Die Familie - Richard Laymon - E-Book

Die Familie E-Book

Richard Laymon

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Beschreibung

Wie der Vater, so der Sohn ...

Über einem Höhlenlabyrinth liegt das Mordock Cave Hotel, bei Touristen sehr beliebt. Ein Familienbetrieb, geführt von Vater und Sohn Mordock. Beide legen Wert auf ihre Traditionen: Zimmer 115 ist stets für die attraktiveren Gäste reserviert. Nach einem Stromausfall wird die Mordock-Höhle für eine Touristengruppe zur Falle. Es ist dunkel. Es gibt keinen Ausweg. Und bald merken die Eingesperrten, dass in der Finsternis jemand lauert. Die Mordocks – und noch etwas anderes. Etwas, das Blut riecht. Etwas, das Fleisch will ...

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Seitenzahl: 408

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Zum Buch

Ethan Mordock und sein Sohn Kyle verwalten ein gigantisches Höhlenlabyrinth, die Touristenattraktion Mordock’s Cave. Oberirdisch führen Vater und Sohn zudem ein Hotel – und nehmen bevorzugt attraktive weibliche Gäste auf. Gerüchte besagen, dass in manchen Nächten Schreie aus dem Hotel dringen. Hinzu kommen düstere Legenden. Kyles Urgroßvater Ely soll in den Höhlen einst seine Frau Elizabeth eingemauert und zahlreiche Opfer grausam ermordet haben.

Als sich eine Besuchergruppe in der Unterwelt gefangen sieht, beginnt für die Eingeschlossenen ein Albtraum. In den Höhlen ist etwas, das nach Fleisch giert, das in der Finsternis lauert und tötet. Das blutige Treiben beginnt …

Mit Die Familie zeigt der Großmeister des kompromisslosen Horrors sich von seiner makabersten Seite – gnadenlos, tiefschwarz, einmalig.

Mit einem ausführlichen Verzeichnis aller im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Werke von Richard Laymon.

Zum Autor

Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Großbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird.

Besuchen Sie auch die offizielle Website über Richard Laymon unter www.rlk.stevegerlach.com

RICHARD LAYMON

DIE FAMILIE

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Marcel Häußler

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die OriginalausgabeMIDNIGHT’S LAIRerschien bei Leisure Books, New York.
Das komplette Hardcore-Programm, den monatlichen Newsletter sowie unser halbjährlich erscheinendes CORE-Magazin mit Themen rund um das Hardcore-Universum finden Sie unter www.heyne-hardcore.de
Copyright © 1988 by Richard LaymonCopyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Published in arrangement with Lennart Sane Agency ABRedaktion: Sven-Eric WehmeyerUmschlaggestaltung und Motiv:Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, ZürichSatz: C. Schaber Datentechnik, WelsISBN: 978-3-641-08749-4V003www.heyne-hardcore.de

Eines Tages wollt’ ich tapfer sein

Und wanderte in eine Höhle hinein.

Nicht mehr rauszukommen, fürcht’ ich jetzt,

Sterben muss ich hier zu guter Letzt.

Verrotten werd’ ich zu dürrem Gebein

Hier drunten, fern vom Sonnenschein,

Auf ewig im Dunklen liegen allein,

Hier in meinem Grab aus kaltem Stein.

Also, denk an mich und gib gut acht,

Ehe du dich wagst in der Höhle Nacht,

Denk an mich und mein Gedicht:

»Hier liegt einer, der liebte das Licht.

Doch er wollte klug und tapfer sein –

Und wanderte in eine Höhle hinein.«

ALLAN EDWARD DEPREY, Der Entdecker

1

Darcy Raines, die mit dem Rücken zur Gruppe am Bug stand, packte eine aus der Höhlenwand herausragende Felszacke und hielt das Boot an. Ohne loszulassen, drehte sie sich zur Seite.

Kyle Mordock starrte zu ihr hinauf. Die erste Sitzbank des Boots war frei. Er saß auf der zweiten, neben einem jungen Paar, das sich an den Händen hielt. Sein Platz.

Jeden Tag, seit sie vor zwei Wochen begonnen hatte, als Führerin in der Höhle zu arbeiten, war der Junge zu mindestens einer Tour aufgetaucht. Es gab noch andere Führer, doch er ging nie bei ihnen mit, nur bei Darcy. Er blieb stets in ihrer Nähe und schaffte es zumeist, denselben Sitz zu ergattern, den gleich hinter ihr, den mit dem besten Ausblick – nicht auf die Höhle, sondern auf Darcy. Er redete kaum. Er beobachtete sie einfach mit seinen winzigen wilden Augen.

Jetzt glotzte er ihren Hintern an. So wie Darcy dastand, zur Seite gedreht und einen Fuß auf den Bug gestützt, spannte sich ihre Hose eng über den Pobacken. Sie konnte Kyles Blick spüren.

Ein fünfzehnjähriger Lustmolch.

Auch wenn er der Sohn des Chefs ist, dachte sie, ich muss etwas gegen diesen Blödsinn unternehmen, sonst treibt er mich noch in den Wahnsinn.

Tom hielt das zweite Boot hinter Darcys an und nickte ihr zu, damit sie begann.

»Endstation, Leute«, sagte sie. »Alle aussteigen.«

Es erklang Gemurmel und leises Lachen in den Booten. Einige Leute sahen sich um, als wollten sie ihre Anweisung befolgen, doch dann verstanden auch sie den Scherz und lachten noch lauter als die anderen.

»Nach Ihnen«, rief ein Mann aus dem zweiten Boot.

»Das Wasser steht im Lake of Charon zu dieser Jahreszeit nur ungefähr hüfthoch, aber im Frühling steigt es durch das Versickern von Schmelzwasser und Regen deutlich an. Trotzdem kann ich ein Bad nicht empfehlen. Das Wasser ist ungefähr zehn Grad kalt.«

Darcy warf Kyle einen Blick zu. Er sah ihr ins Gesicht. Sie wandte sich ab und nickte zur Steinmauer vor dem Boot.

»Diese Trennwand«, sagte sie, »markiert das Ende des öffentlich zugänglichen Teils der Höhle. Die Mauer wurde 1923 von Ely Mordock gebaut. Ursprünglich konnte man die Höhle auf ihrer ganzen Länge erkunden – mehr als eine Meile. Etliche Jahre führte Ely Gruppen durch den natürlichen Zugang im steilen Berghang nahe der östlichen Grenze seines Grundstücks in die Höhle. Es war eine schwierige ganztägige Wanderung und nichts für schwache Nerven. Damals gab es weder den Weg noch die Beleuchtung. Ely stellte Wathosen, Lunchpakete und Fackeln zur Verfügung.

Doch er träumte davon, die Wunder der Höhle der Allgemeinheit zugänglich zu machen, nicht nur ein paar Hartgesottenen, deshalb begann er 1921 mit dem Bau der Aufzüge. Die Schächte wurden fünfundvierzig Meter tief in den Boden getrieben, um an dem ehemals hinteren Ende der Höhle einen Zugang zu schaffen. Als die Aufzüge fertig waren, wurde damit begonnen, einen Gehweg zu bauen und Beleuchtung zu installieren.

Dann kam es zu der Tragödie. Am 12. Juni 1923 wanderten Ely und seine Frau Elizabeth durch einen Abschnitt irgendwo zwischen hier und dem natürlichen Zugang, als sie ausrutschte und in eine tiefe Spalte fiel.«

»Großer Gott«, stöhnte eine ältere Frau.

»Ely ließ sich mit einem Seil hinab, doch die Spalte, in die seine Frau gefallen war, schien bodenlos zu sein, und er musste alle Hoffnung aufgeben, sie zu retten … oder ihren Leichnam zu bergen.

Er war gramgebeugt und fest entschlossen, zu verhindern, dass die Spalte weitere Todesopfer forderte. Also verschloss er den natürlichen Zugang und baute mit der Steinmauer eine dauerhafte Absperrung, damit niemand mehr die gefährliche Osthälfte der Höhle betreten konnte. Faktisch wurde damit dieser ganze Teil zur Gruft von Elizabeth Mordock.«

»Das ist schon über sechzig Jahre her«, rief ein Mann aus dem zweiten Boot. »Gibt es keine Pläne, diesen Bereich wieder zu öffnen?«

Darcy schüttelte den Kopf. »In Elys Testament ist festgelegt, dass die Mauer niemals eingerissen werden darf. Seine Nachkommen haben beschlossen, diesen Wunsch zu respektieren.«

»Kommt einem wie eine Vergeudung vor«, sagte der Mann.

Ein kräftiger Jugendlicher in Darcys Boot hob die Hand, als wäre er in der Schule. Sie rief ihn auf. »Wie wirkt sich die Mauer auf den Fluss aus?«

»Gute Frage. Die Mauer bremst den natürlichen Lauf des Flusses Styx. Ehe sie gebaut wurde, gab es keinen Lake of Charon.«

»Es ist also eine Art Damm«, sagte der Junge.

»Genau. Der Fluss war vorher in diesem Teil der Höhle nur ein paar Zentimeter tief, und die Leute konnten hier herumlaufen, statt mit dem Boot zu fahren. Unter Wasser sind sogar noch Teile des ursprünglichen Gehwegs erhalten.«

»Wie kommt es, dass nicht die ganze Höhle überflutet wird?«

»Ely war so schlau, den Durchgang nicht komplett zu verschließen. Er hat am Fuß der Mauer eine Öffnung gelassen, durch die das Wasser abfließen kann. Noch Fragen, bevor wir umdrehen?«

»Ich habe eine«, sagte eine junge Frau zwei Reihen hinter dem Jungen. »Wenn die Höhle so abgeschlossen ist, wo kommt dann die Luft her?«

»Ursprünglich gab es drei Aufzüge zur Oberfläche. Nachdem Ely den Weg zum natürlichen Zugang abgeschnitten hatte, wurde einer davon zu einem Lüftungsschacht umgebaut. Von oben wird frische Luft hereingeblasen, und das hat den zusätzlichen Vorteil, dass im Sommer die Temperatur in der Höhle steigt. Einige von Ihnen empfinden es vielleicht trotzdem als ziemlich kühl, aber wenn es die warme Luft aus dem Schacht nicht gäbe, herrschten hier nur zehn Grad, der Kälte des Wassers entsprechend. Durch die Belüftung steigt die Temperatur auf ungefähr fünfzehn Grad.

Wenn es keine Fragen mehr gibt, kehren wir jetzt um. Ehe Sie sich versehen, sind Sie wieder oben und schmoren in der Hitze.«

Ihre Bemerkung löste das übliche Kichern und Stöhnen aus.

»Hat keine Eile«, sagte jemand. Doch es gab keine weiteren Fragen.

»Sie haben vielleicht bemerkt«, fuhr Darcy fort, »dass in beiden Booten die erste Sitzreihe frei gelassen wurde. Das war kein Versehen. Wir haben das Ganze geplant. Es ist viel einfacher, Sie umzudrehen als die Boote. Deshalb möchte ich nun die Leute in der ersten besetzten Reihe bitten, vorsichtig aufzustehen, kehrtzumachen und sich auf die Sitze zu pflanzen, die wir praktischerweise frei gelassen haben.«

Die drei Ausflügler auf den vorderen Bänken beider Boote folgten ihren Anweisungen.

Dazu gehörte auch Kyle Mordock. Darcy war froh, seinem permanenten Starren zu entkommen. Bald würde sie sich auf der entgegengesetzten Seite des Boots befinden.

Auf ihr Kommando drehte sich eine Reihe nach der anderen um und setzte sich eine Bank weiter nach vorn. Insgesamt gab es sieben Sitzbänke. Es dauerte nicht lange.

»Okay, jetzt kommt für Tom und mich der lustige Teil. Wenn die Leute auf der linken Seite ein Stück zur Mitte rutschen, führen wir unser waghalsiges Kunststück vor.«

»Trommelwirbel, bitte«, sagte Tom.

In der Mitte von Darcys Boot hatte ein ungefähr siebenjähriges Mädchen den Ellbogen auf dem Dollbord liegen. Darcy lächelte sie an und winkte sie zur Seite. Die Mutter zog das Mädchen aus dem Weg.

Darcy ließ den Felszacken los. »Wenn Tom und ich großes Glück haben«, sagte sie, »erreichen wir das andere Ende des Boots, ohne nass zu werden.«

Der einzige Führer, der kürzlich bei diesem Manöver ins Wasser gefallen war, war Dick Hayden. Er hatte es letzte Woche absichtlich getan, zum Vergnügen der Touristen, und geschworen, diese Nummer nie wieder zu bringen. Als Darcy ihn fünfundvierzig Minuten danach aus dem Aufzug kommen sah, waren seine Kleider durchnässt, er zitterte, und sein Gesicht war blau. Er bekam eine Erkältung und fehlte drei Tage bei der Arbeit.

Darcy wusste von niemandem, der jemals versehentlich in das kalte Wasser gefallen wäre. Der Gang zum anderen Ende des Boots mochte schwierig erscheinen, doch sie betrachtete es als Kinderspiel.

Mit ausgestreckten Armen stieg sie auf das Dollbord. Obwohl es breiter als ihre Füße war, balancierte sie darüber, als wäre es ein Hochseil im Zirkus. Sie sah Tom auf dem Rand des anderen Boots einen ähnlichen Auftritt absolvieren.

Er verschwand.

Darcy hatte das Gefühl, ihre Sehkraft wäre auf einen Schlag erloschen.

Alles war schwarz.

Perfekter Zeitpunkt für einen Ausfall der Beleuchtung.

Leute keuchten erschrocken auf.

Sie wackelte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten.

»SCHEISSE!« Das war Tom.

Dann ein dumpfer Aufprall, ein heftiges Platschen.

Besorgte Stimmen. »Ist er runtergefallen? … Er ist gefallen! … O mein Gott!«

»Ruhe!«, rief Darcy. »Alle sitzen bleiben!« Sie griff an ihre Seite, zog die Taschenlampe vom Gürtel, schaltete sie an und richtete den Strahl auf das andere Boot. Tom war nicht da. Angst schnürte ihr die Kehle zusammen.

»Tom!«, schrie sie. Keine Antwort.

Der blasse Lichtkegel glitt an der Backbordseite des Boots über das Wasser.

Es ist nur hüfttief! Wo ist er?

Sie sah die stumpfe Spitze des Stalagmiten, der Teufelsboje genannt wurde, weniger als einen Meter neben Toms Boot aus dem Wasser ragen.

Er hatte sich gleich daneben befunden, als die Höhle dunkel wurde.

Dieser dumpfe Aufprall.

O Gott!

Darcy richtete die Taschenlampe auf das Dollbord vor ihren Füßen und eilte darüber. Die Touristen in den Booten verhielten sich still, ein Publikum, das von einer skurrilen Show gefesselt war. Am Heck hob Darcy die Taschenlampe über den Kopf und stieß sich mit dem Fuß ab. Sie landete neben dem eckigen Bug von Toms Boot. Kaltes Wasser spritzte ihr ins Gesicht, umhüllte ihre Beine, griff nach ihrem Unterleib wie eine Hand aus Eis. Ihre Füße stießen auf den Grund. Sie rutschten weg. Darcy hakte ihren linken Arm über den Rand des Boots und fing sich.

Ihre Taschenlampe sondierte das Wasser. Sie konnte den Grund unter dem gebrochenen Lichtstrahl erkennen.

Tom war nicht neben dem Boot.

Sie drehte sich und ließ den Strahl auf beiden Seiten der Teufelsboje über das Wasser gleiten.

»Vielleicht ist er unter dem Boot«, sagte jemand. »Ich glaub, ich habe ein Rumpeln gehört …«

»Halten Sie mal.« Darcy streckte die Taschenlampe der nächsten Touristin entgegen. Sie wurde ihr aus der Hand genommen.

Darcy holte tief Luft. Ihre Lungen fühlten sich an, als wären sie geschrumpft. Sie beugte sich vor, schob einen Arm unter den Metallrumpf und zog sich hinab. Das kalte Wasser schien ihren Kopf zu zerdrücken. Es drang durch ihre Jacke, die Bluse und den BH. Es berührte ihre Haut.

Darcys Augen waren offen, doch sie sah nichts.

Sie watete durch das flache Wasser unter dem Boot, während ihr Hinterkopf und ihre Schultern über den Rumpf rieben, und wedelte suchend mit den Armen.

Ihre rechte Hand stieß gegen etwas Rundes. Toms Kopf? Sie krümmte die Finger, der Mittelfinger ertastete einen schmalen Grat, die Finger links und rechts davon berührten murmelgroße …

Seine Augen. Es fühlte sich an, als wären sie offen.

Darcy zuckte zusammen und zog die Hand zurück. Dann griff sie nach vorn, die Arme ausgebreitet, um nicht wieder in sein Gesicht zu fassen. Sie ertastete seine Schultern, packte mit beiden Händen die Jacke und zog Tom zur Seite.

Sie kam unter dem Boot hervor und richtete sich auf. Es spritzte, als jemand hinter ihr ins Wasser sprang. Sie zerrte an Tom, und er brach durch die Oberfläche. Die Taschenlampe fand sein Gesicht. Toms Kopf war zur Seite geneigt. Wasser floss aus dem Mund.

Seine Augen waren nach oben gedreht, sodass man nur das Weiße sah.

»Schaffen wir ihn ins Boot.« Das war der Mann, der ins Wasser gesprungen war. Er watete an Darcy vorbei, schlang die Arme um Toms Hüfte und zog den schlaffen Körper rückwärtsgehend zum Heck des Boots. Der Lichtstrahl begleitete ihn. »Halten Sie ihn fest.«

Darcy drückte Tom an ihre Brust. Sie spürte sein Gesicht an ihren Wangen, fühlte die Bartstoppeln. Er schien nicht zu atmen.

Was, wenn er tot ist?

Der Mann hielt sich am Bootsrand fest, zog sich hoch und kletterte hinein. Dann beugte er sich vor und packte Tom unter den Achseln. Als er begann, ihn hinaufzuziehen, ließ Darcy los. Sie umklammerte Toms Hintern und hob ihn an. Er tauchte aus dem Wasser auf. Einen Augenblick lang waren ihre Händen zwischen seinen Pobacken und dem Dollbord eingeklemmt und seine gespreizten Beine unter ihren Ellbogen gefangen. Sie zog ihre Hände heraus und hob die Arme. Toms Beine schnellten hoch, und er fiel rückwärts ins Boot.

Darcy zog sich rechtzeitig zum Boot, um zu sehen, wie der Mann Tom auf die freie Bank legte. Als sie sich hochstemmte, huschte der Lichtstrahl der Taschenlampe von dem Mann zu Tom. Darcy erhaschte einen Blick auf die blutige rechte Seite seines Kopfes. Dann stellte der Mann sich breitbeinig über ihn und beugte sich zu Tom hinab. Jemand griff nach Darcy, packte ihren Oberarm und half ihr, sich über das Dollbord ins Boot zu winden. Sie landete auf dem Schoß ihres Helfers, rutschte herunter und war eingeklemmt zwischen seinen Knien und den Beinen des Mannes, der über Tom stand.

»Ich habe eine Erste-Hilfe-Ausbildung«, sagte sie.

Der Mann ignorierte sie. Seine Hand lag um Toms Kehle. Dann schob er einen Finger in seinen Mund.

»Hat er Puls?«

Er nickte. Sein Finger kam mit ein paar Speichelfäden wieder heraus. Er legte Toms Kopf in den Nacken und blies Luft in den offenen Mund.

Er weiß, was er tut, dachte Darcy. Gott sei Dank.

Sie richtete sich mühsam auf und drehte sich um. Eine junge Frau auf der ersten Sitzbank hatte die Taschenlampe. Sie hielt sie auf Tom und den Mann gerichtet.

Darcy hörte ein Gewirr von Stimmen, die alle zugleich Fragen stellten. Sie hob eine Hand, um für Ruhe zu sorgen.

»Sie fragen sich bestimmt alle … Tom ist gestürzt, als das Licht ausging, und ich glaube, er ist mit dem Kopf auf diesen Stalagmiten neben dem Boot geschlagen. Aber wir haben ihn rausgeholt, und ein Herr gibt ihm Mund-zu-Mund-Beatmung. Ich glaube, er kommt wieder in Ordnung.«

»Man muss Sie für Ihr schnelles Handeln loben«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit.

Es erklang zustimmendes Gemurmel und vereinzelter Applaus.

»Das Wichtigste ist jetzt«, sagte sie, »dass wir alle Ruhe bewahren.« Darcy zitterte heftig. Sie schlang die Arme um die Brust. »Offenbar gab es einen Stromausfall. Ich bin sicher, dass das bald behoben wird und das Licht wieder angeht. Bis dahin gibt es keinen Grund zur Beunruhigung. Wir sind hier völlig sicher. Verdammt, eine Höhle ist der sicherste Platz auf der Welt, was auch immer oben vorgehen mag.«

Das hätte ich nicht sagen sollen.

Das anschwellende Getuschel klang beunruhigt.

»Ich will damit nicht sagen, dass oben etwas passiert ist«, fügte sie hinzu.

»Woher kommt der Strom?«, fragte jemand.

»Generatoren in der Anlage.«

»Ist so etwas schon mal passiert?«

»Nicht, dass ich wüsste. Aber ich bin neu hier. Kyle!«, rief sie. »Sind die Generatoren schon mal ausgefallen?«

»Nein. Noch nie.«

Scheiße.

»Es ist etwas passiert!«

»Krieg«, murmelte jemand. »Ein Atomkr…«

»So ein Blödsinn«, schnauzte Darcy. »Wahrscheinlich ist es nur eine ganz normale Panne. Sie werden es ruckzuck repariert haben. Deshalb sollten wir niemanden durch abwegige Vermutungen …«

Hinter Darcy ertönten Würggeräusche. Sie wandte sich um. Der Mann erhob sich schnell und drehte Tom auf die Seite, als wässriges Erbrochenes aus seinem Mund schoss. Es bespritzte die Hose der Frau mit der Taschenlampe. Tom würgte immer noch. Dann begann er, zu husten und zu stöhnen.

Er erholt sich, dachte Darcy.

Doch sie verspürte keine Erleichterung.

Dieser Idiot mit seinem Atomkrieg.

Mein Fehler, sagte sie sich. Ich habe ihn wahrscheinlich auf die Idee gebracht. Erdbeben und Atomkrieg. Wenn eine Höhle der sicherste Platz ist. Vielleicht sollte ich das aus meiner Rede streichen.

Aber was ist dann oben geschehen? Irgendwas hat auf jeden Fall den Strom ausgeknipst.

Sie dachte an ihre Mutter, die zu Besuch gekommen war und in dem Hotel gleich über der Höhle wohnte. Was, wenn es wirklich eine Katastrophe gegeben hatte?

»Was ist mit den Aufzügen?«, fragte eine Stimme hinter ihr.

Sie sah über die Schulter. »Sie werden auch nicht funktionieren. Aber, wie gesagt, ich bin sicher, dass die Stromversorgung bald repariert wird.«

»Na toll.«

»Wir sind hier gefangen«, flüsterte jemand in der Nähe.

»Ich bin sicher«, sagte Darcy, »dass wir alle rechtzeitig zum Mittagessen raus sind.«

Mit gedämpften Stimmen besprachen die Leute die Lage und beruhigten ihre Ehepartner und Kinder oder teilten ihre Bedenken mit Freunden und Fremden.

Darcy drehte sich wieder zu Tom. Er richtete sich hustend auf und drückte sich ein Taschentuch an die Seite des Kopfes. Der Mann hielt ihn mit einer Hand an der Schulter fest.

»Wie fühlst du dich, Kumpel?«, fragte sie.

Tom antwortete mit einem Stöhnen.

»Schlecht?«

»Wie ein Stück Scheiße«, ächzte er.

Es tat gut, seine Stimme zu hören. Darcys Kehle schnürte sich zusammen. Sie strich mit einer Hand über das nasse Haar auf seinem Kopf. »Wir bringen dich so schnell wie möglich hier raus.«

Er blickte zu ihr auf. Die Frau mit der Taschenlampe war so klug, ihm nicht in die Augen zu leuchten, doch das Streulicht erhellte sein Gesicht. Seine Gesichtzüge wirkten schlaff, die Augenlider hingen herunter, der Mund stand offen. »Was zum …?«

»Ein Stromausfall.«

Er seufzte und löste dadurch einen Hustenanfall aus.

Der Mann neben ihm auf der Bank stand auf. »Warum legen Sie sich nicht hin?«, schlug er Tom vor. »Wir finden etwas, um Sie zuzudecken.«

»Er kann meine Jacke haben«, sagte der Mann, der Darcy ins Boot geholfen hatte.

Darcy setzte Tom behutsam auf die Bank. Er legte die Füße auf das Dollbord. Bald war er mit drei Jacken und einem Pullover zugedeckt.

»Das sieht ganz bequem aus«, sagte sie.

»Wir sollten ihn so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen«, sagte der Mann neben ihr. »Er hat wahrscheinlich einen Schock und eine leichte Gehirnerschütterung, aber die Kopfverletzung … man kann nie wissen.«

Darcy sah ihn an. Er war ein großer, kräftiger Mann mit breitem Gesicht und ausladenden Schultern. Er trug ein Sweatshirt. »Danke für all die Hilfe«, sagte sie. »Sind Sie Arzt?« Eigentlich sah er eher wie ein Footballspieler aus.

»Ich habe während meines Jurastudiums als Krankenpfleger gearbeitet. Und ich war ein paar Jahre Polizist. Aber vielleicht gibt es hier unten einen Arzt.«

Unten den vierzig Touristen in den Booten könnte es zumindest einen Arzt geben. Darcy wandte den Kopf und fragte nach.

Kein Glück.

»Tja, es war einen Versuch wert.« Sie streckte dem Mann die Hand entgegen. »Ich bin Darcy Raines«, sagte sie, obwohl sie sich zu Beginn der Tour schon der ganzen Gruppe vorgestellt hatte.

»Greg Beaumont.« Er erinnerte sich, dass seine Hand mit Toms Speichel verschmiert war, und wischte sie an seiner Jeans ab. Darcy kümmerte es nicht. Sie drückte seine große Hand, als er sie hob.

»Danke noch mal«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich sonst getan hätte.«

»Du hast genau das Richtige gemacht. Aber es freut mich, dass ich helfen konnte. Und jetzt sollten wir uns darum kümmern, wie wir hier rauskommen.«

»Wir können hier nicht raus«, flüsterte sie. »Die Aufzüge sind der einzige Ausweg und …«

»Wir sollten zumindest so tun, als ob«, sagte Greg. »Bis jetzt haben sich die Leute gut gehalten, aber sie werden bald anfangen durchzudrehen.«

In der Dunkelheit hinter ihnen begann ein Kind zu weinen.

2

Sie werden anfangen durchzudrehen, dachte Darcy. Doch solange sie in den Booten blieben, war es unwahrscheinlich, dass jemand verletzt würde. Früher oder später würde das Licht mit Sicherheit wieder angehen.

Es gab nur eine Taschenlampe, sofern nicht Toms noch funktionierte. Trotz des Gehwegs und der Geländer, die von der Anlegestelle zu den Aufzügen führten, würde es schwierig werden, die ganzen Leute durch die Dunkelheit zu geleiten. Der Weg war kurvig, abschüssig und von Stufen unterbrochen. Stürze waren fast unvermeidlich. Und was war mit Tom? Was, wenn er nicht aus eigener Kraft laufen konnte? Man würde ihn stützen oder sogar tragen müssen.

Das alles, um zwei Aufzüge zu erreichen, die ohnehin nicht funktionierten, ehe die Stromversorgung wiederhergestellt war. Und dann würde auch das Licht wieder angehen. Warum sollten sie also nicht einfach abwarten und erst den Rückweg antreten, wenn die Höhle wieder hell erleuchtet war?

Was, wenn das noch Stunden dauert?

Was, wenn es bis morgen dauert?

Was, wenn es niemals passiert?

Bei diesem Gedanken verkrampfte sich Darcys Magen, und sie begriff, dass alle in den Booten sich dasselbe fragten, dasselbe aufkommende Entsetzen empfanden.

Plötzlich fiel ihr Lynns Gruppe ein. Waren diese Leute auch hier unten eingeschlossen? Vermutlich nicht. Sie waren auf ihrem Rückweg an Darcy vorbeigekommen, eine ganze Weile vor dem Stromausfall.

Die Führungen waren so angesetzt, dass sie sich überlappten; jede dauerte eineinhalb Stunden. Lynns Gruppe sollte also ungefähr zur selben Zeit oben angekommen sein, als Darcy Elys Mauer erreicht hatte.

Es war wahrscheinlich knapp. Vielleicht hatten sie es geschafft, vielleicht auch nicht.

Eine Hand drückte ihren Unterarm. Sie sah zu Greg. »Selbst wenn wir hier unten festsitzen«, flüsterte er, »sollten wir doch pro forma am Plan festhalten. Das ist besser, als einfach hier zu warten und die Leute ihren Sorgen zu überlassen.«

»Ich glaube, du hast recht«, sagte sie. »Aber wir können die Boote nicht an den Felszacken durchs Wasser ziehen wie auf dem Hinweg. Das ist im Hellen schon schwierig genug.«

»Sollen wir sie schleppen?«, schlug er vor.

»Sonst müssten alle durchs Wasser waten. Ich nehme dieses Boot und gehe vor. Bist du bereit für ein Bad, oder sollen wir nach Freiwilligen fragen?«

»Ich bin sowieso schon nass.«

»Danke.«

»Kein Problem.«

Darcy wandte sich den Passagieren zu. Viele redeten gedämpft miteinander. Das Kind, das vorhin laut geweint hatte, schluchzte nun leise. Die Gespräche klangen aus, als die Taschenlampe Darcys Gesicht beleuchtete.

»Tom scheint es schon viel besserzugehen. Ich möchte mich bei den Leuten bedanken, die ihre Jacken hergegeben haben, damit er nicht auskühlt. Ich bin sehr erfreut darüber, wie Sie sich alle angesichts dieser Situation, die bestimmt bald vorüber ist, verhalten haben. Während wir darauf warten, dass das Licht wieder angeht, werden Greg und ich zurück ins Wasser hüpfen und die Boote zur Anlegestelle schleppen. Ich bin sicher, Sie werden sich alle viel besser fühlen, wenn Sie erst trockenen Boden unter den Füßen haben.«

»Und dann?«, fragte jemand.

Ehe sie antworten konnte, sagte Greg: »Wir sollten Schritt für Schritt vorgehen, Leute.« Er klopfte Darcy auf den Rücken, dann sprang er aus dem Boot.

Darcy folgte ihm. Das Eintauchen ins kalte Wasser war ein Schock, doch es kam ihr nicht ganz so schlimm vor wie zuvor. Sie hielt sich am Dollbord fest. »Sie da mit der Taschenlampe?«

Die Frau sah sie an.

»Wie heißen Sie?«

»Beth.«

»Das haben Sie gut gemacht, Beth. Danke. Richten Sie die Lampe jetzt einfach nach vorn, damit ich sehen kann, wohin ich gehe.«

»Gut.«

Darcy watete vor das Boot. Sie umklammerte mit beiden Händen den Metallrand und lehnte sich zurück. Das Boot glitt träge auf sie zu. Sie ging rückwärts, und es wurde schneller. Als es sich ruhig durchs Wasser bewegte, lenkte sie es von der Höhlenwand weg.

Das kalte Wasser kletterte an ihr empor. Sie biss die Zähne zusammen, als es ihre Brüste umspülte.

Mach dir warme Gedanken, sagte sie sich.

Wenn du hier raus bist, kannst du in der Sonne braten. Niemand wird von dir erwarten, dass du heute noch eine Tour übernimmst. Du wirst den Nachmittag frei haben. Geh mit deiner Mutter zum Hotelpool und mach es dir in einem Liegestuhl bequem.

Falls du hier rauskommst. Falls es das Hotel noch gibt. Falls es deine Mutter noch gibt.

Verdammt, da oben ist nichts passiert!

Warum ist dann das Licht noch nicht wieder an?

»Wie läuft’s, Greg?«, rief sie, um sich nicht länger mit diesen beunruhigenden Gedankenspielen beschäftigen zu müssen.

»Kein Problem.«

Sie blickte über die Schulter. Der Strahl der Taschenlampe durchkreuzte die Dunkelheit und hinterließ ein paar Meter hinter ihr einen glänzenden Fleck auf dem Wasser. »Halten Sie sie höher, Beth.«

Das Licht hob sich. Fast am Ende der Reichweite des Strahls befand sich die Anlegestelle, eine hölzerne Plattform, die sich am hinteren Ende der Höhle entlangzog. Vielleicht zwanzig bis dreißig Meter entfernt.

»Nur noch ein paar Minuten«, sagte Darcy.

»So lasset uns singen.« Das war Greg. Darcy lächelte. Ein paar Ausflügler lachten. Eine Frau in ihrem Boot begann tatsächlich, ein Lied anzustimmen: »O Darcy, zieh das Boot ans Ufer.« Weiteres Gelächter. Niemand stimmte in ihren Gesang ein, und nach dem ersten »Halleluja« klang ihre Stimme langsam aus.

Darcy trat ins Leere. Ihr anderer Fuß rutschte weg. Sie keuchte erschrocken auf und sank bis zum Kinn ins Wasser, bevor sie sich hochziehen konnte. Sie hielt sich am Boot fest. Es zog sie rückwärts mit sich. Sie spürte, wie ihre Beine unter dem Boot nach oben trieben und die Knie leicht gegen den Rumpf schlugen. Das Boot wurde langsamer. Eine Stimme vom anderen Ende sagte: »Passen Sie auf.«

»Was zum …?«, sagte Greg.

Darcys Boot wackelte und bekam einen kleinen Schub nach vorn.

»Alles klar?«, rief sie.

»Kein Problem.«

»Er wurde beinahe zerquetscht«, sagte eine Frau.

»Schon okay«, sagte Greg. »Gibt’s Probleme?«

»Ich hab nur den Boden unter den Füßen verloren.« Darcy ließ ihre Füße herabsinken. Sie fanden den steinigen Grund. »Jetzt ist wieder alles in Ordnung.« Darcy zog an dem Boot. Es bewegte sich langsam vorwärts. »Pass auf das Loch auf, Greg.«

»Klar. Ich hoffe, hier unten gibt’s keine Haie.«

»Wir sind hier die einzigen Wildtiere.«

»Ein beschissenes Komikerduo«, sagte eine Stimme.

»Passen Sie auf, was Sie sagen«, blaffte Darcy. »Es sind auch Kinder hier unten.«

»Und wenn schon.«

»Mister!«, ermahnte Darcy ihn.

»Leck mich doch.«

»Dad, hör auf.« Ein Kind. Darcy vermutete, es war der vierzehn oder fünfzehn Jahre alte Junge mit Brille und rotem Kapuzenpullover – der Junge, der während der Führung neben dem Mann mit dem mürrischen Gesicht gegangen war. Der Junge, an dessen Arm grob gezerrt worden war, nur weil er stehen bleiben und einen zweiten Blick auf den Indianergesicht-Felsen hatte werfen wollen.

Es mussten diese beiden sein.

»… so mit mir zu sprechen«, murmelte der Vater drohend.

»Aua, nicht.«

»Schluss jetzt dahinten, du Schnösel.« Die Stimme eines anderen Mannes.

»Kümmer dich um deinen eigenen Kram, alter Sack.«

»Hey!«, rief Darcy.

»Okay, Kumpel.« Greg. »Du bist der Typ mit der Peterbilt-Kappe und den Cowboystiefeln. Du nimmst dich jetzt sofort zusammen.«

Stille.

Es muss ein echter Schock für den Spinner sein, dachte Darcy, zu hören, wie ihn jemand beschreibt, der ihn im Dunklen nicht mal sehen kann.

Sie blickte erneut über die Schulter. Die Taschenlampe war noch immer auf die Anlegestelle gerichtet. »Wir sind gleich da«, sagte sie.

Nur noch ungefähr zehn Meter. Obwohl es nicht besonders anstrengend war, das Boot zu ziehen, spürte Darcy die ersten Schmerzen. Ihre Arme waren nur ein wenig schwer, doch die Rückenmuskeln – besonders an den Schulterblättern, aber auch weiter unten am Rückgrat – waren heiß, taten weh und fühlten sich an, als verknoteten sie sich. Ihre Hinterbacken schmerzten ebenfalls. Genau wie die Rückseiten ihrer Beine.

Das ist der Lauf der Dinge, dachte sie. Man wird einundzwanzig, und der Körper verabschiedet sich. Von da an geht es nur noch bergab.

Sie grinste.

Der widerliche Deke hatte sie nach der Party letzten Monat auf dem Parkplatz von Sam’s festgehalten und versucht, dem besoffenen Geburtstagskind einen Kuss abzuringen, und sie hatte ihn von Kopf bis Fuß vollgekotzt. Was er für ein Gesicht gezogen hatte! Dann hatte er selbst gereihert und sie verfehlt, weil sie zur Seite gesprungen war. Die Geschichte zirkulierte auf dem gesamten Campus. Man hatte begonnen, sie »Kübel-Darcy mit dem Kuss des Todes« zu nennen.

Gott sei Dank hatte das Semester kurz darauf geendet.

Im Herbst, dachte sie, wird das alles Geschichte sein.

Im Herbst könnte ich Geschichte sein.

Ihr Magen verkrampfte sich.

Uns passiert nichts.

Vergiss den Pool. Ich verbringe den Nachmittag lieber in der Badewanne, in so heißem Wasser, dass der Spiegel beschlägt. Dann gehe ich mit meiner Mutter in die Cocktailbar. Genehmige mir einen Doppelten. Alles, nur kein Bier. Vielleicht einen Mai Tai. Vielleicht wird Greg auch da sein.

Ich frage mich, wie er im Licht aussieht.

Er ist älter als ich, aber nicht viel. Unter dreißig.

Darcy musste ihn vor dem Stromausfall gesehen haben, aber sie konnte sich nicht erinnern. Sie überlegte, ob er allein unterwegs war.

Wahrscheinlich wird er sowieso abreisen, sobald wir hier raus sind. Das tun alle. Wenn Leute in dem Hotel übernachten, dann normalerweise vor der Führung. Nachdem sie die Höhle gesehen haben, fahren sie ab, entweder nach Hause oder zur nächsten Sehenswürdigkeit, die sie auf ihrer Reisekarte angekreuzt haben.

Ich werde ihn nicht gehen lassen, dachte sie. Nicht, ehe ich ihm wenigstens einen Drink spendiert habe.

Vielleicht hat er seine Frau dabei.

Ich spendiere ihr auch einen Drink. Wir müssen es einfach feiern, wenn wir aus diesem Schlamassel rauskommen.

Und wir werden aus diesem Schlamassel rauskommen.

Darcy blickte weiter hinter sich. Ein paar Meter vor der Anlegestelle ließ sie ihre Hände über den Rand des Boots wandern, trat um den Bug herum und schob. »Vorsicht dahinten«, sagte sie. »Wir werden langsamer.«

Das Boot glitt vor ihr vorbei. Sie befand sich zwischen der Längsseite und dem Steg. Als es zum Stillstand kam, packte sie mit beiden Händen das Dollbord und lehnte sich nach hinten. Ihre Rückenmuskeln brannten vor Anstrengung. Das Boot bewegte sich langsam auf sie zu.

Ein Mann im Bug, der neben Beth saß, Darcy an Bord geholfen und als Erster seine Jacke Tom angeboten hatte, sprang heraus und landete auf dem Steg. Beth leuchtete ihm mit der Taschenlampe. Darcy beobachtete ihn, während sie an dem Boot zog. Er eilte über die Planken, setzte sich schnell rechts von ihr hin und streckte die Beine aus.

Darcy ließ das Dollbord los. Sie drehte sich um. Das Boot stieß ihr gegen den Rücken, doch sie musste nun nicht mehr befürchten, gegen den Steg gequetscht zu werden. Der Mann hielt das Boot mit den Füßen auf Abstand, während sie sich hochstemmte und herauskletterte.

Sie knieten nebeneinander auf dem Steg, zogen an den ausgestreckten Armen der Passagiere, um das Boot näher heranzuholen, packten dann das Dollbord und brachten es längsseits.

»Alle sitzen bleiben!«, sagte Darcy atemlos. »Warten Sie, bis beide Boote sicher am Steg liegen.«

Beth und zwei andere Touristen ignorierten die Anweisung und sprangen heraus. Auch egal, dachte Darcy. Beth leuchtete dem Mann und der Frau, die sich weiter hinten auf den Steg knieten und nach dem Boot griffen. Sobald sie es gepackt hatten, lief Beth nach vorn und richtete die Lampe auf Gregs Boot.

Greg watete auf die andere Seite und schob das Boot dicht genug heran, damit Darcy und der Mann es übernehmen konnten. Sie zogen es an den Steg, und drei Passagiere, unter ihnen Kyle Mordock, sprangen heraus und begannen, es an den Pollern zu vertäuen.

Als Darcy aufstand, sah sie Greg im Halbdunkel am anderen Ende des Boots aus dem Wasser klettern. Sie ging zu ihm.

»So weit, so gut«, sagte er.

»Ich gebe dir einen Drink aus, wenn wir hier raus sind«, sagte sie.

»Eine schöne heiße Tasse Kaffee.« Er zog sein Sweatshirt aus, hielt es auf Armlänge vor sich und begann, es auszuwringen. Sein Oberkörper war nur ein heller, verschwommener Fleck über der dunklen Jeans, doch Darcy sah, dass Greg vor Kälte die Schultern hochzog. Sie hörte Wasser auf die Bretter plätschern. »Willst du nicht zurückgehen und die Gruppe vorbereiten?«, schlug er vor. »Ich bin in einer Minute bei dir.«

»Klar.« Sie nahm an, dass er seine Hose auswringen wollte.

Er drehte sich um und ging weiter in die Dunkelheit hinein.

Darcys eigene Kleider waren durchnässt und kalt. Sie dachte an die Grotte am anderen Ende des Stegs.

Sie wandte sich den Booten zu. Die Passagiere stiegen bereits aus. Sie bahnte sich einen Weg durch sie hindurch. »Greg und ich wollen uns ein paar Minuten ausruhen und trocknen. Dann werden wir zusammen zu den Aufzügen wandern. In der Zwischenzeit bleiben Sie bitte alle hier und versuchen, nicht ins Wasser zu fallen.«

Ein paar Leute lachten.

Die Bank in dem vorderen Boot, auf der Tom gelegen hatte, war leer. Sie entdeckte ihn auf dem Steg, gestützt von dem Mann, der ihr mit den Booten geholfen hatte. Sein Kopf hing herab. Er drückte immer noch das Taschentuch auf die Wunde. »Wie geht es dir, Tom?«

»Ich glaub, ich werd’s überleben«, murmelte er.

»Danke für die Hilfe«, sagte sie zu dem anderen Mann. »Sind Sie Beths Mann?«

Er nickte. »Ich heiße Jim. Jim Donner.«

»Sie waren eine große Hilfe, Jim. Und Beth auch. Das weiß ich sehr zu schätzen.«

»Hey, wir müssen hier gemeinsam durch.«

»Können Sie sich um Tom kümmern, bis ich zurück bin?«

»Klar.«

Sie griff nach der Taschenlampe, die an Toms Gürtel hing, zog sie ab und drückte den Schalter. Ein weißer Strahl schoss heraus. Die Helligkeit machte ihr bewusst, wie schwach und gelblich das Licht der anderen Lampe geworden war.

Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte Darcy sich, dass ihr niemand folgte, dann eilte sie über die Bretter zum Betonweg. Ein paar Meter weiter stieß sie auf die steinernen Stufen, lief hinauf und betrat die Grotte.

Als Darcy die Grotte vor zwei Wochen zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie die Ausmaße eines kleinen runden Kämmerchens gehabt. Nun war sie ein wenig größer. Neben dem Eingang stand eine Schubkarre mit Kalksteinklumpen, die aus den Wänden geschlagen worden waren. Eine Spitzhacke lehnte an der Seite der Schubkarre.

Cubby Wales, Ethan Mordocks Handwerker, war unter der Woche hier gewesen und hatte die Grotte erweitert. Wenn sie groß genug war, wollte Ethan dort eine Chemietoilette für die Besucher einbauen.

Schade, dass heute Samstag ist, dachte Darcy. Es wäre schön, einen einsatzfähigen Mitarbeiter dabeizuhaben.

Sie legte die Taschenlampe auf den Steinhaufen in der Schubkarre, sodass der Strahl von ihr weg wies. Der Lichtkegel breitete sich auf der Seitenwand aus und erleuchtete die kleine Nische.

So schnell es ging, zog sie Schuhe und Socken aus. Der Boden war rau unter ihren nackten Füßen, deshalb breitete sie ihre Jacke aus und stellte sich darauf. Sie stand mit dem Rücken zum Eingang, während sie die restlichen Kleider ablegte. Obwohl die Klamotten nass und klamm waren, fühlte sie sich ohne sie noch schlechter. Die kalte Luft der Höhle schien in ihre feuchte Haut zu dringen. Sie bekam eine Gänsehaut, und die Brustwarzen wurden hart und schmerzten. Ihre Kiefermuskeln taten ebenfalls weh, weil sie die ganze Zeit über die Zähne aufeinanderbiss.

Eine Weile stand sie leicht vorgebeugt und zitternd da, die Beine zusammengepresst, um sich zu wärmen, und rieb mit den Händen hektisch über ihre genoppte Haut. Es schien nicht viel zu helfen.

Mit einer steifen Hand nahm sie ihr Höschen vom Griff der Schubkarre, knüllte es zusammen und drückte. Wasser rann durch ihre Finger. Als sie keinen Tropfen mehr aus dem dünnen Soff wringen konnte, schüttelte sie ihn auseinander. Sie hüpfte von einem Bein auf das andere, während sie in das Höschen stieg, und zog es schließlich hoch. Es war feucht, aber viel angenehmer als vorher. Der enge Sitz fühlte sich gut an.

Aber nicht gut genug. Sie zitterte immer noch vor Kälte, als sie sich vorbeugte und ihre Hose von der Schubkarre nahm. Mühsam zog sie den Gürtel aus den nassen Schlaufen, leerte die Taschen und warf ihre Börse mit dem Wechselgeld, Schlüssel, Kamm und Taschentuch auf die Jacke unter ihren Füßen.

Sie verdrehte ein langes blaues Hosenbein zu einem dünnen Knüppel, und Wasser plätscherte auf ihre Füße. Dann nahm sie das andere Hosenbein, begann, es auszuwringen …

… und zuckte zusammen, als sie ein leises Knirschen hinter sich hörte. Ein Schritt? Sie wirbelte herum.

Kyle stand im Eingang.

Sie riss die Hose hoch, um ihre Brüste zu bedecken. »Verdammt!«, schimpfte sie. »Raus hier!«

In dem schwachen Licht der Taschenlampe sah sie, wie Kyle ein schmallippiges Grinsen aufsetzte. »Ich dachte, Sie könnten das gebrauchen«, sagte er und streckte ihr seine Jacke entgegen. »Die ist trocken«, fügte er hinzu.

»Danke.« Ihre Stimme bebte. Sie klemmte die Hose mit dem Unterarm an ihre Brüste und nahm mit der anderen Hand die Jacke.

»Mal sehen, ob sie passt«, sagte er.

»Da bin ich sicher.«

»Ach, kommen Sie.«

»Du hast mich schon gesehen, Kyle.«

»Nicht absichtlich. Ich bin nur gekommen, um Ihnen einen Gefallen zu tun.«

»Und das weiß ich zu schätzen. Jetzt geh bitte zurück. Ich bin in einer Minute bei euch.«

Sein Grinsen wurde breiter. »Möchten Sie meine Hose?«

Darcy schüttelte den Kopf. »Die Jacke reicht. Danke.« Eigentlich wollte sie ihn erneut bitten zu gehen, doch dann fragte sie stattdessen: »Hast du irgendeine Idee, was mit dem Licht passiert sein könnte?«

»Vielleicht hat es jemand ausgeschaltet.«

Auf diesen Gedanken war sie noch gar nicht gekommen. Sie war von Beginn an davon ausgegangen, dass das Licht wegen eines Stromausfalls erloschen war. Wenn es nur ausgeschaltet worden war, könnten die Aufzüge noch funktionieren.

»Gut, dass ich dich gefragt habe«, murmelte sie.

»Aber ich glaub nicht, dass es daran liegt«, sagte Kyle. »Ich glaube, es sind die Generatoren. Ich meine, wer würde denn das Licht ausschalten?«

Darcy schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Jedenfalls, danke noch mal für die Jacke. Bis gleich.«

Er wandte sich um und verschwand in der Dunkelheit. Seine Schritte wurden leiser.

Würde mich nicht überraschen, dachte Darcy, wenn er sich zurückschleicht, um noch einen Blick zu riskieren.

Verrückter kleiner Widerling.

Nimm’s ihm nicht übel, dachte sie. Er hat mir die Jacke gebracht.

Das war nur eine Ausrede, weil er mich anglotzen wollte. Ich hätte wissen müssen, dass er so was macht.

Sie drehte sich mit dem Rücken zum Eingang, klemmte die Jeans zwischen die Beine und schlüpfte in die Jacke. Es war ein Anorak aus Synthetik, der sich schwerelos anfühlte. Das Material schmiegte sich glatt und kühl an die Haut. Darcy beugte sich mit gesenktem Kopf vor, um sehen zu können, wie ihre zitternden Hände sich mit dem Reißverschluss abmühten. Und bemerkte, dass das feuchte Höschen an ihr klebte wie eine durchsichtige Haut.

Sie fühlte sich elend.

Der Mistkerl hätte auch nicht mehr gesehen, wenn ich nackt gewesen wäre, dachte sie.

Scheiß auf ihn!

Schließlich schaffte sie es, den Reißverschluss einzufädeln. Sie zog den Verschluss hoch.

Und seufzte kurz darauf erleichtert, als sie spürte, wie die Jacke ihre Körperwärme speicherte.

Zumindest habe ich so die Jacke bekommen, sagte sie sich. Obwohl ich lieber gefroren hätte, als von dem kleinen Scheißer von Kopf bis Fuß begafft zu werden.

Darcy zitterte immer noch, als sie ihre Hose zu Ende auswrang. Doch es lag nicht an der Kälte – sie zitterte vor Wut und Scham.

Schlimm genug, dass er meine Brüste gesehen hat.

Vielleicht hat er das andere gar nicht bemerkt.

Extrem unwahrscheinlich. Er ist klein, und er stand unter mir. Er konnte alles gut sehen.

Sie stieg in ihre Hose und zog sie hoch. Nachdem sie die Sachen zurück in die Taschen gestopft hatte, zog sie den Gürtel durch die Schlaufen und schloss die Schnalle. Sie wrang das Wasser aus den Socken, zog sie an und schlüpfte in die Schuhe.

Es war ein gutes Gefühl, wieder angezogen zu sein. Von der Hüfte abwärts war sie nass und fror, doch die Jacke spendete genügend Wärme, um die Unannehmlichkeit zu verringern.

Sie überlegte, was sie mit den übrigen Kleidern tun sollte. Auf keinen Fall wollte sie sie anziehen. Sie hätte den BH und die Bluse in die Jacke wickeln und die Sachen mitnehmen können, doch das schien ihr zu umständlich. Ich hole sie einfach beim nächsten Mal ab, wenn ich hier unten bin, überlegte sie und hängte die Jacke über den Schubkarrengriff.

Als Kyle die Stufen hinabgestiegen war, ging er noch ein paar Schritte weiter, damit Darcy glaubte, er würde sich entfernen. Die Touristen waren nach wie vor am Steg versammelt. Ihre Körper hielten den Großteil des Lichts der anderen Taschenlampe ab. Er beobachtete sie, bis er sicher war, dass niemand in seine Richtung kam, dann drehte er sich um und ging langsam auf leisen Sohlen zurück.

Er blieb am Fuß der sechs Steinstufen stehen und sah zu Darcy hinauf.

Sie hatte die Jacke an und stand mit dem Rücken zu ihm. Ihr Kopf war gesenkt, und sie schien zu versuchen, den Reißverschluss zu schließen. Die Jacke war nicht lang genug, um ihre Hüften zu bedecken. Über dem knappen, tief sitzenden Höschen blieb ein Streifen nackter Haut frei.

Obwohl ihr Rücken im Schatten lag, konnte er die dunkle geschwungene Linie erahnen, die sich zwischen ihre Hinterbacken zog.

Sie zog den Reißverschluss hoch und begann, ihre Hose auszuwringen.

Kyle starrte die langen schlanken Beine unterhalb der weichen Rundungen ihres Hinterns an.

Er wünschte, sie würde die Jacke ausziehen und ihm einen neuerlichen Blick auf ihre Vorderseite gewähren. Mehr als alles wollte er noch einmal ihre Brüste sehen. Als sie sich vorhin umgedreht hatte, hatte er sie einen Augenblick lang im Hellen erblickt. Sie waren blass gewesen, mit aufgerichteten Nippeln. Dann hatte Darcy sie bedeckt, und ihre Vorderseite hatte im Schatten gelegen.

Es könnte sein, dass sie die Jacke noch einmal auszieht, sagte er sich. Vielleicht will sie den BH und die Bluse wieder anziehen. Aber dazu muss sie sich nicht umdrehen.

Trotzdem könnte es sich lohnen zu bleiben. Wenn sie sich nur ein wenig zur Seite drehte, würde er zumindest einen Blick erhaschen.

Amy Lawson konnte Darcy nicht das Wasser reichen.

Sie gehört dir, hatte Dad gesagt.

Was, wenn er mit Darcy das Gleiche tun könnte wie mit Amy?

Kyle hatte schon oft daran gedacht, doch jetzt war es fast zu viel für ihn.

Er rieb sich mit dem Handrücken über die trockenen Lippen. Sein Herz hämmerte. Die Erektion, die hart gegen seine Jeans drückte, fühlte sich an, als stünde sie kurz vor der Explosion.

Mit Darcy das Gleiche tun, was er mit Amy getan hatte.

Sie in Zimmer 115 bringen.

Danach würde man sie entsorgen müssen. Aber das war okay.

3

Vor einer Woche, am Freitag, hatte Amy Lawson im Mordock-Hotel eingecheckt. Kyle sah sie zum ersten Mal, als sie zum Abendessen ins Restaurant kam. Es war seine Aufgabe, den Gästen Plätze zuzuweisen.

Amy kam allein. Sie schien ungefähr in Darcys Alter zu sein, war jedoch nicht annähernd so hübsch. Ihr Haar war lang und braun, nicht kurz und goldblond. Sie war ein Stückchen kleiner als Darcy, hatte größere Brüste und war auch um die Hüften herum fülliger. Unter dem Saum ihres Kleids ragten stämmige Waden hervor. Sie war eher kräftig als dick, doch Kyle gefiel Darcys schlanke Gestalt besser. Ihr Gesicht war jedoch sympathisch und wirkte ziemlich hübsch, als sie ihn anlächelte.

»Darf ich Sie an einen Tisch führen?«, fragte er.

»Bitte. Danke.« Ihre Augen verrieten die übliche Belustigung darüber, dass ein Junge in Kyles Alter als Platzanweiser fungierte. Er gab sich nicht die Mühe, es ihr zu erklären. Diese Frau würde wie alle einfach annehmen, dass er mit dem Inhaber verwandt war.

»Essen Sie allein?«

Sie nickte.

Kyle führte sie durch den Speisesaal zu einem Tisch für zwei Personen, von dem aus man einen schönen Blick auf die Gärten hatte. Er zog ihr einen Stuhl heraus. Sie verströmte einen intensiven süßlichen Geruch.

»Ich mag Ihr Parfüm«, log er.

Sie lächelte ihn über die Schulter an. »Danke. Es sind Rosenblüten.«

»Sehr schön.« Er war froh, dass Darcy nicht so ein widerliches Parfüm verwendete. Er hatte dicht neben ihr im Aufzug gestanden. Sie verströmte einen schwachen, frischen Duft, der ihn an eine Morgenbrise erinnerte.

»Es kommt gleich eine Kellnerin, um Ihre Bestellung aufzunehmen«, sagte er. »Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.«

»Vielen Dank.«

Kyle kehrte auf seinen Posten am Eingang zurück und hoffte, Darcy würde auftauchen. Montagabend war sie mit der anderen Führerin, ihrer Zimmergenossin Lynn Maxwell, hereingekommen. Es versetzte ihm einen Stich, wenn er daran dachte, wie sie ausgesehen hatte, als sie ins Restaurant geschlendert war. Sie hatte ein ärmelloses weißes Kleid getragen, mit einem Blumenmuster, dessen Blau zu ihrer Augenfarbe passte. Ihre leicht getönte Haut hatte im Kontrast zu dem weißen Stoff goldbraun gewirkt, und das Kleid war beim Gehen um ihren Körper gewallt. Kyle hatte sich vorgestellt, er wäre darunter und könnte sehen, wie der luftige Stoff ihre Haut streichelte.

Seit Montag war Darcy nicht mehr im Restaurant gewesen. Kyle nahm an, dass sie an diesem Abend nur im Restaurant gegessen hatte, weil sie zum ersten Mal in dem Hotel war und ihren Einstand feierte. Er hatte herausgefunden, dass sie mit den anderen Führern in die Stadt ging. So lief das meistens. Die Angestellten bekamen ein Zimmer im Hotel gestellt, aber ihr Essen mussten sie selbst bezahlen, und das Cave Chalet war zu teuer. Ihr gesamtes Gehalt würde für die Mahlzeiten draufgehen, wenn sie nicht in die Stadt gingen und Hamburger oder Pizza oder was auch immer aßen.

Außerdem kamen die Führer gerne raus. Sie gingen nicht nur wegen des billigen Essens in die Stadt, sondern auch, um sich zu amüsieren. Aus ihren Gesprächen, denen er jahrelang gelauscht hatte, wusste Kyle, dass sie ins Kino und in Kneipen gingen. Manche versuchten, jemanden in der Stadt aufzureißen, wenn sie keine Affäre mit einem anderen Führer hatten.

Aber nicht Darcy. Kyle merkte an der Art, wie sie sich gegenüber den männlichen Führern benahm, dass sie keinen von ihnen ranlassen würde. Sie war freundlich zu allen, doch es gab niemanden, zu dem sie eine besondere Beziehung gehabt hätte.

Und sie würde sich auch nicht mit den Männern aus der Stadt einlassen.

Lynn wahrscheinlich schon. Aber Lynn war eine Schlampe.

Kyle bezweifelte, dass Darcy an diesem Abend auftauchen würde. Schon gar nicht am Freitag. Freitagabend gingen die Führer immer in die Stadt. Doch jedes Mal, wenn die Tür aufschwang, schlug sein Herz schneller, bis er sah, wer hereinkam.

Um acht Uhr hatte er jede Hoffnung aufgegeben.

Darcy war in die Stadt gegangen, klar, und würde wahrscheinlich bis Mitternacht oder noch länger ausbleiben.

Wie wär’s mit heute Nacht?, überlegte er. Er begann ein wenig zu zittern. Es war immer aufregend, mit dem Generalschlüssel in ein Gästezimmer zu gehen und sich umzusehen. Er war schon die ganze Woche in Versuchung gewesen, es bei Darcy zu probieren, doch er konnte das Restaurant nicht vor 20:30 Uhr verlassen, und danach hatte er Angst, dass die Führer aus der Stadt zurückkamen und ihn erwischten. Aber nun war Freitag. Er könnte es heute Nacht tun.

Ich mach’s! Ich werd’s tun!

Das Warten bis 20:30 Uhr wurde zur Qual. Sein Herz raste, der Mund war trocken, die feuchten Hände zitterten. Nur zweimal kamen neue Gäste zum Abendessen, und er war dankbar für die kurze Ablenkung von dem, was ihn erwartete.

Darcys Zimmer. Ihre Kleider. Ihre persönlichen Dinge. Das Bett, in dem sie schlief. Das Badezimmer, wo sie nackt in der Wanne gelegen hatte.

Er konnte es kaum noch aushalten.