Die frühen Skalden-Lieder - Harry Eilenstein - E-Book

Die frühen Skalden-Lieder E-Book

Harry Eilenstein

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Beschreibung

Die Reihe Die achtzigbändige Reihe „Die Götter der Germanen“ stellt die Gottheiten und jeden Aspekt der Religion der Germanen anhand der schriftlichen Überlieferung und der archäologischen Funde detailliert dar. Dabei werden zu jeder Gottheit und zu jedem Thema außer den germanischen Quellen auch die Zusammenhänge zu den anderen indogermanischen Religionen dargestellt und, wenn möglich, deren Wurzeln in der Jungsteinzeit und Altsteinzeit. Daneben werden auch jeweils Möglichkeiten gezeigt, was eine solche alte Religion für die heutige Zeit bedeuten kann – schließlich ist eine Religion zu einem großen Teil stets der Versuch, die Welt und die Möglichkeit der Menschen in ihr zu beschreiben. Das Buch In diesem Band werden die Lieder „Ragnarsdrapa“, „Thor-Lied“, „Thorsdrapa“, „Haustlöng“, „Odins Rabenzauber“, „Darradarliod“, „Eiriksmal“, „Hakonarmal“, „Sonatorrek“ und „Die Ruine“ in lyrischer und mythologischer Hinsicht ausführlich dargestellt und erläutert. Dabei wird der Reichtum an Formen und an Inhalten der frühen Skaldenlieder deutlich sichtbar, der von einer ausgefeilten Vielfalt an Reim-Formen über mythologische Bildern bis hin zu derben politisch-sexuellen Anspielungen reicht.

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Die Themen der einzelnen Bände der Reihe „Die Götter der Germanen“

Die Entwicklung der germanischen Religion

Lexikon der germanischen Religion

Der ursprüngliche Göttervater Tyr

Tyr in der Unterwelt: der Schmied Wieland

Tyr in der Unterwelt: der Riesenkönig Teil 1

Tyr in der Unterwelt: der Riesenkönig Teil 2

Tyr in der Unterwelt: der Zwergenkönig

Der Himmelswächter Heimdall

Der Sommergott Baldur

Der Meeresgott: Ägir, Hler und Njörd

Der Eibengott Ullr

Die Zwillingsgötter Alcis

Der neue Göttervater Odin Teil 1

Der neue Göttervater Odin Teil 2

Der Fruchtbarkeitsgott Freyr

Der Chaos-Gott Loki

Der Donnergott Thor

Der Priestergott Hönir

Die Göttersöhne

Die unbekannteren Götter

Die Göttermutter Frigg

Die Liebesgöttin: Freya und Menglöd

Die Erdgöttinnen

Die Korngöttin Sif

Die Apfel-Göttin Idun

Die Hügelgrab-Jenseitsgöttin Hel

Die Meeres-Jenseitsgöttin Ran

Die unbekannteren Jenseitsgöttinnen

Die unbekannteren Göttinnen

Die Nornen

Die Walküren

Die Zwerge

Der Urriese Ymir

Die Riesen

Die Riesinnen

Mythologische Wesen

Mythologische Priester und Priesterinnen

Sigurd/Siegfried

Helden und Göttersöhne

Die Symbolik der Vögel und Insekten

Die Symbolik der Schlangen, Drachen und Ungeheuer

Die Symbolik der Herdentiere

Die Symbolik der Raubtiere

Die Symbolik der Wassertiere und sonstigen Tiere

Die Symbolik der Pflanzen

Die Symbolik der Farben

Die Symbolik der Zahlen

Die Symbolik von Sonne, Mond und Sternen

Das Jenseits

Seelenvogel, Utiseta und Einweihung

Wiederzeugung und Wiedergeburt

Elemente der Kosmologie

Der Weltenbaum

Die Symbolik der Himmelsrichtungen und der Jahreszeiten

Mythologische Motive

Der Tempel

Die Einrichtung des Tempels

Priesterin – Seherin – Zauberin – Hexe

Priester – Seher – Zauberer

Rituelle Kleidung und Schmuck

Skalden und Skaldinnen

Kriegerinnen und Ekstase-Krieger

Die Symbolik der Körperteile

Magie und Ritual

Gestaltwandlungen

Magische Waffen

Magische Werkzeuge und Gegenstände

Zaubersprüche

Göttermet

Zaubertränke

Träume, Omen und Orakel

Runen

Sozial-religiöse Rituale

Weisheiten und Sprichworte

Kenningar

Rätsel

Die vollständige Edda des Snorri Sturluson

Frühe Skaldenlieder

Mythologische Sagas

Hymnen an die germanischen Götter

Inhaltsverzeichnis

I Das Wesen der Dichtkunst

II Die Lieder in der höfischen Form

1. Bragi Boddason:

Ragnarsdrapa

(„Preislied für Ragnar“)

Thema: a) Einleitung

b) König Jörmunrek

c) Freya; Hedin und Högni

d) Gefion

e) Thor und Jörmungandr

f) Thaizi

g) Trivaldi

h) Schluß

2. Ulfr Uggason:

Husdrapa

(„Haus-Preislied“)

Thema: a) Heimdall und Loki

b) Thor und Jörmungandr

c) Baldurs Tod

3. Eysteinn Valdason:

Thor-Lied

Thema: Thor und Jörmungandr

4. Eilifir Godrunason:

Thorsdrapa

(„Preislied für Thor“)

Thema: Thor und Geirröd

5. Thjodolfr von Hvinir:

Haustlöng

(„Herbst-lang“)

Thema: a) Idun und Thiazi

b) Thor und Hrungnir

6. anonym:

Hrafnagaldr Odhinns

(„Odins Rabenzauber“)

Thema: Baldurs nahender Tod

III Die Lieder in einer einfachen Form

7. anonym:

Darradarliod

(„Walküren-Lied“)

Thema: die Schlacht von Clontarf

8. anonym:

Eiriksmal

(„Erinnerung an Erik Blutaxt“)

Thema: Loblied auf König Erik Blutaxt

9. Eyvindir Skaldaspillir:

Hakonarmal

(„Erinnerung an König Hakon“)

Thema: Loblied auf König Hakon den Guten

10. Egil Skallagrimsson:

Sonatorrek

(„Sohnes-Klage“)

Thema: Klage über den Tod zweier Söhne

11. anonym:

Die Ruine

Thema: Vergänglichkeit

Themen-Verzeichnis

I Das Wesen der Dichtkunst

Ein Gedicht unterscheidet sich deutlich von einem Prosatext. Es sind aber keinesfalls die „kurzen Zeilen“ und auch nicht der Endreim, der einen Text zu einem Gedicht werden läßt. Das Wesentliche an einem Gedicht ist, daß es „schwingt“, daß alle seine Teile in einem Einklang miteinander stehen – ein Gedicht ist sozusagen „Sprachmusik“.

Dieses „Schwingen“ kommt dadurch zustande, daß sich Elemente der Sprache in Gedichten in regelmäßigen Abständen wiederholen. Diese Wiederholungen müssen nicht immer exakt gleich sein wie der Takt in der Musik – sie sind innerhalb eines klaren Rahmens, der aber vielfältige Möglichkeiten zuläßt, variabel.

Diese vielfältigen Möglichkeiten, einen Text zum „schwingen“ zu bringen, haben die Skalden der Germanen zu einem weitaus größeren Maß ausgeschöpft als es in der späteren deutschen Lyrik üblich gewesen ist.

Zeilenanzahl und Zeilenlänge

Die einfachsten Form der Wiederholung ist die Bildung gleichlanger Sätze, die ähnlich aufgebaut sind und die zu Strophen mit immer der gleichen Anzahl von Zeilen gruppiert werden. Diese Strophen sollten auch inhaltlich eine Einheit bilden.

Wenn dieses Prinzip etwas stärker formalisiert wird, erhält man Zeilen mit gleicher Länge, also Verse. Die Länge dieser Verse kann entweder nach der Zahl ihrer Worte, nach der Zahl der Silben oder nach der Zahl der betonten Silben bestimmt werden. Während in der heutigen Dichtkunst meistens die Zahl der betonten Silben gezählt wird, prüften die Skalden die Anzahl der Silben.

Versmaß

Aus der Anordnung der unbetonten Silben um die betonte Silbe herum ergeben sich die verschiedenen Versmaße, die meistens mit ihren griechischen Namen bezeichnet werden. In der folgenden Übersicht bedeutet „b“ eine betonte Silbe und „u“ eine unbetonte Silbe.

Die am stärksten durch ein Versmaß geformten Gedichte bestehen nur aus einem einzigen Versmaß. Wenn dies z.B. der Trochäus („b – u“) ist, wechseln stets betonte und unbetonte Silben miteinander ab. Ein Vers aus vier Trochäen hätte dann die Betonungsfolge „b – u – b – u – b – u – b – u“.

NameÜbersetzungBetonungenStellungCharakterBeispielTrochäus„Läufer“bu im ganzen VersfließendHa·seDaktylus„Finger“buuim ganzen VerstragendKo·li·briJambus„deftiger Humor, Satire“ub im ganzen VerssteigerndVer·suchAnapäst„zurückschlagen“uubim ganzen VersnachdrücklichHar·mo·nieSpondäus„Trankopfer“uu nur am Anfangsammelnd(unbetonte Hilfsverben u.ä.)Tribrachys„dreimal kurz“uuuErsatz für Jambus oder Trochäusentspannend

Jedes dieser Versmaße hat einen eigenen Charakter, sodaß man durch die Wahl des Versmaßes die Aussage des Gedichtes unterstreichen kann. Bisweilen kann auch ein Widerspruch zwischen Inhalt und Versmaß sinnvoll sein – z.B. wenn in dem Gedicht gerade jemand lügt oder mühsam seinen Zorn unterdrückt.

Gedicht und Lied

Auf der gleichen Anzahl von Silben pro Zeile und der gleichen Verteilung der betonten Silben in diesem Vers beruht auch die Möglichkeit, Gedichte zu singen. Die Textgrundlage für ein Lied ist stets ein Gedicht. Die Gesangsmelodie ist ein zusätzliches Element, um ein Gedicht zum Schwingen zu bringen – das Singen ist mit Abstand das stärkste Mittel, um einen Text zum „Klingen“ zu bringen.

Endreim

Das auffälligste Merkmal eines Gedichtes sind meistens seine Reime, die allerdings nicht bei jedem Gedicht vorhanden sind, da die Minimalanforderung an ein Gedicht, eben das „Schwingen“ des Textes, auch nur durch die Anordnung der Worte und die Verteilung der betonten Silben in den Versen erreicht werden kann. Die Resonanz von sich reimenden Worten ist jedoch so markant, daß sie viel zu der Resonanz der verschiedenen Verse miteinander beitragen kann – das „Klangvolumen“ der „Sprachmusik“ wird durch die Reime deutlich größer.

Diese Reime bauen auf dem Rhythmus der Verse, der auf der Verteilung der betonten Silben beruht, und auf dem Takt der Verse, der auf der Anzahl von Worten, Silben oder betonten Silben pro Zeile beruht, auf und geben der „Sprachmusik“ eine größere klangliche Fülle.

Der einzige Reim, der heutzutage in der deutschen Sprache in der Regel benutzt wird, ist der Endreim. Er kommt auch in fast allen Liedern vor. Der Endreim steht am Ende eines Verses und wird am Ende eines der folgenden Verse wiederholt. Der wiederholte Teil des letztes Wortes, also der Endreim, besteht aus dem letzten Vokal und den ihm folgenden Konsonanten. Bei diesen Reimen klingen auch Konsonanten, die sich recht ähnlich sind wie d/t, m/n, v/w, g/b u.ä. Auch Konsonantenverdopplungen stören in der Regel nicht die Resonanz der beiden Reime miteinander.

„Odin zog durchs Land

unbemerkt und unerkannt.“

(Anmerkung: Odin zog oft verkleidet durch das Land.)

Die Beispielsätze in diesem Kapitel (wie der eben angeführte über Odin) sind keine Übersetzungen von germanischen Originalen, sondern frei erfunden. Sie beschreiben jedoch stets Vorstellungen, die aus den Mythen der Germanen bekannt sind.

Manchmal wird auch der vorletzte Vokal mit dem ihm folgenden Vokal und Konsonanten wiederholt:

„Sif, gib unserem Getreide Deinen Segen,

Sif, schütze uns auf allen Wegen.“

(Anmerkung: Sif ist die Korngöttin und beschützt die Menschen.)

Die Germanen scheinen Reime, die nur aus einem End-Vokal bestehen wie in „Schnee – See“ so gut wie nie als Reimsilben benutzt zu haben.

Stabreim

Es gibt jedoch auch ganz andere Reimformen als den Endreim. Der bekannteste von ihnen ist der Stabreim, bei dem mehrere Worte pro Zeile mit demselben Buchstaben beginnen. Eine Bitte an den Asen Tyr könnte man z.B. in folgende Worte mit Stabreim und Endreim fassen:

„Tyr, schenk' mir Kraft für meine Taten,

gib' mir Geduld beim Warten,

verleih' mir Weisheit auf meinen Wegen

und Licht im Herzen in meinem Leben!“

(Anmerkung: Tyr ist der ursprüngliche Göttervater der Germanen gewesen und zeichnet sich sowohl durch seinen kriegerischen Charakter als auch durch seine Weisheit aus.)

Diese Reimform wird zwar im Allgemeinen nicht mehr benutzt, aber sie findet sich doch ab und zu noch in Redewendungen:

„bei Nacht und Nebel“

Die Germanen betrachteten bezüglich des Stabreimes alle Vokale als einen einzigen Laut. In den folgenden beiden (nicht übermäßig geistreichen) Versen würden in den Augen (bzw. in den Ohren) der Skalden alle Worte miteinander stabreimen:

„Yggdrasil am äußersten Ende unserer alten Erde

ist ohnegleichen und ein Ästestrecker über alle östlichen Ebenen.“

(Anmerkung: „Yggdrasil“ ist der Weltenbaum.)

Die Stabreime stehen in diesen Beispiel-Versen an beliebigen Stellen. Der Effekt des Stabreimes wird jedoch größer, wenn der Stabreim stets an derselben Stelle steht:

„Thor Thursen-Töter, führe meine Hand!

Thor Thrym-Täuscher, leite mich durchs Land!

Loki Listen-Lodur, zeig' mir neue Wege!

Loki Laufey-Liebling, führ' mich über schmale Stege!“

(Anmerkung: Die Thursen sind die Riesen; Thrym ist einer dieser Riesen; Lodur ist ein Beiname des Loki; Laufey ist Lokis Mutter.)

Der Stabreim entfaltet seine Wirkung erst dann richtig, wenn er mindestens dreimal auftritt und der Bereich, in denen diese drei Reime stehen, nicht länger als ca. 16 Silben, d.h. zwei Zeilen lang ist.

Dadurch, daß der Stabreim den Anfang eines Wortes betont, erweckt er den Eindruck von Initiative und Tatkraft. Der heute meistens übliche Endreim hingegen rundet das Vorangegangene ab und ist daher eher „ergebnisorientiert“ und setzt einen Schlußpunkt unter das Gesagte – der Endreim ist von seiner Wirkung her gesehen sozusagen der „Beweis“ der Richtigkeit des vorher Gesagten.

Satzbau

Die eben angeführten vier Verse über die beiden Asen Thor und Loki illustrieren noch ein weiteres Element, das einen Text zum Schwingen bringen kann: der gleiche Aufbau aller vier Sätze. Diese Sätze sind alle aus den folgenden fünf Elementen aufgebaut:

der Name des angerufenen Gottes,

ein zweiteiliger Beiname des angerufenen Gottes,

ein Verb, das eine Bitte an den Gott ausdrückt,

der Bezug auf den Anrufenden (mir, mich, meine),

der Gegenstand der Bitte.

Diesen Satzbau kann man auch als „inhaltlichen Reim“ auffassen. Er wurde von den Germanen kaum benutzt, aber in den frühen Texten insbesondere der Ägypter und Sumerer spielte er eine große Rolle. Dieser „inhaltliche Reim“ setzte zwei Sätze in Analogie zueinander und ersetzte auf diese Weise oft die logischen Partikel wie „als, weil, wie, nichtsdestotrotz“ u.ä.

Ein beliebter inhaltlicher Reim in den Lobpreisungen des Pharaos war z.B.:

„Pharao im Palast

Sonne am Himmel.“

Eine solcher inhaltlicher Reim zeigt ohne viele Worte, daß hier der Pharao der Sonne verglichen wird – der Pharao ist schließlich der „Sohn der Sonne“.

Vollreim und Halbreim

Neben dem Endreim und dem Stabreim gibt es auch noch andere Reime, die von den germanischen Skalden benutzt worden sind. Die wichtigste Unterscheidung ist dabei die zwischen Vollreim und Halbreim.

Bei einem Vollreim wird der letzte Vokal mit den ihm folgenden Konsonanten wiederholt – in seltenen Fällen gehört zu dem Vollreim auch noch ein oder mehrere Konsonanten vor dem Vokal.

Bei einem Halbreim werden nur die Konsonanten nach diesem Vokal wiederholt – in dem wiederholenden Wort steht ein anderer Vokal vor den wiederholten Konsonanten. Man kann den Halbreim daher auch als einen Vollreim mit verändertem Vokal ansehen. Für diese Betrachtungsweise spricht, daß vor den Halbreim-Konsonanten immer ein Vokal stehen muß. Der kleinstmögliche Halbreim ist ein einzelner Konsonant hinter einem Vokal; die häufigste Größe sind zwei Konsonanten.

Zur leichteren Unterscheidung werden im folgenden die Halbreime nur unterstrichen, während die Vollreime unterstrichen und zusätzlich kursiv geschrieben werden. Zu einem Halbreim gehört manchmal auch noch ein Konsonant vor dem Vokal, der dann ebenfalls unterstrichen wird.

Grundarten der ReimeReim1. Wort2. WortStabreimHandHimmelVollreimHandSandHalbreimHandMundStabreim und VollreimGreifhandGrönlandStabreim und HalbreimHandHund

Der Halbreim erscheint zunächst einmal etwas ungewohnt, aber er wird auch im Deutschen bisweilen benutzt wie z.B. in der Redewendung „von der Hand in den Mund“.

Der Vollreim und in geringerem Maße auch der Halbreim rufen den Eindruck von Stimmigkeit und Richtigkeit hervor.

Stellung der Reime im Vers

Diese Voll- und Halbreime müssen keineswegs immer am Zeilenende stehen wie in den heutigen deutschen Gedichten. Die Skalden haben komplexe Regeln für die Stellung dieser Reime in den Versen erdacht. Auch in der Redewendung „von der Hand in den Mund“ stehen beide Reimworte in einer einzigen Zeile.

„Baldur, Bester der Asen

Ziel von Lokis Geläster,

komme wieder im Frühjahr,

ich singe Deine Lieder!“

(Anmerkung: Baldurs Tod ist auch ein Bild für den Herbst; seine Wiederkehr nach dem Ragnarök ist entsprechend ein Bild für den Frühling.)

Die Germanen benutzten auch Reime innerhalb eines Verses, die dann in etwa wie folgt klangen:

„Sif, schütte Korn aus Deinem Horn,

bring Blüten in Deiner Güte,

laß Flachs und Labkraut wachsen,

fülle die Laube mit Trauben!“

(Anmerkung: Mit „Sifs Horn“ ist ein Füllhorn gemeint. Aus Flachs gewinnt man Leinen. Labkraut diente als Ferment bei der Käseherstellung.)

Größe der Reim-Muster

Für die Stellung des Reimes gibt es sehr viele Möglichkeiten. Die Germanen benutzten als Verteilungsschema für die Reime in ihren Dichtungen maximal zwei Zeilen einer Strophe. Es ließen sich zwar durchaus Reim-Muster entwerfen, die sich über mehr als zwei Zeilen erstrecken, aber diese Muster wären beim Zuhören so komplex, daß sie sich nicht mehr mühelos erfassen ließen – wodurch dann der poetische Effekt, also das „Schwingen“ des Textes verlorengehen würde.

Anfangsreim, Binnenreim und Endreim

Die Reime müssen auch keineswegs immer am Ende eines Wortes stehen wie bei dem von uns gewohnten Endreim an einer Zeile. Wenn man sich an der Stellung eines Reimes innerhalb eines Wortes orientiert, gibt es Anfangsreime, Binnenreime und die gewohnten Endreime.

Stellung des Reimes im WortReim1. Wort2. WortAnfangsreimVollreimWinterwindenHalbreimStraßeStromBinnenreimVollreimSchwerterWertungHalbreimGewandungwendenEndreimVollreimHandSandHalbreimHandMund

Da man natürlich z.B. auch eine Silbe am Wortende auf eine Silbe in der Wortmitte reimen lassen kann, ergeben sich vielfältige Reimmöglichkeiten. Da sich an zwei Vollreime auch noch ein Halbreim anschließen kann, ergibt sich eine fast unbegrenzte Möglichkeit von Reim-Mustern.

In der folgenden Bitte an den Wintergott Ullr ist „Schildgott“ in Bezug auf „milder“ ein Vollreim. Das anschließende „bald“ ist in Bezug auf diese beiden Worte ein Halbreim. Die Zeile erhält durch die drei Stabreim-Paare noch zusätzlichen Klang: „mild – mir“, „Schildgott – Schnee“ und „bring – bald“.

„Ullr, milder Schildgott, bring' mir bald den Schnee!“

(Anmerkung: Ullr ist u.a. der Schnee-, Winter- und Skigott.)

In der folgenden Bitte an Freya finden sich neben dem Halbreim vier Worte, die stabreimen.

„Freya, Fylgia-Asin, fliege als Falke zu mir!“

(Anmerkung: Freya ist die Mutter der Seelenvögel („Fylgias“), als die die Toten im Jenseits wiedergeboren werden.)

Der Stabreim, der Endreim und die Voll- und Halbreime innerhalb einer Zeile haben eine verschiedene Wirkung:

Wirkung der lyrischen Möglichkeitenlyrisches MittelWirkungStabreimInitiative, Tatkrafteinheitliches VersmaßRichtigkeitVollreime in einer ZeileSchlüssigkeit der Bewegung (starke Wirkung)Halbreime in einer ZeileSchlüssigkeit der Bewegung (schwache Wirkung)Endreimabschließender Beweis, Ergebnis

spezielle Stellungen des Reims im Vers

Die Germanen haben einige der vielen möglichen Stellungen der sich reimenden Silben in einem Vers systematisch benutzt: den „Fernreim“, den „Trollreim“, den „Nahreim“ den „Zitterreim“, den „Stotterreim“ und den „Dreifachreim“. Die fünf letzten Namen sind die Bezeichnungen der germanischen Skalden für dieses Reim-Muster.

Snorri Sturluson hat in dem Kapitel „Hattatal“ in seiner „Edda“ hundert verschiedene Strophenformen beschrieben. Ihre kommentierte Übersetzung findet sich in Band 77 dieser Reihe.

Fernreim

Beim „Fernreim“ stehen die beiden reimenden Silben am Anfang und am Ende der Zeile:

„Ullr ist der Ase des Jul.“

(Anmerklung: „Jul“ ist die Wintersonnenwende, die die Mitte des Winters, die die Jahreszeit des Ullr ist, bildet.)

Trollreim

Beim „Trollreim“ stehen die beiden reimenden Silben in der Mitte und am Ende der Zeile:

„Wenn Loki naht, kommt Schnee auf die Saat.“

(Anmerkung: In diesem Beispielsatz wird Loki als Gegenspieler des Sommer-Baldur, d.h. als Winter-Gott aufgefaßt.)

Nahreim

Beim „Nahreim“ stehen die beiden reimenden Silben in zwei aufeinanderfolgenden Worten:

„Widar mit dem Schuh gibt dem Wolfsfürst Ruh'.“

(Anmerkung: Der Gott Widar tötete beim Ragnarök den Fenriswolf.)

Zitterreim

Beim „Zitterreim“ werden die beiden reimenden Silben nur durch eine einzige Silbe voneinander getrennt:

„Die Toten tauchen zu Ran am dunklen Tang entlang.“

(Anmerkung: Ran ist die Meeres- und Totengöttin der Germanen.)

Stotterreim

Beim „Stotterreim“ besteht der erste Wort nur aus der sich reimenden Silbe, auf das sofort das zweite reimende Wort folgt, das mit der Reim-Silbe beginnt, sodaß die Silbe zweimal direkt hintereinander folgt und der Eindruck des „Stotterns“ entsteht. In dem folgenden Satz befinden sich gleich fünf „Stotterreime“:

„Da kann man manchmal ja Jahre bei beiden Zwergen Schwerter für Fürsten am Amboß schmieden.

(Anmerkung: Das Schwert des Göttervaters Tyr und verschiedene andere berühmte Schwerter wie z.B. „Tyrfing“ („Tyr-Finger“) sowie die verschiedenen magischen Gegenstände der Asen wurden von zwei Zwergen geschmiedet.)

Dreifachreim

In einem „Dreifachreim“ reimen sich drei Silben aufeinander:

„Heimdall mit dem Horn kennt der Nornen Born.“

Der Kreativität sind bezüglich der Reim-Formen wirklich keine Grenzen gesetzt …

Wirklich zu schwingen beginnt solch ein Reim-Muster jedoch erst dann, wenn es über eine größere Anzahl von Versen hinweg oder in mehreren Strophen beibehalten wird.

Vokalreim

Es gibt auch noch andere Möglichkeiten, um das „Schwingen“ eines Textes zu erreichen. Eine von ihnen ist z.B. die Häufung von gleichen Vokalen oder die Wiederholung bestimmter Vokalfolgen. Diese Reim-Methode wurde von den Germanen jedoch kaum benutzt.

In den folgenden fünf Versen, die eine Anrufung des Kundalini-Feuers sind, werden die Vokale benutzt, um klanglich das Bild eines Aufsteigens vom Wurzelchakra ganz unten zum Scheitelchakra ganz oben hervorzurufen.

Die erste Zeile ist vom dunklen „u“ des Wurzelchakras geprägt,

die zweite Zeile vom etwas helleren „o“ der beiden Bauchchakren,

die dritte Zeile erreicht mit dem klangvollen „a“ die Mitte des Herzchakras,

das schon recht helle „e“ des Hals- und Kopfchakren prägt die 3. Zeile und

den Abschluß in der fünften Zeile bildet der hellste Vokal, das „i“ im Scheitelchakra.

Neben diesen „Hauptvokalen“ wurde neben dem weitgehend tonlosen „e“ nach Möglichkeit nur Vokale benutzt, die dem jeweils prägenden Vokal klanglich nahestehen.

Jede dieser Zeile enthält in der Mitte und am Ende der Zeile einen Vollreim, der den prägenden Vokal der jeweiligen Zeile enthält.

„Aus der Tiefe dumpf, aus dem unteren Rumpf!

Durch die heil'ge Silbe Om: Od komm, strahle komm!

Kundalini-Flammenstrahl, fahre auf zum Asensaal!

bring auf Deinen Wegen mir der Mächte Segen!

Ziehe gleich dem Blitz hin zu Kethers Sitz!“

In den folgenden Versen wird die mißliche Lage eines Menschen beschrieben, der vor einem Wolf auf einen Baum geflohen ist und nun beschließt, den Wolf mithilfe von Runenmagie zu vertrieben.

Die Vokale der betonten Silben in den Versen haben stets die Folge „u – o – a – e – i“, d.h. sie steigen von dem Vokal mit dem dunkelsten Klang (u) zu dem Vokal mit dem hellsten Klang (i) hin auf, was den Versen einen optimistischen Charakter gibt – es besteht also Hoffnung für den Menschen auf dem Baum.

Ohne den Endreim würden diese Verse vermutlich nicht „klingen“, da diese Art von Reim oder, etwas technischer formuliert, von „akustischer Analogie“ recht ungewohnt ist.

„Unten der Wolf am Stamm der Birken,

Wund hockend auf dem Astwerk, ich sinne,

Wut und Zorn, auch Angst – ein Weg, wie ich entrinne?

Runenglut: Tod dem Wolf, den Zauber will ich wirken!“

Refrain

Eine gut bekannte Form der Resonanz innerhalb eines Gedichtes ist die Wiederholung einer oder mehrerer Zeilen, die dann einen Refrain bilden. Einige alte Liedformen bauen vor allem auf dieser Struktur auf, wobei dann der variable Text von einem Vorsänger gesungen wird, während bei dem Refrain alle mitsingen. Der Refrain ist ausgesprochen gemeinschaftsbildend.

Es gibt noch eine Steigerung der Refrain-Lieder und -gedichte: das Mantra und den Chant. Dies sind gesprochene oder gesungene Verse oder einzelne Strophen, die sehr oft wiederholt werden und dadurch mit der Zeit eine Resonanz zu sich selber aufbauen – gewissermaßen eine „stehende Welle“, wie man in der Akustik sagen würde.

Das Mantra und der Chant fehlen in der germanischen Dichtung anscheinend vollständig und auch der Refrain tritt nur selten auf. Die Skalden benutzten allerdings gerne die Wiederholung von bestimmten Formeln, die den dramatischen Effekt steigern. So beginnt z.B. im Wegtams-Lied Odin seine Fragen an die Seherin Wala, die er aus dem Jenseits herbeibeschworen hatte, immer mit denselben zwei Zeilen:

„Schweig nicht, Wala, ich will dich fragen

Bis alles ich weiß. Noch wüßt' ich gerne:

…“

Daraufhin erhält er von der Wala eine Antwort, die ebenfalls immer mit demselben Vers endet:

„…

Genötigt sprach ich, nun will ich schweigen.“

Änderung des Reim-Musters

Es gibt auch Gelegenheiten, in denen man das Reim-Schema ändern kann, wenn dies den Inhalt der Strophe unterstreicht. So könnte man z.B. in einem Streit zwischen Thor und Loki die Reden der beiden Asen in verschiedenen Reim-Mustern verfassen, die ihren jeweiligen Charakter betonen.

Dies wäre dann zwar ein Bruch in dem „Schwingen“ des Textes, der aber nicht als Störung, sondern als Bereicherung empfunden wird, da er den Inhalt klanglich verdeutlicht. Damit dieser „Reim-Bruch“ seine Dynamik entfalten kann, ist es jedoch notwendig, daß zwischen beiden Reimmustern regelmäßig und oft genug gewechselt wird.

Dieses Prinzip findet sich in einer sehr großen Anzahl von Lieder und auch in den heutigen Songs, die sehr oft aus zwei unterschiedlichen Melodieteilen mit deutlich verschiedener Stimmung aufgebaut sind. Dieses Prinzip haben vor allem die Beatles in der Musik populär gemacht.

Von den Germanen ist dieser Wechsel des Reimschemas allerdings nicht in nennenswertem Maße benutzt worden.

Wortwahl

Es gibt noch zwei weitere Aspekte von Lyrik, die sich auf die Wortwahl in den Gedichten beziehen.

Der erste dieser beiden Aspekte hat den Namen „Dichtung“ geprägt, der wörtlich „Verdichtung“ bedeutet. In einem Gedicht wird der Inhalt auf das Wesentliche reduziert, sodaß jedes einzelne Wort mit Bedacht gewählt wird und eine Bedeutung erhält.

Der zweite dieser beiden Aspekte bezieht sich auf eine spezielle Form der Analogie, in der Worte durch andere ausgetauscht werden, die in einem meist gleichnisartigen Zusammenhang mit dem Bezeichneten stehen oder eine Assoziation zu ihm sind.

Die Germanen benutzten in ihren Dichtung sehr oft Umschreibungen, statt „die Dinge beim Namen zu nennen“ – zumindest erscheint dies einem heutigen Leser zunächst einmal so. Da die Skalden jedoch stets Umschreibungen aus Mythen und Gleichnissen wählten, die ihren Zuhörern gut bekannt waren, sind diese Umschreibungen für die damaligen Zuhörer der Skalden keine „Rätsel“ gewesen, sondern eher kunstvolle Assoziations-Auslöser. Dadurch haben diese Umschreibungen dieselbe Funktion wie Adjektive – sie bringen Farbe in die Beschreibung.

Heiti

Es gab zwei grundlegende Arten von Umschreibungen. Die einfachere von ihnen hieß „Heiti“ („Name“). Bei ihr wurde ein Wort durch ein ähnliches ersetzt: z.B. „Kessel“ durch „Becher“, „Schiff“ durch „Roß“ oder „Hügelgrab“ durch „Berg“.

Kenning

Die komplexere Form der Umschreibung benutzte zwei Worte und wurde „Kenning“ („Gekennzeichnetes“) genannt. Mithilfe einer Kenning war das Wecken von differenzierteren Assoziationen möglich. Beliebte Kenningar waren z.B. „Walstraße“ für „Meer“, „Wogenroß“ für „Schiff“, „Schulterklippe“ für „Kopf“, „Kinnwald“ für „Bart“, „Stirnsterne“ für „Augen“, „Kampfgänse“ für „Pfeile“, „Bienenwolf“ für „Bär“ und „Riesentöter“ für „Thor“.

Manche Kenningar benutzten auch Szenen aus den Mythen, sodaß diese Kenningar nur verständliche waren, wenn die Zuhörer die betreffende Mythe kannten. Solch eine Kenning ist z.B. „Verderben der Zwerge“ für die Sonne, da die Zwerge zu Stein erstarrten, wenn die Sonne auf sie fiel.

In gewisser Weise zählt auch „Kampfgänse“ als Umschreibung für „Pfeile“ zu dieser Art von Kenningar, da diese Umschreibung nur verständlich wird, wenn man weiß, daß man für die Federn am Ende der Pfeile damals Gänsefedern benutzte.

Es werden auch heute noch Kenningar benutzt wie Drahtesel, Kinnwald, Flughafen, Biergeschwür (dicker Bauch), Kugelporsche (VW Käfer), Dachhase (Katze), Nasenfahrrad (Brille) usw.

In Band 75 dieser Reihe werden ca. 14.000 verschiedene Kenningar nach Themen sortiert aufgeführt.

Mehrfach-Kenning

Einige dieser Kenningar sind „Mehrfach-Kenningar“, d.h. es wird eine Sache mit etwas zweitem umschrieben und die umschriebene Sache ist wiederum eine Umschreibung für das eigentlich Gemeinte. Ein Beispiel dafür ist „Ullrs Fahrzeug“ für „Ullrs Schiff“, womit schließlich „Schild“ gemeint ist. Die Benutzung von „Fahrzeug“ für „Schiff“ ist eine „Heiti“ – beide Dinge wurden aus Holz hergestellt.

Solche komplexeren Kenningar funktionierten natürlich nur, wenn die von den Skalden benutzte Kenning („Ullrs Fahrzeug“) eine Kenning umschrieb, die bereits allen geläufig war („Ullrs Schiff“), sodaß alle Zuhörer sofort über diese zweistufige Assoziation zu dem Gemeinten fanden („Schild“).

Dieser Kenning liegt auch Assoziation des Schildes mit dem Gott Ullr zugrunde – dieser Ase wurde „Schild-Gott“ genannt. Dieser Schild ist zudem ursprünglich die Sonnenscheibe gewesen, mit der Tyr als Sonnengott-Göttervater über den Himmel fuhr – daher ist dieser Schild sowohl mit Ullr als auch mit einem Fahrzeug assoziiert gewesen. In der Edda wird beschrieben, daß vor der Sonne auf ihrem Streitwagen eine Schild steht, damit die Sonne mit ihrer Hitze nicht die ganze Erde verbrennt.

Wenn ein Germane seinen Skalden die Kenning „Ullrs Fahrzeug“ benutzen hörte, entstanden in ihm eine ganze Gruppe von Assoziationen zu Ullr, zu Streitwagen, zum Sonnenschild, zum Sonnengott Sol und evtl. auch zu seinem Bruder, dem Mondgott Mani, zu Tyr usw.

Tvikent

Wenn eine der beiden Umschreibung in einer Doppel-Kenning ebenfalls eine Kenning war, ergaben sich dadurch Umschreibungen aus drei Worten wie z.B. „Fütterer der Kriegs-Möwen“ für „Fütterer der Raben“ für „Krieger“ (die Raben waren Aasfresser).

Solche Kenningar heißen Tvikent („doppelt Gekennzeichnetes“). Dieser Name ist eine Verkürzung von „Tvi-Kenning“ („Zwiefach-Kenning“).

Solch eine Tvikent ist dann am besten verständlich, wenn sowohl die primäre Kenning („Fütterer der Raben“ für „Krieger“) als auch die sekundäre Kenning („Kriegs-Möwen“ für „Raben“) den Zuhörern bereits aus anderen Liedern bekannt ist.

Ein großer Teil dieser Kenningar wird wahrscheinlich den Charakter von weit verbreiteten Redewendungen gehabt haben.

Mehrfach-Kenningar sind im heutigen Deutsch nicht mehr üblich, obwohl sie sich leicht konstruieren ließen. So könnte man z.B. das „Nasen-Fahrrad“ leicht zu „Nasen-Drahtesel“ erweitern …

Rekit

Wenn in einer solchen Kenning mehr als drei Worte benutzt wurden, hießen sie „Rekit“. Mehr als sieben Worte für eine einzige Kenning zu benutzen wurde von den Skalden im Allgemeinen als nicht mehr als gut verständlich angesehen – den Rekord hält eine Kenning aus neun Worten.

Snorri Sturluson empfiehlt in seinem Hattatal eine Beschränkung auf Rekits mit maximal fünf Worten (plus Worten wie „der“, „des“, „und“ u.ä.).

Das Wort „Rekit“ bedeutet „das Getriebene“ – vermutlich ist damit die Ausdehnung der Kenning gemeint.

Eine deutsche Rekit wäre z.B. das „Nasen-Draht-Langohr“.

Nygerving

Die Kenningar konnten zu lebhaften Bildern ausgebaut werden und wurden dann „Nygervingar“ genannt. Diese bildschöpferische Tätigkeit hat diesem lyrischen Stilmittel auch ihren Namen gegeben: „Nygerving“ bedeutet „Neuschöpfung“.

In der Nygervingar „Schilde wurden unter den harten Füßen der Griffe niedergetreten“ ist der „Fuß des Griffes“ die Schwertklinge – die Kenning beschreibt also einen siegreichen Kampf.

Eine ganz ähnliche Nygerningar ist „die Wund-See brandete an die Landzungen der Schwerter“, in der „Wund-See“ Blut bezeichnet und die „Landzungen der Schwerter“ die Schwertklingen sind. Auch diese Kenning beschreibt einen Kampf.

In manchen Strophen wurden diese Analogien von den Skalden zu detailreichen und farbenfrohen Allegorien ausgebaut.

Diese komplexen Assoziationen sind eine Struktur, die sich auch in der Handwerkskunst der Germanen wiederfindet. Insbesondere der komplexe „Flechtstil“ in der Ornamentik entspricht der Verwendung der verschiedenen Formen der Kenningar und auch der z.T. sehr dichten Reim-Muster in der germanischen Lyrik.

Die germanische Wiederholungs-Regel

Manchmal werden in Gedichten Worte an analogen Stellen mehrfach wiederholt wie z.B. ein Fragewort („wer“ o.ä.) am Anfang von vier aufeinanderfolgenden Zeilen. Solche vollkommen gleiche Versanfänge haben etwas eher Festes, da sie nicht von einem Wort zum nächsten fließen und dabei Ähnlichkeiten, also Reime anklingen lassen, sondern einfach das Wort wiederholen und es dadurch immer mehr hervorheben und auf der mit diesem Wort verbundenen Aussage beharren.

Die Skalden benutzten zwar manchmal dieses Stilmittel, aber generell waren sie der Ansicht, daß man wörtliche Wiederholungen vermeiden sollte. Zu Wiederholungen gab es drei Regeln:

Es darf innerhalb einer Halbstrophe (vier Zeilen) kein Wort wiederholt werden – außer Hilfsverben, logische Partikel u.ä.

Es darf in der 2. Halbstrophe maximal ein Wort (außer den Ausnahmen von Regel 1) der 1. Halbstrophe wiederholt werden.

Es darf in einer Strophe maximal eine Zeile einer vorigen Strophe wiederholt werden (Ausnahme: „refrainartige Wiederholungen“).

Inhalt der germanischen Dichtungen

Den allergrößten Teil der Dichtungen der Skalden machen die Loblieder für die Fürsten und Könige aus – die Beispiele für die Reim-Muster im Hattatal bestehen fast ausschließlich aus solchen Liedern.

Diese Loblieder wurden sowohl für Lebende verfaßt, denen sie dann vorgetragen wurden, als auch für kürzlich Verstorbene.

In den Lobliedern für die Fürsten fehlt nur selten eine Anspielung auf die Großzügigkeit der Herrscher – die Skalden erhofften sich einen guten Lohn für ihre Dichtungen. Einige Male gelang es einem Skalden sogar, durch ein solches Loblied einen erzürnten Fürsten, der den Sänger enthaupten lassen wollte, wieder gnädig zu stimmen. Solch ein besonders erfolgreiches Lied wurde „Hofudlausn“ genannt, d.h. „Haupteslösung“, womit der „Tausch (Auslösung) des Hauptes des Skalden gegen ein Loblied für den Fürsten“ gemeint ist. Solch erfolgreiche „Hofudlausn“ sind u.a. von Egil Skallagrimsson (ca. 948 n.Chr.) und von Óttar svarti (ca. 1025 n.Chr.) bekannt.

Die Nachrufe wurden „Erfidrapa“ genannt. Sie sind von allen Indogermanen gut bekannt. Diese Lieder bildeten sozusagen die Kapitel der mündlich überlieferten Geschichte dieser Völker.

Mythologische Texte sind in diesen Liedern eher selten, aber keineswegs unbedeutend. Die Überlieferungen der Indogermanen und auch anderer Völker bestehen in aller Regel aus einem eher kurzen mythologischen Teil, an den sich ein meist deutlich längerer (halb-)historischer Teil anschließt.

Einige der mythologischen Texte der Germanen hat glücklicherweise Snorri Sturluson um ca. 1220 in der Edda zusammengefaßt.

germanische Namen für Dichtungen

Die „Lieder“ der Germanen tragen in ihren Orignalnamen verschiedene Bezeichnungen wie „Mal“, „Drapa“, Kvaedi“ u.ä. Diese germanischen Fachbegriffe haben folgende Bedeutungen:

Ein „Mal“ wie z.B. in „Grimnismal“ ist ein Bericht oder ein Ausspruch. Das Wort hat sich in ungefähr derselben Bedeutung noch im deutschen „Denkmal“, „Mahnmal“, „Merkmal“, „Muttermal“ u.ä. Zusammensetzungen erhalten. Ein „Mal“ im heutigen Sinne ist ein Kennzeichen oder eine Markierung. Man könnte die germanische Bezeichnung in etwa als „markanten, bewahrenswerten Ausspruch“ übersetzen.

Ein „Tal“ wie in „Hattatal“, „Ynglingatal“ oder „Haleygiatal“ ist eine Aufzählung, eine Liste. Das Wort ist mit dem englischen „to tell“ (erzählen, unterscheiden) und „toll“ (Zoll) verwandt und ebenso mit dem deutschen „Zahl“ und „Zoll“. Ein „Tal“ ist also zunächst einmal eine Aufzählung, aber im weiteren Sinn auch eine Erzählung.

Ein „Kvaedi“ oder „Kvaett“ ist ein „Vers“, also eine Dichtung. Mit diesem Namen kann letztlich jede Form der Lyrik bezeichnet werden. Dieses Wort kommt z.B. in der Bezeichnung „Drottkvaett“ vor, das wörtlich „Hof-Vers“ bedeutet, wobei mit „Hof“ hier der Hof, also der Wohnsitz eines Fürsten oder Königs gemeint ist.

Der Begriff „Liod“, von dem das deutsche „Lied“ abstammt, ist mit dem lateinischen „laudare“ („loben“) verwandt. Das „Liod“ war ursprünglich demnach ein Loblied. Aus der Weiterentwicklung des „Liod“-„Lobliedes“ zu dem gesungenen „Lied“ kann man zumindestens vermuten, daß das germanische Loblied des öfteren auch gesungen wurde.

Ein „Torrek“ ist ein Klagelied. Das Wort ist möglicherweise mit englisch „to tear“ und dem deutschen „zerren“ verwandt – ein „Torrek“ wäre dann etwas, was an einem zerrt, womit der Schmerz gemeint ist.

Das meist mit „Form“ übersetzte „Hattr“ ist wahrscheinlich mit dem germanischen Verb „hatan“ verwandt, das sich im Deutschen als „hadern“ erhalten hat und „streiten, verfolgen, hassen“ (englisch: „to hate“) u.ä. bedeutet. Ein „Hattr“ wäre dann ursprünglich ein Lied über eine Schlacht, also eine „poetische Kriegsberichterstattung“ gewesen, bevor man mit diesem Wort jegliche Lyrik bezeichnete.

Einen ganz ähnlichen Ursprung hat die „Drapa“ genannte Gedichtform, die wörtlich „ Schlagen, Torschlag, Kampf“ bedeutet.

Die wörtliche Bedeutungen von „Hattr“ und das „Drapa“ zeigen, daß diese beiden lyrischen Formen als Preislieder der militärischen Stärke der Fürsten entstanden sind.

Das „Flokkr“, das auch „Visur“ genannt wurde, war eine „Drapa“, die nach weniger komplexen lyrischen Regeln verfaßt wurde.

„Flokkr“ bedeutet „Schar, Haufen“ und bezieht sich vermutlich auf die „Schar“ der Verse in dem Loblied. „Visur“ bedeutet einfach „Strophen“. Beide Namen sind daher „lyrik-technische“ Bezeichnungen.

Die Unterscheidung zwischen einer Drapa und einem Flokkr war ausgesprochen wichtig, da eine Drapa nur dem höheren Adel und den Fürsten zustand, während das Flokkr für den niederen Adel gedacht war.

Ein Skalde sollte daher nie einem König ein Flokkr dichten, denn das könnte sonst sein letztes Gedicht gewesen sein. In der „Heimskringla“ wird berichtet, daß der Skalde Thorarinn loftunga einmal unbedachterweise ein Flokkr für König Knut gedichtet hatte, woraufhin dieser dem Skalden damit drohte, ihn am nächsten Tag für seine Unverschämtheit hängen zu lassen, falls er bis dann kein richtiges Drapa gedichtet haben würde. Glücklicherweise war Thorarinn in der Lage, auch unter erhöhtem Streß zu dichten ...

Schließlich gibt es noch das „Erfidrapa“, das man mit „Erb-Drapa“ übersetzten könnte. Dies war ein Loblied auf einen gerade verstorbenen König.

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Die Anwendung des Analogie-Prinzipes läßt aus Prosa Lyrik werden. Diese Analogien umfassen die Anzahl der Zeilen je Strophe, die Anzahl der (betonten) Silben je Zeile, das Versmaß und die Reime. Diese Analogien lassen eine „Resonanz“ zwischen den Worten entstehen, wodurch der Text zu „schwingen“ beginnt und somit zu Lyrik wird.

Die nächste Steigerung der Lyrik ist der Gesang, bei dem durch die Melodie, den Takt und den Rhythmus das Schwingen noch einmal deutlich verstärkt wird.

Eine weitere mögliche Steigerung des „Schwingens“ des Textes ist die Verwendung von Liedern in der Magie. Wenn Lieder mit großer Konzentration gesungen werden und innerlich das im Text des Liedes Ausgesagte möglichst intensiv imaginiert wird, löst das „Schwingen“ des Liedes eine magische Wirkung im Äußeren aus. Am ehesten sind die Runenlieder und die Zaubersprüche solch eine „magische Lyrik“.

Diese Form des „Schwingens“ von Texten ist als „chanten“ oder „Mantra-Singen“ bekannt. Das Singen als magisches Hilfsmittel ist schon aus der frühesten Überlieferung bekannt. So preisen die ägyptischen Priester-Magier ihre Zaubersprüche in den Hieroglyphentexten hin und wieder als „gut singbare Zaubersprüche“ an.

Die christliche Form dieser „Zaubergesänge“ ist die Gregorianik. Beeindruckende und wirksame Gesänge dieser Art finden sich auch in Tibet, wo die heiligen Texte in den Klöstern mit einem extrem tiefen Baß gesungen werden.

Die letzte mögliche Steigerung ist die Kombination des „Zaubergesanges“ mit dem Tanz, wodurch ein Trancetanz entsteht. Die Bewegungen des Tanzes bilden ein weiteres Muster von Wiederholungen und Variationen, das sich mit dem Reim-Muster des Textes und mit der Melodie des Liedes zu einem umfassenden „Schwingen“ verbinden kann. Am effektivsten ist diese Art des Tanzes, wenn die Tanzenden dabei selber gemeinsam das Lied singen, zu dem sie tanzen.

Derartige „Runenzauber-Tänze“ sind von den Germanen allerdings nicht bekannt.

Durch die Verdichtung eines Prosa-Textes zu Lyrik entsteht eine grundlegend neue Qualität, die letztlich zu einer magisch-religiösen Wirkung führt: Die Singenden beginnen innerlich genauso zu schwingen wie das Lied, das sie singen, wodurch sie in einen anderen Bewußtseinszustand kommen können und ihr Gesang auch eine magische Wirkung entfalten kann.

In der heutigen Zeit werden die Menschen, die eine Begabung dafür haben, Texte durch Reim und Melodie zum Schwingen zu bringen, allerdings nur noch selten Dichter – wenn sie Glück haben, werden sie Rockstars … und wenn sie Pech haben, Werbetexter …

Übersicht

In der frühen germanischen Dichtung finden sich drei verschiedene Arten von Reim-Mustern. Die älteste von ihnen ist die sehr einfache „Sprachform“ („Malahattr“). Durch Verkürzung der Verse und durch Verdichtung des Stabreimes ist aus ihr die „Liedform“ („Kviduhattr“) entstanden. Beide Formen unterscheiden sich nur graduell und sind nicht grundsätzlich verschieden.