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Frühjahr, 1871. Lizzie Ross beschließt, ihre Tante Parry auf einen Erholungsurlaub an die Südküste Englands in den New Forest Nationalpark zu begleiten. Ein Dinner im Haus des reichen Großgrundbesitzers Sir Henry Meager endet allerdings mit dessen reichlich unerwarteten Tod. Schon bei Lizzies letztem Besuch im New Forest kam es zu einem brutalen Mord. Kein Wunder, dass die abergläubischen Ortsansässigen in ihr ein böses Omen sehen und ihr mehr als misstrauisch begegnen. Lizzie stellt rasch fest, dass Sir Henry eine ganze Reihe erbitterter Feinde hatte, von denen mehr als einer ihm den Tod wünschte. Damit ist der Urlaub vorbei, und Lizzie muss wieder einmal ermitteln!
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Seitenzahl: 436
Frühjahr, 1871. Lizzie Ross beschließt, ihre Tante Parry auf einen Erholungsurlaub an die Südküste Englands in den New Forest Nationalpark zu begleiten. Ein Dinner im Haus des reichen Großgrundbesitzers Sir Henry Meager endet allerdings mit dessen reichlich unerwarteten Tod. Schon bei Lizzies letztem Besuch im New Forest kam es zu einem brutalen Mord. Kein Wunder, dass die abergläubischen Ortsansässigen in ihr ein böses Omen sehen und ihr mehr als misstrauisch begegnen. Lizzie stellt rasch fest, dass Sir Henry eine ganze Reihe erbitterter Feinde hatte, von denen mehr als einer ihm den Tod wünschte. Damit ist der Urlaub vorbei, und Lizzie muss wieder einmal ermitteln!
Ann Granger war früher im diplomatischen Dienst tätig. Sie hat zwei Söhne und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Oxford. Bestsellerruhm erlangte sie mit der Mitchell-und-Markby-Reihe und den Fran-Varady-Krimis. Nach Ausflügen ins viktorianische England mit den Kriminalromanen »Wer sich in Gefahr begibt« und »Neugier ist ein schneller Tod« knüpft sie mit »Stadt,Land, Mord«, dem ersten Band der Reihe um Inspector Jessica Campbell, wieder unmittelbar an die Mitchell-und-Markby-Reihe an.
ANN GRANGER
DIE FRAU DESINSPEKTORS
Ein Fall für Lizzie Martinund Benjamin Ross
Kriminalroman
Übersetzung aus dem Englischenvon Axel Merz
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Truth-Seeker’s Wife«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2021 by Ann Granger
First published in 2021
by HEADLINE PUBLISHING GROUP
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2022/2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text-und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Gerhard Arth, Molzhain
Lektorat: Stefan Bauer
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau
Einband-/Umschlagmotiv: © David Hopkins/Phosphorart
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-2844-7
luebbe.de
lesejury.de
Dieses Buch ist meiner lieben Enkelin Josie gewidmet, in Liebe und mit den allerbesten Wünschen für deine Zukunft, was auch immer du tust.
Mir bleibt nur noch sehr wenig Zeit, und ich brauche Dr. Wilson nicht, um mir das zu sagen. Aber ich werde alle unerledigten Dinge regeln, bevor ich sterbe. Es ist doch jedermanns Pflicht, oder nicht, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen? Ich werde mich um alles kümmern.
Die auf der Straße verstreuten grau-weißen Federn markierten den Schauplatz des Mordes.
Als ich heute Morgen die Vorhänge am Schlafzimmerfenster öffnete, sah ich unten eine junge Taube, die über den Bürgersteig watschelte. Sie begann, über die Straße zu tippeln. Dann, inmitten des Londoner Ziegel- und Steinwaldes, vor dem Hintergrund des Lärms der großen Lokomotiven in der nahe gelegenen Waterloo Station, stürzte ein Wanderfalke aus dem rauchverhangenen Himmel, er packte die Taube und trug sie davon. Es geschah so schnell, dass ich es kaum glauben konnte, zumal die morgendliche Brise vom Fluss die Beweise bereits davonwehte.
Manchmal ereignet sich ein Mord auf diese Weise, schnell und gnadenlos, die Gunst des Augenblickes nutzend. Der Mörder kann aber auch ein vorsichtiges Raubtier sein, beobachtend und wartend. In jedem Fall ist die Beute, ob Mensch oder Tier, dem Untergang geweiht. Ich versuche immer noch, die Ereignisse von vor ein paar Wochen zu verdrängen, als Tante Parry und ich unseren unglückseligen Besuch an der Südküste machten. Aber ich werde es nie vergessen: weder den Schrecken des ersten Verbrechens noch die Grausigkeit des letzten.
*
Der Frühling ist immer willkommen, und in diesem Jahr, 1871, war er es besonders. Der vergangene Winter hatte eine nebelverhangene Welt gesehen. Die Londoner hatten festgesessen und waren von der stinkenden Luft erstickt worden. Aber jetzt war der Schnee verschwunden, die Nebel wurden weniger und weniger dicht, die Husten- und Niesanfälle waren eine verblassende Erinnerung, und an den Bäumen und Sträuchern in den Parks waren grüne Triebe erschienen. Bei Scotland Yard, so erzählte mir mein Mann Ben, herrschte eine heitere Atmosphäre. Nun ja, zumindest im Vergleich dazu, wie es in den letzten Monaten gewesen war.
»Es wird nicht von Dauer sein«, fügte er hinzu. »Du wirst schon sehen.« Er wandte sich an sein Abbild im Rasierspiegel; ich war mir nicht ganz sicher, ob er es zu mir sagte oder es sich selbst vor Augen führte.
So oder so, er hatte mit ziemlicher Sicherheit recht. Nicht nur die ehrbaren Bürger schmiedeten Pläne für das bessere Wetter; alle Arten von Kriminellen in der Stadt taten es ihnen gleich. Für die Reichen würde bald die Gesellschaftssaison beginnen. Sie waren dabei, ihre Landhäuser zu verschließen, und die Dienerschaft war vorausgeschickt worden, um ihre Domizile in der Stadt aufzusperren. Gastgeberinnen legten Termine für Bälle und Feiern fest; Termine mit fashionablen Damen- und Herrenschneidern wurden vereinbart. Ich bin froh, dass ich die Saison nie mitmachen musste – mein Vater war nur ein Arzt in einer kleinen Bergbaugemeinde.
Zusammen mit dem restlichen Gepäck nahmen die Reichen ihre Schmuckkästchen nach London mit. Diebe sind wie Elstern, die von hellen, glänzenden Dingen angezogen werden. Für sie bedeutete die Londoner Saison leichte Beute. Einbrecher und Empfänger gestohlener Waren rieben sich wahrscheinlich schon in freudiger Erwartung die Hände. Wie die professionellen Glücksspieler und alle Arten von Hochstaplern sahen sie dem kommenden Zustrom der Begüterten mit der freudigen Erwartung von Schleppnetzfischern entgegen, die in der Ferne den silbrigen Schimmer von Fischschwärmen erspähten.
»In ein paar Wochen«, prophezeite Ben, während er sich die Reste der Rasierseife vom Kinn wischte, »werden wir vor Arbeit kein Bein mehr auf den Boden bekommen. Nicht nur wir beim Yard, wohlgemerkt, sondern jeder Polizeibeamte in der Stadt!«
Meine frühere Arbeitgeberin, Mrs. Julia Parry, bei der ich bis zu meiner Heirat angestellt gewesen war, schmiedete ebenfalls Reisepläne, aber diese sahen vor, London zu verlassen. Sie war die Witwe meines verstorbenen Patenonkels, der ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hatte, das ihr eigener Geschäftssinn in der Folge noch vermehrt hatte. Nachdem sie den Winter abgeschottet in ihrem Londoner Haus verbracht hatte, verspürte sie nun den Drang zu reisen. Dabei gab es jedoch ein Problem. Der Krieg zwischen Preußen und Frankreich hatte gerade erst seine letzten verzweifelten Szenen aufgeführt, aber das Ende der Feindseligkeiten hatte keinen Frieden gebracht. Frankreich war immer noch in Aufruhr. Blut floss über das Kopfsteinpflaster von Paris, das einen Aufstand revolutionärer Elemente und ein rücksichtsloses Vorgehen der Obrigkeit zu dessen Unterdrückung erlebte.
Es versteht sich von selbst, dass Tante Parry die Ereignisse jenseits des Ärmelkanals mit ihren Tragödien und Gewalttätigkeiten ausschließlich von ihrer eigenen Warte aus betrachtete. Es war, als hielte sie einen Stanhope-Apparat vor ihr Auge und sähe den kontinentalen Schauplatz zwar en détail, aber en miniature, die Ereignisse reduziert auf die starren Grenzen ihrer eigenen Interessen.
»Dass ich ins Ausland reise, kommt nicht in Frage«, klagte sie. »Ich werde in England bleiben, aber eine Reise irgendwohin an die Küste machen, um Seeluft zu schnuppern.«
Die Unterhaltung fand in ihrem gemütlichen Zuhause am Dorset Square statt, wohin sie mich zum Tee eingeladen hatte.
»Sei auf der Hut!«, warnte mich Ben an jenem Morgen beim Frühstück, nachdem ich ihm die Mitteilung überreicht hatte, die mir die Lady mit der Bitte um mein Kommen geschickt hatte. »Sie will etwas!«
»Tante Parry ist eine reiche Frau, und es gibt nichts, was sie von mir wollen könnte, was sie nicht selbst leicht bekommen könnte«, erklärte ich.
Aber ich war unruhig. Ben hatte recht, wie ich schon bald herausfinden sollte. Das Zimmer am Dorset Square war überheizt. Die Fenster waren fest verschlossen, und der Mangel an Luft machte mich schläfrig. Ich hatte zu viele geröstete Rosinenbrötchen gegessen. Es war schwierig, eine intelligente Konversation zu führen, geschweige denn aufmerksam zu bleiben für das, was Mrs. Parry vorhatte. Daher wurde ich von ihrer nächsten Frage überrumpelt.
»Dieser Polizeiinspektor, den Sie geheiratet haben, er wird von seinen Pflichten in Anspruch genommen, nehme ich an?«
Ich war ein wenig verstimmt, weil sie sich auf Ben immer mit seinem Beruf und nicht mit seinem Namen bezog. Aber ich stimmte ihr zu, dass Ben, wie immer, sehr beschäftigt war.
»Und Sie beschäftigen immer noch das Dienstmädchen, das Sie mir weggenommen haben, als Sie mein Haus verließen, um Ihren eigenen Haushalt zu gründen?«
Ich bejahte diese Frage. Sie redete, als hätte ich eine geschätzte Dienerin weggelockt, aber die Wahrheit war, dass Bessie ein einfaches Küchenmädchen am Dorset Square gewesen war. Tante Parry hatte kaum von ihrer Existenz gewusst.
Sie neigte sich nach vorne (ihr Korsett erlaubte ihr nicht, sich zu beugen) und fragte in vertraulichem Flüsterton: »Könnte er Sie einen Monat lang entbehren?«
»Mich entbehren!«, rief ich aus.
»Einen Monat lang«, wiederholte Tante Parry und hob ihre Stimme ein wenig, als ob ich taub wäre. »Sie beschäftigen ja immer noch das Dienstmädchen, und sie könnte sich doch solange um alle Belange des Haushalts kümmern?«
»Nein! Ich meine, keinen Monat lang …«
»Drei Wochen?«, feilschte meine Gastgeberin. Sie neigte den Kopf zur Seite, während sie auf meine Antwort wartete. Ihr Haar war kunstvoll frisiert, und nicht alles davon war ihr eigenes. Ihr Kleid war leuchtend kobaltblau mit elfenbeinfarbenen Spitzenbesätzen und gelben Satinbändern. Ich hatte das Gefühl, von einem großen exotischen Vogel beobachtet zu werden.
»Es wäre Ben gegenüber schwerlich fair …«
Sie seufzte und sagte verärgert: »Nun gut, Elizabeth, zwei Wochen! Obwohl das kaum ausreichend Zeit ist, wenn ich von der Seeluft profitieren soll.«
»Ach, Sie wollen, dass ich mit Ihnen an die Küste fahre!«, rief ich aus, als ich den Grund für ihre Anfrage erkannte.
»Nun, ja, Elizabeth. Ich habe eine kleine Auszeit am Meer geplant, wie ich vor wenigen Minuten schon sagte. Haben Sie nicht aufgepasst? Leider bin ich wieder ohne Begleitung.«
Ich hatte aufgehört zu zählen, wie viele Gesellschafterinnen sie seit meiner Zeit in dieser Funktion eingestellt und wieder entlassen hatte.
»Ach! Das tut mir leid«, sagte ich. Und es tat mir leid, außerordentlich leid, denn es hörte sich so an, als wollte sie mich als Ersatz engagieren. »Es wäre schwierig«, wandte ich ein. »Bessie ist zwar gut bei der Hausarbeit, aber einen Haushalt zu führen ist eine andere Sache. Sie ist eine mittelmäßige Köchin. Außerdem freut sich Ben, wenn er abends nach Hause kommt, auf ein wenig Gesellschaft, jemanden, mit dem er über seinen Tag reden kann –«
»Das tue ich auch!«, unterbrach sie mich. »Natürlich werde ich Nugent mitnehmen.« (Nugent war ihre leidgeprüfte Zofe.) »Aber sie kann keine Unterhaltung führen. Ich brauche eine Begleiterin, wenn auch nur für so kurze Zeit, und Nugent würde diese Rolle überhaupt nicht ausfüllen. Das Mädchen, Bessie, kann doch sicher einen kleinen Haushalt wie den Ihren führen, oder? Und es muss in der Gegend doch auch Pastetenläden geben.«
Ich holte tief Luft. »Wo gedenken Sie denn, Seeluft zu schnuppern, Tante Parry? In Brighton?«
»Gütiger Himmel, nein!«, rief sie aus und hob entsetzt die pummeligen Hände. »Dort ist es viel zu voll, und alle möglichen Leute fahren heutzutage dorthin. Ich gebe der Eisenbahn die Schuld daran, wo man billige Fahrkarten für Tagesausflüge anbietet. Ganze Familien fallen in diesen Badeort ein, mit Babys, kleinen und ungebärdigen Kindern, älteren Verwandten, Picknickkörben und allem möglichen Krimskrams. Deshalb habe ich beschlossen, ein Haus an einer ruhigen, abgelegenen Stelle an der Südküste zu mieten, an einem Ort, der Seeluft und ländliche Gegend miteinander verbindet. Ich brauche Ruhe und Frieden. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden.«
Sie schwieg, möglicherweise in der Hoffnung, ich würde sie fragen, wo dieses Kleinod der Sommerfrische sein mochte. Aber ich war entschlossen, keine Begeisterung für eine Reise zu zeigen, die ich nicht machen wollte.
Plötzlich schaute Mrs. Parry zu mir auf und lachte mich an. Es war ein so strahlendes Lächeln und so unerwartet – ihre übliche Miene war die der Unzufriedenheit –, dass ich völlig aus dem Konzept gebracht wurde. Das war natürlich auch ihre Absicht.
»Liebe Elizabeth«, ergriff sie erneut das Wort. »Sie kennen ja schon das Gebiet des New Forest, in Hampshire …«
Ich rief entsetzt aus: »Sie können doch nicht vorschlagen, dass ich dorthin zurückkehre? Haben Sie vergessen, was beim letzten Mal passiert ist? Es gab einen Mord!«
Tante Parry erschauderte. Die verschiedenen Bänder und Schleifen an ihrem blauen Kleid zitterten alle im Einklang, sodass sich ihre ganze Gestalt wie beim Einsetzen eines Erdbebens zu bewegen schien. Sie hob die Hände, die Handflächen nach außen, und machte eine Geste, als wollte sie einen Fleck wegwischen.
»Es ist nicht nötig, das schreckliche Ereignis beim Namen zu nennen, Elizabeth. Man hat mir ein wunderschönes Anwesen an der Küste angeboten, etwa eine Meile von dort entfernt, wo – wo Sie schon einmal waren. Das Haus ist die Sommerfrische von Bekannten von mir, die Hammet heißen. Sie benötigen das Anwesen für einige Monate nicht. Ich glaube, sie wollen eine Italienrundfahrt unternehmen, auch wenn sie dafür die Tücken einer Kontinentalreise in Kauf nehmen müssen. Sie freuen sich, uns das Haus zur Verfügung zu stellen. Nichtgebrauch tut keiner Immobilie gut, daher wäre es den Hammets sehr recht, wenn ich es so lange nutzen würde, wie ich es brauche.«
Ah, langsam verstand ich! Auch wenn Mrs. Parry jetzt eine sehr reiche Frau war, so war sie doch einmal die Tochter eines mittellosen Hilfspfarrers vom Lande gewesen. Die Denkweise, die einer sparsamen Kinderstube entspringt, lässt sich nur schwer abschütteln. Unsere Unterkunft würde uns nichts kosten, abgesehen von dem Essen, das wir zu uns nahmen.
»Das Haus«, fuhr sie fort, »wird die Alte Akzise genannt. Vor vielen Jahren, ach, als ich noch ein Kind war und wir uns im Krieg mit Old Boney Napoleon befanden, war der Schmuggel in der Gegend weit verbreitet. Nun, das Haus wurde von der damaligen Regierung als Büro und Unterkunft für einen Steuerbeamten errichtet, zusammen mit einem Anbau, um beschlagnahmte Waren zu lagern. Aber Gott sei Dank gibt es diese Art von gesetzlosen Aktivitäten in der Gegend nicht mehr, und so wurde das Gebäude verkauft. Die Hammets haben, wie ich höre, eine ganze Menge Geld ausgegeben, um es in ein äußerst komfortables Sommerhaus zu verwandeln. Außerdem gibt es in der Nähe ein Herrenhaus, das einem Sir Henry Meager gehört, was bedeutet, dass Sie nicht ohne einen Nachbarn sein werden. Mrs. Hammet hat ihm schriftlich mitgeteilt, dass ich kommen werde, und er hat der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass wir während unseres Aufenthaltes bei ihm zu Abend speisen werden. Wir werden etwas Gesellschaft haben, Elizabeth, diesbezüglich müssen Sie sich also keine Gedanken machen.«
Unbesonnen sagte ich: »Den Namen Sir Henry Meager habe ich schon einmal gehört! Dem Gentleman selbst bin ich zwar nie begegnet, aber einem Verwandten von ihm schon, als ich das letzte Mal dort war.«
»Sehen Sie?«, rief Mrs. Parry hocherfreut. »Sie werden sich dort ganz wie zu Hause fühlen!«
Jetzt war ich mehr als nur verstimmt: Ich war wirklich wütend. Es hatte den Anschein, als sei alles schon durchdacht und geregelt gewesen, bevor mir der Vorschlag überhaupt unterbreitet worden war. Mehr noch: Indem ich zugegeben hatte, von Sir Henry Meager gehört zu haben, hatte ich die Angelegenheit nun durch meine eigene unbedachte Zunge besiegelt. Oh, warum konntest du nicht schweigen, Lizzie?, tadelte ich mich.
Mrs. Parry redete weiter, ohne meine Gemütserregung zu beachten. »Was die Alte Akzise selbst anbelangt, so gibt es dort eine Köchin, die auch als Haushälterin fungiert, und wie ich erfahren habe, auch einen altmodischen, aber schönen Garten. Soweit ich weiß, sind die Köchin und der Gärtner ein Ehepaar, das in einem kleinen Cottage in der Nähe wohnt, also ist für alles gesorgt.«
Jetzt geruhte sie, meinen Mangel an Enthusiasmus zu bemerken, aber wie immer gelang es ihr, ihn zu ihrem Vorteil zu nutzen. »Es würde Ihnen wirklich guttun, Elizabeth, mit mir zu kommen. Sie wirken ein wenig blass und lustlos, so ganz anders als sonst. Es wäre ausgesprochen egoistisch von Inspector Ross, Ihnen die Gelegenheit zu verwehren, mit mir von der Seeluft zu profitieren. Es wird so friedlich und erholsam sein, und zwei Wochen«, schloss Tante Parry in milderem Ton, »sind eine sehr kurze Zeit. Ich bin sicher, er könnte Sie auch für drei entbehren.«
Später erzählte ich das alles Ben beim Abendessen. »Natürlich habe ich ihr gesagt, dass das nicht in Frage kommt. Ich könnte dich nicht drei Wochen lang allein hierlassen, wo sich nur Bessie um dich kümmert! Du würdest Constable Biddle jeden Abend in der Küche vorfinden, denn die beiden sind immer noch verbandelt; sie würde nur um ihn herumscharwenzeln und dich vernachlässigen.«
»Ich glaube nicht«, wandte Ben milde ein, »dass ich möchte, dass sie um mich herumscharwenzelt.«
»Du weißt, was ich meine. Ich habe Tante Parry gesagt, dass es nicht geht.«
Ben lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte mich. »Tja, versteh mich nicht falsch, Lizzie, aber vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee.« Er hob beide Hände, die Handflächen nach außen, um meine Reaktion auf diesen unerwarteten Mangel an Unterstützung abzuwehren. »Ich weiß es aufrichtig zu schätzen, dass du dir Sorgen um mein Wohlergehen machst. Aber ich bin ebenso besorgt um deines.«
»Ich glaube nicht, dass es meinem Wohlbefinden zuträglich wäre, mit Tante Parry und der armen Nugent nach Hampshire verfrachtet zu werden«, brummte ich gereizt. »Erst recht nicht, wenn die einzige Unterhaltung in einem gelegentlichen Abendessen mit dem örtlichen Gutsherrn besteht, auf das zweifellos ein Kartenspiel folgt!«
»Nun, ich bin mir da nicht so sicher, Lizzie, Liebes. Es war ein sehr strenger Winter, und du siehst schon ein wenig blass aus. Natürlich so hübsch wie immer!«, fügte er hastig hinzu.
»Ich bin nicht hübsch. Ich mag das Wort nicht einmal! Es lässt mich geistlos klingen.«
»Dann eben attraktiv«, verbesserte er sich.
»Danke. Aber ich will dich trotzdem nicht alleine hierlassen. Drei Wochen, Ben! Du und abends nur Bessie als Gesellschaft und ich nur Tante Parry als Gesprächspartnerin. Ich werde in einem abgelegenen, windgepeitschten Haus eingekerkert sein, während die Flut die Kieselstrände vor mir und das Heidekraut und den Stechginster im Heideland hinter mir überschwemmt. Dazu die traurigen Schreie der Möwen über mir … Lach nicht! Keinerlei Unterhaltung, außer der Aussicht auf ein Abendessen mit diesem alten Knaben Meager, der wahrscheinlich von Portwein durchtränkt ist und an Gicht leidet.«
»Du wirst wie neugeboren zurückkommen!«, beharrte Ben auf seinem Standpunkt. »Und ich glaube, wir werden im Yard sehr viel zu tun haben und ich an den meisten Abenden spät nach Hause kommen.«
»Aber Ben, du kannst doch nicht vergessen haben, was beim letzten Mal passiert ist, als ich in dieser Gegend war?«
»Natürlich nicht. Aber ihr fahrt ja in ein anderes Haus, dessen Besitzer bald abreisen werden oder bereits nach Italien abgereist sind. Da werden nur du, Mrs. Parry, Nugent und der Mann und die Frau, die das ständige Personal bilden, sein. Ich glaube nicht, dass irgendeine dieser Personen während eures Aufenthalts ermordet werden wird.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, murmelte ich. »Vielleicht bringe ich Tante Parry um.«
»Ach, du wirst mit Mrs. Parry schon zurechtkommen, meine Liebe«, entgegnete mein Mann beruhigend. »Das ist dir immer gelungen. Aber geh nicht auf die Suche nach Geheimnissen, ja? Dies wird ein angenehmer Urlaub am Meer für dich sein – halte deinen Spürsinn unter Verschluss!«
»Sie fahren also an die Küste«, bemerkte Bessie in der Küche, als wir die Abendbrotsachen wegräumten. Sie hatte offensichtlich das Gespräch mit Ben mitgehört. »Oh, das wird bestimmt aufregend!«
»Ach ja?«, brummte ich. »Beim letzten Mal, als ich in der Gegend war, war es zwar aufregend, aber es war nicht die Art von Aufregung, die ich genossen hätte.«
»Ach, dieser Mord!«, erwiderte Bessie fröhlich. »Machen Sie sich keine Sorgen, Missis, der Blitz schlägt nie zweimal an derselben Stelle ein. So sagt man doch, nicht wahr?«
»Das mag man wohl sagen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es auch stimmt!«, sagte ich in gereiztem Ton.
»Ich kann mich um den Inspector kümmern«, entgegnete Bessie unbeirrt. »Falls es das ist, was Ihnen Sorgen macht!« Sie warf mir einen verschmitzten Blick zu. »Es sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Missis, sich der Möglichkeit zu entziehen, ein Abenteuer zu erleben!«
So kam es also, dass ich erneut an die Südküste reiste, dieses Mal mit Tante Parry und Nugent. Natürlich gestaltete sich das Ganze nicht so entspannend und friedlich wie versprochen, aber das war bei den Unternehmungen mit Mrs. Julia Parry ja auch nie der Fall.
Manche planen einen Urlaub, andere einen Mord. Es ist die Liebe zum Detail, die zählt. Dann muss man die Gunst der Stunde nutzen! Die Gelegenheit wird kommen. Sie treffen ihre Vorbereitungen, und ich werde meine treffen.
Ich hatte eine letzte verzweifelte Anstrengung unternommen, Mrs. Parry davon zu überzeugen, die Idee aufzugeben oder ein anderes Ziel zu wählen. Die Zugverbindung nach Southampton war regelmäßig und zuverlässig. Doch um den New Forest zu erreichen, musste man, wie ich von meinem früheren Besuch in dieser Gegend wusste, das Southampton Water überqueren. Es blieb nur die Wahl zwischen dem regulären Fährverkehr oder einem langen Umweg über die Straße. Ich riskierte einen letzten Versuch.
»Ich habe gehört, Tante Parry, dass die geplante Anlegestelle für die Fähre auf der Hythe-Seite immer noch nicht gebaut wurde. Um von der Fähre aus an Land zu gehen, muss man einen gefährlichen Abstieg zu der steinigen Landzunge unternehmen, die ›der Hard‹ genannt wird. Sie verläuft vom Ufer aus bis zu der Stelle, an der das Wasser selbst bei Ebbe tief genug für das Fährboot ist. Den kleinen Landungssteg vom Boot zum Hard hinunterzuklettern ist schon schlimm genug; der Seegang lässt ihn bedenklich hin und her hüpfen. Der Fußweg zum Ufer, entlang dem Hard, ist geradezu gefährlich. Sie können doch nicht ernsthaft in Betracht ziehen, das zu riskieren!«
»Das werde ich auch nicht«, erwiderte Mrs. Parry gelassen. »Ich habe mich erkundigt: Wir werden den Landweg nehmen. Es gibt eine Brücke über den Fluss an einer höheren, sehr viel schmaleren Stelle. Das ist die Route, die der gesamte Straßenverkehr nimmt. Mr. Hammet, der Besitzer des Hauses, zu dem wir fahren, hat sich mit Sir Henry Meager in Verbindung gesetzt. Sir Henry hat freundlicherweise angeboten, seinen Kutscher zu schicken, um uns am Bahnhof von Southampton abzuholen. Er wird uns zur Alten Akzise fahren.«
Sie strahlte mich an. »Sie sehen also, Elizabeth, es gibt absolut nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten. Es ist alles schon arrangiert.«
Es war immer ein Fehler, Tante Parry zu unterschätzen. Sie hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Mein ach so raffinierter Versuch war kläglich gescheitert.
Sie hatte mir wenig Zeit gelassen, mich vorzubereiten. Ich sorgte dafür, dass die Speisekammer meines Zuhauses gut gefüllt war, und stellte einen Speisezettel mit einfachen Mahlzeiten zusammen, die Bessie für Ben zubereiten sollte. Die beiden versicherten mir, dass sie sehr gut ohne mich auskommen würden.
»Auch wenn«, fügte mein Mann ernst hinzu, »ich dich sehr vermissen werde.«
So brachen wir denn auf. Zunächst mussten wir in der Waterloo Station in London den Zug besteigen. Ich kleidete mich für die Reise so passend wie möglich, in einem Wanderkleid. Tante Parry jedoch hielt sich für eine Dame von Welt. Glücklicherweise war die Krinoline kein absolutes Muss mehr, aber die Röcke waren immer noch sehr üppig und sammelten sich im Rücken zu einem Bündel, knapp unterhalb der Taille. Auch die strengste Korsettschnürung konnte Tante Parrys füllige Figur nicht auf schlanke Konturen reduzieren. Wie eine Galeone war sie über den Bahnsteig in Waterloo gerauscht, gefolgt von einem regelrechten Tross mit unserer persönlichen Habe und anderen Gütern des täglichen Bedarfs. Es war ein Abteil für uns reserviert worden, und wir füllten es mehr als aus.
»Warum konstruieren sie den Einstieg in die Wagen nicht bequemer?«, jammerte Mrs. Parry, während Nugent und ich uns abmühten, sie durch die Tür zu schieben. »Ich werde an die Eisenbahngesellschaft schreiben und mich beschweren!«
Die Reise selbst verlief ohne jedes Malheur. Aber wenn es schon nicht einfach gewesen war, Mrs. Parry in den Zug zu bekommen, so erforderte das Ausladen von ihr und unseren Koffern und Kisten aus dem Zug in Southampton beträchtliches Manövrieren und die Hilfe eines Kofferträgers und eines Jungen. Schließlich stürzte sie wie ein Springteufel aus dem Abteil auf den Bahnsteig.
Danach mussten unsere Kisten ausgeladen werden. Mehrere Möwen waren bereits eingetroffen und patrouillierten um uns herum, da sie richtig erkannten, dass wir Lebensmittel mitgebracht hatten. Besonders interessiert waren sie an einem Korb von Fortnum & Mason’s, dessen Mitnahme Mrs. Parry für unerlässlich gehalten hatte. Eine Möwe war so dreist, mit ihrem gefährlich spitzen Schnabel daran zu picken.
»Das gefällt mir gar nicht, Mrs. Ross, kein bisschen«, bemerkte Nugent finster. Sie packte ihren Schirm mit festem Griff und richtete ihn trotzig auf die Möwe.
Mir waren die Möwen auch nicht geheuer. »Wir sollten uns nach einem Transportmittel umsehen, Tante Parry«, drängte ich. »Und Sir Henrys Kutscher nicht warten lassen.«
Glücklicherweise erschien in diesem Moment ein älterer Mann. Er trug einen voluminösen Mantel mit Umhang, wie man es vor dreißig Jahren bei einem Kutscher gesehen haben mochte, und hielt seinen Hut in der Hand. Er grüßte uns und verbeugte sich tief.
»Sie sind dann bestimmt die Gruppe für die Alte Akzise?«, fragte er, während er sich vor Schmerzen ächzend aufrichtete. »Es sind die Gelenke«, fügte er hinzu, um die von sich gegebenen Laute zu erklären. »Wenn ich mich bücke, geht es mir gut, aber wenn ich mich wieder gerade hinstelle, nicht so gut.«
»Jawohl!«, beantwortete ich einigermaßen erleichtert seine Frage. »Sie müssen Sir Henry Meagers Kutscher sein.«
»So ist es, Ma’am. Tizard heiße ich. Es ist gut, dass wir neben der Kutsche auch den Dogcart mitgenommen haben«, fügte er mit einem Blick an mir vorbei auf unseren Gepäckstapel hinzu. »Der Herr meinte, wir würden ihn brauchen. ›Tizard!‹, sagte er zu mir. ›Wenn Damen auf Reisen gehen, dann nehmen sie einen ganzen Tross an Kisten und Koffern mit, das kannst du mir glauben. Du wirst den Dogcart brauchen. Geh und such Davy Evans! Er kann ihn fahren und beim Verladen der Kisten helfen.‹ Das habe ich dann auch getan.«
»Wir sind Sir Henry sehr verbunden«, sagte ich ihm.
»Wenn Sie mir bitte folgen wollen, die Damen, die Kutsche steht draußen, weil Davy beim Dogcart ist. Lassen Sie das Gepäck einfach hier. Davy wird herkommen und sich um alles kümmern.«
Ich gab unserem Kofferträger und dem Jungen, die es geschafft hatten, unser Gepäck und uns selbst auszuladen, ein angemessenes Trinkgeld. Der Gepäckträger dankte mir und fügte hinzu: »’s war’s wert! Die Lady da ist ein toller Anblick!« Er nickte in Richtung von Mrs. Parry, die davon – zum Glück – nichts mitbekam. »Der Junge und ich werden hier auf Ihr Gepäck aufpassen«, fuhr er fort.
Ich sah, dass der betreffende Junge auf dem Korb von Fortnum & Mason’s Platz genommen hatte. Er schenkte uns ein fröhliches Grinsen; ich antwortete ihm mit einem strengen Blick. Der Weidenkorb war zwar mit Lederriemen verschnürt, aber nicht verschlossen, und ich vermutete, dass der Schelm die gleichen Absichten verfolgte wie die Möwen.
Tizard hatte sich bereits auf den Weg gemacht. Wir folgten ihm aus dem Bahnhof hinaus zur Hauptstraße. Dort stand tatsächlich eine altehrwürdige Berline, die von einem Pferdegespann gezogen wurde, das aussah, als hätte man es eigens vom Bauernhof geholt. Aber ich nahm an, dass es in der ländlichen Gegend, in die wir reisten, wenig Bedarf für ein teures, aufeinander abgestimmtes Gespann gab. Außerdem stand da noch der Dogcart, ein zweirädriger Einspänner, der von einem kräftigen, kastanienbraunen Pony gezogen wurde. Ein Mann stand am Kopf des Ponys und streichelte ihm den Hals.
»Davy!«, rief Tizard. »Hier sind die Damen. Die Kisten stehen da hinten auf dem Bahnsteig.«
Der Mann ging von dem Pony weg. Er musterte uns ganz unverhohlen, und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er war ein kräftig gebauter, dunkelhaariger Kerl, gut aussehend auf eine wettergegerbte, ein wenig piratenhafte Art. Er hätte einem der Groschenromane entsprungen sein können, die Constable Biddle Bessie zu lesen gab. Ich schätzte ihn auf etwa ein Jahr unter dreißig. Meiner Meinung nach hatte er nicht das Auftreten eines Dieners, denn sein Grinsen wurde breiter, als er Mrs. Parry betrachtete.
Ich hörte mich Tizard mit leiser Stimme fragen: »Ist das Sir Henrys Stallknecht?«
Der Kutscher kicherte. »Gott behüte, Ma’am, nein! Davy Evans arbeitet für niemanden fest. Aber er ist verfügbar, wie man so schön sagt. Verfügbar, wenn man ihn braucht. Hier, Davy! Ich werde mit den Damen vorfahren.«
Wir kehrten nun die Prozedur des Aussteigens aus dem Zug um, um Mrs. Parry in die Kutsche zu bugsieren. Sie war nicht geräumig, und als wir Frauen alle drei hineingepackt waren, konnten wir uns kaum noch bewegen. Mit sinkendem Mut dachte ich an die recht lange Reise, die vor uns lag.
Tizard schlug die Tür hinter uns zu und blieb draußen stehen; nur sein ergrauter Kopf war am Fenster zu sehen, als ob er losgelöst von seinem Körper dort schwebte.
»Ach ja, das darf ich nicht vergessen!« Er holte tief Luft und trug eine offensichtlich einstudierte Rede vor. »Sir Henry lässt Sie grüßen und hofft, dass Sie eine gute Reise hatten. Er lässt Sie sich heute Abend erst einmal eingewöhnen und hofft, dass Sie morgen um halb sieben mit ihm zu Abend speisen werden. Er hofft auch, Sie werden ihm nachsehen, dass er Sie nicht vorher aufgesucht und persönlich eingeladen hat, aber seine Gicht macht ihm zu schaffen.« Zum Zeichen, dass die Rede zu Ende war, setzte er seinen Hut auf.
Ich wusste es!, schoss es mir – einer Dame recht unwürdig – durch den Kopf. Ich wusste, dass er gichtkrank sein würde! Das muss ich Ben erzählen, wenn ich schreibe!
Mit irritierender Plötzlichkeit verschwand Tizards Kopf, und die Berline erzitterte, als er auf seinen Kutschbock stieg. Er pfiff den Pferden zu, und mit einem Ruck machten wir einen Satz nach vorn und setzten uns schwerfällig in Bewegung.
»Ich darf gar nicht daran denken«, sagte Mrs. Parry in nostalgischem Tonfall, »seit wie vielen Jahren ich nicht mehr um halb sieben diniert habe!«
Sie saß mit dem Gesicht nach vorne; Nugent und ich hockten dicht gedrängt nebeneinander, mit dem Rücken zu den Pferden. Über Mrs. Parrys Schulter konnte ich durch ein kleines Rückfenster einen Blick auf Davy Evans erhaschen, der auf der Straße stand und uns beim Abfahren beobachtete. Noch hatte er keine Anstalten gemacht, unser Gepäck in den Dogcart zu laden. Aber ich verstand, warum Sir Henry ihn geschickt hatte: Hätten wir nämlich all unsere Kisten auf das Dach dieser alten Kutsche gestapelt, hätten die Federn dem Gewicht nicht standgehalten.
Wir knarrten und ratterten dahin, und ich begann mir Sorgen zu machen, dass wir mitten in der Fahrt zusammenbrechen könnten, zumal die Sonne unterging, was die Landschaft in ein ockerfarbenes Licht tauchte. Kurz nachdem wir die Stadt verlassen und die Steinbrücke über die Mündung des Flusses Test überquert hatten, bogen wir in einer Haarnadelkurve wieder nach Süden ab und folgten der Küstenlinie auf der Hythe-Seite, mit Southampton zu unserer Linken auf der anderen Seite des Wassers.
Die Reise weckte Erinnerungen an meinen letzten Besuch. Das Gebiet, das als New Forest bekannt ist, ist eine einsame Gegend, und nicht alles davon ist bewaldet. Es gibt weite Heideflächen, auf denen Ponys und anderes Vieh grasen, das von Waldbewohnern, die das Recht haben, ihre Tiere auf diesem kargen Boden weiden zu lassen, auf die Heide getrieben wird. Aber das Licht schwand, und wir hatten wenig zu betrachten. Gelegentlich kamen wir an einem aus Feuerstein errichteten Cottage und ein Mal an einem Gasthaus vorbei. Seine Sprossenfenster leuchteten warm im Schein des Lampenlichts, wie ein Leuchtturm auf der dunkler werdenden Landstraße. Das Meer war inzwischen nicht mehr zu sehen, es lag irgendwo hinter den Bäumen, und alles war in eine malvenfarbene Dämmerung gehüllt.
Mrs. Parry war der sich verdunkelnde Himmel aufgefallen und auch das beleuchtete Gasthaus. »Es ist zu hoffen, dass das Haus, zu dem wir fahren, mit Gaslicht ausgestattet ist«, bemerkte sie. »Aber ich glaube allmählich, dass das nicht der Fall sein wird. Lampen oder Kerzen und ein Abendessen um halb sieben, oje, das versetzt mich in meine Jugend zurück!« Sie klang nicht missvergnügt.
Nugent, eine Londonerin durch und durch, war weniger zuversichtlich. »Wenn es keine Gaslampen gibt«, murrte sie, »setze ich nach Einbruch der Dunkelheit keinen Fuß mehr vor die Tür!«
Wo wir durch Waldstücke fuhren, war es, als würden wir ins Reich eines lauernden Ungeheuers eindringen, das seine verzweigten Arme ausstreckte, um unachtsame Reisende zu packen und zu verschlingen.
»Da draußen könnte alles Mögliche sein!«, murmelte Nugent.
Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen: Während des größten Teils unserer Reise schienen wir völlig allein zu sein. Dies hätte uns ermuntern können, miteinander zu reden, aber das Gegenteil war der Fall, und wir verfielen in ein beklommenes Schweigen.
Nach einer sehr beschwerlichen Reise erreichten wir wieder die Küste und machten an einem verlassenen Straßenstück halt. Die ausgedehnte Heidelandschaft verlor sich im Schatten. Ich konnte keine Lichter von anderen Behausungen sehen.
»Warum haben wir angehalten?«, fragte Mrs. Parry missmutig.
Erneut erzitterte die Berline. Tizard kletterte von seinem Hochsitz herunter. Jetzt erschien er an der Tür und hielt eine Laterne hoch.
»Da wären wir, die Damen«, sagte er. »Die letzten paar Schritte des Weges müssen Sie zu Fuß gehen.« Er drehte sich um und deutete in den Schatten hinaus. »Die Alte Akzise liegt da drüben, ein wenig unterhalb von uns. Es ist nicht weit, aber mit der Kutsche hinunterzufahren wäre ein gutes Stück kniffliger, als mir lieb ist. Es gibt nur wenig Platz zum Wenden, und außerdem ist es zu dunkel. Aber wenn Sie einfach hinuntersteigen würden, werde ich Sie zur Tür führen.«
»Was?«, rief Mrs. Parry bestürzt aus.
Ich hörte Nugent grummeln, dass dies ein seltsames Ziel für eine Reise sei, so viel sei sicher.
Aber in diesem Moment wurden wir vom Haus her gegrüßt, und ein auf und ab tanzendes Licht näherte sich uns.
»Ah!«, sagte Tizard. »Da kommt Jacob, um uns zu helfen!«
Eine Gestalt trat aus dem Schatten hervor, hielt die Laterne in die Höhe, verbeugte sich und gab Worte von sich, vermutlich zur Begrüßung. Was genau er sagte, konnte ich nicht richtig verstehen.
»Mach uns etwas Licht, Jacob!«, drängte Tizard ihn. Er wandte sich wieder der Berline und Mrs. Parry zu. »Reichen Sie mir einfach Ihre Hand, Ma’am, und ich habe Sie im Nullkommanichts da raus!«
Mrs. Parry nahm diesen Vorschlag alles andere als dankbar auf. Sie hatte weder die Absicht, dem Kutscher die Hand zu reichen noch irgendwohin ›im Nullkommanichts‹ zu gehen.
»Elizabeth, meine Liebe«, sagte sie zu mir. »Seien Sie so nett und steigen Sie zuerst aus; Nugent kann Ihnen folgen. Dann helfen Sie mir gemeinsam hinunter.«
Unelegant und mit dem Gefühl, mich ins Ungewisse zu begeben, kletterte ich hinaus und war ganz froh, Tizards Arm ergreifen zu können. Hinter mir kam Nugent, die immer noch den Schirm umklammerte, bereit, jede Gefahr abzuwehren, die in der Dunkelheit lauern mochte. Dann wurde Tante Parry durch die Tür gewuchtet, und wir hatten alle drei festen Boden unter den Füßen. Hinter uns schnaubten und stampften die Kutschpferde. Es war ein langer Tag gewesen, und sie spürten, dass sie nicht mehr weit von den heimischen Ställen entfernt waren. Ich konnte fühlen, wie die Hitze von ihren dampfenden Flanken aufstieg.
»Geh voran, Jacob!«, forderte Tizard den Neuankömmling auf.
Wir machten uns auf den Weg, Nugent und ich zu beiden Seiten von Mrs. Parry, die wir an den Ellbogen stützten. Der Boden unter unseren Füßen, eine Mischung aus Sand, Torf und Steinen, dämpfte unsere Schritte. Ich glaubte, Kiefern riechen zu können. Jacob ging mit seiner Laterne voraus, und Tizard bildete die Nachhut. Zwar war inzwischen der Mond aufgegangen und half uns mit seinem blassen Schein, aber ich verstand das Widerstreben des Kutschers, mit seinem Gespann die Straße zu verlassen. Mrs. Parry beklagte sich ununterbrochen darüber, dass wir uns alle die Knöchel brechen würden und dass sie auf jeden Fall in Southampton übernachtet hätte, wenn sie eine Ahnung von der Abgelegenheit dieses Ortes gehabt hätte.
Mit Erleichterung sah ich, dass wir uns einem Haus näherten, und zwar einem recht stattlichen. Vielleicht hatten die jetzigen Eigentümer, die Hammets, das ursprüngliche Gebäude erweitern lassen. Die Feuersteinfassade war weiß getüncht worden und schien im Mondlicht zu schimmern. Die unteren Fenster leuchteten in einem helleren Gelb, und eine Öllaterne baumelte vor der Eingangstür, die sich allerdings an der Seite des Gebäudes und nicht an der Front zu befinden schien.
Aber die Seite des Gebäudes war diejenige, die dem Weg zugewandt war. Es war ja nicht als Sommerresidenz für einen Gentleman gebaut worden, sondern als Büro und Unterbringung für die Akziseeinnehmer. Ein warmes Licht umfing uns, als sich die Tür öffnete. Eine weibliche Gestalt erschien und machte einen tiefen Knicks. Hinter ihr stand eine zweite weibliche Gestalt, die ebenfalls einen Knicks machte.
»Willkommen, die Damen. Ich bin die Haushälterin, Mrs. Dennis. Und das ist meine Tochter Jessie, die uns aushilft. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.«
»Nein!«, schnaufte Mrs. Parry. »Wir hatten eine furchtbare Reise!«
Vielleicht war diese Antwort nichts weiter als das, was die Haushälterin erwartet hatte, denn sie sagte in aufmunterndem Ton: »Aber jetzt Sie sind hier, gesund und munter, und das ist es, was zählt.« Sie deutete mit der Laterne auf unseren Führer. »Das ist Jacob, mein Mann. Er kümmert sich um das Äußere des Hauses, und ich kümmere mich um das Innere, wenn man so will.« Mrs. Dennis wandte sich an unseren Kutscher. »Nun, Tom Tizard, was hast du mit dem Gepäck der Damen gemacht?«
»Davy ist mit dem Dogcart hinter uns.« Er drehte sich um und wandte sich an mich. »Ich werde morgen um halb sechs wiederkommen, um Sie und die andere Dame zu einem Abendessen bei Sir Henry zu fahren.«
»Danke«, sagte ich zu ihm. »Aber der Dogcart ist noch nicht mit unserem Gepäck angekommen. Ich hoffe, es gab keinen Ärger auf der Straße.«
»Oh, Davy wird gleich kommen«, versicherte mir Tizard. »Wahrscheinlich hat er unterwegs eine Pause eingelegt, um einen Humpen Ale zu trinken. Davy macht die Dinge auf seine eigene Art, aber er wird kommen, keine Bange.«
»Ungewöhnlich!«, bemerkte Mrs. Parry zu mir. »Ich wundere mich, dass Sir Henry die Dienste eines solchen Kerls in Anspruch nimmt.«
»Oh, er ist ein sehr nützlicher Bursche, der Davy«, sagte Tizard. »Dann wünsche ich Ihnen allen eine gute Nacht.«
Frau Dennis bat uns, ins Haus zu kommen. Ihr Mann war wieder in den umliegenden Büschen verschwunden. Ich wusste zwar, dass er der Gärtner war, aber er konnte sich doch sicher nicht die ganze Nacht im Garten herumtreiben. Dann erinnerte ich mich daran, dass das Ehepaar in einem Cottage in der Nähe untergebracht war.
Es war schwierig, sich ohne unser Gepäck häuslich einzurichten. Aber die Haushälterin versicherte uns, dass es sicherlich bald ankommen würde. Vielleicht möchten wir zu Abend essen? Wir müssten, sagte sie, hungrig sein.
Das erinnerte Mrs. Parry daran, dass sie in der Tat sehr hungrig war.
Wie befürchtet, gab es keine Gasbeleuchtung. Wir bekamen jede eine Kerze und stiegen eine schmale Treppe hinauf, damit wir unsere Zimmer inspizieren und unsere Oberbekleidung ablegen konnten. Die Treppe führte zu einem quadratischen Treppenabsatz, von dem aus zwei lange Korridore das Haus von einer Seite zur anderen durchzogen. Ich wurde erneut daran erinnert, dass dieses Gebäude ursprünglich nicht als Familienhaus, sondern als Stützpunkt für staatliche Fiskalaktivitäten gebaut worden war. Das machte die Wohnsituation etwas unbequem, denn beide Flure waren schmal. Mrs. Parry war offensichtlich das Hauptschlafzimmer zugewiesen worden. Es lag abseits des Korridors links vom Treppenabsatz und verfügte über ein angrenzendes Ankleidezimmer; in diesem kleinen Anbau war ein Bett für Nugent hergerichtet worden. Mein Zimmer lag entlang des Korridors zur Rechten. Wir befanden uns also auf gegenüberliegenden Seiten des Hauses, in einiger Entfernung voneinander. Mein Zimmer, obwohl kleiner, war gut eingerichtet, und auch wenn die Dunkelheit mich jetzt einer Aussicht beraubte, rechnete ich damit, dass ich am Morgen einen schönen Ausblick aufs Meer haben würde, möglicherweise sogar auf die Isle of Wight.
Ich zog meinen Hut und meine Oberbekleidung aus und legte sie auf das Bett. Ein Klopfen an der Tür kündigte die Ankunft von Jessie an, die einen Krug mit heißem Wasser trug, das sie in die Schüssel auf dem Waschtisch goss. Sie war ein kräftig gebautes Mädchen, das ich auf etwa sechzehn schätzte. Ihre dichte rote Haarmähne war im Nacken mit einem Band zurückgebunden.
»Mama meint, Sie wollen sich sicher frisch machen!«, sagte sie fröhlich.
Ich machte mich gebührlich frisch, obwohl ich in Ermangelung unseres Gepäcks das Kleid nicht wechseln konnte. Ich ging wieder nach unten ins Esszimmer, wo ich Mrs. Parry, ebenfalls noch in ihrer Reisekleidung, bereits am Tisch sitzend vorfand. Der Tisch war hübsch gedeckt, mit frischem Leinen und einer großen Öllampe mit einem Schirm aus Rubinglas, die ein rosafarbenes Licht warf. Uns wurde ein reichhaltiges und köstliches Mahl serviert, angefangen mit einer Suppe, gefolgt von frischem Fisch, gebratenem Huhn und Kartoffeln, und zum Abschluss gab es Syllabub. Ich hoffte, dass man Nugent in der Küche ebenso gute Speisen servierte. Während des Hähnchengangs deutete ein Lärmen vor dem Haus darauf hin, dass unser Gepäck angekommen war. Wir hörten, wie es im Haus unter Krachen und Poltern die Treppe hinaufgetragen wurde.
»Sie scheinen sehr unachtsam zu sein!«, bemerkte Mrs. Parry, als über unseren Köpfen ein besonders lauter Zusammenstoß, gefolgt von einem kurzen Streit von Männerstimmen, zu hören war. »Glauben Sie, dass der Kerl, der den Dogcart gefahren hat, betrunken angekommen ist?«
Das war durchaus möglich, aber ich verteidigte Davy, indem ich darauf hinwies, dass die Treppe sehr schmal sei, ebenso wie die Flure im Obergeschoss. »Und die Decken sind niedrig.« Ich konnte nicht umhin hinzuzufügen: »Die arme Nugent wird sehr unglücklich darüber sein, dass sie kein Gaslicht hat.«
»Es ist ein sehr merkwürdiges Haus«, urteilte Tante Parry. »Mr. Hammet hätte uns vor seinen Eigenheiten warnen sollen.«
Als wir uns vom Tisch erhoben, überkam uns beide eine große Müdigkeit, die durch das gute Essen noch verstärkt wurde.
»Ich werde mich zurückziehen!«, verkündete Tante Parry.
Ich stimmte ihr zu, dass dies eine gute Idee sei und ich das Gleiche tun würde. In diesem Moment kam Mrs. Dennis herein und fragte uns, ob das Essen genehm gewesen sei. Wir sagten ihr, ja, ausgezeichnet.
»Ich hoffe, Sie schlafen gut, meine Damen«, sagte sie. »Mein Mann und ich, wir übernachten nicht im Haus; es ist nur ein Katzensprung bis zu unserem Cottage. Aber Sie werden nicht ohne jemanden sein, an den Sie sich wenden können. Jessie wird hier schlafen, um zur Stelle zu sein, falls sie gebraucht wird. In Ihren beiden Zimmern befindet sich neben dem Bett eine Klingelschnur.«
*
Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen. Ich war froh, als ich in mein Bett steigen konnte. Ich hatte vorgehabt, Ben zu schreiben, bevor ich mich zur Ruhe begab, beschloss aber, dies erst am Morgen zu tun. Ich würde genug Zeit haben, denn Mrs. Parry erschien nie vor Mittag.
Doch trotz meiner Erschöpfung schlief ich nicht sofort ein. In meinem eigenen Haus in der Nähe der Waterloo Station in London war die Nacht von den Geräuschen der großen Eisenbahn durchsetzt. Die Laute, die ich jetzt hörte, waren ganz anders, und vielleicht war es ihre Fremdartigkeit, die mich wach hielt und lauschen ließ. Die Flut war da, und die Wellen unten murmelten ihren unverwechselbaren Refrain, ein sanftes Grollen, unterbrochen vom gelegentlichen Klatschen des Wassers gegen irgendein Hindernis. In der Dunkelheit unserer Ankunft hatte man es nicht erkennen können, aber das Haus musste so gelegen sein, dass es den Steuerbeamten in beide Richtungen einen guten Blick auf das Meer und die Küste ermöglicht hatte. Ich hatte die Vorhänge zurückgezogen, bevor ich die Kerze ausblies, und nur silbriges Mondlicht erhellte den Raum. Wind war aufgekommen und wehte ungehindert über das Wasser. Er fand den Weg in den Dachraum, und die Sparren knarrten so sehr über meinem Kopf, dass es mir vorkam, als wäre ich an Bord eines Schiffes und nicht an Land.
Während ich den Geräuschen lauschte, begann ich mir vorzustellen, dass das Knarren und Klappern nicht nur vom Wind herrührte, sondern von jemandem, der sich heimlich oben bewegte. Es musste eine oder mehrere Dachkammern über mir geben, dachte ich. Vielleicht schlief dort jemand. Von den Dennises konnte es keiner sein, denn ich wusste, dass sie beide für die Nacht in ihr Cottage zurückgekehrt waren. Einbildung!, sagte ich mir. Aber ein lauteres Knarren als zuvor, eher ein heftiges Knacken, veranlasste mich, mich erschrocken im Bett aufzusetzen. Da oben war eindeutig jemand. Dann fiel es mir wieder ein.
»Ach Lizzie!«, murmelte ich vor mich hin. »Das muss Jessie Dennis sein, die da oben schläft. Du lässt deine Fantasie mit dir durchgehen.«
Dennoch griff ich nach dem Umhängetuch, das ich über das Fußende des Bettes gelegt hatte, warf es mir um die Schultern und schwang die Beine aus dem Bett. Mit den Zehen tastete ich nach meinen Hausschuhen und schlich, als ich sie gefunden hatte, quer durchs Zimmer zur Tür. Ich befand, dass es nicht nötig sei, die Kerze anzuzünden, die, zusammen mit einer Schachtel Streichhölzer, in einem Keramikhalter neben meinem Bett stand. Der Mond spendete sein klares, kaltes Licht. So leise ich konnte, öffnete ich die Tür und trat auf den Gang hinaus. Hier half mir kein Mondlicht, und ich bereute, dass ich mir nicht doch die Mühe mit der Kerze gemacht hatte. Ich tastete mich weiter vor, bis ich ganz am Ende zu einer kleinen Tür kam, die jedes weitere Vorankommen verhinderte. Sie schien mit einem primitiven Riegel verschlossen zu sein. Ich hob ihn an und öffnete die Tür, konnte aber nicht sehen, was vor mir lag. Vorsichtig schob ich einen Fuß vor – und stieß mir prompt den Zeh. Ich bückte mich und tastete nach dem Hindernis. Direkt vor mir erhob sich eine schmale Holzstufe, darüber eine weitere – und noch eine. Eine schmale Treppe. Das musste der Zugang zu der darüber liegenden Dachkammer sein. Jetzt, wo ich mir Klarheit verschafft hatte, wollte ich die kleine Tür gerade wieder schließen, als Stimmengemurmel zu mir herüberdrang: Jemand flüsterte, und eine weibliche Stimme kicherte. Danach konnte ich gerade so noch eine andere Stimme ausmachen, die eindeutig nicht weiblich war. Jessie Dennis schlief dort oben, aber nicht allein. Kein Wunder, dass sie gerne geblieben war, ›falls sie gebraucht wurde‹.
Tja, dachte ich bei mir, Jessie war gebraucht worden, aber weder von Mrs. Parry noch von mir.
Leise schloss ich die Tür zum Treppenhaus und machte mich auf den Weg zurück in mein Zimmer. Als ich diesmal wieder in mein Bett stieg, schlief ich sofort ein.
Bei Tagesanbruch wachte ich wieder auf. Ich drehte mich im Bett zum Fenster hin und erschrak, als ich eine Möwe auf dem Sims hocken sah, die mich mit einem feindseligen gelben Auge anstarrte. Der kleine Reisewecker auf dem Tisch sagte mir, dass es noch zu früh zum Aufstehen war, aber ich schlüpfte trotzdem aus dem Bett und ging zum Fenster. Die Möwe flatterte davon, als ich mich ihr näherte. Draußen erhellte ein kaltes Morgenlicht die Zufahrt zum Haus und gewährte mir einen ersten Blick auf das, was auf der anderen Seite der Gartenmauer lag. Ein steiniger Pfad führte daran vorbei, und dahinter lag ein Stück mit hohem Gras und niedrigen Büschen. Dann fiel das Land mit erschreckender Plötzlichkeit zum Strand hin ab, der vielleicht vier oder fünf Meter tiefer lag.
Ich wollte mich gerade wieder ins Bett legen, als überraschend ein Mann auftauchte. Er ging an der Seite des Hauses entlang, das er durch die Küchentür verlassen haben musste. Er bog nicht um die Ecke, um den Fußweg zur Hauptstraße einzuschlagen, auf der wir am Abend zuvor unterwegs gewesen waren, sondern durchquerte das Stück Garten und ging durch ein Holztor nach links auf einen schmalen Pfad oberhalb des Strandes. Er bog links ab und ging bergab. Ich hatte ihn sofort erkannt. Davy Evans war nicht zu verwechseln.
Nun, es ist jetzt alles geregelt, die Details ausgearbeitet, kein Spielraum für Fehler. Ich hätte die Dinge nicht so lange aufschieben dürfen. Aber vielleicht hat das Schicksal diesen Moment vorgesehen. Auf jeden Fall werde ich ihn nicht verpassen.
Es war nie Mrs. Parrys Gewohnheit gewesen, vor Mittag zu erscheinen. In London frühstückte sie immer in ihrem Zimmer und las die Briefe, die am Morgen eingetroffen waren. Anschließend machte sie mit Hilfe Nugents aufwendig Toilette und erschien um zwölf in voller Pracht, bereit für ein ›leichtes Mittagessen‹, wie sie die Mahlzeit gerne nannte. Dass sie vorübergehend an die Küste gezogen war, bedeutete nicht, dass sie ihre Gewohnheiten geändert hatte. So kam es, dass ich an diesem Morgen alleine frühstückte. Ich wusste nicht, ob Mrs. Dennis erwartet hatte, dass Mrs. Parry mit mir am Frühstückstisch säße, oder ob sie dachte, ich wäre mit einem besonders guten Appetit gesegnet. Auf jeden Fall gab es genug zu essen für zwei – mindestens. Ich tat mein Bestes, um der Haushälterin keinen Kummer zu machen, aber ich konnte die Menge der Speisen nur leicht verringern.
»Sind Sie denn nicht hungrig, Ma’am?«, erkundigte sich Mrs. Dennis mit einem besorgten Stirnrunzeln. »Haben Sie vielleicht nicht gut geschlafen?«
»Es geht mir sehr gut«, versicherte ich ihr. »Und Sie haben ein ausgezeichnetes Frühstück zubereitet, danke. Ich nehme so früh am Tag nicht viel zu mir.«
»Oh, nun, zu Mittag haben Sie sicher wieder Appetit!«, lautete die Antwort.
Wenn ich zu Mittag überhaupt irgendetwas essen wollte, brauchte ich vorher noch ein wenig Bewegung. Also verschob ich das Briefeschreiben auf den Nachmittag und zog mich für eine Erkundungstour auf dem Küstenwanderweg an. Als Schuhwerk wählte ich meine robusten Balmoral-Stiefel; meinen Hut band ich mit einem Schal fest, damit er nicht aufs Meer hinausgeweht wurde. Als ich gerade losgehen wollte, erschien Jessie.
»Mama meint, Sie sollen auf jeden Fall einen Wanderstab mitnehmen. Andernfalls werden Sie sich höchstwahrscheinlich einen Knöchel verstauchen.«
Sie sah munter und fröhlich aus, hatte ihr üppiges rotes Haar wie zuvor im Nacken zusammengebunden und trug ein blaues Baumwollkleid und eine weiße Schürze. Sie hielt einen dicken Stock in der Hand, wie ihn alte Gentlemen mit sich zu führen pflegen.
»Danke, Jessie«, sagte ich und nahm ihn entgegen.
Sie machte einen Knicks und ging zügig zurück in die Küche. Falls sie in der Nacht zuvor wenig Schlaf gefunden hatte, so war es ihr nicht anzumerken. Ich befand mich in einer schwierigen Situation. Ich hatte keine Ahnung, ob ihre Mutter einen Verdacht hinsichtlich Jessies Verhalten hegte, wenn das Mädchen nicht unter dem Dach der Familie schlief, obwohl ich annahm, dass dies nicht der Fall war. Sollte ich Mrs. Dennis gegenüber erwähnen, dass ich Davy Evans im Morgengrauen beim Verlassen des Hauses gesehen hatte? Aber wenn ich das täte, würden Davy und Jessie wahrscheinlich beide den Vorfall leugnen und Davy mit einer schlagfertigen Begründung für seine Anwesenheit auf dem Uferweg aufwarten. Außerdem war ich neu hier und kannte diese Leute nicht. Da war auch noch etwas anderes: Mein Instinkt sagte mir, dass ich mir Davy Evans nicht zum Feind machen sollte. Damit könnte ich neben der Familie Dennis auch andere verärgern. Ich erinnerte mich an Tizards Beschreibung von Davy als ›nützlichen Burschen‹ und ›verfügbar, wenn man ihn braucht‹. Sowieso war ich ja nur drei Wochen in der Gegend; wieso sollte ich mich einmischen und die Pferde scheu machen?
Meine erste Handlung beim Verlassen des Hauses bestand darin, ein paar Schritte davon wegzugehen und das Gebäude bei Tageslicht zu betrachten. Dass es ursprünglich nicht als Wohnhaus konzipiert worden war, hatte sich schon im Inneren gezeigt. Jetzt konnte ich von außen mein eigenes Schlafzimmerfenster sehen, und das am anderen Ende des Hauses befindliche Fenster musste zu Mrs. Parrys Zimmer gehören. Mein eigentliches Interesse galt dem Dachgeschoss, und tatsächlich, über dem Schlafzimmer im ersten Stock befand sich eine weitere Reihe sehr kleiner Fenster, die bestätigten, dass es dort oben Zimmer gab, darunter auch das, in dem Jessie und ihr Besucher in der vergangenen Nacht geschlafen hatten. Vielleicht war in den Dachkammern früher einmal konfisziertes Schmuggelgut gelagert worden. Ich ging zu der Ecke des Gebäudes, wo ich Davy vorhin gesehen hatte. Von hier aus konnte ich den Hang hinauf zur Straße blicken. In einiger Entfernung stand, wie ein Möwennest, ein kleines Cottage. Von ihm führte ein Weg hinunter zur Alten Akzise. Dies, sagte ich mir, musste das Haus sein, in dem die Familie des Verwalters wohnte.
Nach nur wenigen Schritten erreichte ich ein weiteres Holztor auf der seewärtigen Seite des Küstenwanderwegs. Durch dieses Tor gelangte ich auf einen schmalen und steilen Fußweg, der schräg zum Strand hinunterführte. Die Flut ging schnell zurück und war bereits weit unter der hohen Gezeitenmarke aus Algen und Geröll. Der Geruch von Ammoniak und verfaulendem Fisch stieg aus dem Gemisch auf, und Möwen patrouillierten auf und ab und suchten nach Nahrung. Sie waren nicht die Einzigen, die nach Beute suchten: Auch Jacob Dennis war dort unten und wühlte eifrig in den weichen Schlammstellen zwischen den Kieselsteinen. Er hatte einen Eimer neben sich stehen, aber ich konnte nicht sehen, was er enthielt.