdonnert?«
Bobs Mutter legte ihrem Mann die Hand auf den Unterarm. »Wie sähest du denn aus, wenn du die letzte Nacht kaum geschlafen hättest, weil du mitten in die Explosion eines Hauses geraten bist?«
»Ich bin nicht mitten in die Explosion geraten, Mama. Es ist doch alles gut gegangen.«
»Trotzdem siehst du müde aus. Du hättest dich heute von deinem Schock erholen und zu Hause bleiben sollen, anstatt gleich schon wieder rüber zu Justus zu laufen.«
»Da kann ich mich aber am besten erholen.«
Seine Mutter seufzte. »Dann gehst du aber gleich ins Bett, ja?«
»Ich muss noch ein bisschen was arbeiten.«
»Hausaufgaben? Aber morgen ist doch Sonntag!«
Bob hatte nicht die Hausaufgaben gemeint, doch vielleicht war es besser, seinen Eltern nicht auf die Nase zu binden, dass er schon wieder im Begriff war, für einen neuen Fall der drei ??? zu recherchieren. Sie würden Fragen stellen. Und spätestens wenn sie herausfanden, dass der Fall in Zusammenhang mit der Explosion stand, wäre es aus mit ihrem Wohlwollen.
Bob folgte einer spontanen Eingebung. »Ja, aber vielleicht kannst du mir helfen. Du kennst dich doch aus mit Kunst. Was fällt dir zu Jean Marie Jaccard ein? Oder vielleicht zu Raoul Hernandez?«
»Na ja, so einiges. Was willst du wissen?«
»Alles.«
Bobs Mutter räusperte sich und lieferte aus dem Stegreif Lebensläufe der beiden Maler ab. Doch das meiste davon war Bob bereits bekannt.
»Außerdem war Hernandez Jaccards Freund. Doch während Jaccard noch zu Lebzeiten Weltruhm erlangte, wurde Hernandez niemals so bekannt, auch nach seinem Tode nicht. Es gibt Kritiker, die der Meinung sind, dass heute kein Mensch mehr Hernandez kennen würde, wenn er nicht zufällig Jaccards Freund gewesen wäre.«
»Warum?«, fragte Bob. »War er denn so viel schlechter?«
»Schlechter …«, murmelte seine Mutter. »Was ist in der Kunst schon gut oder schlecht? Hernandez malte … anders. Er war verspielter. Er probierte mehr aus. Er war nicht nur Maler, sondern auch Bildhauer. Und er versuchte sich in allen nur denkbaren Maltechniken.«
Bob runzelte die Stirn. »Das klingt aber eigentlich, als hätte er mehr draufgehabt als Jaccard.«
»Das mag sogar stimmen. Was Jaccards Bilder weltberühmt macht, ist sein unverwechselbarer Stil. Ein Jaccard sieht einfach aus wie ein Jaccard. Niemand malt so wie er. Einen Hernandez aber kann man verwechseln. Er hat nie seine eigene Bildsprache gefunden. Und das ist es letztendlich, was Kunst zu etwas Besonderem macht, wenn du weißt, was ich meine.«
»Na ja … so halb«, murmelte Bob.
»In Oxnard gibt es ein Hernandez-Haus mit einer Dauerausstellung. Er hat früher mal in dem Haus gelebt und jetzt ist ein kleines Museum dort eingerichtet worden. Wir könnten vielleicht mal hinfahren, wenn es dich interessiert.«
»Ja, hm … mal sehen«, wich Bob dem Angebot aus. »Was ist mit Jaccard? Kennst du seine Bilder?«
»Na, sicher, eine Menge! Die ›Dame mit Hut‹, das ›Lilienfeld‹ …«
»Vielleicht auch eines, das ›Feuermond‹ heißt?«
»›Feuermond‹?« Mrs Andrews lachte. »Und ob!«
»Ach, tatsächlich? Seltsam … ich habe es in keinem Bildband gefunden.«
»Na, das wundert mich nicht.« Wieder lachte seine Mutter.
»Wieso nicht?«
»Weil ›Feuermond‹ nicht existiert.«
Justus saß noch lange in der Zentrale und starrte das Telefon an. Obwohl er aus Erfahrung wusste, dass es gewöhnlich einen Tag oder länger dauerte, bis die Telefonlawine erste Ergebnisse lieferte, hoffte er trotzdem, dass es noch an diesem Abend klappte.
Während er am Schreibtisch saß und wartete, dachte er über den Fall nach. Die Explosion des Verwaltungsgebäudes hatte ganz Rocky Beach beunruhigt und das Thema Nummer eins der letzten Wochen, die bevorstehende 200-Jahr-Feier der Stadt, abgelöst. Beim Abendessen hatten Tante Mathilda und Onkel Titus über nichts anderes gesprochen. Und auch die Nachrichten waren nach wie vor voll davon. Die Polizei hatte ihre Untersuchungsergebnisse vorerst für sich behalten. Dass es sich um eine Bombenexplosion gehandelt hatte, wusste noch niemand. Und Justus hütete sich, sein Wissen beim Abendessen preiszugeben.