Die Erben der Stellings - Christa Kanitz - E-Book

Die Erben der Stellings E-Book

Christa Kanitz

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Beschreibung

Die wechselvolle und romantische Geschichte einer berühmten Hamburger Kaufmannsfamilie spielt um die Wende zum 20. Jahrhundert - ein bewegender Roman, der detailreiche Einblicke in die wirtschaftliche, politische und kulturelle Situation dieser Zeit gibt. Viktoria Stelling-Brennicke, Prinzipalin des gleichnamigen Handelshauses in Hamburg, wird 1898 siebzig Jahre alt. Die Familie trifft sich zu ihrer Geburtstagsfeier im Palais an der Elbchaussee. Zur Überraschung aller bringt die ledige Patrizia Stelling einen Sohn mit. Ein Skandal für die traditionsbewusste und konservative Hamburger Gesellschaft. Patrick Stelling ist gelernter Schiffsbauer, doch er muss sich seinen Platz in der Firma gegen Intrigen und Hass erst erkämpfen. Als er Regina Mörius kennen lernt, scheint sein Glück vollkommen. Thomas Stelling, ein Bruder Viktorias hat auf dem alten, fast vergessenen Familiengut in Mecklenburg ein berühmtes Gestüt aufgebaut. Doch Katastrophen vernichten hier fast den gesamten Besitz und erschüttern den Frieden innerhalb der Familie. Dem wirtschaftlichen und privaten Rückschlag folgen neue Herausforderungen. Der erfolgreiche Roman "Die Stellings" von Christa Kanitz findet hier seine Fortsetzung.

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Seitenzahl: 478

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Christa Kanitz

Die Erben der Stellings

Roman

LangenMüller

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© für die Originalausgabe: 2003 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München © für das eBook: 2013 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten

Ich danke meinen Töchtern Christine, Ulrike und Brigitte, dass sie mir geholfen haben, Brücken zwischen den ›Stellings‹ und den Lesern zu bauen.

Christa Kanitz

Erstes Kapitel

Nur das Wiehern auf einer fernen Weide und das leise Klavierspiel drüben im Verwalterhaus waren zu hören. Thomas Stelling ging die Steinstufen hinunter und zündete sich mit Genuss die Pfeife an. Melanie hatte es nicht gern, wenn er kurz vor dem Abendessen das Haus mit seinem Pfeifendunst füllte. Also hatte er sich angewöhnt, abends auf der alten Bank an der Hauswand sein Pfeifchen zu rauchen, den Tag noch einmal zu überdenken und einen letzten Blick über den Gutshof schweifen zu lassen.

Friedlich lag das große Anwesen vor ihm. Dankbar dachte er daran, wie der Hof gewachsen war, wie er größer und größer wurde und wie er immer wieder anbauen musste, um dem Erfolg ein ›Dach über dem Kopf‹ zu geben. Er hatte gut gewirtschaftet, er hatte aus dem Gut Rodenhagen, nach dem Tod der Großeltern vergessen und verwahrlost, einen blühenden Zuchtbetrieb für edle Warmblüter aufgebaut und seine Pferde wurden auf allen Rennplätzen geschätzt. Dann kam der Auftrag der preußischen Regierung, die Kavallerie jährlich mit hundert Remonten zu versorgen, und sein Gestüt erlangte europaweite Anerkennung.

Jetzt grasten auf den Weiden hunderte von Pferden und selbst im Winter, wenn die Tiere nachts in den riesigen Freilaufstallungen untergebracht und gefüttert wurden – nur die Zuchtstuten und die Hengste hatten eigene Boxen – verbrachten sie die Tage im Freien. Das machte sie hart und widerstandsfähig.

Thomas lehnte sich behaglich zurück und lauschte dem fernen Klavierspiel. Das ist Henriette, dachte er, sie übt für das Konzert in der Schule. Die kleine Jette, wie er sie zärtlich nannte, war das jüngste seiner Enkelkinder. Sie war sein ganz besonderer Liebling und gerade acht Jahre alt geworden. Welch ein Unglück, dass sie so früh ihren Vater verloren hat, dachte er, aber sein Schwiegersohn, Offizier bei den Schweriner Kanonieren, war ein waghalsiger Mann und als die ersten Automobilfabriken Testfahrer suchten, meldete er sich und verunglückte tödlich. Das war vor sechs Jahren und seitdem lebte seine jüngste Tochter Elisabeth wieder auf dem Hof und war mit ihren drei Kindern in das leerstehende Verwalterhaus gezogen. Er bewunderte seine kleine Lissi, die sich ohne zu klagen eine eigene Existenz aufgebaut hatte. Künstlerisch begabt, hatte sie eine Paramentenwerkstatt eingerichtet und zusammen mit einigen Frauen aus dem Dorf fertigte sie die schönsten liturgischen Gewänder und Ausstattungstextilien für die Kirchen im ganzen Land. Sie hätte natürlich im Herrenhaus wohnen können, aber sie wollte selbständig sein und setzte, wie immer, ihren hübschen Lockenkopf durch. »Papa«, hatte sie erklärt, »ich möchte nicht unter die elterlichen Fittiche zurückkehren. Ich muss lernen, fertig zu werden und das fängt beim Wohnen an. Ich genieße die Geborgenheit des großen Gutes, aber ich möchte mir selbst eine Existenz aufbauen, von der wir leben können.« Und sie hat es geschafft, dachte Thomas mit Hochachtung. Inzwischen gehen ihre beiden Söhne auf ein gutes Internat, und Jette bekommt ihren geliebten Klavierunterricht, was hier auf dem Lande auch nicht ganz leicht ist.

Thomas klopfte die Pfeife am Stiefelabsatz aus und steckte sie in die Tasche seiner Joppe. Müde rieb er sich mit den Händen über das Gesicht. Es war wieder ein langer Tag, der hinter ihm lag. Allmählich spürte er seine zweiundsiebzig Jahre. An einem Abend wie diesem war vom sportlichen Elan früherer Jahre nicht mehr viel übrig. Nur gut, dass Bernhard, der so engagiert und konzentriert in den Betrieb hineingewachsen war, mit sicheren Händen langsam aber zielstrebig die Zügelführung übernommen hatte. Der Junge hatte die Liebe zum Land und zu den Pferden von ihm geerbt und war ein würdiger Nachfolger. Thomas schmunzelte, als er an ›den Jungen‹ dachte, der sich längst zu einem respektablen Mann von vierzig Jahren mit eigener Familie entwickelt hatte.

Thomas sah nach rechts hinüber, wo im Souterrain die Lichter der Küche hell geworden waren. Dann hörte er die Stimmen der Mamsell und der Köchin, die lachend miteinander stritten, wie ein Burgunderbraten zu servieren sei.

Zeit, mich umzuziehen, dachte er und stand auf. Seit vierzig Jahren führte seine Melanie ein strenges Zepter, wenn es um die Einhaltung der Etikette ging. Dazu gehörte die korrekte Kleidung beim Abendessen genau so wie der feingedeckte Tisch oder die weiße Spitzenschürze der Mamsell, wenn sie die Speisen servierte. Thomas sah noch einmal über den weitläufigen Hofplatz mit den großen Stallungen und den Scheunen, die langsam im Dunst der Dämmerung versanken. Vom See herauf zogen die ersten Herbstnebel und er dachte an die Pferde, von denen oft nur die Köpfe und die Kruppen zu sehen waren, wenn der Nebel sich auf den Weiden breit machte.

Thomas erinnerte sich, mit welcher Skepsis die Bauern und die Freunde auf den Nachbargütern den Wandel auf seinem Gut beobachtet hatten, als er die alten Methoden der Bewirtschaftung konsequent geändert hatte, nachdem der Verwalter in den Ruhestand gegangen war. Er hatte kurz entschlossen aus allen Ackerflächen Pferdeweiden gemacht. Hafer, Heu und Stroh kaufte er im Dorf, das war günstiger, als die Felder selbst zu bestellen, auf denen nun wertvolle Pferde leben konnten. Außerdem unterstützte er damit die Bauern, die ihre Erträge nicht zum Verkauf in entfernte Städte zu transportieren brauchten.

Nur am Wald hatte er nichts geändert, der war für ihn absolut unverletzlich, denn er wollte seinen Kindern einen Baumbestand hinterlassen, der im ganzen Landkreis einmalig war. Er hatte zwei Förster eingestellt, die das Wild kontrollierten und ihn persönlich fragen mussten, wenn auch nur ein Baum gefällt werden sollte. Nur zur Zeit der Jagd durchstreifte er den Wald mit Freunden und Nachbarn, füllte die Vorratskammern mit Wildbret, verteilte Hasen und Schwarzwild im Dorf und stiftete alljährlich einen kapitalen Hirsch dem Kloster in Breitenburg.

Thomas ging mit schweren Schritten und leicht gebeugtem Rücken die beiden ausgetretene Steinstufen hinauf, öffnete die wuchtige Eichentür, die seit Generationen das Haus vor Fremden und Feinden, vor Wind und Wetter schützte und betrat die große Halle. Vieles in diesem Haus war in den fünfzig Jahren, die er nun hier lebte, um- und ausgebaut worden, aber niemals hatte er den Charme und die Schlichtheit der äußeren Fassade verletzt. Innen aber hatte sich vieles verändert, das war er seiner großgewordenen Familie schuldig. Wände waren eingerissen worden, um Wohnräume zu vergrößern, Wasserleitungen bis hinauf in die Schlafräume hatte er legen lassen, die Kamine mussten gemütlichen Kachelöfen weichen und die ausgetretenen Bodenbretter im Erdgeschoss waren durch rote Fliesen und dickwollige Teppiche aus einer Weberei in Hagenow ersetzt worden. Melanie hatte auf Fliesen, Teppiche, Kachelöfen, eine moderne Küche mit Fließwasser, Vorratskammern und, welch ein Luxus, auf Elektrizität bestanden.

Liebevoll dachte er an seine hübsche Frau, die mit Geduld und Courage die Regie im Haus übernommen hatte und bis heute mit sanfter Gewalt die große Familie dirigierte. Sie war eine gute, eine wunderbare Frau, die seit vierzig Jahren der wertvollste Teil seines Lebens war. Zwei großartige Söhne hatte sie ihm geboren und eine bezaubernde Tochter und bei aller Zuneigung und Zärtlichkeit war sie eine Frau, auf die sich ein Mann hundertprozentig verlassen konnte. Thomas lächelte, als er an sie dachte und lief auf Zehenspitzen die Treppe zum Obergeschoss hinauf, denn eigentlich war es verboten, mit Stallstiefeln im Haus herumzulaufen. Es gab einen Hintereingang mit einer Stiefelkammer, in der auch Regenmäntel und nach Stall riechende Joppen aufgehängt werden sollten, aber Thomas hatte keine Lust, an diesem Abend um das ganze große Haus herum zu laufen, nur, um weiblichen Anordnungen zu folgen. Die Mamsell kannte seine kleinen Sünden, sie würde später eine Magd beauftragen, unauffällig die schmutzigen Sachen zu entfernen.

Thomas zog sich aus, stöhnte, weil sein Rheumatismus in den Schultern wieder schmerzte, und ging unter die Dusche, die er vor einem Jahr hatte einbauen lassen. Nur mit dem heißen Wasser klappte es nicht so recht, aber jetzt, Anfang Oktober, konnte man getrost auch noch unter einem kalten Strahl stehen. Dann zog er frische Wäsche an, streifte das wieder einmal zu stark gestärkte Leinenhemd über und zog die schwarze Hose mit den akkuraten Bügelfalten an. Während er das Jabot am obersten Hemdenknopf befestigte, sah er in den Spiegel und zwinkerte sich zu. Abgesehen von dem leicht gebeugten Rücken, das lag eben an dem Rheuma in den Schultern und dem grauen Haar, war er durchaus mit sich zufrieden. Dass er zugelegt hatte, lag an dem guten Essen und, wie seine Frau augenzwinkernd meinte, ganz bestimmt nicht an dem abendlichen Bier, das die Klosterbrüder aus Breitenburg regelmäßig als Dank für den kapitalen Hirsch fassweise schickten. Aber ein Mann mit seiner Größe konnte sich ein paar Kilo mehr durchaus leisten. Stattlich nannte man das dann. Melanie war mit ihm zufrieden und nur darauf kam es an.

Als der Gong zum Abendessen rief, streifte er die Seidenweste und das Jackett über, schlüpfte in die glänzend geputzten Schuhe und ging nach unten. Ausnahmsweise war heute die ganze Familie im Speisezimmer versammelt. Thomas und Melanie nahmen an den Schmalseiten des großen Tisches Platz. Links von Melanie saßen Bernhard, seine beiden Söhne Johannes und Fabian und den Abschluss dieser Reihe bildete Corinna, Bernhards Frau. Rechts von Melanie hatten sein zweier Sohn Christian mit den Söhnen von Elisabeth – Richard und Friedrich – Platz genommen, daneben reihten sich Elisabeth und die kleine Jette in die Tischgemeinschaft ein. Dass Lissi mit ihren Kindern heute zum Abendessen gekommen war, lag an der Reise, die sie besprechen mussten. In einer Woche feierte Viktoria in Hamburg ihren siebzigsten Geburtstag und hatte sich als Geschenk ein paar Tage mit der ganzen großen Familie Brennicke/Stelling gewünscht. Da das Fest in die Herbstferien fiel, konnten auch die jüngsten Familienmitglieder dabei sein, denn die Söhne von Bernhard und Elisabeth lebten während der Schulzeit im Hardenberg-Internat in Potsdam, einer Institution mit preußischem Schliff und guter humanistischer Ausbildung.

Mit Vergnügen beobachtete Thomas, wie wohlerzogen sich alle benahmen. Man saß auf den Stühlen, ohne sich anzulehnen, hielt die Ellenbogen an die Hüften gepresst und jonglierte mit Messer und Gabel, ohne die Handgelenke am Tisch aufzustützen, und die Kinder sprachen nur, wenn sie gefragt wurden. Diese hervorragenden Manieren waren Melanies Werk, von ihm aus hätte es legerer und gemütlicher zugehen können, er wusste aber auch, wie wichtig gutes Benehmen für die Zukunft der Kinder war und überließ es gern seiner Frau, auf die Etikette zu achten.

Der Burgunderbraten war ein Genuss und Thomas nahm zwei Mal von der Platte mit den saftigen Scheiben, die die Mamsell herumreichte. Liebevoll zerschnitt er das Fleisch für die kleine Jette, die, wie immer, wenn sie einmal mit der Mutter zum Essen ins Herrenhaus kam, seine Tischdame war.

Die Erwachsenen unterhielten sich über die Reise.

»Wir werden mit der Eisenbahn von Brahlstorf aus nach Hamburg fahren«, erklärte Christian. »Ich habe mich erkundigt, der Berliner Zug kommt um zehn Uhr dort durch und hält an, wenn wir unsere Reise anmelden.«

Thomas nickte. »Kannst du das übernehmen? Wann sind wir dann in Hamburg?«

»Nachmittags um vier. Ich kümmere mich darum.«

Melanie sah ihre Söhne an. »Und wie geht es dann in Hamburg weiter?«

»Großmutter hat das Hotel ›Hamburger Hof‹ für uns reserviert.«

»Das ganze Hotel«, fragte Corinna belustigt?

»Nun ja, ein paar Etagen«, korrigierte sich Christian. »Wir sind immerhin eine riesige Familie und wenn die Glückstädter auch kommen, könnten wir schon ein ganzes Hotel bevölkern.«

»Ich finde es sehr vernünftig, dass Viktoria die auswärtigen Gäste im Hotel unterbringt«, erklärte Melanie und zeigte der Mamsell, dass sie den Nachtisch servieren könnte. Erwartungsvoll sahen die Kinder zu, wie sie die cremige Speise aus dem Aufzug nahm und eine köstliche rote Fruchtsoße darüber verteilte. Fragend sah die Mamsell die Hausherrin an und als Melanie nickte, bediente sie zuerst die Kinder.

Thomas beobachtete seine Familie. Er war stolz auf seine Kinder – mit einer Ausnahme: Christian machte ihm Kummer. Thomas wusste, dass nicht die Wünsche des Vaters im Leben eines Sohnes zählten, sondern die Wünsche und Talente des Kindes. Er hatte praktisch am eigenen Leibe erfahren, wie es war, wenn man gegen den Strom schwamm. Auch er wollte damals nicht dem Wunsch seines Vaters entsprechend Kaufmann werden, sondern immer schon als Reiter und Pferdezüchter seinen Weg gehen. Und wie viel Kummer hatte das bedeutet – nicht nur für ihn, sondern für die ganze Familie, als er schließlich seinen Willen durchgesetzt hatte. Und nun war Christian der Sohn, der eigene Wege gehen wollte, der nicht, wie seine Eltern hofften auf ein Nachbargut einheiraten wollte, um Rodenhagen zu vergrößern. Alles hatte sich so gut gefügt. Die hübschen Töchter im Hause Lemrad, die aneinander grenzenden Weiden, der fehlende Sohn und Erbe beim Nachbarn – aber nein, Christian wollte von Landwirtschaft und Pferden nichts wissen. Schon im Unterricht waren Mathematik und Erdkunde seine Lieblingsfächer gewesen und statt Biologie hatte er Geographie studiert und jetzt suchte er seit Jahren nach einer Arbeit, in die er sein Wissen als Volkswirt und Geograph einbringen konnte. Noch hatte er nichts Passendes gefunden und erledigte die kaufmännischen Arbeiten hier auf dem Gut, aber Thomas wusste, dass der Sohn zum Absprung bereit war. Er würde es sehr bedauern, diesen tüchtigen jungen Mann zu verlieren, der die Rechnungsbücher in Ordnung hielt und den Schriftwechsel führte, er wusste aber auch, dass er ihn nicht halten konnte, wenn Christian die Chance zum Absprung in die weite Welt bekam.

Das Mahl war beendet. Thomas erhob sich, die anderen folgten. Die Kinder wünschten artig ›gute Nacht‹ und gingen in ihre Zimmer. Auch Elisabeth verabschiedete sich, sie wollte die Jungen und Henriette nicht allein hinüber ins Verwalterhaus gehen lassen. Die anderen begaben sich in den kleinen Salon, wo für die Frauen Kaffee und für die Männer Cognac bereitstanden.

»Wir werden also übermorgen sehr zeitig starten«, nahm Thomas den Faden wieder auf. »Die Knechte können uns zum Bahnhof fahren und das Gepäck verladen. Bernhard, du kümmerst dich um die Kutschen und du, Christian, um die Eisenbahn und um die Ankunft in Hamburg. Wir werden Gepäckträger und Fahrgelegenheiten zum Hotel brauchen.«

Melanie sah ihre Schwiegertochter an. »Wir Frauen werden uns in Hamburg neu einkleiden, das habe ich auch mit Elisabeth besprochen. Zwischen unserer Ankunft und der Feier liegt ein ganzer Tag, da haben wir genügend Zeit.«

Thomas schmunzelte. »Ihr wollt also Geld ausgeben. Habt ihr nicht die Schränke voller Kleider? Muss es schon wieder etwas Neues sein?«

Melanie legte den Arm um ihn. »Knurre du nur. Du weißt ganz genau, dass wir nicht wie Landpomeranzen auftreten können. Hamburg ist eine sehr elegante Stadt und die anderen Gäste müssen ja nicht die Nasen rümpfen, nur weil wir nach Pferdestall riechen und nach einer uralten Mode gekleidet sind. Ich habe da von wunderbaren Einkaufspassagen gehört und die werden wir unter die Lupe nehmen.« Zärtlich schmiegte sie sich an ihren Mann und blinzelte Corinna zu. »Wir wissen schon, wie man sich festlich kleidet, nicht umsonst schickt uns Julia regelmäßig diese hübschen Kataloge mit den Modebildern.«

»Ein Geburtstagsessen, meine Güte, was ist da schon an Garderobe nötig«, ärgerte sie Thomas und grinste seine Söhne an.

»Du weißt genau, dass Viktoria im großen Stil feiern wird. Ein Abend in der Oper, das Konzert im Haus am Mittelweg, der Ball in ihrer Villa, also, wenn das keine Gründe für festliche Kleidung sind, dann genügen tatsächlich die Baumwollkittel, in denen wir im Garten arbeiten.«

Liebevoll drückte Thomas seine Frau an sich. »Ist ja schon gut, mein Schatz. Sorge du dafür, dass Christian genügend Geld einsteckt, damit ihr nicht in Gartenarbeitskleidern in die Oper gehen müsst.« Und zu seinem Sohn gewandt: »Schau nicht auf den Taler, Sohn, wir haben die Remonten gut verkauft in diesem Sommer, da sollten Opernkleider für die Damen erschwinglich sein.«

Später am Abend, als er mit seiner Frau allein war, nahm er sie zärtlich in die Arme. »Du wirst die schönste aller Damen sein, dafür werde ich sorgen, mein Schatz. Ich freue mich auf die festlichen Tage. Wir kommen viel zu selten hier heraus. Wann haben wir eigentlich das letzte Mal miteinander getanzt?«

»Bei der Taufe von Jette, das ist jetzt sieben Jahre her.«

»Und dann nicht mehr?« Ungläubig sah Thomas seine Frau an.

»Nun ja, bei den Dorffesten wurde auch getanzt.«

»Das meine ich nicht. Ich meine so richtige große Feste.«

»Das war Jettes Taufe.«

»Dann wird es höchste Zeit. Und dann, das sage ich dir gleich, werde auch ich diese feinen Einkaufspassagen in Hamburg besuchen.«

Thomas löschte das Licht, legte sich zu seiner Frau in das große Bauernbett und nahm sie in die Arme. »Nur gut, dass wir beide für unsere Zärtlichkeiten keine Ballkleider brauchen.«

Zweites Kapitel

Die ersten Strahlen der Morgensonne spielten mit dem leichten Dunst, der über dem Wasser lag, und färbten die kleinen Wirbel rosarot. Eine Schar kreischender Möwen begleitete den alten Fischerkahn, der mit schlaff herunterhängenden Segeln seinem Hafen zustrebte. Der Fischer im Heck stakte mit einer langen Stange im ufernahen Flachwasser das Boot nach Hause, sein Gehilfe säuberte die Fische und warf die Innereien den Möwen zu. Die beiden hatten, wie andere Fischer auch, nachts in der Elbmündung gefischt und waren auf dem Weg zum kleinen Hafen in Finkenwerder. Der alte Man mit der langen Stange hatte es nicht leicht, gegen die Strömung anzukämpfen, aber in diesen Morgenstunden herrschte fast immer Flaute und er war es gewohnt, in Ufernähe, wo die Strömung nicht so stark war, nach Hause zu staken. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Im Sommer kam er um fünf, im Winter um sieben Uhr zurück.

Viktoria beobachtete ihn jeden Tag. Es gehörte zu ihrem morgendlichen Ritual, mit dem Fischer zu hoffen, den Kahn unbeschadet von den großen Schiffen, die um diese Zeit bereits auf der Elbe unterwegs waren, in die Sicherheit des kleinen Hafens zu befördern. Sie war eine Frühaufsteherin und lange bevor das Haus zum Leben erwachte, saß sie an ihrem Schreibtisch in dem kleinen Boudoir mit dem schönen Blick auf den Fluss und plante den Tag. Trotz ihrer fast siebzig Jahre hielt sie an dieser Gewohnheit fest. Sie wollte nicht, dass um diese Zeit bereits Hektik im Hause herrschte, und das Personal richtete sich nach ihren Wünschen. Der Butler, die Köchin und die anderen Angestellten nahmen um diese Zeit ihr eigenes Frühstück ein, hielten sich aber bereit, auf Viktorias Zeichen hin zu reagieren.

Sie stand auf und öffnete die Terrassentür, die in den Park hinausführte und genoss die frische Luft des herbstlichen Morgens. Die letzten Dahlien in ihrer Farbenpracht, Chrysanthemen, braun, gelb und rot getönt, die ersten bunten Blätter der Kastanien, der Linden, der Ulmen und Akazien, die auf dem Boden vermoderten, erzeugten jenen kräftigen Geruch nach Herbst, den sie ein Leben lang mit der Zeit, in die ihr Geburtstag fiel, verband. Siebzig Jahre, mein Gott, dachte sie, wo sind diese Jahre geblieben. Die Kinder, die Enkelkinder, die Familie – aber auch die Lücken, die nicht mehr zu schließen sind, zeigen mir ziemlich deutlich, wie alt ich bin.

Sie dachte auch an ihre wunderbare Ehe mit Jens und an die Geburt ihrer vier Kinder, die ihnen so viel Freude gemacht hatten und schließlich ohne Druck durch die Eltern in ihre Aufgaben hineingewachsen waren. Alexander übernahm die Firma Brennicke, Christopher die Firma Stelling, Julia führte den Literaturzirkel ihres Großvaters fort und Jessica das Immobilienbüro ihrer Großmutter. Inzwischen waren alle verheiratet und hatten eigene Familien. Zu meinem Geburtstag werde ich sie um mich haben, dachte Viktoria und gedachte dann voller Wehmut ihres Mannes, der so plötzlich und viel zu früh verstorben war. Wir haben lange um dich getrauert, mein geliebter Jens, und dann haben wir die Aufgaben übernommen, die du uns hinterlassen hast. Mit Mut und Gottvertrauen haben wir da weitergemacht, wo du aufhören musstest und wenn du uns heute sehen könntest, du wärst mit uns zufrieden.

Lächelnd ging sie ins Zimmer zurück. In wenigen Tagen würden sie alle hier sein. Es war ihr einziger Wunsch für diesen Tag und alle hatten ihn respektiert. Sogar Patrizia kam aus Amerika zurück. Sie kam allerdings nicht wegen des Festes, dafür hätte sie nie ihre Arbeit im Stich gelassen, sie kam, weil ihre Zeit in New York abgelaufen war und man der Vierundsiebzigjährigen den Ruhestand im Feierabendhaus des Amalie-Sieveking-Stiftes angeboten hatte. Dass die Rückkehr nun mit meinem Geburtstag zusammenfällt, ist ein Zufall und ein Wunder, dachte Viktoria glücklich und ging zurück zu ihrem Schreibtisch, auf dem ein dicker Brief von Patrizia lag, den sie, die sonst sehr schreibfaul war, mit der Bitte geschickt hatte, ihn vor ihrer Ankunft zu lesen.

Obwohl Viktoria sich in den mehr als fünfzig Jahren, die Patrizia in Amerika arbeitete, sehr bemüht hatte, einen engen Kontakt zu der älteren Schwester aufrecht zu erhalten, hatte Patrizia wenig dazu beigetragen, miteinander in Verbindung zu bleiben. Sie hatte sich immer mit Arbeit entschuldigt, wenn wieder ein Jahr ohne eine Nachricht von ihr verstrichen war und Viktoria war geneigt, ihr diese Entschuldigungen abzunehmen, denn Patrizia arbeitete in den Armenvierteln der Stadt, mit den Obdachlosen und Waisen, mit den Ausgestoßenen. Nun lag dieser weiße Umschlag auf ihrem Schreibtisch und sie würde die Ruhe der Morgenstunde nutzen, Patrizias Geschichte zu lesen.

Meine geliebte Schwester Viktoria!

Wenn du diesen Brief gelesen hast, wird zwischen uns nichts mehr so sein wie bisher. Es fällt mir schwer, dir ein Leben zu schildern – mein Leben – das über Jahrzehnte hinweg so ganz anders verlaufen ist, als du angenommen hast. Das ist auch der Grund meines Schweigens, wenn du mich so herzlich um Lebenszeichen gebeten hast. Da ich Lügen verabscheue, zog ich das Stillschweigen vor.

Aber da wir uns nun bald gegenüber stehen werden, könnte ich dir nicht in die Augen sehen, ohne dass du weißt, wie es mir wirklich ergangen ist. Und dass ich nun die Form des Briefes gewählt habe, um dir meine Geschichte zu erzählen, wirst du verstehen, wenn du den Schlusspunkt erreicht hast.

Nicht dass ich Unrecht getan, Vertrauensbrüche begangen und meine Arbeit vernachlässigt hätte oder gar mit dem Gesetz in Konflikt geraten wäre, das brauchst du nicht zu befürchten – eine Stelling tut so etwas nicht – dennoch wirst du alle Toleranz aufbieten müssen, um mich zu verstehen und um mich daheim willkommen zu heißen. Und das ist meine Geschichte:

Vor vierunddreißig Jahren erreichte unsere Organisation in New York ein Hilferuf aus Parkesie, das ist ein kleiner Ort in Pennsylvania. Dort war eine Epidemie ausgebrochen und kein Mensch wusste, um was für eine Krankheit es sich handelte. Aber in der ganzen Region starben die Menschen unter schrecklichen Qualen und es gab niemanden, der helfen konnte. Die beiden einzigen Ärzte, kaum ausgebildet und vollkommen hilflos, hatten einen Kurier nach New York geschickt, der von einer Kirchengemeinde zu uns weitergeleitet wurde. Da wir uns vor Gott und den Menschen verpflichtet hatten, immer und überall zu helfen, stand es für unsere Organisation fest, sofort Hilfe anzubieten. In aller Eile wurde eine Gruppe von Freiwilligen – Ärzte, Schwestern, Sanitäter und Pflegerinnen – zusammengestellt, die mit Medikamenten, Zelten und vielen anderen Hilfsmitteln in einem Wagentreck nach Westen aufbrechen sollten. Auch ich habe mich gemeldet. Es ging alles sehr hektisch zu, und man hatte kaum Zeit, ein paar persönliche Sachen einzupacken. Sammelpunkt war unser Haupthaus am Roselle Park, in dem auch ich wohnte. Während sich die Kutscher mit den Planwagen bereits auf dem Hof versammelten, rannte ich noch einmal in mein Zimmer, um meine Reisetasche zu holen. An einer Ecke des Flures prallte ich mit einem fremden Mann zusammen. Ich fiel hin und er ließ vor Schrecken einen ganzen Arm voller Papiere und Landkarten fallen. Dann half er mir sehr höflich wieder auf die Beine, wir rafften die Papiere zusammen, er lief in der einen, ich in der anderen Richtung davon und wenig später saß ich auf einem der Wagen und wir verließen die Stadt.

Liebe Viktoria, ich muss Dir gestehen, der Zusammenprall hatte mich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch erschüttert. Bitte glaube mir, ich bin kein Mensch, der mit Übertreibungen leichtfertig umgeht, aber noch nie war ich einem solchen Mann begegnet. Es fällt mir schwer, ihn zu beschreiben, er war in jeder Beziehung umwerfend. Das hört sich nun lächerlich an, weil ich ja tatsächlich hingefallen bin, aber anders kann ich ihn nicht beschreiben. Ich hatte keine Ahnung, dass es Männer mit einem solchen Charisma gibt.

Dann mussten wir aufbrechen. Es war eine lange anstrengende Fahrt auf diesen ungefederten Planwagen und den kopfsteingepflasterten Landstraßen und ich bekam ein Gefühl dafür, welche Strapazen die Siedler früher auf sich genommen hatten. Wir waren mit acht Wagen unterwegs und ich saß auf dem vorletzten. Unglaubliche Staubwolken hüllten uns ein und nach ein paar Stunden wusste ich kaum noch, wie ich sitzen oder atmen sollte. Abends erreichten wir eine kleine Siedlung, in der wir übernachten würden. Inzwischen war es dunkel. Die Kutscher versorgten die Pferde und wir bekamen von der Bevölkerung Suppe und Brot. Dann wurden die Schlafplätze verteilt, immer zwei Frauen, wir waren sechzehn, schliefen in den Wagen. Wir breiteten unsere Decken einfach über der Ladung aus und legten uns darauf. Die Männer rollten ihre Schlafsäcke auf dem Erdboden aus. Es war für alle sehr unbequem, aber wir wussten ja, dass wir uns auf keiner Luxusreise befanden.

Am nächsten Morgen ging es sehr zeitig weiter. Wir rechneten mit vier Tagen, die wir noch unterwegs sein würden. Als wir uns beim ersten Wagen versammelten, um Brot und Kaffee in Empfang zu nehmen, sah ich diesen außergewöhnlichen Mann wieder. Diesmal hatte ich Zeit, ihn zu beobachten und stellte fest, dass er unsere Expedition leitete. Ein hochgewachsener, kräftiger Mann in Reitkleidung mit breiten Schultern, dunklen Haaren und braunen Augen, der mit wenigen Worten und Gesten bestimmte, was zu tun sei. Als ich in seine Nähe kam, um mein Essen in Empfang zu nehmen, sah er mich mit einem Lächeln an, legte mir den Arm um die Schultern und fragte: »Alles in Ordnung?«

Viktoria, ich dachte, vor mir tut sich die Erde auf und ich müsste in einem tiefen Loch versinken. Anders kann ich es nicht beschreiben. Da stand ich, verstaubt, ungewaschen, in einem wenig attraktiven Kleid – du kennst ja unsere Schwesterntracht – und dieser Mann legt seinen Arm um meine Schultern. Ich konnte seine Frage nur mit einem Nicken beantworten, jedes Wort wäre mir in der Kehle stecken geblieben. Später, als es mir unauffällig genug erschien, fragte ich eine der anderen Schwestern, wer der Leiter dieser Expedition sei. Sie wusste es auch nicht, zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Ein hoher Politiker, der inkognito mit uns unterwegs ist.«

Der Tag verlief wie der vorherige. Es war drückend heiß. Manchmal zogen am Horizont dunkle Wolken auf und man konnte annehmen, ein Gewitter käme näher, aber dann zog die Wolkenwand vorbei und wir fuhren in der schwülen Hitze weiter. Zwischendurch bin ich immer wieder abgestiegen und gelaufen, aber ich kann nicht sagen, was beschwerlicher war, das Sitzen oder das Laufen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß und unendlich weit dieses Land ist. Und wie menschenleer.

Als wir am Abend einen Fluss erreichten, wurde beschlossen, die Nacht am Ufer zu verbringen. Endlich konnte man sich waschen und frisch machen. Nachdem die Pferde versorgt waren, wurde ein Feuer angezündet und es gab heißen Kaffee und trockenes Brot, das wir mit Öl beträufelten. Aber wenn man Hunger hat, schmeckt alles wunderbar.

In der Nacht gab es ein furchtbares Unwetter. Die Pferde wurden rechts und links von der Deichsel, aber mit dem Kopf zum Kutscherbock hin angebunden, damit sie nicht in Panik wegrennen und den Wagen mitziehen konnten. Wir rafften in aller Eile unsere Sachen zusammen und verstauten sie im Wagen, und als der Regen in Strömen floss und die Erde unter Wasser setzte, mussten auch die Männer in die Wagen klettern und Schutz unter den Planen suchen. Es war inzwischen sehr kalt geworden. Wir waren den ganzen Tag über bergauf gefahren und jetzt merkte man an der Kälte, dass wir bereits recht hoch in die Berge gekommen waren. Ich zitterte am ganzen Körper und versuchte, unter meiner dünnen Decke etwas Wärme zu finden. Dann spürte ich, wie jemand in der Dunkelheit eine weitere Decke über mir ausbreitete und sich schließlich neben mich legte und mich in die Arme nahm, um das Zittern zu besänftigen. Ich muss dir gestehen, liebe Viktoria, es war eine furchtbare, ängstigende Nacht, aber noch nie in meinem Leben hatte ich mich so geborgen gefühlt wie in diesen Stunden. Mich durchströmte ein Gefühl, das ich in Worten nicht beschreiben kann. Und so genoss ich diese wärmenden Arme, die mich festhielten und irgendwann bin ich dann auch eingeschlafen. Am nächsten Morgen, es wurde gerade erst hell, sah ich, dass diese Arme jenem Mann gehörten, der die Expedition leitete. Er schlief noch tief, aber die Mitschwester, mit der ich den Wagen teilte, war bereits aufgestanden und hatte den Wagen verlassen. Sie hatte also gesehen, wie wir engumschlungen die Nacht verbrachten. Das war mir sehr unangenehm, und ich bemerkte sehr schnell, dass sie den anderen Schwestern bereits davon berichtet hatte. Von jenem Morgen an wurde ich sehr distanziert behandelt, man beobachtete mich verstohlen und flüsterte hinter meinem Rücken. Obwohl wir Schwestern uns seit Jahren kannten und eine sehr gute, verständnisvolle Gemeinschaft bildeten, hatte eine Nacht genügt, unser Vertrauensverhältnis zu zerstören und mich zu diskriminieren.

Liebe Viktoria, an dieser Situation hat sich bis heute nichts geändert. Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, was das für mich bedeutete, da diese Gemeinschaft doch mein Lebensinhalt war. Da ich damals nicht wusste, wie ich etwas an diesem Zustand ändern könnte – wie soll man sich für etwas entschuldigen, das gar nicht passiert ist – schwieg ich und ertrug die stumme Abweisung, die ich von nun an erfuhr.

Ehrlicher Weise muss ich dir aber auch sagen, dass mich die Nähe dieses Mannes auf wunderbare Weise für alles entschädigte, und ich habe nie und werde auch nie eine Sekunde unseres Beisammenseins bedauern.

Aber ich will dir auch den Fortgang nicht verheimlichen. Dieser Mann – seinen Namen kann und will ich nicht preisgeben – und ich wurden ein Liebespaar. Trotz all der Not und in all dem Elend der folgenden Wochen, in denen wir eine Epidemie bekämpften und uns oft genug um das eigene Überleben sorgen mussten, kamen wir uns sehr nahe. Wir fanden Kraft und Hilfe im anderen und konnten uns immer wieder aufrichten, weil einer dem anderen die Hand reichte. Und als ich wusste, dass ich schwanger war, versicherte er mir, dass er mich und das Kind sein ganzes Leben lang schützen würde.

Wir waren vier Monate unterwegs, und als wir zurückkehrten, wussten wir, dass wir uns trennen mussten. Auf ihn warteten eine große politische Verantwortung und eine kranke Ehefrau, und auf mich die erniedrigende Behandlung, die man einer ›gefallenen Frau‹, wie es so schön heißt, in einem puritanischen Lande zukommen lässt. Die Leiterin unserer Organisation war eigentlich die Einzige, die mir in dieser Situation beistand. Sie schickte mich in eine abgelegene Hilfstation im größten Armenviertel von New York und während der letzten Wochen der Schwangerschaft zu einer Familie, mit der sie befreundet war. Dort gebar ich meinen Sohn Patrick, der nun vierunddreißig Jahre alt und ein wunderbarer Mann geworden ist. Sein Vater hat in all den Jahren sehr großzügig für ihn gesorgt. Er schickte an die Adresse unserer Oberin regelmäßig Geld, damit das Kind in guten Internaten erzogen wurde und später studieren und den Beruf eines Schiffbauingenieurs erlernen konnte. Wann immer ich eine freie Stunde hatte, traf ich mich mit Patrick, aber seinen Vater habe ich nie wiedergesehen.

Nun ist die Zeit meiner Heimkehr gekommen und Du wirst verstehen, dass ich Dir vorher diesen Brief schreiben musste, denn bei unserem Wiedersehen wird Patrick, mein Sohn, neben mir stehen.

Deine Patrizia

Zutiefst betroffen ließ Viktoria das letzte Blatt des Briefes sinken. Wenn sie an Patrizia dachte, dann sah sie ihre stolze, wunderschöne Schwester vor sich, die mit achtzehn Jahren beschlossen hatte, ihr Leben den Armen und Kranken zu widmen und die sich der Schwesternschaft jener Amalie Sieveking angeschlossen hatte, die als erste Hamburgerin Frauen um sich versammelte, die bereit waren, ihr Leben den Notleidenden zu weihen. Und dann, mit einundzwanzig und gerade volljährig geworden, hatte Patrizia sich zum Entsetzen ihrer Eltern entschlossen, Amalies Anliegen nach Amerika zu tragen und dort in ihrem Sinne einen Hilfsverein zu gründen.

Viktoria erinnerte sich an die ersten Jahre, in denen Patrizias Briefe trotz Not und Entbehrungen so glücklich und so zuversichtlich geklungen hatten, bevor sie so selten kamen und so nichtssagend wurden. Das war also die Zeit der Erniedrigung, des Leidens, der Demütigungen gewesen. Und dennoch – es war die Zeit unermesslichen Glücks und inneren Reichtums geworden, von dem die geliebte Schwester bis ans Ende ihres Lebens zehren konnte. Sie hatte Liebe erfahren und gegeben und einen Sohn geboren, ihr war die höchste Erfüllung einer Frau widerfahren. Aber wie sehr hatte sie darunter leiden müssen! Und jetzt kam sie nach Hause, endlich, und sie kam nicht allein.

Viktoria beschloss, alles zu tun, um der Schwester und ihrem Sohn ein würdiges Heim zu bieten. Sie sollten endlich wissen, wo ihr Zuhause war und wo man sie sehnsüchtig erwartete. Patrizia sollte nicht ins Feierabendheim der Schwesternschaft ziehen, wo man auch dort noch mit dem Finger auf sie zeigen würde. Sie war eine Stelling, die mit ihrem Leben und mit ihrer Opferbereitschaft einen hanseatischen Namen würdig vertreten hatte, und kein Mensch in dieser Stadt durfte es wagen, ihre Reputation in Zweifel zu ziehen, dafür würde sie mit aller Kraft ihres Ansehens, mit ihrer Macht und ihrem Einfluss sorgen.

Entschlossen stand Viktoria auf. So wie dieser freundliche Morgen die Finsternis der Nacht besiegt hatte, würde sie die Nöte und Ängste ihrer Schwester in Glück und Freude verwandeln. Sie klingelte nach dem Frühstück, und als der Butler erschien, erklärte sie:

»Bitte sorgen Sie dafür, dass die Gästezimmer im zweiten Stock hergerichtet werden. Meine Schwester kommt zurück und bringt ihren Sohn mit. Bitte bereiten Sie die besten Zimmer auf das Freundlichste vor, es darf an Nichts fehlen.«

Dann ließ sie eine Telefonverbindung mit der Hafenmeisterei schalten und erkundigte sich, wann der Dampfer aus Southampten, wo Patrizia und ihr Sohn das Schiff wechseln mussten, in Hamburg eintreffen würde.

Nichts sollte dem Zufall überlassen werden. Viktoria ahnte, dass ihr eine zutiefst verunsicherte, verletzte Frau gegenübertreten würde, die nicht wusste, wie sie in der Heimat aufgenommen wurde, die eine riesige Last von Zweifeln und Ängsten auf ihren schmalen Schultern tragen würde und die, neben ihrem Sohn stehend, diesem jungen Mann eine neue Heimat präsentieren musste.

Und dann, überlegte Viktoria, muss ich die Familie auf die neue Situation vorbereiten. Keiner wird es wagen, meine Schwester anzuklagen, niemand wird ihr mit Misstrauen oder Arglist begegnen. Ich habe tolerante Kinder erzogen und meinen Geschwistern gegenüber jede Schwäche verziehen, jetzt fordere ich den Lohn dafür.

Drittes Kapitel

Bis zur Ankunft des Schiffes, hatte Viktoria noch drei Stunden Zeit. Der englische Dampfer würde mit auflaufender Flut gegen dreizehn Uhr eintreffen. Sie wollte die Zeit nutzen, um Jessica in ihrem Büro am Baumwall aufzusuchen und ihr von der Ankunft Patrizias und Patricks zu erzählen. Mit ihren Söhnen Alexander und Christopher hatte sie gestern gesprochen und wie erwartet waren sie bereit, die beiden ›Amerikaner‹, wie sie Patrizia und ihren Sohn nannten, ohne Vorbehalte und freundschaftlich aufzunehmen. Mit Julia, der feinen, sensiblen Frau, die so ganz in ihrem Literarischen Zirkel und ihrer Künstlerbetreuung aufging, würde es keine Schwierigkeiten geben, wenn sie ihr die unbekannte Verwandtschaft vorstellte, aber bei Jessica, ihrer spontanen, unberechenbaren jüngsten Tochter musste sie mit Aversionen rechnen. Jessica war trotz ihrer zweiundvierzig Jahre mehr als temperamentvoll, hatte ausgeprägte moralische Ansichten und war niemals bereit, ihre Meinung zu ändern, nur um einem anderen Menschen einen Gefallen zu tun.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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