12,99 €
Der 200. Fall der drei ??? als Jubiläumstrilogie in einem E-Book: Im Jahr 1968 erschien in Deutschland der erste Fall der drei ???. Genau 50 Jahre und 199 Bände später geraten Justus, Peter und Bob in ein packendes Abenteuer, das sie an die Anfangstage ihrer Detektivkarriere zurückführt. Justus Jonas ist verschwunden! Während Peter und Bob den Ersten Detektiv verzweifelt suchen, stolpern sie über Spuren aus ihrer eigenen Vergangenheit: Der "Fluch des Rubins" – hat Justus' Verschwinden etwas mit diesem längst zu den Akten gelegten Fall zu tun? Ist das Rätsel um den mysteriösen Edelstein damals wirklich gelöst worden? Bei ihrer Suche ahnen sie nicht, dass sie damit dunkle Mächte heraufbeschwören. Denn das Feurige Auge birgt mehr Geheimnisse, als die drei ??? ahnen können ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 428
Feuriges Auge
Die Trilogie im E-Book
erzählt von André Marx
Kosmos
Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin
Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage
der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele
weitere Informationen zu unseren Büchern,
Spielen, Experimentierkästen, Autoren und
Aktivitäten findest du unter kosmos.de
© 2020, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan
Based on characters by Robert Arthur
ISBN 978-3-440-50280-8
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Feuriges Auge
Teil 1 Der verschwundene Detektiv
erzählt von André Marx
Kosmos
Sonntag, 14. September
Es war eng, es war warm und es war stickig. Außerdem sah man im funzeligen Licht der alten Grubenlampe kaum etwas. An einigen Stellen war der Stollen gerade breit genug, dass man nicht mit den Schultern an die Wände stieß. Die Decke hing so niedrig, dass man auf seinen Kopf aufpassen musste, und die uralten Holzbalken, die die Tunnelwände abstützten, machten ebenfalls keinen vertrauenerweckenden Eindruck.
Peter Shaw hatte die Nase voll. Er verstand nicht, warum er durch die Gänge einer verlassenen Quecksilbermine in Dalton stolperte, anstatt in Rocky Beach am Strand zu liegen. Darauf hatte er sich nämlich seit Tagen gefreut. Endlich mal Nichts tun! Aber Justus Jonas hatte andere Pläne gehabt. Und Peter hatte sich überreden lassen. Wieder einmal. Er wusste nicht, auf wen er wütender war – auf Justus oder auf sich selbst.
»Just, lass uns endlich umkehren!« Seine Stimme hallte hohl von den Felswänden wider.
»Es kann nicht mehr weit sein«, antwortete Justus, der vor ihm ging. Er hielt die Öllampe so hoch, wie die Decke es erlaubte. Im Gegensatz zu Peter wirkte er regelrecht begeistert.
»Das ist mir egal. Wenn wir nicht bald umkehren, wird unser Tourführer Timothy merken, dass wir die Gruppe verlassen haben. Genau das sollten wir nicht tun. Und wir sollten auch auf den markierten Wegen bleiben, das hat er hundertmal gesagt. Dies hier ist kein markierter Weg!«
»Er hat es zweimal gesagt, nicht hundertmal.«
»Na und? Diese Tunnel sind einsturzgefährdet!«
»Das wird doch nur behauptet, um die Leute davon abzuhalten, das Geheimnis der Mine zu ergründen.«
»Just, bitte, es gibt kein Geheimnis! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass die Croft-Brüder vor neunzig Jahren ihre Beute aus dem Banküberfall hier unten versteckt haben und in der ganzen Zeit niemand das Geld gefunden hat!«
»Es war ein Überfall auf einen Geldtransport, kein Banküberfall.«
»Mann, Just, du gehst mir auf die Nerven! Bob, sag doch auch mal was!«
Bob Andrews, der Dritte im Bunde, war schon seit geraumer Zeit sehr schweigsam. »Ich fände es auch besser, wenn wir zurückgingen, Just. Peter hat recht: Man weiß, dass die Croft-Brüder sich auf der Flucht in der Dalton-Mine versteckt hielten. Da wird man doch sicher später alles durchsucht haben!«
»Hat man auch. Ich behaupte ja nicht, dass die Beute aus dem Überfall in diesen Tunneln versteckt liegt.«
»Sondern?«
»Ich habe gelesen, dass es hier rätselhafte Inschriften an den Wänden gibt, die möglicherweise von den Croft-Brüdern stammen. Vielleicht haben sie eine Botschaft hinterlassen! Einen Hinweis auf das Versteck ihrer Beute!«
»Und diesen Hinweis hat nie jemand entdeckt?«, zweifelte Peter. »Aber wie konntest du dann etwas darüber lesen?«
»Entdeckt schon. Aber nicht entschlüsselt. Dafür braucht es halt ein bisschen Grips. Ah! Wir sind da!«
Der enge Tunnel weitete sich zu einem etwas größeren Raum. Die Decke war immer noch schrecklich niedrig, doch wenigstens musste Peter nicht mehr befürchten, von den Wänden zerquetscht zu werden.
Justus stellte die Grubenlampe auf den Boden. »Das ist der Raum, von dem ich gelesen habe. Hier müssen die Inschriften zu finden sein.«
»Da!« Bob zeigte auf einige in den Felsen geritzte Buchstaben.
Sie gingen näher heran. Peter legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. »Gabriel liebt Susan«, las er vor. »Jonathan war hier. Klasse 9 auf Geheimexpedition. AC/DC rulez. Wer das liest, ist doof. Sag mal, willst du uns auf den Arm nehmen, Just?«
Justus war die Bestürzung anzumerken. Suchend blickte er sich um, aber diese Schülerkritzeleien waren die einzigen Inschriften an den Wänden. »Ich verstehe das nicht …«, murmelte er. »Dies ist der richtige Raum, da bin ich ganz sicher.«
»Ich verstehe das sehr wohl«, knurrte Peter. »Da hat sich jemand einen Scherz erlaubt! Rätselhafte Inschriften von den Croft-Brüdern, pah! Wo hast du das denn gelesen? Auf Du-glaubst-auch-jeden-Mist.com? Oder war es in der Zeitschrift 1000 blöde Ideen für den gelangweilten Hobbydetektiv?«
»Ich … ich dachte wirklich …«
»Ja, schon klar. Du dachtest, du findest einen Schatz. Du hast Bob und mich hierher gezerrt, obwohl wir beide andere Pläne hatten! Und wofür? Für Wer das liest, ist doof! Ganz toll, Justus. Ich gehe jetzt!«
Peter schnappte sich die Lampe und trat so abrupt den Rückzug an, dass er sich prompt den Kopf an einem Stützbalken stieß. »Aua, verdammt noch mal!« Wütend stapfte er weiter. Bob und Justus konnten kaum mithalten.
Peter erwartete, sich der Beleuchtung des markierten Weges, den sie verlassen hatten, zu nähern. Umso überraschender war es, als der Gang plötzlich zu Ende war und sie wieder auf der Besucherroute standen – allerdings im Dunkeln!
»Hier brannte doch vorhin noch Licht«, bemerkte Bob.
»Ja«, brummte Peter. »Und jetzt ist es ausgeschaltet.«
In diesem Moment erstarb die kleine Flamme der Grubenlampe. Dunkelheit umfing sie. »Na, großartig. Das Öl ist alle. Und die Gangbeleuchtung ist aus, weil die Besuchergruppe die Mine inzwischen verlassen hat.« Peter kramte einen kleinen Laserpointer hervor, der an seinem Schlüsselbund hing, und schaltete ihn ein. Doch der winzige rote Punkt erhellte die Umgebung kein bisschen. Peter ließ ihn trotzdem über die Wände tanzen. »Es war übrigens die letzte Besichtigung für heute«, fuhr er genervt fort. »Der Letzte macht das Licht aus. Großartig, Justus! Jetzt stecken wir in dieser Mine fest. In einer Quecksilbermine auch noch! Weißt du, wie gesundheitsschädlich das ist!?«
»Du sollst ja keine Woche hier unten bleiben«, gab Justus gereizt zurück. »Und apropos gesundheitsschädlich: Ich wäre dir verbunden, wenn du deinen Laser ausschaltetest. Davon kann man blind werden, wenn das Auge getroffen wird.«
Peter ließ den roten Punkt provozierend über Justus’ Bauch hüpfen. »Wir werden wochenlang hier unten bleiben, Just. Es war nämlich die letzte Führung für länger. Wegen Urlaub. Stand im Internet, als ich die Karten besorgt habe. Super!«
»Lass dich in der Beurteilung herausfordernder Situationen doch nicht ständig von deinen Gefühlen leiten, Peter. Wir kommen hier schon raus!«
»Jetzt beruhigt euch doch mal«, sagte Bob, doch niemand beachtete ihn.
»Ich wollte gar nicht erst rein!«, erwiderte Peter.
»Warum bist du dann mitgekommen?«
»Weil du die ganze Zeit gequengelt hast!«
»Quengeln liegt nicht in meiner Natur. Ich habe dich lediglich darauf hingewiesen, dass ein ungelöstes Rätsel in einer Mine der interessantere Zeitvertreib für einen Sonntagnachmittag sein könnte, als sich stundenlang gefährlicher UV-Strahlung am Strand auszusetzen. Und in puncto gefährliche Strahlung: dein Laserpointer …«
»Wir haben aber kein ungelöstes Rätsel, Justus! Außer vielleicht das Rätsel, wie wir hier wieder rauskommen sollen.«
»Sieh es als intellektuelle Herausforderung. Kann dir nicht schaden. Du solltest dankbar sein, dass du Teil dieser detektivischen Exkursionen sein darfst, Peter.«
»Dankbar!?« Peter lachte auf. »Du kannst meinetwegen wochenlang durch irgendwelche Minen kriechen, aber lass mich gefälligst aus dem Spiel!«
»Niemand hat dich gezwungen, mitzukommen«, sagte Justus beleidigt.
»Du bist mir stundenlang auf die Nerven gegangen!«, rief Peter wütend. »Und ich habe dir einen Gefallen getan! Weißt du, was du jetzt tun könntest? Du könntest deinen Fehler einsehen und zugeben, dass dieser Besuch eine bescheuerte Idee war. Aber darauf kann man bei dir ja lange warten.«
Justus schluckte und Peter glaubte schon, er werde sich wirklich entschuldigen. Stattdessen sagte der Erste Detektiv: »Ich sehe nicht, wo ich einen Fehler gemacht haben soll. Ich hätte vielleicht eine gewissenhaftere Überprüfung meiner Informationsquellen vornehmen sollen, aber sonst …«
»Weißt du was, Just, du kannst mich mal!« Peter schwenkte den Laserpunkt absichtlich über das Gesicht des Ersten Detektivs. Er wusste, wie kindisch das war und dass er damit zu weit ging, aber das war ihm egal.
»Das ist gefährlich, du Idiot!« Justus schlug nach Peters Hand.
»Habt ihr’s jetzt bald mal?«, ging Bob wütend dazwischen. »Ihr könnt euch später noch prügeln, wenn ihr wollt. Jetzt sollten wir zusehen, dass wir hier rauskommen!« Der dritte Detektiv schaltete seine Handytaschenlampe ein. »So, und jetzt mir nach!«
Da der Weg markiert und befestigt war, hatten sie den Ausgang schnell erreicht. Allerdings war die massive Stahltür verschlossen. Sie rüttelten daran, zunächst vorsichtig, dann mit aller Kraft. Auf ihr Rufen und Hämmern reagierte niemand. Und ein Schloss, an dem Peter sich mit seinem Dietrichset hätte ausprobieren können, gab es nicht. Die Tür war von außen mit einem Vorhängeschloss verriegelt.
»Verflixt!«, presste Peter hervor. »Wir müssen den Typ anrufen, der die Führung gemacht hat, diesen Timothy, damit der uns hier rausholt. Der wird ja wohl hoffentlich noch in seinem Kassenhäuschen sitzen.«
»Vergiss es, Peter.« Bob hielt sein Handy hoch. »Den Gedanken hatte ich auch schon. Kein Empfang hier unten.«
Peter warf dem Ersten Detektiv einen vernichtenden Blick zu. »Und jetzt?«
»Suchen wir einen anderen Ausgang«, sagte Justus entschlossen. »Timothy erzählte etwas von einem alten Förderkorb. Vielleicht geht es da nach draußen.«
»Und wie sollen wir den finden?«
»Indem wir dem markierten Weg folgen, Peter. Wenn der Förderkorb nicht Teil der Besichtigungstour wäre, hätte Timothy davon auch nichts erzählt. Also los!«
Mit den Markierungen am Rand des Stollens war es tatsächlich kein Problem, sich durch die Mine zu bewegen. Schon bald schimmerte vor ihnen Tageslicht durch den Tunnel!
»Geschafft«, sagte Justus, und tatsächlich: Der Stollen führte in einen Raum mit einem alten, verrosteten Förderkorb. Durch den Schacht fiel von oben ein wenig Licht.
Die Personenkabine war nicht mehr als ein Drahtkäfig ohne Tür und machte einen so verrotteten Eindruck, dass sie alle drei nicht sicher waren, ob sie überhaupt noch funktionieren konnte. Das betraf auch die Steuereinheit im Innern der Kabine.
»Außer Betrieb«, sagte Bob und wies auf ein Schild, das quer vor dem Förderkorb an einer Kette baumelte.
Justus hängte die Kette aus und drückte auf ein paar Knöpfe. Nichts tat sich.
»Hier ist noch eine Steuereinheit«, bemerkte Bob und hob einen backsteingroßen Klotz vom Boden auf, auf dem es drei Knöpfe gab: Rauf, Runter und Licht. Bob probierte alle aus. Ohne Erfolg.
»Das Ding ist gar nicht angeschlossen«, stellte Justus fest und wies auf ein paar lose Kabel auf dem Boden. »Wartet, das haben wir gleich!«
Zum Glück ließ sich die Steuereinheit auch ohne Werkzeug öffnen. Die Kabel konnte man mit einfachen Klemmen befestigen. »So, jetzt müsste es funktionieren! Stellt euch schon mal in den Förderkorb!«
»Das klappt doch nie«, knurrte Peter.
»Zweiter, deine ewige Nörgelei ist wenig zielführend!«, sagte Justus genervt.
»›Wenig zielführend‹«, äffte Peter den Ersten Detektiv nach, stellte sich dann aber zusammen mit Bob in die Kabine.
»Los geht’s!«, rief Justus und drückte auf den ›Rauf‹-Knopf. Nichts passierte.
»Habe ich doch gesagt«, triumphierte Peter.
»Ich muss die Kabel falsch angeschlossen haben«, sagte Justus. »Nicht weiter schlimm.« Er drückte auf ›Runter‹. Das Licht in der Kabine ging an. »Aha, es funktioniert also. Grundsätzlich, meine ich. Dann gibt es ja nur noch eine Möglichkeit!« Er drückte auf ›Licht‹.
Quietschend und rumpelnd setzte sich die Kabine in Bewegung und fuhr langsam nach oben.
»Es klappt!«, rief Bob. »Halt an, damit du mitfahren kannst!«
Doch die Kabine ließ sich nicht stoppen. Justus drückte auf alle Tasten, aber der ›Licht‹-Knopf, der den Förderkorb in Bewegung gesetzt hatte, klemmte. »Mist!«
»Los, Just, spring rein!«, rief Bob und streckte ihm eine Hand entgegen.
Justus ließ die Steuereinheit fallen und sprang. Mit der Rechten bekam er Peters Hand zu fassen, mit der Linken Bobs. Gemeinsam zogen sie ihn hoch. Keine Sekunde zu früh. Schon verschwand die Kabine in ihrem Felsenschacht. Doch da schrammte die scharfkantige Felswand an Justus’ rechtem Unterschenkel entlang! Seine Jeans riss mit einem hässlichen Ratschen und Justus schrie auf, als der raue Stein seine Haut abschürfte.
»Just!«, rief Bob erschrocken.
»Nichts passiert«, keuchte Justus.
Etwa fünfzehn Meter ging es nach oben. Dann spuckte der Schacht sie so unvermittelt aus, dass alle drei die Augen vor dem grellen Sonnenlicht zusammenkneifen mussten.
Als Peter sie wieder öffnete, sah er, dass sie sich oberhalb der alten Minengebäude auf der Spitze eines kleinen Hügels befanden. Um sie herum war nur braune Wüste, in der Ferne die kleine Stadt Dalton. Peter war noch damit beschäftigt, die Tränen wegzublinzeln, als ein Mann den Hügel herauf auf sie zulief. Peter erkannte Timothy wieder.
»Seid ihr von allen guten Geistern verlassen!?«, brüllte er schon aus der Ferne. Er war außer sich vor Wut. »Was macht ihr denn da! Wie habt ihr den Korb in Gang gekriegt?«
»Da waren ein paar Kabel lose und …«
»Die waren nicht ohne Grund lose! Wisst ihr, wie gefährlich das olle Ding ist? Es kann jederzeit stecken bleiben! Es hat nicht mal eine Tür!«
»Wir waren da unten eingesperrt, Sir«, sagte Justus so ruhig wie möglich. »Es gab keinen anderen Weg hinaus außer …«
»Eingesperrt!? Das soll wohl ein Witz sein!« Inzwischen stand Timothy vor ihnen und zerrte die drei aus dem Förderkorb. »Ihr habt euch einsperren lassen! Lasst mich raten: Ihr dachtet, ihr findet die Beute der Croft-Brüder! Wie dämlich kann man eigentlich sein! Glaubt ihr ernsthaft, da unten wäre noch irgendwas? Nach neunzig Jahren!? Es ist doch immer das Gleiche mit euch Rotzgören! Ich bin es langsam leid! Eure Namen und die Telefonnummern eurer Eltern, sofort! Ich bin gespannt, was die dazu zu sagen haben!«
Montag, 15. September
»Was heute noch aus der Zeit der spanischen Siedler des neunzehnten Jahrhunderts in Kalifornien existiert, nämlich in erster Linie die Missionsstationen und einige Festungen, finden wir entlang dem alten Königsweg. Man nennt ihn auch Camino Real.«
Mr Rochester schrieb den Begriff an die Tafel.
Das war der Moment, in dem Peter sich gedanklich vom Unterricht verabschiedete. Er hatte es geschafft, drei Minuten lang zuzuhören. Immerhin.
Aber jetzt war er innerlich beim gestrigen Tag. Bei dieser hirnrissigen Expedition in die Quecksilbermine, seinem Streit mit Justus und dem Ärger, den er zu Hause bekommen hatte. Timothy hatte Ernst gemacht und tatsächlich bei seinen Eltern angerufen. Das hatte ein Donnerwetter gegeben! Eine halbe Stunde lang hatten Peters Eltern ihm wegen seines leichtsinnigen, verantwortungslosen Verhaltens Vorwürfe gemacht und mit drastischen Strafen gedroht – Surfverbot, Basketballverbot, Detektivverbot.
Am Ende war es bei Drohungen geblieben. Trotzdem würde sich Peter den Ersten Detektiv noch mal vorknöpfen. Dieser ganze Ärger für nichts und wieder nichts. Justus konnte was erleben!
Justus – wo war der überhaupt? Er hatte den Ersten Detektiv den ganzen Vormittag noch nicht gesehen. Vielleicht war er ihm aus dem Weg gegangen, weil er ahnte, dass Peter ihm die Meinung geigen wollte. Der Zweite Detektiv nahm sich vor, ihn in der nächsten Pause zu suchen. Sein Blick wanderte zur Uhr über der Klassenzimmertür. Erst zwölf Minuten der Schulstunde waren um.
Gedankenverloren begann er, mit seinem Laserpointer zu spielen und den roten Punkt über die Tischplatte wandern zu lassen. Er musste aufpassen, dass Mr Rochester das nicht sah und ihm sein Spielzeug abnahm.
»Peter, du scheinst dich zu langweilen.« Verdammt! Zu spät. Doch Rochester hatte es nicht auf seinen Laserpointer abgesehen. »Wie wäre es, wenn du uns erzählst, welche Festungsanlagen es in Kalifornien gab?«
»Welche Festungsanlagen … äh …«
»Santa Clarita«, flüsterte sein Sitznachbar Jeffrey ihm zu.
»Santa Clarita«, sagte Peter laut.
Mr Rochester bedachte Jeffrey mit einem bösen Blick. »Danke, Jeffrey. Also, Peter, meinst du die Stadt Santa Clarita oder die Insel Santa Clarita?«
»Die … äh … ich meine die …«
Rochester verdrehte die Augen. »Wenn du zugehört hättest, wüsstest du, dass ich vorhin von Piratenstützpunkten sprach. Das bedeutet also …? Na?«
»Das bedeutet …«
Es klopfte. Ohne ein »Herein« abzuwarten, streckte Mrs Meyers aus dem Sekretariat den Kopf durch die Tür. »Verzeihung, Mr Rochester, ist Peter Shaw bei Ihnen?«
»Er stammelt sich gerade um Kopf und Kragen.«
»Der Direktor möchte ihn sehen.«
»Oh.« Mr Rochester wandte sich an Peter. »Da hat wohl jemand ein noch größeres Problem als spanische Festungsanlagen, wie?«
Ein paar von Peters Mitschülern kicherten.
Der Zweite Detektiv konnte sich nicht vorstellen, warum der Direktor ihn sehen wollte. Er hatte nichts ausgefressen. Aber worum es auch ging – es rettete ihn vor Mr Rochester.
Mit gespieltem Bedauern zuckte Peter die Schultern und ging an seinem Lehrer vorbei aus dem Klassenraum. Zu seiner Überraschung wartete auf dem Flur nicht nur Mrs Meyers auf ihn.
»Bob! Was machst du denn hier? Musst du etwa auch zum Direktor?«
Bob nickte. »Weißt du, worum es geht?«
»Das werdet ihr gleich erfahren«, sagte die Sekretärin ungeduldig und marschierte voraus. Mrs Meyers führte sie ins Büro des Direktors. Hinter seinem großen Schreibtisch saß Mr Amos und blickte ihnen besorgt entgegen. Er war nicht allein.
»Mrs Jonas! Was machen Sie denn hier?«
Mathilda Jonas, Justus’ Tante, sprang von ihrem Stuhl auf. Sie war blass und hatte einen fiebrigen Ausdruck in den Augen, der Peter Angst einjagte.
»Wo ist er?«, fragte sie, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. Ihr Blick wanderte unstet von einem zum anderen. »Ihr wisst es doch, oder?«
Peter blinzelte. »Was wissen wir?«
»Wo Justus ist! Ihr müsst es wissen!«
»Na, in seinem Kurs, nehme ich an«, sagte Peter verunsichert. »Ich weiß nicht, was er gerade hat. Chemie?«
»Englisch«, sagte Mr Amos. »Euer Freund Justus hat Englisch bei Mrs Wilson, aber er ist nicht im Unterricht aufgetaucht.«
»Er kam heute Morgen nicht zum Frühstück«, fuhr Mrs Jonas fort. »Also ging ich in sein Zimmer. Aber er war nicht da. Und in eurem Clubraum auch nicht. Sein Bett war gemacht, er hat gar nicht drin geschlafen!«
Peter hatte Justus’ Tante noch nie so erlebt. Sie konnte aufbrausend sein, ja, aber verzweifelt? Hilfe suchend wandte er sich an Bob, doch der zuckte nur mit den Schultern.
»Wo ist er?«, fragte Tante Mathilda.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Peter.
»Das gibt’s doch nicht!« Mathilda Jonas schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass Direktor Amos zusammenzuckte. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und baute sich vor Peter auf. Sie war einen Kopf kleiner als er, trotzdem wich Peter unwillkürlich ein Stück zurück. »Natürlich weißt du, wo er steckt!«
»W… was? Aber nein!«
Ruckartig wandte sie sich an Bob, mit dem sie auf Augenhöhe war. »Raus damit! Ihr wart doch gestern noch zusammen unterwegs! Habt irgendwelchen Unsinn getrieben. Ihr steckt doch schon wieder im Schlamassel, wie üblich! Wo wart ihr drei letzte Nacht?«
»Zu Hause!«, rief Bob. »Peter und ich zumindest. Keine Ahnung, was Justus getrieben hat.«
»Wirklich, Mrs Jonas. Wir wissen nichts. Wir wussten ja bis gerade eben nicht einmal, dass Justus verschwunden ist!«
Tante Mathilda brach in Tränen aus. Mit zitternden Fingern zog sie ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich lautstark.
Direktor Amos war so überfordert mit der weinenden Mrs Jonas in seinem Büro, dass er Bob und Peter bat, sie nach Hause zu begleiten. Er beurlaubte die beiden für den restlichen Tag. Zum Abschied gab er sich zuversichtlich, dass Justus bald wieder auftauchte. »Er ist schließlich der beste Schüler in seinem Jahrgang. Ach, was sage ich – in allen Jahrgängen!«
Was das mit seinem Verschwinden zu tun haben sollte, erschloss sich Peter und Bob zwar nicht, aber sie nickten einfach und begleiteten Tante Mathilda hinaus.
Draußen strahlte die Sonne vom blauen Himmel auf die endlosen Fahrradreihen vor dem Schulgebäude.
»Nun erzählen Sie noch mal ganz von vorne«, bat Bob. »Seit wann ist Justus verschwunden?«
»Seit gestern Abend. Oder heute Morgen. Ich weiß es doch nicht!« Mathilda Jonas war aufgebracht. Ihre Tränen waren zum Glück schon halb getrocknet. »Es fing damit an, dass dieser Herr aus der Mine angerufen und sich bitterlich über euch drei beschwert hat. Was ist da schon wieder passiert?«
»Gar nichts«, beteuerte Bob.
»Gar nichts!? Hör auf, mich für dumm zu verkaufen, Bob Andrews! Als Justus nach Hause kam, hat er geblutet! Ich musste sein Bein verbinden!«
»Das mit der Mine war ein … ein Missgeschick«, versuchte Peter die Lage zu erläutern. »Aber es erklärt nicht, warum Justus verschwunden sein sollte. Wir haben gerade gar keinen Fall in Arbeit und …«
»Aha!«, unterbrach Mathilda Jonas den Zweiten Detektiv und stach ihm mit dem Zeigefinger in die Brust. »Es hat also wieder etwas mit eurem Detektivspiel zu tun!«
»Aber nein!«, verteidigte sich Peter. »Ich sagte doch gerade, dass wir momentan keinen Fall …«
»Es ist doch immer das Gleiche!«, beharrte Tante Mathilda. »Eure Schnüffelei hat euch schon mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht! Ach, was rede ich! Dutzende Male! Dutzende Male, von denen ich weiß!«
Justus’ Tante wusste tatsächlich viele Dinge nicht. Und das war auch besser so. »Was ist denn passiert, nachdem Justus zurückkam?«, fragte Peter schnell.
»Ich habe ihn mir zur Brust genommen. Wir haben uns gestritten.« Sie schluckte schwer. »Dann hat er sich in euren Clubraum verzogen, ohne mit uns zu Abend zu essen.«
Der »Clubraum«, wie Tante Mathilda ihn nannte, war die Detektivzentrale der drei ???, die sie in einem alten Campinganhänger auf dem Schrottplatz von Justus’ Onkel eingerichtet hatten. Justus war, genau wie Peter und Bob, eigentlich ständig dort, wenn es nicht gerade etwas anderes zu tun gab.
»Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich dachte, er sei einfach nach uns ins Bett gegangen. Aber er ist anscheinend überhaupt nicht ins Bett gegangen!«
»Mit unserer Detektivarbeit kann es nichts zu tun haben«, sagte Bob. »Die Sache mit der Mine war nur ein Ausflug, der ein bisschen aus dem Ruder gelaufen ist. Justus wollte dort zwar unseren nächsten Fall finden – hat er aber nicht.«
»Sagst du wirklich die Wahrheit, Bob Andrews?« Sie blickte ihm prüfend in die Augen. Der dritte Detektiv nickte.
»Peter Shaw?«
»Wir wissen nichts, Mrs Jonas. Wirklich nicht.«
»Aber wo ist er dann? Wo ist Justus??«
Eine halbe Stunde später erreichten sie das Gebrauchtwarencenter T. Jonas. Mathilda Jonas hatte sich von ihrem Mann zur Schule bringen lassen, doch der war gleich wieder umgekehrt, damit jemand auf dem Schrottplatz war. Bob und Peter hatten Justus’ Tante daher, die Fahrräder schiebend, zu Fuß nach Hause begleitet.
Titus Jonas, ein kleiner, drahtiger Mann mit großem Schnauzbart, stürzte sofort aus dem Bürohäuschen, als sie durch das Tor traten. »Und?«
Tante Mathilda schüttelte den Kopf. »Er ist nicht in der Schule. Und Bob und Peter wissen auch nichts.«
»Wirklich nicht?«, fragte Titus Jonas forsch und hob eine Augenbraue.
»Nein.«
Onkel Titus ließ die Schultern hängen. »Wo kann der Junge nur stecken?«
»Es ist etwas passiert!«, war Tante Mathilda überzeugt und ihre Lippen bebten leicht. »Das habe ich im Gefühl. Und wir haben uns so gestritten! Wenn ihm nun etwas zugestoßen ist … Ich würde mir das nie verzeihen!« Erneut traten Tränen in ihre Augen.
»Haben Sie denn schon versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen?«, fragte Bob.
»Natürlich habe ich das! Es geht nur die Mailbox dran. Schon seit Stunden.«
»Vielleicht, wenn wir es mal probieren«, überlegte Bob und zog sein Telefon aus der Tasche. Er wählte Justus’ Nummer. Doch nach einer halben Minute sprang auch bei ihm der Anrufbeantworter an.
»Hi Erster, hier ist Bob. Wo steckst du? Wir machen uns alle Sorgen. Deine Tante ist …«
»Stinksauer!«, rief Tante Mathilda. »Es reicht. Ich rufe die Polizei!«
»Äh … ja. Ruf uns an!« Bob legte auf.
»Findest du das nicht etwas voreilig, Mathilda?«, fragte Onkel Titus und legte ihr die Hand auf den Arm.
Bob räusperte sich. »Die Polizei wird jetzt noch nichts unternehmen. Wenn ich das richtig im Kopf habe, muss eine erwachsene Person mindestens vierundzwanzig Stunden vermisst sein, bevor etwas passiert.«
»Justus ist keine erwachsene Person!«, sagte Tante Mathilda entschieden. »Die Polizei muss ihn suchen! Womöglich liegt der Junge irgendwo tot unter der Brücke!«
Während Bob sich noch fragte, wie sie ausgerechnet auf eine Brücke kam, marschierte Mathilda Jonas durch die Tür und griff nach dem Telefonhörer.
»Und ihr wisst wirklich nichts?«, fragte Onkel Titus, diesmal mit gesenkter Stimme. »Ich würde es ja verstehen, wenn ihr meine Frau nicht beunruhigen wollt, aber mir könnt ihr es ruhig sagen.«
»Wir wissen wirklich nichts.« Peter war verärgert.
»Haben Sie denn schon in der Zentrale nachgesehen?«, fragte Bob. »Vielleicht hat Justus eine Nachricht hinterlassen.«
»Natürlich. Aber da war nichts, nur eine ziemliche Unordnung.«
»Hm, vielleicht finden wir in dieser Unordnung irgendwelche Spuren«, überlegte Bob.
»Ja, ja«, stimmte Titus Jonas zu, während er einen besorgten Blick durch das fleckige Fenster ins Bürohäuschen warf, wo seine Frau den Telefonhörer so fest umkrampft hielt, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden.
Bob und Peter gingen zum hinteren Teil des Schrottplatzes, wo sich ein riesiger Berg Altmetall auftürmte. Sie blieben vor einem alten verbeulten Kühlschrank stehen, der am Rande des Schrottbergs stand, und öffneten die Tür. Die Rückwand des Kühlschranks ließ sich aufklappen. Dahinter befand sich die Tür zur Zentrale.
Auf den ersten Blick war beinahe alles wie immer: der große Schreibtisch mit dem Computer. Daneben das gemütliche Sofa und die Sessel, die die Jungen irgendwann vom Schrottplatz stibitzt hatten. In einer Ecke befand sich eine kleine Campingküche, in der aber nie gekocht wurde, höchstens mal etwas aufgewärmt. Außerdem gab es ein großes Bücherregal voller Nachschlagewerke. An die Wände waren Zeitungsausschnitte gepinnt, in denen von Fällen der drei ??? berichtet wurde. Dazwischen hing eine große Karte von Los Angeles.
Ordentlich war es hier nie. Doch die Unordnung, von der Onkel Titus gesprochen hatte, bezog sich vermutlich auf eine Reihe roter Aktenordner, die verstreut auf dem Schreibtisch und dem Fußboden lagen. Peter deutete darauf. »Was hat es denn damit auf sich?«
Bob las die Beschriftung. »Die Akten unserer allerersten Fälle. Aus dem ersten Jahr unseres Detektivunternehmens. Warum hat Justus die hervorgekramt?« Er nahm einen Ordner zur Hand. Darunter entdeckte er Justus’ Handy. »Kein Wunder, dass er nicht rangeht.«
»Das ist kein gutes Zeichen, Bob. Niemand lässt freiwillig sein Handy liegen.«
Zum Glück hatte Bob den Ersten Detektiv oft genug dabei beobachtet, wie er es entsperrte. Er prüfte die Nachrichten. Außer sieben Anrufen von Tante Mathilda und seinem eigenen war jedoch nichts eingegangen. Justus hatte auch selbst nicht telefoniert. Frustriert legte Bob das Handy zurück auf den Schreibtisch. Er stutzte. »Sieh mal, Peter!«
Peter runzelte die Stirn. »Was soll ich sehen?«
»Na, da! Die zwei Wassergläser. Zwei!«
»Das eine Glas kann auch von einem von uns stammen.«
»Kann es nicht. Ich benutze immer das Magic-Mountain-Glas. Nie das da. Und du trinkst dauernd aus der Flasche.«
»Das stimmt. Aber dann hat Justus halt zwei benutzt.«
»Dafür ist er viel zu faul. Er benutzt in der Regel tagelang ein und dasselbe, bis es so fleckig geworden ist, dass es eklig wird. Dann spült er es kurz aus und benutzt es weiter.« Bob zeigte erneut auf die beiden Gläser. »Das linke ist kurz vorm Ekelzustand. Das rechte wurde vielleicht nur einmal benutzt. Justus hatte Besuch.«
Peter schnüffelte daran. »Besuch, der Cola getrunken hat.«
Er sah Bob an. Gleichzeitig sagten sie: »Fingerabdrücke.«
Peter ging nach nebenan in ihr kleines Kriminallabor und kam mit der Fingerabdruckausrüstung zurück. Routiniert stellte er die Abdrücke auf dem kaum benutzten Glas sicher und verglich sie mit ihren eigenen. »Von einem von uns stammen die schon mal nicht. Aber von wem dann?«
Bob wusste es natürlich nicht. Aber er sah die Zentrale plötzlich mit anderen Augen. Vielleicht waren hier noch mehr Hinweise, die sie nur noch nicht als solche erkannt hatten. Gab es verräterischen Schmutz auf dem Boden? Oder steckte etwas in den Sesselritzen, das dem unbekannten Besucher aus der Tasche gerutscht war?
»Da!« Peter zeigte auf die rechte vordere Ecke der papiernen Schreibtischunterlage. In das Papier war mit einem spitzen Gegenstand ein Wort eingeritzt worden.
Der Zweite Detektiv schlug erschrocken die Hand vor den Mund. In krakeligen Buchstaben stand dort:
HILFE!
»Um Himmels willen«, murmelte Bob. »Hat Justus das da reingeritzt?«
»Wer denn sonst?«
»Ja, aber …«
Es klopfte an der Tür. Mathilda und Titus Jonas traten ein. Bob stellte schnell das Colaglas auf den eingeritzten Schriftzug.
»Und, habt ihr was gefunden?«, fragte Onkel Titus.
»Wir, äh …«
»Nein«, sagte Bob schnell. »Das heißt, doch. Justus’ Handy. Kein Wunder, dass wir ihn nicht erreichen. Was hat denn die Polizei gesagt?«
»Die wollen nichts unternehmen«, sagte Tante Mathilda wütend und ahmte den Tonfall des Polizisten nach: »›Jugendliche tauchen in der Regel innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder auf.‹ So ein Unsinn! Als ob Justus ein Ausreißer wäre oder schwer erziehbar oder so etwas!«
»Haben Sie denn nicht mit Inspektor Cotta gesprochen?«, wollte Peter wissen. Inspektor Cotta war ihr Vertrauter bei der Polizei von Rocky Beach.
»Angeblich war er unterwegs. Pah!«
»Mrs Jonas, könnte es sein, dass Justus gestern Abend Besuch hatte?«, fragte Bob.
»Besuch? Nein, nicht dass ich wüsste.« Doch dann schlug sie plötzlich erschrocken die Hände vor den Mund. »Ihr meint, sein Entführer war bei ihm?«
»Sein Entführer?« Titus Jonas sah seine Frau skeptisch an. »Wie kommst du denn jetzt auf Entführung?«
»Na, glaubst du etwa, er wäre freiwillig verschwunden?«, fuhr sie ihn an. Doch gleich darauf entschuldigte sie sich. »Verzeih mir, Titus … Ich wusste, dass das eines Tages ein böses Ende nehmen würde mit dieser Detektivspielerei!«
»Beruhige dich, Mathilda. Noch hat gar nichts ein böses Ende genommen. Vielleicht gibt es eine ganz harmlose Erklärung für all das.«
»Meinst du wirklich?«
Bob wandte den Kopf, damit Mathilda Jonas nicht den Zweifel in seinem Gesicht sehen konnte. Sein Blick fiel auf das Colaglas und die darunter ins Papier geritzte Botschaft.
Hilfe.
Auch Bob hatte das nagende Gefühl, dass Justus in etwas Bedrohliches hineingeraten war. Die Vorstellung, dass er und Peter nun allein ermitteln mussten, versetzte den dritten Detektiv in leichte Panik. Er wusste gar nicht, wo sie anfangen sollten. Justus hätte sofort eine Million Ideen gehabt. Bob war ratlos.
»Ein Fall für die zwei ??«, murmelte er.
»Wie gehen wir vor?«, fragte Peter, nachdem das Ehepaar Jonas die Zentrale verlassen hatte.
Bob schüttelte den Kopf. »Wenn ich das wüsste.«
»Komm schon, Bob, wir sind lange genug Detektive. Wir müssen einfach logisch rangehen! Meine Güte, dass ich das mal sagen würde …«
Doch zum Glück sprang Bob darauf an. »Du hast ja recht. Gehen wir logisch vor. Erstens: Hat Justus’ Verschwinden etwas mit unserem Abenteuer in der Mine zu tun?«
»Ich wüsste nicht, wie.«
»Was hat es mit den Akten auf sich?«
»Keine Ahnung, aber darin steht auf jeden Fall auch nichts über die Mine. Nur deine Berichte über unsere alten Fälle. Justus hat sie herausgesucht, weil … weil er Besuch hatte. Cola trinkenden Besuch. Und dann … äh … hat er sein Handy liegen lassen. Bevor er … entführt wurde?« Peter war frustriert. »Verdammt, Bob, ich kann das nicht! Logisch sein, meine ich. Ich weiß nicht, wie das geht.«
»Uns fehlen Informationen«, war Bob überzeugt. »Wir müssen herausfinden, was Justus gestern getrieben hat, nachdem wir aus Dalton zurück waren. Am Computer zum Beispiel.«
»Und am Telefon!«
Sie machten sich an die Arbeit. Peter brachte schnell in Erfahrung, dass in den letzten drei Tagen vom Anschluss in der Zentrale aus gar nicht telefoniert worden war. Es waren auch keine Anrufe eingegangen.
Währenddessen überprüfte Bob die E-Mails. Nichts. Dann ließ er sich anzeigen, welche Internetseiten zuletzt aufgerufen worden waren. Am Sonntagmittag waren es Seiten über die Croft-Brüder und die Quecksilbermine gewesen. Nach seiner Rückkehr aus Dalton hatte Justus nach der Adresse eines Motels gesucht. Sonst nichts.
»Seven Pines Motel«, murmelte Bob. »Gestern Abend um neun Uhr vierzig hat Justus diese Adresse nachgeschlagen. Ob das was mit seinem Verschwinden zu tun hat?«
»Du meinst, er ist in ein Motel gefahren? Aber warum? Seven Pines Motel in Hollywood … Mir sagt das nichts. Dir?«
Bob schüttelte den Kopf. »Ob er wirklich dahin gefahren ist? Mit dem Pick-up seines Onkels jedenfalls schon mal nicht. Auch nicht mit dem Fahrrad, das lehnt draußen am Zaun.«
»Sein Motorrad!«, rief Peter. »Warte, das haben wir gleich!«
Der Zweite Detektiv stürmte aus der Zentrale und über den Schrottplatz auf die Straße. Ganz in der Nähe begann der Fußweg zum Aussichtspunkt auf dem Coldwell Hill. Kurz davor befand sich ein seit Jahren verlassenes Grundstück, auf dem die Überreste eines abgerissenen Hauses standen. Der Schuppen hinter dem Schuttberg war jedoch noch intakt. Hier versteckte Justus ein Motorrad, das er gebraucht gekauft hatte. Tante Mathilda wusste nichts davon, denn sie hatte ihm das Motorrad verboten, solange er nicht volljährig war. Peter riss die Tür zum Schuppen auf.
Das Motorrad war weg. Stattdessen lag in der Ecke ein großer Haufen alter Kleider. So sah es zumindest aus. Doch plötzlich bewegte sich der Haufen! Peter trat erschrocken einen Schritt zurück, als sich ein unrasiertes Gesicht, umrahmt von struppigem Haar, aus dem Kleiderhaufen erhob und den Zweiten Detektiv anblinzelte. »Was machst du denn hier?«
»Rubbish George!«, keuchte Peter erleichtert, als er den Stadtstreicher erkannte. »Was liegst du denn hier herum?«
»Kleines Mittagsschläfchen.«
»Was ist mit deinem Hausboot?«, fragte der Zweite Detektiv.
Rubbish George winkte gähnend ab. »Lange Geschichte.«
Doch für lange Geschichten war keine Zeit. »Sag mal, hast du Justus gesehen?«
Rubbish George richtete sich langsam auf und kratzte sich am Kopf. »Hm … habe ich Justus gesehen? Lass mich mal überlegen … hmmmm …«
»Oh, bitte, nicht schon wieder die Nummer!«, beschwerte sich Peter. »Du kriegst kein Geld von mir! Justus ist verschwunden, es ist ein Notfall! Du musst es mir auch so sagen!«
Doch Rubbish George blieb die Ruhe in Person. »Vorsicht, Peter, ich neige dazu, wichtige Informationen zu vergessen, wenn ich irgendwas muss.«
Der Zweite Detektiv stöhnte entnervt auf, zog dann aber einen zerknitterten Dollarschein aus der Hosentasche und reichte ihn dem Stadtstreicher. »Also, hast du ihn gesehen?«
»Heute noch nicht. Aber letzte Nacht.«
»Tatsächlich!? Wann?«
Rubbish George blickte auf sein Handgelenk, an dem sich keine Armbanduhr befand. »Zu dumm, ich habe meine Rolex gerade verlegt. Tja, wann mag das gewesen sein? Lass mich überlegen …« Er verstummte.
Peter gab ihm einen weiteren Dollar.
»Es war nicht mehr ganz früh. Aber auch noch nicht ganz spät. Euer Premiumdetektiv stürzte in mein neues Domizil und erschreckte mich zu Tode. Aber noch bevor ich mich beschweren konnte, hatte er sich schon seine alte Knatterkiste gekrallt und war wieder draußen.«
»Er hat sich das Motorrad genommen? Und nichts gesagt?«
»Ich weiß nicht, ob er mich überhaupt bemerkt hat. Zu behaupten, er sei in Eile gewesen, wäre eine Untertreibung.«
»War er auf der Flucht? Hat jemand ihn verfolgt? Wo ist er denn hingefahren?«
Rubbish George blinzelte langsam und schwieg.
»Übertreib’s nicht, Rubbish!«, warnte Peter, der mit seiner Geduld langsam am Ende war.
Rubbish George nickte einsichtig. »Na schön. Ich habe absolut kein Ahnung, lieber Peter. Denn es hat mich nicht im Mindesten interessiert. Er kam rein, nahm sein Motorrad und war wieder draußen. Wie aufgekratzte Jugendliche das eben so machen – immer zu viel Hektik, nie genug Gelassenheit.«
Peter verdrehte ungeduldig die Augen. Rubbish George war ihm gerade deutlich zu gelassen. »Ist dir sonst irgendwas aufgefallen?«
»Es war relativ kalt letzte Nacht.«
»Nein, ich meine … etwas Ungewöhnliches.«
Doch Rubbish Georges fragender Gesichtsausdruck sagte Peter, dass er hier nicht weiterkam. »Vergiss es.« Der Zweite Detektiv verließ den Schuppen ohne ein Wort des Abschieds und rannte zurück in die Zentrale.
»Das Motorrad ist weg!«, berichtete er Bob aufgeregt.
»Was, wirklich?«
»Ja. Und Rubbish George hat gesehen, wie Justus weggefahren ist.« Peter erzählte, was er erfahren hatte. »Justus hatte es sehr eilig. Hoffentlich hat er keinen Unfall gebaut!«
»Dann hätte schon längst die Polizei oder das Krankenhaus angerufen«, hielt Bob dagegen.
Das Telefon klingelte. Bob fuhr zusammen.
»Das Krankenhaus!«, keuchte Peter erschrocken und schaltete sofort den Verstärker ein.
Bob nahm den Hörer ab. »Bob Andrews von den drei Detektiven?«
»Cotta hier. Hallo, Bob.«
»Herr Inspektor!«, seufzte Bob erleichtert. »Ist etwas passiert?«
»Anscheinend schon. Sonst hätte Mathilda Jonas nicht im Präsidium angerufen und meinen Kollegen zur Schnecke gemacht. Was passiert ist, möchte ich von euch wissen!«
»Justus ist verschwunden.«
»So viel konnte mir mein verstörter Kollege auch berichten.«
»Wir hatten gehofft, Sie hätten Neuigkeiten.«
»Neuigkeiten? Nein. Ich habe ja gerade erst davon erfahren. Und ich dachte, es sei klüger, erst bei euch anzurufen, bevor ich mich mit Justus’ Tante auseinandersetze. Denn ein unbestimmtes Gefühl sagt mir, dass ihr mehr wisst.«
»Wieso glauben das alle!?«, meldete sich Peter laut zu Wort.
Inspektor Cotta räusperte sich. »Erfahrungswerte, Peter Shaw. Oder wollt ihr mir etwa erzählen, dass ihr gerade keinen Fall in Arbeit habt, der mit Justus’ Verschwinden in Zusammenhang stehen könnte?«
»Wir haben gar keinen Fall in Arbeit«, beteuerte Bob. »Auch wenn das schwer zu glauben ist.«
»Das ist es tatsächlich. Aber angenommen, ich glaube euch – erhellt mich mit den Fakten!«
Bob fasste so gut wie möglich zusammen, was sie wussten. Dass sie die Mine in Dalton besucht und Ärger bekommen hatten. Dass womöglich ein alter Fall eine Rolle spielte, weil Justus ihre Akten hervorgekramt hatte. Dass Justus’ letzter Internetaufruf das Seven Pines Motel in Hollywood gewesen war. Dass er mit dem Motorrad weggefahren war. Und dass jemand ›Hilfe‹ in die Schreibtischunterlage geritzt hatte.
Cotta machte sich schweigend Notizen. »Dieser Hilferuf macht mir Sorgen«, gestand er schließlich. »Meint ihr, dass er von Justus stammt? Ist es seine Handschrift?«
»Die Botschaft ist ins Papier geritzt, nicht geschrieben. Eine Handschrift kann man da nicht erkennen. Wir wissen also nicht, ob sie von Justus stammt. Wir haben sie übrigens vor Justus’ Tante und Onkel geheim gehalten, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen. Und das Motorrad bislang auch. Wenn Mrs Jonas jetzt davon erfährt, reißt sie ihm den Kopf ab!«
»Um das zu tun, müsste Justus allerdings erst mal auftauchen«, erwiderte Cotta. »Aber gut, ich werde diese kleinen Geheimnisse bewahren. Vorerst. Im Grunde hat mein Kollege recht: In den meisten Fällen taucht die vermisste Person innerhalb kurzer Zeit von allein wieder auf, weshalb die Polizei nicht sofort tätig wird. Hier liegt der Fall allerdings etwas anders. Es geht um Justus Jonas. Der haut nicht einfach von zu Hause ab, ohne etwas zu sagen. Wenn er verschwindet, muss das einen ernsten Grund haben.«
»Das denken wir auch.«
»Ich werde also meine Mitarbeiter anweisen, die Augen offenzuhalten. Was ist das für ein Motorrad? Habt ihr das Kennzeichen?«
Peter wühlte in einer Schublade. Er gab dem Inspektor die Daten durch.
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach Cotta.
»Danke, Herr Inspektor.«
»Und ihr zwei – passt auf euch auf! Und damit meine ich: Wenn ihr etwas herausfindet, dann teilt ihr mir das mit, anstatt etwas auf eigene Faust zu unternehmen, verstanden?«
»Ja, Inspektor Cotta.«
Cotta ließ Bobs Antwort eine Weile im Raum hängen, bevor er antwortete: »Es wäre schön, wenn es diesmal wirklich so wäre.« Dann legte er auf.
»Cottas Mitarbeiter halten die Augen offen«, sagte Bob. »Wir sollten auch unsere Mitarbeiter informieren, meinst du nicht, Peter?«
»Unsere Mitarbeiter? Ich wusste nicht, dass wir welche haben.«
»Aber ja. Tausende! In ganz Kalifornien!«
Jetzt begriff Peter, worauf Bob hinauswollte. »Du sprichst von der Telefonlawine!«
»Und von der E-Mail-Lawine! Wir bringen alle Lawinen ins Rollen, die uns einfallen, Peter! Es wäre doch gelacht, wenn wir so nicht auf eine Spur stießen!«
Die Telefonlawine war Justus’ Erfindung gewesen. Sie funktionierte so: Jeder der drei Detektive rief seine Freunde an und fragte nach dem, was sie gerade wissen wollten. Diese Freunde riefen dann wiederum andere Freunde an und leiteten die Frage weiter. Und so setzte sich die Lawine fort und erreichte innerhalb kurzer Zeit hunderte oder sogar tausende Kinder und Jugendliche in ganz Kalifornien. Wer einen Hinweis hatte, meldete sich in der Zentrale zurück. Mit der E-Mail-Lawine verhielt es sich genauso. Sie hatte außerdem den Vorteil, dass man Bilder mitschicken konnte.
Bob und Peter suchten brauchbare Fotos von Justus und von seinem Motorrad heraus und gaben die Vermisstenmeldung an alle Freunde und Bekannten weiter, die ihnen einfielen. Nun hieß es warten. Erfahrungsgemäß dauerte es mindestens einen halben Tag, bis es erste Rückmeldungen gab.
Also setzten Bob und Peter zunächst ihre Spurensuche fort. Peter nahm das Labor unter die Lupe, während Bob sich in der Freiluftwerkstatt umsah. Insgeheim rechneten beide damit, dass Justus jede Minute einfach durch das Kalte Tor käme und eine ganz einfache Erklärung für sein Verschwinden hätte. Doch das passierte nicht.
In der Zwischenzeit hatte sich Inspektor Cotta auch beim Ehepaar Jonas gemeldet und versucht, die beiden zu beruhigen. Es war ihm nicht gelungen. Von der Freiluftwerkstatt aus beobachtete Bob besorgt, wie Titus und Mathilda Jonas ziellos über den Platz streiften. Roboterhaft führte Tante Mathilda einen alten Herrn, der sich für Damasttischdecken interessierte, zu den Stehlampen. Danach fauchte sie eine etwas hochnäsige Dame, die sich nach goldenen Bilderrahmen erkundigt hatte, an, warum sie nicht einfach einen silbernen nehme. Sie war so fahrig, dass sich schließlich eine junge Kundin mit Baseballmütze und Pferdeschwanz erkundigte, ob alles in Ordnung sei. Daraufhin brach Tante Mathilda inmitten der Kaffeekannensammlung in Tränen aus und erzählte ihr das ganze Drama um ihren detektivspielenden Neffen, der vermutlich von der Mafia entführt worden war oder Schlimmeres.
Nachdem Tante Mathilda sich ein wenig beruhigt hatte und die Kundin gegangen war, war niemand mehr auf dem Gelände. Onkel Titus nutzte die Gelegenheit und schloss das große Tor. »Wir machen Schluss für heute.«
»Aber es ist noch früh am Tag!«, protestierte Tante Mathilda halbherzig.
»Es hat doch keinen Zweck, Mathilda. Und ein halber Tag ohne Umsatz wird uns nicht arm machen.« Erschöpft legte er seiner Frau den Arm um die Schultern und ging mit ihr ins Haus. Der Anblick versetzte Bob einen Stich.
Zu seinen Füßen klapperte etwas. Das Gitter, das den Außenzugang zu Tunnel II versperrte, einem ihrer geheimen Eingänge in die Zentrale, fiel scheppernd zu Boden. Peter kam aus dem Wellblechtunnel herausgekrochen.
»Im Labor habe ich nichts Verdächtiges gefunden«, berichtete er und rappelte sich auf. »Und in Tunnel II auch nicht. Du?«
Bob schüttelte den Kopf.
»Bob«, sagte Peter leise und sah den dritten Detektiv besorgt an. »Ich mache mir Vorwürfe. Wegen gestern. Weil wir uns so gestritten haben. Vielleicht ist er deswegen abgehauen.«
»Das ist doch Unsinn, Peter. Justus ist nicht abgehauen.«
»Aber wo steckt er dann? Was machen wir, wenn er nicht wiederkommt? Wenn Justus … einfach wegbleibt? Für immer?«
Sie hatten diesen Gedanken bisher nicht zugelassen. Aber in der plötzlichen Ruhe auf dem Schrottplatz überfiel er sie wie ein Raubtier, das die letzten Stunden geduldig auf der Lauer gelegen hatte.
»Unsinn«, wiederholte Bob. »Er kommt zurück. Wir finden ihn. Wir müssen einfach!«
»Aber wir haben keine Spur!«
»Doch. Das Seven Pines Motel in Hollywood. Justus hat gestern Abend im Internet nach der Adresse gesucht. Irgendeinen Grund wird er ja gehabt haben. Wenn wir hinfahren, finden wir vielleicht mehr heraus.«
Eine halbe Stunde später erreichten sie das Seven Pines Motel. Es lag in den Ausläufern der Santa Monica Mountains in Hollywood. Für ein Motel machte es einen erstaunlich noblen Eindruck. Die vorderen Zimmer hatten sogar einen Blick über die weite Ebene von Los Angeles bis zum Meer. In der Ferne ragten die Wolkenkratzer des Stadtzentrums aus dem Dunst.
Als Peter seinen MG in der Nähe der Einfahrt parkte, sah er im Rückspiegel plötzlich eine vertraute Silhouette: Ein pummeliger Junge mit dunklen, gewellten Haaren ging über die Straße. Peter drehte ruckartig den Kopf. Doch es war nicht Justus. »Ich sehe schon Gespenster.«
»So geht es mir auch die ganze Zeit«, bekannte Bob. »Ich habe auf dem Weg hierher fünfmal gedacht, ich hätte ihn irgendwo entdeckt.«
Sie gingen auf das Motel zu und betraten den weiß getünchten Bau. An der Rezeption stand ein älterer Herr mit akkurat frisiertem silbergrauem Haar und Goldrandbrille. Auf einem kleinen Namensschild an seinem Revers war der Name ›Anderson‹ zu lesen. Eine junge Angestellte mit schwarzen Haaren war gerade dabei, den kleinen Empfangsraum zu saugen. Auf einen Wink von Mr Anderson hin schaltete sie den Staubsauger aus und fing stattdessen an, die Lederpolster einer kleinen Sitzecke mit Politur einzureiben.
»Guten Tag, die Herren. Was kann ich für euch tun?«
»Guten Tag«, sagte Bob. »Wir haben eine Frage, die vielleicht etwas seltsam klingt. Wir suchen unseren Freund Justus Jonas. Wir haben keine Ahnung, wo er steckt, aber es gibt gewisse Hinweise darauf, dass er vielleicht hier ist oder war.«
Bob wollte Mr Anderson gerade ein Bild von Justus zeigen, doch da sagte dieser: »Ein Junge in eurem Alter? Mittelgroß, dunkle Haare und von … etwas fülliger Statur?«
Peter schnappte nach Luft. »Ja, genau der! Sie haben ihn gesehen!? Wann? Wo? Wo ist er?«
Mr Anderson zuckte zusammen, dann hob er entschuldigend die Hände. »Oh, nein, das ist ein Missverständnis. Es tut mir außerordentlich leid, aber ich kenne euren Freund nicht.«
»Aber Sie sagten doch gerade …«
»Die Polizei von Rocky Beach war vorhin hier und hat nach eurem Freund gefragt und mir ein Foto gezeigt«, erklärte Mr Anderson. »Aber ich musste dem Inspektor leider das Gleiche sagen wie euch: Der Junge ist hier nicht aufgetaucht. Tut mir leid.«
»Tja«, murmelte Bob. »Er hat die Adresse dieses Motels im Internet gesucht. Und wir hatten gehofft …«
»Es tut mir wirklich leid«, beteuerte Mr Anderson ein weiteres Mal. »Wenn ich euch irgendwie helfen kann …«
Peter schüttelte den Kopf. »Wir wüssten nicht, wie. Er ist spurlos verschwunden.«
»Leute verschwinden«, sagte die junge Frau, die die Möbel polierte. Sie hatte einen spanischen Akzent. Anscheinend war sie dem Gespräch aufmerksam gefolgt, während sie das Ledersofa gewienert hatte.
»Verzeihung, Maria?«, fragte Mr Anderson.
»Leute verschwinden«, wiederholte Maria und legte ihr Putztuch beiseite. »Heute Morgen war schon jemand hier und hat gefragt nach Person.«
»Tatsächlich, Maria?«
»Ja. War vor Ihrer Schicht, Mr Anderson. So um zehn.«
»Wer war denn hier und hat gefragt?«, wollte Bob wissen.
»Junge Frau. Groß. Sah aus wie Tennisspielerin. Mit Baseballkappe von den Tigers. Mannschaft nicht mehr so gut wie früher. Sagt mein Mann. Ich interessiere nicht für Sport.«
»Die Tigers!?«, rief Bob.
Peter stieß ihn an und raunte: »Ähm, das ist doch jetzt nicht so wichtig, welche Baseballmannschaft …«
»Peter! Vorhin war eine große, sportliche Frau mit Pferdeschwanz und Tigers-Mütze auf dem Schrottplatz! Sie hat mit Tante Mathilda gesprochen! Und die ist ihr daraufhin weinend in die Arme gefallen!«
»Was, wirklich? Du meinst, es war dieselbe Frau?«
»Einen Augenblick!« Bob entschuldigte sich bei Maria und Mr Anderson und zog Peter nach draußen. Auf der Straße zückte er sein Handy und rief bei den Jonas an.
»Bob!«, meldete sich Tante Mathilda atemlos. »Habt ihr ihn gefunden?«
»Nein, Mrs Jonas, leider nicht. Ich … ich habe nur eine Frage. Erinnern Sie sich an die Frau, die heute Nachmittag auf dem Schrottplatz war? Der Sie … Ihr Herz ausgeschüttet haben?«
»Ja, natürlich. Sie hat wohl gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war, und mich angesprochen. In dem Moment konnte ich einfach nicht anders … ich brach in Tränen aus. Das war vielleicht unangenehm! Die Arme wusste wahrscheinlich gar nicht, wie ihr geschieht. Aber sie war sehr nett. In dem Moment war ich ihr sehr dankbar.«
»Hat sie … irgendetwas gesagt? Oder gefragt?«
»Ich weiß nicht mehr so genau, Bob. Ich stand so neben mir. Ich glaube, sie hat mir einfach nur zugehört.«
»Und was haben Sie ihr erzählt?«
»Na, alles, was passiert ist.« Tante Mathilda wurde langsam ungeduldig. »Warum fragst du mich das eigentlich alles? Diese Frau wird ja wohl kaum etwas mit Justus’ Verschwinden zu tun haben! Sie war schließlich ganz zufällig hier.«
»Ja«, sagte Bob schnell. »Ja, natürlich. Es … es fiel mir nur gerade ein. Ich muss jetzt auflegen, Mrs Jonas. Bis später!« Er wandte sich an Peter. »Für mich klingt das so, als hätte die Frau mit der Tigers-Mütze Tante Mathilda ausgehorcht.«
Peter nickte nachdenklich. »Dann hat sie etwas mit dem Fall zu tun.«
Sie kehrten zurück ins Foyer. »Verzeihung«, sagte Bob. »Wir mussten schnell etwas klären. Sagen Sie, Maria, wissen Sie noch mehr über die Frau, die heute früh hier war? Mit welchem Wagen sie gekommen ist zum Beispiel?«
Maria schüttelte langsam den Kopf. »Wagen nicht gesehen.«
»War sie vielleicht in Begleitung?«
»Nein.«
»Oder … sonst irgendwas?«
Wieder nur ein Kopfschütteln.
»Was genau hat sie denn gefragt?«, wollte Bob wissen. »Wusste sie Justus’ Namen oder hat sie ihn nur beschrieben?«
Maria blickte verwirrt von einem zum anderen.
»Bitte, Maria«, sagte Mr Anderson. »Das scheint eine ernste Angelegenheit zu sein. Wenn Sie den jungen Herren helfen können …«
»Aber die Frau hat gar nicht gefragt nach eure Freund. Habe ich auch nicht gesagt. Sie hat gefragt nach Mann.«
Peter runzelte die Stirn. »Nach was für einem Mann?«
»Nach einem Gast. Der hat hier mal gewohnt. Ist viele Jahre her. Robert hatte Dienst, Mr Anderson. Er hat im Computer nachgesehen. Stimmte alles. Die Frau wollte wissen, wohin der Mann danach gegangen ist. Aber Robert wusste nicht. Zu lange her. Die Frau sagte, der Mann ist verschwunden. Genau wie eure Freund.«
»Wie hieß denn dieser Gast?«, fragte Bob irritiert.
»Hatte komischen Namen. Ich weiß nicht mehr. Robert hat aufgeschrieben.«
Mr Anderson blätterte hinter dem Tresen in ein paar Papieren. »Ich habe den Zettel vorhin gesehen. Hatte mich schon gefragt, was er zu bedeuten hat. Augenblick … ah, da ist er!«
Und dann sagte Mr Anderson etwas, das alles, was Bob und Peter über Justus’ Verschwinden vermutet hatten, über den Haufen warf. »Der Mann, nach dem sich die Dame erkundigt hat, hieß Mr Rhandur. Rama Sidri Rhandur.«
»Rama Sidri Rhandur«, sagte Bob, als sie eine halbe Stunde später in der Zentrale waren. Eilig hatten sie sich aus dem Seven Pines Motel verabschiedet und waren zurück nach Rocky Beach gefahren. Sie hatten Mr Anderson und Maria jedoch ihre Visitenkarte gegeben mit der Bitte, sich zu melden, sollte die Frau mit der Tigers-Mütze noch einmal auftauchen. Oder sollte sich irgendetwas in Zusammenhang mit Justus ergeben. Oder mit Mr Rhandur.
»Rama Sidri Rhandur«, wiederholte Bob murmelnd und blätterte in einem der Aktenordner, die Justus aus Tunnel II heraufbefördert hatte. Er überflog den alten Fallbericht, in dem dieser Name auftauchte, um sich die wichtigsten Fakten von damals in Erinnerung zu rufen. Für Peter fasste er sie zusammen: »Vor vier Jahren halfen wir dem jungen Engländer August August, genannt Gus, seine Erbschaftsangelegenheit zu regeln. Sein Großonkel Horatio August hatte ihm einen wertvollen Rubin aus Indien vermacht, das sogenannte Feurige Auge.«
»Aber das weiß ich doch alles, Bob. Ich war dabei!«
»Ich erzähl’s dir trotzdem. Wozu schreibe ich schließlich diese Berichte! Dem Edelstein wurden magische Kräfte zugesprochen. Unter anderem hatte er allen vorherigen Besitzern Unglück gebracht. Der Fluch des Rubins sollte angeblich gebrochen werden, wenn ihn fünfzig Jahre lang niemand berührt oder ansieht. Deshalb hatte Horatio ihn vergraben und seinem Großneffen lediglich einen verschlüsselten Hinweis auf das Versteck hinterlassen. Denn noch jemand anders wollte den Rubin haben: Rama Sidri Rhandur, ein unheimlicher Mann aus Indien. Er hatte drei Punkte auf die Stirn tätowiert, weshalb wir ihn auch Dreipunkt nannten. Er kam aus dem Bergort Pleshiwar im Norden Indiens und war ein Diener des Tempels der Gerechtigkeit, aus dem das Feurige Auge ursprünglich stammte. Die Anhänger dieses Tempels entstammen einem kriegerischen Bergvolk. Während der ganzen Ermittlungen war Dreipunkt uns auf den Fersen. Doch am Ende gelang es uns, den Stein zu finden, nicht ihm. Er wagte es nicht, ihn uns abzunehmen, da er den Fluch fürchtete. Der Legende nach musste der Rubin gefunden, als Geschenk empfangen oder rechtmäßig gekauft werden. Wenn man ihn stahl, beschwor man wieder den Unglücksfluch herauf. Also bot Mr Rhandur dem rechtmäßigen Besitzer, nämlich Gus, eine große Summe Geld für das Feurige Auge. Gus akzeptierte das Angebot, Rhandur nahm den Stein entgegen und verschwand aus unserem Leben. Ende der Geschichte.«
Peter nickte. »Alles nichts Neues. Und trotzdem verstehe ich nur Bahnhof. Was hat dieser uralte Fall mit Justus’ Verschwinden zu tun!?«