Die Gejagten - Lee Child - E-Book

Die Gejagten E-Book

Lee Child

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Beschreibung

Unversöhnlich, unerbittlich, unschlagbar: Jack Reacher, der eigenwilligste Ermittler der amerikanischen Thrillerliteratur

Jack Reacher betritt den Stützpunkt seiner ehemaligen Einheit bei der Militärpolizei und ahnt nicht, was ihm bevorsteht. Er ist nach Virginia gereist, um seine Nachfolgerin Major Susan Turner kennenzulernen. Doch wenig später wird klar, was für ein großer Fehler es war, einen Militärstützpunkt zu betreten. Denn wie jeder ehemalige Soldat der USA ist Reacher Reservist. Prompt erhält er seinen Einberufungsbefehl und wird außerdem des Mordes angeklagt und verhaftet. Reacher gelingt die Flucht aus dem Gefängnis, doch seine wichtigste Frage bleibt zunächst ungeklärt: Wer versucht ihn auf diese Weise kaltzustellen?

Jack Reacher greift ein, wenn andere wegschauen, und begeistert so seit Jahren Millionen von Lesern. Lassen Sie sich seine anderen Fälle nicht entgehen. Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Roman

Jack Reacher betritt den Stützpunkt seiner ehemaligen Einheit bei der Militärpolizei und ahnt nicht, was ihm bevorsteht. Er ist nach Virginia gereist, um seine Nachfolgerin Major Susan Turner kennenzulernen. Doch wenig später wird klar, was für ein großer Fehler es war, einen Militärstützpunkt zu betreten. Denn wie jeder ehemalige Soldat der USA ist Reacher Reservist. Prompt erhält er seinen Einberufungsbefehl und wird außerdem des Mordes angeklagt und verhaftet. Reacher gelingt die Flucht aus dem Gefängnis, doch seine wichtigste Frage bleibt zunächst ungeklärt: Wer versucht, ihn auf diese Weise kaltzustellen?

Autor

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit mehreren hoch dotierten Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem »Anthony Award«, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.

Lee Child

Die Gejagten

Ein Jack-Reacher-Roman

Aus dem Englischen von Wulf Bergner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Never go Back« bei Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers, A Random House Group Company, London.
Copyright © der Originalausgabe 2013 by Lee Child Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München Published by Arrangement with Lee Child Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotiv: Corbis/Owaki/Kulla HK · Herstellung: sam Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-18710-1V005
www.blanvalet.de

Für meine Leser – mit bestem Dank

1

Irgendwann wurde Reacher in ein Auto gesetzt und eine Meile weit in ein Motel gefahren, in dem der Nachtportier ihm ein Zimmer gab, dessen Einrichtung genau Reachers Vorstellungen entsprach, weil er schon tausendmal in solchen Zimmern übernachtet hatte. Hier gab es eine laut knackende Zentralheizung, deren Geräusche einen nachts nicht schlafen ließen, die aber dem Besitzer helfen würde, bei der Stromrechnung zu sparen. Denselben Zweck erfüllten die schwachen Glühbirnen in allen Lampen. Der Teppichboden war absichtlich nicht hochflorig, damit er nach einer Reinigung binnen weniger Stunden trocknete, sodass das Zimmer noch am selben Tag wieder vermietet werden konnte. Nicht dass der Teppich allzu oft gereinigt werden würde. Er war dunkel, stark gemustert und ideal dafür geeignet, Flecken zu tarnen. Das galt auch für die Tagesdecke auf dem Bett. Bestimmt würde das Duschwasser spärlich und nicht sehr heiß sein, die Handtücher dünn, die Seife klein und das Shampoo billig. Die Möbel bestanden aus Spanplatten, waren dunkel und abgestoßen, der Fernseher war klein und alt, die Vorhänge starrten vor Schmutz und Staub.

Alles wie erwartet. Nichts, was er nicht schon tausendmal erlebt hatte.

Aber trotzdem trübselig.

Daher machte er kehrt, bevor er auch nur den Schlüssel eingesteckt hatte, und ging wieder hinaus auf den Parkplatz. Die Luft war kalt und leicht feucht. Mitten an einem Abend, mitten im Winter in der Nordostecke von Virginia. Der träg dahinfließende Potomac River war nicht allzu weit entfernt. Im Osten jenseits des Flusses erhellte der Widerschein von Washington, D.C., den wolkenverhangenen Himmel. Die Hauptstadt Amerikas, in der alle möglichen Dinge passierten.

Der Wagen, der ihn hergebracht hatte, fuhr bereits wieder davon. Reacher beobachtete, wie seine Heckleuchten im Nebel schwächer wurden. Im nächsten Augenblick verschwanden sie ganz, und die Welt wurde ruhig und still. Aber nur eine Minute lang. Dann tauchte ein weiteres Auto in flottem Tempo auf, als würde der Fahrer sein Ziel genau kennen. Der Wagen bog auf den Parkplatz ab. Eine schlichte dunkle Limousine, sehr wahrscheinlich ein staatlicher Dienstwagen. Sein Ziel schien die Rezeption des Motels zu sein, aber als die Scheinwerfer Reachers unbewegliche Gestalt erfassten, änderte er seine Richtung und kam geradewegs auf ihn zu.

Besucher. Zweck unbekannt, aber die Nachrichten würden gut oder schlecht sein.

Der Wagen hielt parallel zu dem Gebäude so weit von Reacher entfernt, wie er die Tür seines Motelzimmers hinter sich hatte, sodass er in einem Raum, der ungefähr der Größe eines Boxrings entsprach, allein stand. Aus dem Auto stiegen zwei Männer. Trotz des kalten Wetters trugen sie nur T-Shirts, eng und weiß, und dazu Thermohosen, wie sie Läufer anhatten, um sie erst unmittelbar vor dem Rennen auszuziehen. Beide schienen ungefähr einen Meter achtzig groß und neunzig Kilo schwer zu sein. Kleiner als Reacher, aber nicht allzu viel. Beide waren Soldaten, das konnte man auf den ersten Blick erkennen. Das verriet Reacher ihr Haarschnitt. Kein ziviler Friseur wäre so brutal pragmatisch vorgegangen. Das hätte der Markt nicht zugelassen.

Der Kerl von der Beifahrerseite kam vorn um die Motorhaube herum und gesellte sich zu dem Fahrer. Die beiden standen nun nebeneinander. Beide trugen Sneakers, groß, weiß und formlos. Keiner von ihnen war in letzter Zeit im Nahen Osten im Einsatz gewesen. Kein Sonnenbrand, keine weißen Fältchen um die Augen, kein Stress und keine Anstrengung in ihrem Blick. Beide waren jung, noch keine dreißig Jahre alt. Reacher hätte theoretisch ihr Vater sein können. Er hielt die beiden für Unteroffiziere. Vermutlich waren sie Specialists, keine Sergeanten. Sie sahen nicht wie Sergeanten aus. Nicht clever genug. Sie hatten im Gegenteil ausdruckslose, leere Gesichter.

Der Typ von der Beifahrerseite fragte: »Sind Sie Jack Reacher?«

Reacher fragte: »Wer will das wissen?«

»Wir.«

»Und wer sind Sie?«

»Wir sind Ihre Rechtsbeistände.«

Was sie natürlich nicht waren. Das wusste Reacher genau. Militärjuristen traten nicht paarweise und vor allem nicht in solchen Klamotten auf. Diese Kerle waren etwas anderes. Also schlechte Nachrichten, keine guten. In diesem Fall war sofortiges Handeln ratsam. Es war einfach genug, plötzliches Verstehen zu heucheln, bereitwillig auf sie zuzugehen und die Hand wie zur Begrüßung auszustrecken; einfach genug, die eifrige Annäherung in unaufhaltsamen Schwung zu verwandeln und mit der erhobenen Hand einen sichelförmigen Schlag zu führen, um dem linken Kerl den Ellbogen ins Gesicht zu rammen, wonach man kraftvoll mit dem rechten Fuß aufstampfte, als wäre es der einzige Zweck dieser verrückten Übung gewesen, eine Kakerlake zu zertreten, worauf der Rückstoß des Aufstampfens denselben Ellbogen unters Kinn des zweiten Kerls treiben würde: eins, zwo, drei, zuschlagen, aufstampfen, zuschlagen, fertig.

Wirklich ganz einfach. Und immer die sicherste Taktik. Reachers Mantra lautete: Bring deinen Vergeltungsschlag als Erster an. Vor allem wenn man allein zwei Kerlen gegenüberstand, die Jugend und Energie auf ihrer Seite hatten.

Aber er war sich seiner Sache nicht ganz sicher. Nicht hundertprozentig. Noch nicht. Und er durfte sich keinen derartigen Fehler erlauben. Nicht jetzt. Nicht unter den gegenwärtigen Umständen. Er fühlte sich gehemmt. Er ließ den Augenblick verstreichen.

Er sagte: »Wie lautet Ihr juristischer Rat?«

»Ungebührliches Benehmen«, antwortete der Mann. »Sie haben die Einheit in Verruf gebracht. Ein Kriegsgerichtsverfahren würde uns allen schaden. Also sollten Sie sofort aus der Stadt verschwinden. Und Sie sollten nie mehr zurückkommen.«

»Von einem Kriegsgericht hat niemand was gesagt.«

»Noch nicht. Aber das kommt noch. Es wäre dämlich, hier darauf zu warten.«

»Ich stehe unter Befehl.«

»Früher konnte keiner Sie finden. Auch jetzt findet Sie niemand. Die Army setzt keine Detektive ein, um nach Deserteuren zu fahnden. Außerdem könnten auch die Sie nicht aufspüren. Nicht bei Ihrer Lebensweise.«

Reacher schwieg.

Der Kerl sagte: »Das ist unser juristischer Rat.«

Reacher sagte: »Zur Kenntnis genommen.«

»Sie müssen schon mehr tun, als ihn nur zur Kenntnis zu nehmen.«

»Muss ich das?«

»Weil wir Ihnen einen Anreiz bieten.«

»Welcher Art?«

»An jedem Abend, an dem wir Sie noch hier antreffen, treten wir Sie in den Hintern.«

»Tatsächlich?«

»Beginnend mit dem heutigen Abend. Damit Ihnen klar wird, was für Sie das Beste ist.«

Reacher fragte: »Haben Sie schon mal ein Elektrogerät gekauft?«

»Was hat das mit irgendwas zu tun?«

»Ich hab mal eines in einem Laden gesehen. Mit einem gelben Etikett auf der Hinterseite. Darauf stand, dass man schwere oder tödliche Verletzungen riskiert, wenn man sich daran zu schaffen macht.«

»Und?«

»Stellt euch vor, ich trüge das gleiche Etikett.«

»Sie machen uns keine Sorgen, Alter.«

Alter. Ohne bestimmten Grund hatte Reacher plötzlich seinen Vater vor Augen. An irgendeinem sonnigen Ort, vielleicht auf Okinawa. Stan Reacher, geboren in Laconia, New Hampshire, als Hauptmann des U.S. Marine Corps in Japan stationiert, wo er mit seiner Frau und zwei jugendlichen Söhnen lebte. Reacher und sein Bruder hatten ihn der Alte genannt, und er war ihnen alt erschienen, obwohl er damals zehn Jahre jünger gewesen sein musste, als Reacher jetzt war.

»Verschwindet«, sagte Reacher. »Fahrt zurück, woher ihr gekommen seid. Was ihr vorhabt, kann nur schiefgehen.«

»So sehen wir’s nicht.«

»Dies war früher mein Beruf«, sagte Reacher. »Aber das wisst ihr, nicht wahr?«

Keine Reaktion.

»Ich kenne alle Tricks«, fuhr Reacher fort. »Ein paar davon hab ich selbst erfunden.«

Keine Antwort.

Reacher hielt noch immer seinen Zimmerschlüssel in der Hand. Faustregel: Greife keinen Kerl an, der gerade aus einem verschließbaren Raum kommt. Ein Schlüsselbund ist besser, aber auch ein einzelner Schlüssel ist eine ziemlich gute Waffe. Behält man den Griff in der Handfläche und lässt den Bart etwas zwischen Zeige- und Mittelfinger herausragen, hat man einen ziemlich brauchbaren Schlagring.

Aber diese beiden waren nur dumme Kerle. Unnötig, sie zu entstellen. Unnötig, sie mit Fleischwunden und gebrochenen Knochen liegen zu lassen.

Reacher steckte seinen Schlüssel ein.

Ihre Sneakers zeigten, dass sie nicht vorhatten, ihn zu treten. Niemand tritt jemanden mit weichen weißen Sportschuhen. Das hat nicht viel Zweck. Außer man will nur zutreten, um in die Punktewertung zu kommen. Wie diese Fetischisten, die eine der Kampfsportarten ausüben, deren Namen von einer chinesischen Speisekarte stammen könnten. Taekwondo und so weiter. Vielleicht bei Olympischen Spielen brauchbar, aber auf der Straße wertlos. Wer sein Bein wie ein Hund an einem Hydranten hebt, fordert eine Niederlage geradezu heraus. Er darf sich nicht wundern, wenn er umgeworfen und bewusstlos getreten wird.

Wussten diese Kerle das überhaupt? Hatten sie schon einen Blick auf sein Schuhwerk geworfen? Reacher trug schwere Lederstiefel. Haltbar und bequem. Er hatte sie in South Dakota gekauft und wollte sie den ganzen Winter lang tragen.

Er sagte: »Ich gehe wieder rein.«

Keine Antwort.

Er sagte: »Gute Nacht.«

Keine Reaktion.

Reacher wandte sich halb ab, machte einen Schritt auf seine Tür zu und beschrieb dabei mit Schultern und Oberkörper einen Viertelkreis, während die beiden Männer sich wie erwartet auf ihn zubewegten: schneller als er selbst, ungeplant und unwillkürlich, um ihn sich zu schnappen.

Reacher blieb lange genug in der Drehung, bis sie richtig in Schwung waren. Dann bewegte er sich in Gegenrichtung auf sie zu und war jetzt ebenso schnell wie sie – hundertfünfzehn Kilo, die gleich mit hundertachtzig zusammenprallen würden –, warf sich weiter herum und schlug eine lange linke Gerade nach dem linken Kerl. Die Faust knallte wie geplant an sein Ohr, sodass der zur Seite fliegende Kopf des Mannes von der Schulter seines Partners abprallte, den Reacher bereits mit einem rechten Aufwärtshaken unter dem Kinn traf. Dieser Uppercut saß wie aus dem Lehrbuch und warf den Kopf des Kerls nach oben und hinten, wie der seines Kumpels nur Sekunden zuvor zur Seite geflogen war. Als wären sie Marionetten und der Puppenspieler hätte geniest.

Beide Männer waren auf den Beinen geblieben. Der linke Kerl schwankte wie ein Mann auf einem Schiffsdeck in stürmischer See, während der rechte rückwärts stolperte. Der linke wirkte völlig labil, torkelte unsicher und ließ dabei die Körpermitte ungesichert. Reacher traf sein Sonnengeflecht mit einer rechten Geraden: wuchtig genug, um ihm den Atem zu rauben, aber leicht genug, um keine bleibenden Nervenschäden zu verursachen. Der Kerl klappte zusammen, ging in die Hocke und schlang seine Arme um die Knie. Reacher hakte ihn ab und wandte sich dem rechten Kerl zu, der ihn kommen sah und eine schwache Abwehrbewegung mit der Rechten machte. Reacher schlug sie mit dem linken Unterarm beiseite und wiederholte den Hammerschlag mit der rechten Faust aufs Sonnengeflecht.

Auch dieser Mann klappte zusammen, ging wie sein Kumpel in die Hocke.

Danach war es einfach, sie halb umzudrehen, bis sie in die richtige Richtung blickten, ihnen eine Stiefelsohle auf den Rücken zu setzen und sie nacheinander gegen ihren Wagen zu stoßen. Sie trafen mit dem Kopf voraus ziemlich heftig auf und blieben liegen. Wo sie aufgeprallt waren, zeichneten sich in den Autotüren flache Dellen ab. Sie lagen laut keuchend da, waren aber noch bei Bewusstsein.

Morgens würden sie Kopfschmerzen haben und die kleinen Dellen in den Autotüren erklären müssen. Das war alles. Unter den gegenwärtigen Umständen gnädig. Barmherzig. Rücksichtsvoll. Sogar soft.

Alter.

Alt genug, um ihr Vater zu sein.

Zu diesem Zeitpunkt war Reacher noch keine drei Stunden in Virginia.

2

Reacher hatte es endlich aus dem verschneiten South Dakota hierher geschafft. Aber nicht schnell. Er war in Nebraska aufgehalten worden, sogar zweimal, und im weiteren Verlauf nur langsam vorangekommen. In Missouri hatte er lange warten müssen, bis ein nach Osten fahrender silbergrauer Ford ihn mitnahm – mit einem hageren Mann am Steuer, der von Kansas City bis Columbia fast ununterbrochen redete und dann plötzlich verstummte. In Illinois war es ein schneller schwarzer Porsche gewesen, den Reacher für gestohlen hielt. Und dann war er auf einem Rastplatz von zwei mit Messern bewaffneten Kerlen aufgehalten worden. Sie hatten Geld gewollt, und Reacher vermutete, dass sie noch im Krankenhaus lagen. Indiana hatte zwei Tage Zwangspause bedeutet, dann hatte ihn ein verbeulter blauer Cadillac mitgenommen, der von einem würdigen alten Gentleman mit einer Fliege im gleichen Blau wie sein Wagen langsam und vorsichtig gefahren wurde. Nach vier Tagen in Ohio hatte er einen Platz in einem roten Silverado mit Doppelkabine gefunden, mit dem ein junges Ehepaar samt Hund den ganzen Tag auf Arbeitssuche unterwegs war. Reacher glaubte, dass zwei von ihnen bald Arbeit finden würden – der Hund jedoch nicht so ohne Weiteres. Er war dazu bestimmt, ewig auf der Sollseite zu stehen: ein tollpatschiger großer Köter mit hellem Pelz, ungefähr vier Jahre alt, zutraulich und freundlich. Und obwohl es Winter war, hatte er reichlich Haare übrig, sodass Reacher wie mit goldenem Flaum bedeckt ausstieg.

Dann folgte ein unlogischer Abstecher nach Nordosten durch Pennsylvanien, aber das war die einzige Fahrgelegenheit, die sich Reacher bot. Er verbrachte einen Tag in der Nähe von Pittsburgh und einen weiteren bei New York. Anschließend nahm ein Schwarzer ihn in einem etwa dreißig Jahre alten Buick nach Baltimore, Maryland, mit. Insgesamt kam Reacher sehr langsam voran.

Aber das letzte Teilstück von Baltimore aus war ein Kinderspiel. Baltimore lag auf beiden Seiten der I-95, und Washington, D.C., war die nächstgelegene südliche Großstadt, und der Teil von Virginia, der Reachers Ziel war, befand sich mehr oder weniger im District of Columbia – nicht viel weiter westlich vom Nationalfriedhof Arlington, als das Weiße Haus östlich lag. Reacher fuhr von Baltimore aus mit einem Bus, stieg in D.C. am Busbahnhof hinter der Union Station aus und ging zu Fuß durch die Stadt: auf der K Street zum Washington Circle, dann auf der 23rd Street zum Lincoln Memorial, dann über die Brücke zum Friedhof. Vor dem Tor gab es eine Bushaltestelle. Eine Lokallinie, die hauptsächlich vom Friedhofspersonal benutzt wurde. Reachers Ziel war Rock Creek, ein in dieser Gegend häufiger Ortsname, weil es überall Felsen und Bäche gab und die voneinander isoliert lebenden ersten Siedler eine Vorliebe für solche Namen gehabt hatten. Damals, als es noch schlammige Straßen, Kniehosen und Perücken gegeben hatte, war das Nest bestimmt eine hübsche kleine Kolonialsiedlung gewesen, aber heutzutage war es nur eine von vielen Kreuzungen in einem zweihundertfünfzig Quadratkilometer großen Gebiet mit teuren Häusern und billigen Gewerbeparks. Reacher sah aus dem Busfenster, registrierte die vertrauten Bilder, katalogisierte neu Hinzugekommenes und wartete.

Sein eigentliches Ziel war ein solides Gebäude, das von dem nicht weit entfernten Verteidigungsministerium vor ungefähr sechzig Jahren für irgendeinen längst vergessenen Zweck erbaut worden war. Rund vierzig Jahre später hatte sich die Militärpolizei dafür interessiert – irrtümlich, wie sich zeigte, weil der zuständige Offizier ein anderes Rock Creek im Sinn gehabt hatte. Aber er hatte das Gebäude trotzdem bekommen. Es hatte einige Zeit leer gestanden und war dann dem neuen 110th MP Special Unit als Stabsquartier zugewiesen worden.

Das alte Gebäude kam einer Heimatbasis so nahe wie möglich.

Der Bus setzte ihn zwei Blocks entfernt an einer Straßenecke ab – am Fuß eines sich lang hinziehenden Hügels, den er schon oft hinaufgegangen war. Die Straße, die auf den Hügel führte, war dreispurig mit rissigen Betonplatten auf den Gehsteigen und hohen alten Bäumen in Pflanztrögen. Das Dienstgebäude lag vor ihm links hinter einer hohen Mauer, die ein großes Grundstück umgab. Von der Straße aus war nur sein graues Schieferdach zu sehen, das auf der Nordseite mit Moos bewachsen war.

Die Zufahrt von der Straße aus führte zwischen aus Klinkersteinen gemauerten Torsäulen hindurch, die in Reachers Zeit rein dekorativ gewesen waren, weil es kein Tor gegeben hatte. Aber seit damals war ein massives Tor installiert worden. Es wies zwei schwere Stahlflügel auf, deren Stützräder auf bogenförmigen Gleisen liefen, die in den alten Asphalt eingelassen worden waren. Theoretisch mehr Sicherheit, aber in der Praxis wertlos, weil beide Torflügel offen standen. Knapp außerhalb ihrer Gleise befand sich ein ebenfalls neues Wachhäuschen. Besetzt war es mit einem Militärpolizisten, einem Gefreiten im neuen Kampfanzug der U.S. Army, der nach Reachers Ansicht wie ein wild gemusterter, sackartiger Schlafanzug aussah. Der Spätnachmittag wurde zum frühen Abend, und das Tageslicht begann zu verblassen.

Reacher blieb bei dem Wachhäuschen stehen, und als der Gefreite ihn fragend anschaute, sagte Reacher: »Ich bin hier, um Ihren Kommandeur zu besuchen.«

Der Mann sagte: »Sie meinen Major Turner?«

Reacher fragte: »Wie viele Kommandeure haben Sie?«

»Nur einen, Sir.«

»Vorname Susan?«

»Ja, Sir, das stimmt. Major Susan Turner, Sir.«

»Zu der will ich.«

»Wen soll ich melden?«

»Reacher.«

»Grund Ihres Besuchs?«

»Privat.«

»Augenblick, Sir.« Der Mann nahm seinen Telefonhörer ab und machte Meldung. Ein Mr. Reacher möchte Major Turner sprechen. Der Anruf dauerte viel länger, als Reacher erwartet hatte. Einmal hielt der Kerl die Sprechmuschel mit einer Hand zu und fragte: »Sind Sie der Reacher, der hier mal Kommandeur war? Major Jack Reacher?«

»Ja«, antwortete Reacher.

»Und Sie haben Major Turner irgendwo aus South Dakota angerufen?«

»Ja«, sagte Reacher.

Der Kerl wiederholte die bejahenden Antworten am Telefon und hörte noch etwas länger zu. Dann legte er auf und sagte: »Sie können weitergehen, Sir.« Er schien ihm den Weg erklären zu wollen, aber dann schüttelte er den Kopf und meinte: »Sie kennen sich hier aus, denk ich.«

»Stimmt«, sagte Reacher. Als er weiterging, hörte er nach zehn Schritten ein lautes Scharren, blieb stehen und blickte sich um.

Die Torflügel schlossen sich hinter ihm.

Das Gebäude vor ihm war ein klassisches Beispiel für US-Militärbauten aus den fünfziger Jahren. Lang und niedrig, einstöckig, Ziegel, Naturstein, Schiefer, grüne Metallfensterrahmen, überall grüne Rohre als Handläufe. Für das Verteidigungsministerium stellten die Fünfziger goldene Jahre dar. Die Budgets waren riesig gewesen. Army, Navy, Air Force, Marine Corps … das Militär hatte bekommen, was es sich nur wünschte. Oft sogar mehr. Vor dem Stabsgebäude parkten Autos. Einige davon waren Dienstwagen: schlicht, dunkel und abgenutzt. Bei den anderen handelte es sich um Privatwagen, die bunter, aber im Allgemeinen auch älter waren. Ein einzelner Humvee in Dunkelgrün und Schwarz, riesig und bedrohlich, stand neben einem kleinen roten Zweisitzer. Reacher fragte sich, ob der rote Flitzer Susan Turner gehörte. Am Telefon hatte sie wie eine Frau geklungen, die vielleicht einen Wagen dieser Art fuhr.

Reacher ging die wenigen Steinstufen zum Eingang hinauf. Dieselben Stufen, dieselbe Tür, die aber seit seiner Zeit gestrichen worden war. Vermutlich mehr als einmal. Die Army hatte jede Menge Farbe und freute sich immer, sie verwenden zu können. Drinnen sah alles mehr oder weniger wie früher aus. Hinter der Tür lag die Eingangshalle mit der Steintreppe in den ersten Stock auf der rechten und einer Empfangstheke auf der linken Seite. Anschließend verengte der Empfangsbereich sich zu einem langen Korridor, an dem auf beiden Seiten Dienstzimmer lagen. Alle Bürotüren hatten Einsätze aus streifigem Milchglas. Auf dem Korridor brannte Licht. Es war Winter, und das Gebäude hatte schon immer einen düsteren Eindruck gemacht.

Am Empfang saß eine Frau im identischen Tarnpyjama wie dem des Kerls am Tor, aber mit Sergeantenstreifen auf der Plakette auf ihrer Brust. Wie eine Zielscheibe, dachte Reacher. Hoch, höher, abdrücken. Der alte Flecktarnanzug war ihm lieber gewesen. Die Frau war schwarz und schien sich nicht darüber zu freuen, ihn zu sehen. Aus irgendeinem Grund wirkte sie aufgeregt.

Er sagte: »Jack Reacher zu Major Turner.«

Die Frau machte mehrere Anläufe, brachte aber keinen vernünftigen Satz zustande und sagte zuletzt nur: »Am besten gehen Sie gleich zu ihr rauf. Sie wissen, wo ihr Büro liegt?«

Reacher nickte. Er wusste, wo es lag. Ihr Dienstzimmer war früher seines gewesen. Er sagte: »Danke, Sergeant.«

Er stieg die Treppe hinauf. Derselbe abgetretene Stein, dasselbe Stahlrohr als Geländer. Auf dieser Treppe war er schon tausendmal unterwegs gewesen. Sie knickte einmal ab und endete dann mitten über dem Empfangsbereich im Erdgeschoss am Ende eines weiteren langen Korridors. Auch hier brannte Licht. Der Boden war mit demselben Linoleum ausgelegt. Alle Bürotüren hatten die gleichen Glaseinsätze wie die im Erdgeschoss.

Sein Dienstzimmer war das dritte links.

Nein, dies war Susan Turners Büro.

Reacher überzeugte sich davon, dass sein Hemd in der Hose steckte, und fuhr sich mit den Fingern einer Hand durchs Haar. Er wusste nicht, was er sagen würde. Ihre Telefonstimme hatte ihm gefallen. Das war alles. Er hatte dahinter eine interessante Persönlichkeit gespürt. Diese Frau wollte er kennenlernen. So einfach war das. Er machte noch zwei Schritte, dann blieb er stehen. Sie würde ihn für verrückt halten.

Andererseits: Nur wer wagt, gewinnt. Er zuckte innerlich mit den Schultern und setzte sich wieder in Bewegung. Die dritte Tür links. Die Tür war unverändert, aber frisch gestrichen. Unten aus massivem Holz, darüber der schilfige Glaseinsatz, der das schemenhafte Bild in grob parallele senkrechte Linien aufteilte. An der Wand ein Namensschild wie in einer Konzernzentrale: Maj. S.R. Turner. Das war neu. Zu seiner Zeit hatte sein Name in schlichter Schablonenschrift auf dem Holz unter dem Glas gestanden: Maj. Reacher, CO.

Er klopfte an.

Von innen war ein vager Laut zu hören, den Reacher als ein »Herein« deutete. Also holte er tief Luft, öffnete die Tür und trat ein.

Mit Veränderungen hatte er gerechnet. Aber es gab nicht viele. Das matt glänzende Linoleum auf dem Boden war noch von früher, nur etwas dunkler. Der Schreibtisch war derselbe: schlachtschiffgrauer Stahl, an besonders beanspruchten Stellen glänzend abgewetzt und noch mit der Delle, wo Reacher kurz vor Beendigung seiner Dienstzeit den Kopf eines Kerls dagegengeschlagen hatte. Auch die Stühle vor und hinter dem Schreibtisch waren unverändert: schlichte Gebrauchsmöbel aus der Zeit um die Jahrhundertmitte, die in einem Hipstershop in New York oder San Francisco gute Preise erzielt hätten. Die Aktenschränke stammten noch aus alten Zeiten. Das galt auch für die Deckenlampe, eine an drei kleinen Ketten hängende Milchglasschale.

Die Veränderungen waren zu erwarten gewesen und dem Lauf der Zeit geschuldet. Auf dem Schreibtisch, auf dem zuvor nur ein wuchtiges schwarzes Telefon mit Wählscheibe gestanden hatte, befanden sich jetzt drei Telefonkonsolen. Außerdem gab es zwei Computer, einer davon ein Notebook, wo es früher einen Eingangs- und einen Ausgangskorb und massenhaft Papier gegeben hatte. Die riesengroße Wandkarte war auf dem neuesten Stand, und in der Deckenlampe brannte eine kränklich grüne moderne Energiesparbirne. Fortschritte, selbst im Department of the Army.

Nur zwei Dinge in diesem Raum waren unerwartet und unerklärlich.

Erstens: Hinter dem Schreibtisch saß kein Major, sondern ein Oberstleutnant.

Und zweitens saß dort keine Frau, sondern ein Mann.

3

Der Mann hinter dem Schreibtisch trug den gleichen pyjamaartigen Kampfanzug wie alle anderen, aber ihm stand er noch schlechter als den meisten. Wie eine Verkleidung für eine Halloweenparty. Nicht etwa, weil er besonders schlecht in Form gewesen wäre, sondern weil er als echter Schreibtischtyp seriös und managerhaft wirkte. Als wäre seine bevorzugte Waffe kein M16, sondern ein Drehbleistift. Er trug eine Nickelbrille, und sein stahlgraues Haar war wie das eines Schuljungen geschnitten und frisiert. Namensschild und Rangabzeichen bestätigten, dass er Morgan hieß und tatsächlich ein Oberstleutnant der U.S. Army war.

Reacher sagte: »Entschuldigen Sie, Colonel. Ich suche Major Turner.«

Der Kerl namens Morgan sagte: »Nehmen Sie Platz, Mr. Reacher.«

Führungsstärke war eine seltene, wertvolle Eigenschaft, auf die das Militär größten Wert legte. Und der Kerl namens Morgan besaß reichlich davon. Wie sein Haar und seine Brille war seine Stimme aus Stahl. Kein Bullshit, kein Poltern, kein Pöbeln. Nur die selbstbewusste Annahme, jeder vernünftige Mann werde tun, was er ihm sagte, weil es dazu keine brauchbare Alternative gab.

Reacher nahm in dem Besuchersessel am Fenster Platz. Unter seinem Gewicht gab das weich federnde Stahlrohrmöbelstück leicht nach. An dieses Gefühl konnte er sich noch gut erinnern. In der Vergangenheit hatte er sich manchmal in einen dieser Sessel gesetzt.

Morgan sagte: »Erzählen Sie mir bitte genau, warum Sie hier sind.«

In diesem Augenblick glaubte Reacher zu wissen, dass er eine Todesnachricht erhalten würde. Susan Turner war tot.Vielleicht in Afghanistan gefallen. Oder bei einem Verkehrsunfall umgekommen.

Er fragte: »Wo ist Major Turner?«

Morgan sagte: »Nicht hier.«

»Wo sonst?«

»Dazu kommen wir vielleicht noch. Aber zuerst muss ich den Grund für Ihr Interesse erfahren.«

»Woran?«

»An Major Turner.«

»An ihr habe ich kein Interesse.«

»Trotzdem haben Sie am Tor nach ihr gefragt.«

»Das ist eine Privatangelegenheit.«

»In welcher Beziehung?«

Reacher sagte: »Ich habe mit ihr telefoniert. Sie hat interessant geklungen. Ich dachte, ich würde vorbeikommen und sie zum Abendessen einladen. Keine Dienstvorschrift verbietet ihr, Ja zu sagen.«

»Oder auch Nein.«

»Ganz recht.«

Morgan fragte: »Worüber haben Sie am Telefon mit ihr gesprochen?«

»Über dieses und jenes.«

»Worüber genau?«

»Das waren Privatgespräche, Colonel. Und ich weiß nicht mal, wer Sie sind.«

»Ich befehlige das 110th Special Unit.«

»Nicht Major Turner?«

»Nicht mehr.«

»Ich dachte, das sei ein Job für einen Major, nicht für einen Oberstleutnant.«

»Kommandeur bin ich nur vorübergehend. Ich werde als Feuerwehrmann eingesetzt. Man hat mich hergeschickt, damit ich aufräume.«

»Und hier muss aufgeräumt werden? Wollen Sie das damit sagen?«

Morgan ignorierte die Frage. Er erkundigte sich: »Hatten Sie ausdrücklich ein Treffen mit Major Turner vereinbart?«

»Nicht ausdrücklich«, sagte Reacher.

»Hat sie um Ihren Besuch gebeten?«

»Nicht ausdrücklich«, wiederholte Reacher.

»Ja oder nein?«

»Weder noch. Ich denke, dass bei uns beiden nur eine vage Absicht vorgelegen hat. Wenn ich mal zufällig in der Gegend wäre. Irgendwas in dieser Art.«

»Und nun sind Sie also hier. Weshalb?«

»Warum nicht? Schließlich muss ich irgendwo sein.«

»Soll das heißen, dass Sie wegen einer vagen Absicht von South Dakota hierhergekommen sind?«

Reacher sagte: »Ihre Stimme hat mir gefallen. Haben Sie damit ein Problem?«

»Sie sind arbeitslos, korrekt?«

»Vorübergehend.«

»Seit wann?«

»Seit meinem Ausscheiden aus der Army.«

»Das ist eine Schande.«

Reacher fragte: »Wo ist Major Turner?«

Morgan sagte: »Bei diesem Gespräch geht’s nicht um Major Turner.«

»Worum sonst?«

»Es geht um Sie.«

»Um mich?«

»Mit Major Turner hat unser Gespräch absolut nichts zu tun. Aber sie hat Ihre Akte angefordert. Vielleicht war sie neugierig in Bezug auf Sie. Ihre Akte war mit einem Reiter speziell gekennzeichnet. Der hätte Alarm auslösen müssen, als sie angefordert wurde. Damit hätten wir viel Zeit gespart. Leider hat die Kennzeichnung versagt, bis die Akte zurückgegangen ist. Aber lieber spät als nie. Immerhin sind Sie jetzt hier.«

»Wovon reden Sie überhaupt?«

»Kennen Sie einen gewissen Juan Rodriguez?«

»Nein. Wer ist das?«

»Das 110th hat sich früher mal für ihn interessiert. Nun ist er tot. Kennen Sie eine gewisse Candice Dayton?«

»Nein. Ist sie auch tot?«

»Mrs. Dayton lebt noch glücklich und zufrieden. Oder nicht allzu glücklich. Sie wissen bestimmt, dass Sie sich nicht an sie erinnern?«

»Worum geht es überhaupt?«

»Sie bekommen Ärger, Reacher.«

»Wieso?«

»Dem Heeresminister sind medizinische Unterlagen vorgelegt worden, die beweisen sollen, dass Mr. Rodriguez an den Folgen körperlicher Misshandlungen, die er vor sechzehn Jahren erlitten hat, gestorben ist. Weil es in solchen Fällen keine Verjährung gibt, war er theoretisch ein Mordopfer.«

»Wollen Sie behaupten, dass einer meiner Leute der Täter war? Vor sechzehn Jahren?«

»Nein, das will ich nicht behaupten.«

»Schön. Was macht Mrs. Dayton also unglücklich?«

»Das ist nicht mein Thema. Darüber reden dann andere Leute mit Ihnen.«

»Dann müssen sie sich aber beeilen. Ich bin nicht mehr lange hier. Nicht, wenn Major Turner nicht hier ist. Von weiteren Attraktionen in dieser Gegend weiß ich nichts.«

»Oh, Sie bleiben hier«, sagte Morgan. »Sie und ich werden ein langes, interessantes Gespräch führen.«

»Worüber?«

»Die Unterlagen beweisen, dass Sie Mr. Rodriguez vor sechzehn Jahren verprügelt haben.«

»Bullshit.«

»Sie bekommen einen Anwalt gestellt. Hält er die Sache für Bullshit, wird er’s Ihnen sagen.«

»Ich meine, dass es Bullshit ist, dass Sie und ich uns zu einem langen, interessanten Gespräch zusammensetzen werden. Oder das mit dem Anwalt. Ich bin Zivilist, und Sie sind ein Arschloch im Schlafanzug.«

»Sie bieten nicht an, freiwillig zu kooperieren?«

»Da haben Sie verdammt recht.«

»Sind Sie in diesem Fall mit Buch zehn des United States Code vertraut?«

Reacher sagte: »Teilweise natürlich.«

»Dann wissen Sie vielleicht, dass eine spezielle Bestimmung vorschreibt, dass ein Mann mit Ihrem Dienstgrad nicht einfach wieder Zivilist wird, wenn er aus der Army ausscheidet. Nicht sofort und nicht gänzlich. Er wird Reservist. Er hat keine Pflichten, kann aber jederzeit wieder einberufen werden.«

»Wie viele Jahre lang?«

»Sie waren für den Umgang mit Geheimsachen ermächtigt.«

»Das weiß ich noch gut.«

»Erinnern Sie sich auch an die Papiere, die Sie dafür unterschreiben mussten?«

»Vage«, erwiderte Reacher. Er erinnerte sich an einen Haufen Kerle in einem Raum, alle sehr ernst und erwachsen. Anwälte und Notare, Siegel und Stempelmarken und Füller.

Morgan sagte: »Dazu gehört eine Menge Kleingedrucktes. Logischerweise. Sollen Sie staatliche Geheimnisse erfahren, will der Staat die Kontrolle über Sie behalten. Vorher, währenddessen und nachher.«

»Wie lange nachher?«

»Das meiste Zeug bleibt sechzig Jahre lang geheim.«

»Das ist lächerlich.«

»Keine Sorge«, sagte Morgan. »Das Kleingedruckte bestimmt nicht, dass Sie sechzig Jahre lang Reservist bleiben müssen.«

»Das ist gut.«

»Die Wahrheit war noch schlimmer. Im Kleingedruckten hat ›unbefristet‹ gestanden. Aber der Oberste Gerichtshof hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hat festgelegt, welche drei Voraussetzungen in solchen Fällen erfüllt sein müssen.«

»Nämlich?«

»Um erfolgreich zurückgerufen werden zu können, muss man bei guter Gesundheit, unter fünfundfünfzig Jahren und ausbildungsfähig sein.«

Reacher sagte nichts.

Morgan fragte: »Wie ist Ihre Gesundheit?«

»Ziemlich gut.«

»Wie alt sind Sie?«

»Weit unter fünfundfünfzig.«

»Sind Sie ausbildungsfähig?«

»Das bezweifle ich.«

»Ich auch. Aber das lässt sich nur empirisch im Dienst feststellen.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Hundert Prozent«, sagte Morgan. »Jack Reacher, ab sofort sind Sie wieder zum Militärdienst einberufen.«

Reacher schwieg.

»Sie sind wieder in der Army, Major«, sagte Morgan. »Und Ihr Arsch gehört mir.«

4

Es gab keine große Zeremonie. Keine Eingliederung oder Wiedereingliederung. Nur Morgans Worte, und dann wurde es in dem Dienstzimmer etwas düsterer, als draußen ein Posten vor der Tür aufzog und einen Teil des durch den Glaseinsatz einfallenden Lichts blockierte. Reacher sah ihn wie in senkrechte Streifen geschnitten: ein großer, stämmiger Kerl, der mit dem Rücken zur Tür auf dem Gang stand.

Morgan sagte: »Ich bin verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass es ein Berufungsverfahren gibt. Zu dem erhalten Sie vollen Zugang. Sie bekommen sogar einen Anwalt.«

Reacher fragte: »Ich bekomme einen?«

»Das ist nur logisch. Sie werden natürlich versuchen, gegen Ihre Einberufung vorzugehen. Aber erst mal sind Sie wieder drin. Das bedeutet, dass Sie mit dem auskommen müssen, was die Army freiwillig herausrückt. Aber ich vermute, dass wir vernünftig sein werden.«

»Ich kann mich an keinen Juan Rodriguez erinnern.«

»Auch dafür bekommen Sie einen Anwalt.«

»Was soll dem Kerl zugestoßen sein?«

»Das wüsste ich gern von Ihnen«, sagte Morgan.

»Ich kann Ihnen nichts sagen. Kann mich nicht an den Mann erinnern.«

»Sie haben ihn mit einer Gehirnverletzung liegen lassen. An der ist er zuletzt gestorben.«

»Wer war er?«

»Leugnen funktioniert nicht ewig.«

»Ich leugne nichts. Ich sage Ihnen, dass ich mich nicht an den Mann erinnern kann.«

»Das ist eine Diskussion, die Sie mit Ihrem Anwalt führen können.«

»Und wer ist Candice Dayton?«

»Ebenso. Aber mit einem anderen Anwalt.«

»Weshalb?«

»Weil der Fall anders liegt.«

»Stehe ich unter Arrest?«

»Nein«, sagte Morgan. »Noch nicht. Darüber entscheiden die Ankläger, wenn sie so weit sind. Aber seit zwei Minuten sind Sie wieder in der Army – vorerst mit Ihrem früheren Dienstgrad. Verwaltungsmäßig unterstehen Sie dieser Einheit und haben Befehl, dieses Gebäude als Ihren Dienstort zu betrachten und jeden Morgen nicht später als acht Uhr zu betreten. Die nähere Umgebung – durch einen Kreis mit fünf Meilen Radius um diesen Schreibtisch definiert – dürfen Sie nicht verlassen. Untergebracht werden Sie, wo die Army es für angemessen hält.«

Reacher schwieg.

Morgan sagte: »Noch Fragen, Major?«

»Muss ich Uniform tragen?«

»Nicht in diesem Stadium.«

»Das ist eine Erleichterung.«

»Dies ist kein Scherz, Reacher. Die potenziellen Folgen können übel sein. Für Sie persönlich, meine ich. Der schlimmste Fall wäre lebenslänglich in Leavenworth wegen Mordes. Angesichts der Lücke von sechzehn Jahren vermutlich eher zehn Jahre wegen Totschlags. Und der beste Fall ist auch nicht sonderlich attraktiv, weil wir die ursprüngliche Straftat berücksichtigen müssten. Mit weniger als unehrenhaftem Betragen kann’s nicht abgehen, was eine unehrenhafte Entlassung nach sich ziehen müsste. Aber das alles erläutert Ihnen Ihr Anwalt.«

»Wann?«

»Die zuständige Dienststelle ist schon benachrichtigt.«

In dem alten Gebäude gab es keine Zellen. Keine ausbruchssicheren Räume. Die hatte es hier nie gegeben. Nur Dienstzimmer. Reacher blieb, wo er war, im Besuchersessel sitzend, ohne angesehen oder angesprochen zu werden, völlig ignoriert. Draußen vor der Tür stand weiter der Wachposten. Morgan fing an, auf seinem Notebook zu klappern und zu tippen und zu scrollen. Reacher suchte in seinem Gedächtnis nach einem Juan Rodriguez. Vor sechzehn Jahren war er im ersten Jahr Kommandeur des 110th MP Special Unit gewesen. Der Name Rodriguez klang hispanisch. Reacher hatte im und außer Dienst viele Hispanics gekannt. Er erinnerte sich daran, manchmal Leute grob angefasst zu haben – im und außer Dienst, natürlich auch Hispanics, aber keinen Kerl namens Rodriguez. Und wenn Rodriguez von Interesse fürs 110th gewesen wäre, hätte er sich bestimmt an ihn erinnert. Vor allem aus der Anfangszeit, in der jeder Fall wichtig gewesen war. Das 110th war versuchsweise aufgestellt worden. Jede Maßnahme war kritisch beobachtet worden. Alle Ergebnisse waren bewertet worden. Nach jeder Ermittlungspanne hatte es eine Autopsie gegeben.

Reacher fragte: »In welchem Zusammenhang soll das passiert sein?«

Von Morgan kam keine Antwort. Der Kerl klapperte und tippte und scrollte einfach nur weiter. Also suchte Reacher sein Gedächtnis nach einer Frau namens Candice Dayton ab. Auch Frauen hatte er im und außer Dienst viele gekannt. Candice war ein ziemlich häufiger Name. Ebenso wie Dayton. Aber die Kombination beider Namen sagte ihm nichts Besonderes. Auch nicht in der Verkleinerungsform. Candy. Candy Dayton? Candice Dayton? Nichts. Aber er hatte natürlich kein Computergedächtnis. Das hatte niemand.

Er fragte: »Hatte Candice Dayton irgendwas mit Juan Rodriguez zu tun?«

Morgan schaute auf, als wäre er überrascht, einen Besucher bei sich sitzen zu sehen. Als hätte er Reacher ganz vergessen. Die Frage beantwortete er nicht. Er nahm nur den Hörer eines seiner komplizierten Telefone ab und bestellte einen Wagen. Dann wies er Reacher an, unten bei der Sergeantin am Empfang zu warten.

Zwei Meilen entfernt zog ein Mann, den weltweit nur drei Leute als Romeo kannten, sein Smartphone aus der Tasche und rief den Mann an, den weltweit nur zwei Leute als Julia kannten, und sagte: »Er ist wieder im Dienst. Oberstleutnant Morgan hat es gerade in den Computer eingegeben.«

Julia fragte: »Wie geht’s also weiter?«

»Lässt sich noch nicht sagen.«

»Flüchtet er?«

»Ein vernünftiger Mann würd’s tun.«

»Wo bringen sie ihn unter?«

»Im üblichen Motel, denke ich.«

Die Sergeantin unten am Empfang sagte nichts. Sie war noch immer so sprachlos wie zuvor. Reacher lehnte sich an die Wand und wartete schweigend. Zehn Minuten später kam ein Obergefreiter aus der Kälte herein, grüßte vor Reacher und bat ihn mitzukommen. Formell und höflich. Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils, vermutete Reacher, zumindest für manche Leute. Draußen wartete eine ältere olivgrüne Limousine mit laufendem Motor. Ein junger Leutnant stapfte verlegen davor auf und ab. Er hielt die hintere Tür auf. Reacher stieg ein. Der Leutnant setzte sich auf den Beifahrersitz, der Obergefreite fuhr. Nach einer Meile erreichten sie das Motel: einen alten Bau mit durchhängendem Dachfirst auf einem dunklen Grundstück an einer wenig befahrenen Durchgangsstraße. Der Leutnant unterschrieb einen Zettel, und der Nachtportier gab Reacher einen Schlüssel. Der Obergefreite fuhr mit seinem Leutnant davon.

Und dann tauchte der zweite Wagen mit den Kerlen in T-Shirts und Thermohosen auf.

5

Die Thermohosen hatten so wenig Taschen wie die T-Shirts. Und keiner der beiden Männer trug eine Erkennungsmarke. Kein Ausweis, kein Führerschein. Auch ihr Wagen war clean. Er enthielt nichts außer dem üblichen Dokumentenpaket, das wie immer bei der Army im Ablagefach lag. Keine Waffen, kein persönlicher Besitz, keine versteckten Geldbörsen, kein Stück Papier, keine Tankquittung. Das Kennzeichen passte zu einem gewöhnlichen staatlichen Dienstwagen. Das Fahrzeug war in jeder Beziehung völlig normal – bis auf die frischen Dellen in zwei Türen.

Der linke Kerl blockierte die Fahrertür. Reacher schleifte ihn zwei Meter auf dem Asphalt weg, ohne dass er sich wehrte. Das Leben war kein Ponyhof. Bekam ein Kerl einen kräftigen Schlag seitlich gegen den Schädel, sprang er nicht sofort wieder kampfbereit auf. Stattdessen blieb er eine Stunde oder länger liegen, fühlte sich elend, schwindlig und desorientiert. Eine vor Langem gelernte Lektion: Das menschliche Gehirn verträgt seitliche Schläge weit schlechter als frontale. Vermutlich eine evolutionäre Schrulle wie so vieles andere auch an uns.

Reacher öffnete die Fahrertür und setzte sich ans Steuer. Der Motor war abgestellt, aber der Zündschlüssel steckte noch. Reacher schob den Sitz ganz zurück und ließ den Motor an. Dann blieb er eine Weile sitzen und starrte durch die Frontscheibe nach draußen. Sie konnten dich bisher nicht finden. Sie könnten dich auch jetzt nicht finden. Die Army setzt keine Privatdetektive ein. Und auch die könnten dich nicht aufspüren. Nicht bei deiner Lebensweise.

Er verstellte den Innenspiegel, setzte den rechten Fuß aufs Bremspedal und schob den Wählhebel auf D. Mit weniger als unehrenhaftem Betragen kann’s nicht abgehen, was eine unehrenhafte Entlassung nach sich ziehen müsste.

Er nahm den Fuß vom Bremspedal und gab Gas.

Er fuhr geradewegs zu dem alten Stabsquartier zurück und parkte fünfzig Meter davor an der Durchfahrtsstraße. Im Auto war es warm, und er ließ den Motor laufen, um weiter Wärme zu haben. Er sah durch die Frontscheibe nach vorn, konnte aber keine Aktivität erkennen. Unter seinem Kommando hatte das 110th sieben Tage in der Woche Tag und Nacht gearbeitet, und er glaubte nicht, dass sich daran etwas geändert hatte. Die Nachtschicht mit dem Offizier vom Dienst würde schon da sein, und die anderen Offiziere würden heimfahren, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig waren, was dauern konnte. Aber nicht an diesem speziellen Abend. Nicht während einer Krise, definitiv nicht mit einem Troubleshooter im Haus. Niemand würde vor Morgan heimfahren. Grundlegende Armypolitik.

Morgan fuhr eine Stunde später. Reacher sah ihn ganz deutlich: Eine unauffällige Limousine kam durchs Tor gerollt, bog auf die Straße ab und fuhr an der Stelle vorbei, wo Reacher parkte. Im Dunkeln konnte er Morgan, der am Steuer saß, flüchtig sehen: in seinem Tarnpyjama und mit seiner Nickelbrille, das Haar weiter ordentlich gekämmt. Blick nach vorn gerichtet, beide Hände am Lenkrad wie jemandes Großtante, die zum Supermarkt fährt. Reacher beobachtete im Rückspiegel, wie seine Schlussleuchten jenseits des Hügels verschwanden.

Er wartete.

Und tatsächlich kam es in der folgenden Viertelstunde zu einem regelrechten Exodus. Fünf weitere Wagen fuhren durchs Tor, zwei bogen links ab, drei rechts, vier nur mit einem Fahrer, einer mit drei Personen besetzt. Alle Fahrzeuge waren feucht von Tau und zogen weißen Auspuffqualm hinter sich her. Alle verschwanden links und rechts in der Ferne, und die Welt wurde wieder still.

Vorsichtshalber wartete Reacher weitere zehn Minuten. Aber es gab keine Nachzügler. Das fünfzig Meter entfernte alte Gebäude wirkte ruhig. Die Nachtschicht lebte in einer eigenen Welt. Reacher gab wieder Gas, rollte den Hügel hinunter und bog am Tor ab. Im Wachhäuschen stand ein neuer Posten. Ein junger Kerl, ausdruckslos und stoisch. Als Reacher hielt und sein Fenster hinunterfuhr, fragte der Junge: »Sir?«

Reacher nannte seinen Namen und sagte: »Ich komme befehlsgemäß zum Dienst.«

»Sir?«, fragte der Junge noch mal.

»Stehe ich auf Ihrer Liste?«

Der Kerl sah nach.

»Ja, Sir«, sagte er. »Major Reacher. Allerdings erst morgen früh.«

»Ich habe Befehl, mich vor acht Uhr zu melden.«

»Ja, Sir, das sehe ich. Aber jetzt ist’s elf Uhr, Sir. Abends.«

»Und zugleich vor acht Uhr morgens. Genau wie befohlen.«

Der Kerl gab keine Antwort.

Reacher sagte: »Hier geht’s nur um den zeitlichen Ablauf. Ich bin scharf darauf, loslegen zu können, und deshalb ein bisschen früher dran.«

Keine Antwort.

»Wenn Sie wollen, können Sie Colonel Morgan anrufen. Er ist bestimmt schon in seiner Unterkunft.«

Keine Antwort.

»Oder Sie rufen den Sergeanten vom Dienst an.«

»Ja, Sir«, sagte der Junge. »Das mache ich.«

Er telefonierte, hörte kurz zu und legte den Hörer wieder auf. »Sir, der Sergeant lässt Sie bitten, am Empfang vorbeizuschauen.«

»Wird gemacht, Soldat«, sagte Reacher. Er fuhr weiter und parkte neben dem kleinen roten Zweisitzer, der noch an der selben Stelle wie zuvor stand. Er stieg aus, schloss ab und ging zum Haupteingang. In der Eingangshalle war es auffällig still. Buchstäblich ein Unterschied wie Tag und Nacht. Aber am Empfang hatte dieselbe schwarze Sergeantin Dienst. Sie saß auf einem Hocker vor einer Computertastatur. Reacher vermutete, dass sie ihre Kladden auf den neuesten Stand brachte. Die Army legte großen Wert auf lückenlose Aufzeichnungen. Sie hörte zu schreiben auf und hob den Kopf.

Reacher fragte sie: »Vermerken Sie meinen Besuch im Besucherbuch?«

»Welchen Besuch?«, fragte sie. »Ich habe auch den Gefreiten am Tor angewiesen, keinen Eintrag zu machen.«

Nicht mehr sprachlos. Weil der Störenfried Morgan aus dem Haus war. Sie wirkte jung, aber tatkräftig wie alle Sergeanten weltweit. Auf dem Namensschild auf ihrer rechten Brust stand Leach.

Sie sagte: »Ich weiß, wer Sie sind.«

Reacher fragte: »Kennen wir uns?«

»Nein, Sir, aber Ihr Name ist hier berühmt. Sie waren der erste Kommandeur dieser Einheit.«

»Wissen Sie, warum ich wieder da bin?«

»Ja, Sir. Das ist uns mitgeteilt worden.«

»Wie war die allgemeine Reaktion?«

»Gemischt.«

»Und Ihre eigene?«

»Ich bin sicher, dass es eine vernünftige Erklärung gibt. Und sechzehn Jahre sind eine lange Zeit. Also ist die Sache vermutlich politisch motiviert. Was meistens Bullshit ist. Und selbst wenn sie’s nicht wäre, hat’s der Kerl bestimmt verdient. Oder Schlimmeres.«

Reacher äußerte sich nicht dazu.

Leach sagte: »Als Sie reingekommen sind, hab ich überlegt, ob ich Sie warnen soll. Für Sie wär’s am besten gewesen, einfach abzuhauen. Am liebsten hätte ich Sie gewarnt und gleich wieder weggeschickt. Aber genau das war mir durch Befehl verboten. Tut mir leid.«

Reacher fragte sie: »Wo ist Major Turner?«

Leach sagte: »Lange Geschichte.«

»Ich habe Zeit.«

»Sie musste nach Afghanistan fliegen.«

»Wann?«

»Gestern Mittag, ganz plötzlich.«

»Warum?«

»Wir haben Leute dort. Es hat ein Problem gegeben.«

»Was für ein Problem?«

»Das weiß ich nicht.«

»Und?«

»Sie ist nie angekommen.«

»Das wissen Sie sicher?«

»Keine Frage.«

»Wo ist sie also sonst?«

»Das weiß niemand.«

»Wann ist Oberstleutnant Morgan hier aufgekreuzt?«

»Binnen Stunden nach Major Turners Abfahrt.«

»Wie viele Stunden?«

»Knapp zwei.«

»Hat er seine Anwesenheit begründet?«

»Es hat Andeutungen gegeben, Major Turner sei ihres Kommandos enthoben worden.«

»Nichts Spezifisches?«

»Nichts Spezifisches.«

»Hat sie Scheiße gebaut?«

Leach gab keine Antwort.

Reacher sagte: »Sie dürfen offen reden, Sergeant.«

»Nein, Sir, das hat sie nicht getan. Sie hat erstklassige Arbeit geleistet.«

»Das ist alles, was Sie haben? Andeutungen und eine Vermisstenmeldung?«

»Bisher.«

»Keine Latrinenparolen?«, fragte Reacher. Alle Sergeanten gehörten einem Netzwerk an. Das war schon immer so gewesen, würde immer so sein. Wandelnde Gerüchteküchen. Uniformierte Versionen von Boulevardzeitungen.

Leach sagte: »Eine Kleinigkeit hab ich gehört.«

»Nämlich?«

»Hat vielleicht nichts zu bedeuten.«

»Aber?«

»Und steht vielleicht in keinem Zusammenhang.«

»Aber?«

»Jemand hat mir erzählt, dass im Zellenblock in Fort Dyer ein neuer Häftling einsitzt.«

6

Fort Dyer war ein Stützpunkt der U.S. Army ganz in der Nähe des Pentagon. Von Leach erfuhr Reacher jedoch, acht Jahre nach seinem Ausscheiden sei Dyer aus Kostengründen mit dem benachbarten Stützpunkt Helsington House des Marine Corps zusammengelegt worden. Die vergrößerte Einrichtung trug den logischen, aber umständlichen Namen Joint Base Dyer-Helsington House. In Reachers Zeit waren Dyer und Helsington elitäre Dienstorte für hohe Offiziere und wichtige Leute gewesen. Mit dem Ergebnis, dass der Supermarkt in Dyer eher an Saks Fifth Avenue als an einen Walmart erinnert hatte. Und er hatte gehört, der der Marines sei noch besser. Deshalb würde die zusammengelegte neue Version gesellschaftlich keineswegs tiefer stehen. Folglich würden in ihren Zellen nur elitäre Häftlinge einsitzen. Dort würde es keine betrunkenen Raufbolde oder Gelegenheitsdiebe geben. Ein MP-Major mit einem Problem würde zur typischen Klientel gehören. Deshalb konnte Leachs Gerücht zutreffen. Der Zellenblock in Dyer lag nordwestlich des Pentagon. Schräg durch den Nationalfriedhof Arlington. Keine fünf Meilen vom Stabsgebäude des 110th entfernt. Weit weniger.

»Die Army und die Marines am selben Standort?«, fragte Reacher. »Wie kann das funktionieren?«

»Um ein paar Dollar zu sparen, tun Politiker alles«, antwortete Leach.

»Können Sie dort anrufen und mich anmelden?«

»Sie wollen dorthin? Jetzt?«

»Ich habe im Augenblick nichts Besseres zu tun.«

»Haben Sie ein Fahrzeug?«

»Vorläufig«, sagte Reacher.

Die Nacht war still, dunkel und suburban, und die Fahrt nach Dyer dauerte keine zehn Minuten. Auf die Joint Base zu gelangen erforderte weit mehr Zeit. Die Zusammenlegung war weniger als vier Jahre nach 9/11 erfolgt, und etwaige Einsparungen waren nicht auf Kosten von Sicherheitsmaßnahmen gegangen. Die Haupteinfahrt lag auf der Südseite des Komplexes und war eindrucksvoll. Überall standen Betonhöcker, die den Verkehr durch eine enger werdende Gasse leiteten, an der es drei Kontrollpunkte gab. Reacher trug nicht sehr ansehnliches Zivil und hatte keinen Dienstausweis. Tatsächlich hatte er überhaupt keinen Ausweis, nur einen abgenutzten und verknickten Reisepass, der längst abgelaufen war. Aber er kam mit einem Dienstwagen, was einen guten ersten Eindruck machte. Und das Militär besaß Computer, die bewiesen, dass er seit diesem Abend wieder im aktiven Dienst war. Und die Army hatte Sergeanten, und Leach hatte das Gefälligkeitsnetzwerk mit einem Dutzend Anrufe aktiviert. Und in Dyer gab es eine MP-Dienststelle, und zu Reachers Überraschung auch noch Kerle, die Kerle kannten, die wiederum Kerle kannten, die sich an seinen Namen erinnerten. Das alles führte dazu, dass er nur fünfundvierzig Minuten nach seiner Ankunft an der ersten Schranke im Verwaltungstrakt des Zellenblocks einem Hauptmann der Militärpolizei gegenübersaß.

Der Offizier war ein ernsthafter schwarzhaariger Mann Ende zwanzig oder Anfang dreißig, auf dessen Namensschild Weiss stand. Weil er anständig und ehrlich aussah und einigermaßen freundlich war, sagte Reacher: »Dies ist eine rein private Angelegenheit, Captain. Nicht im Entferntesten dienstlich. Und ich bin im Augenblick leicht toxisch, deshalb sollten Sie äußerst vorsichtig mit mir umgehen und meinen Besuch als inoffiziell betrachten. Oder sich überhaupt weigern, mit mir zu reden.«

Weiss fragte: »Inwiefern toxisch?«

»Sieht so aus, als könnte mich etwas einholen, das ich vor sechzehn Jahren getan habe.«

»Was haben Sie getan?«

»Weiß ich nicht mehr. Aber bestimmt erinnert mich bald jemand daran.«

»Der Computer meldet, dass Sie gerade reaktiviert worden sind.«

»Korrekt.«

»So was habe ich noch nie gehört.«

»Ich auch nicht.«

»Das klingt nicht gut. Als wollte jemand unbedingt dafür sorgen, dass Sie wieder der Militärgerichtsbarkeit unterstehen.«

Reacher nickte. »So hab ich’s auch gesehen. Als würde ich mit Gewalt aus dem Zivilleben gerissen. Weil ich mich verantworten muss. Aber das Verfahren war weit einfacher. Es hat keine Anhörung irgendwelcher Art gegeben.«

»Glauben Sie, dass sie’s ernst meinen?«

»Im Augenblick schon.«

»Was brauchen Sie von mir?«

»Ich suche Major Turner vom 110th MP Special Unit.«

»Weshalb?«

»Aus rein privaten Gründen, wie ich schon gesagt habe.«

»Im Zusammenhang mit Ihrem Problem?«

»Nein. Ganz ohne Verbindung.«

»Aber Sie waren beim 110th, richtig?«

»Viele Jahre, bevor Major Turner auch nur in seine Nähe gekommen ist.«

»Sie wollen also keine Zeugenaussage beeinflussen oder eine Zeugin instruieren?«

»Absolut nicht. Hier geht’s um eine völlig andere Sache.«

»Sind Sie mit ihr befreundet?«

»Ich hatte gehofft, dazu könnte es in Zukunft kommen. Oder auch nicht, je nach meinem Eindruck von ihr, wenn wir uns kennenlernen.«

»Sie kennen sie noch gar nicht?«

»Ist sie hier?«

Weiss sagte: »In einer Zelle. Seit gestern Nachmittag.«

»Was wird ihr vorgeworfen?«

»Sie hat sich bestechen lassen.«

»Von wem?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wofür?«

»Das weiß ich nicht.«

»Mit wie viel Geld?«

»Ich bin nur der Gefängnisdirektor«, sagte Weiss. »Sie wissen, wie das ist. Ich erfahre keine Einzelheiten.«

»Kann ich sie sprechen?«

»Die Besuchszeit ist längst vorbei.«

»Wie viele Gäste haben Sie heute Nacht?«

»Nur sie.«

»Also haben Sie nicht viel zu tun. Und ich bin sowieso inoffiziell hier, stimmt’s? Folglich erfährt niemand davon.«

Weiss schlug einen grünen Ordner auf. Aktennotizen, Dienstanweisungen, Dauerbefehle, teils gedruckt, teils handschriftlich. Er sagte: »Sie scheint Sie erwartet zu haben. Ihr Anwalt hat ein Ersuchen vorgebracht, in dem Sie namentlich erwähnt sind.«

»Welches Ersuchen?«

»Eigentlich ist’s mehr eine Anweisung.«

»Die was besagt?«

»Sie will Sie nicht sehen.«

Reacher schwieg.

Weiss las aus seinem Ordner vor, was er sich notiert hatte: »Auf ausdrücklichen Wunsch der Beschuldigten darf Major a. D. Jack Reacher, ehemals Kommandeur des 110th MP, unter keinen Umständen als Besucher zugelassen werden.«

7

Um aus der Joint Base herauszukommen, brauchte man nur marginal weniger Zeit als für den Weg auf den Stützpunkt. Jeder der drei Wachposten kontrollierte den Ausweis und durchsuchte den Kofferraum, um sicherzustellen, dass Reacher war, wer er zu sein behauptete, und nichts gestohlen hatte. Nachdem er die letzte Schranke überwunden hatte, fuhr er auf genau der Route zurück, die der örtliche Bus nahm. Aber er hielt schon bald am Randstein. Hier war er auf allen Seiten von Interstates und Stadtautobahnen umgeben. Es gab die I-395, die nach Südwesten führte. Es gab den George Washington Memorial Parkway nach Nordwesten. Oder die I-66 genau nach Westen. Und die I-395 nach Osten, wenn er das wollte. Lauter schnelle Straßen mit flüssigem Verkehr. Dort draußen erwartete ihn ein weites Land. Auf der I-95 die Ostküste hinauf oder hinunter, zu der fünf Tage entfernten Westküste und durchs einsame, fast leere Landesinnere.

Sie konnten dich bisher nicht finden. Sie könnten dich auch jetzt nicht finden.

Mit weniger als unehrenhaftem Betragen geht’s nicht ab, was eine unehrenhafte Entlassung nach sich ziehen müsste.

Sie will Sie nicht sehen.

Reacher gab wieder Gas und fuhr ins Motel zurück.

Die beiden Kerle in den weißen T-Shirts waren fort. Wahrscheinlich hatten sie sich aufgerappelt und waren irgendwohin davongestolpert. Reacher stellte ihren Wagen etwa zweihundert Meter entfernt am Randstein ab. Er ließ den Zündschlüssel stecken und die Türen unverriegelt. Dort würde er von Punks entdeckt und gestohlen oder von den beiden Kerlen rechtzeitig vorher abgeholt werden. Ihm selbst konnte das ziemlich egal sein.

Reacher ging das letzte Stück zu Fuß und betrat sein erbärmliches Motelzimmer. Er hatte richtig vermutet: Der Wasserstrahl der Dusche war schwach und lauwarm, die Handtücher waren dünn, die Seife war klein und das Shampoo billig. Aber er duschte, so gut es ging, und ging dann ins Bett. Die Matratze glich einem mit zusammengeknüllten Plastiktüten ausgestopften Sack, und die Bettwäsche schien nach langem Nichtgebrauch klamm zu sein. Aber er schlief trotzdem problemlos ein. Er stellte den Wecker in seinem Kopf auf sieben Uhr, atmete einmal ein, atmete einmal aus und war auch schon weg.

Romeo rief Julia nochmals an und sagte: »Er hat gerade versucht, Turner drüben in Dyer zu sprechen. Ohne Erfolg, versteht sich.«

Julia sagte: »Unsere Jungs müssen ihn im Motel verpasst haben.«

»Kein Grund zur Sorge.«

»Hoffentlich nicht.«

»Gute Nacht.«

»Danke, gleichfalls.«

Reacher schaffte es nicht, bis sieben Uhr zu schlafen. Er wurde geweckt, als um sechs Uhr jemand energisch an seine Tür klopfte. Das Klopfen klang geschäftsmäßig. Nicht bedrohlich. Klopf, klopf, klopf-klopf, klopf. Sechs Uhr morgens, und jemand war anscheinend bereits gut gelaunt. Er stand auf, zog seine Hose unter der Matratze hervor und schlüpfte hinein. Die Luft in seinem Zimmer war sehr kühl, geradezu kalt. Er konnte seinen Atem sehen. Die Zentralheizung war die ganze Nacht aus gewesen.

Er tappte barfuß über den klebrigen Teppichboden und öffnete die Tür. Eine behandschuhte Hand, die eben wieder hatte anklopfen wollen, wurde rasch zurückgezogen. Diese Hand gehörte zu einem Arm, der zu einem Körper gehörte, der in einem Ausgehanzug steckte, der über und über mit JAG-Abzeichen bestückt war. Jemand aus der Dienststelle des Judge Advocate General, dem Chef des Heeresjustizwesens.

Eine Anwältin.

Auf dem Namensschild auf der rechten Brusttasche stand Sullivan. Sie trug ihre Uniform wie ein Nadelstreifenkostüm. In der Hand, mit der sie nicht anklopfte, hielt sie einen Aktenkoffer. Vorläufig sagte sie nichts. Sie war nicht besonders klein, aber ihre Augen befanden sich auf gleicher Höhe mit Reachers nackter Brust, auf der eine alte Wunde von einem Geschoss Kaliber .38 prangte, die sie zu faszinieren schien.

Reacher fragte: »Ja?«

Ihr Wagen stand hinter ihr: eine dunkelgrüne Limousine aus heimischer Produktion. Der Himmel war noch schwarz.

Sie fragte: »Major Reacher?«

Sie war Mitte dreißig, schätzte Reacher, Dienstgrad Major, mit schwarzer Kurzhaarfrisur und dunklen Augen, deren Blick weder warm noch kalt wirkte. Er fragte: »Was kann ich für Sie tun?«

»Umgekehrt wird eher ein Schuh daraus.«

»Sie sollen mich vertreten?«

»Zur Buße für meine Sünden.«

»Wegen des Einspruchs gegen meine Reaktivierung oder im Fall Juan Rodriguez oder im Fall Candice Dayton?«

»Vergessen Sie den Einspruch. In ungefähr einem Monat bekommen Sie fünf Minuten Redezeit vor einer Kommission, aber er wird verworfen. Damit kommt niemand durch.«

»Also Rodriguez oder Dayton?«

»Rodriguez«, sagte Sullivan. »Wir müssen dringend darüber reden.« Aber sie machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Ihr Blick glitt tiefer zu seiner Taille hinunter, wo eine weitere Narbe, nun schon über ein Vierteljahrhundert alt, sich wie ein mit primitiven Stichen überlagerter hässlicher Seestern ausbreitete. Schräg durchschnitten wurde er von der schmalen Narbe einer Messerwunde, die zwar weit jünger, aber trotzdem relativ alt war.

»Ich weiß«, sagte er. »Ästhetisch bin ich eine Katastrophe. Aber kommen Sie trotzdem rein.«

Sie sagte: »Nein, ich warte lieber im Auto. Wir reden beim Frühstück miteinander.«

»Wo?«

»Zwei Blocks von hier steht ein Diner.«

»Sie zahlen?«

»Für mich. Nicht für Sie.«

»Nur zwei Blocks von hier? Sie hätten Kaffee mitbringen können.«

»Richtig, aber ich hab’s nicht getan.«

»Bin gespannt, wie viel Hilfe ich von Ihnen bekomme. Lassen Sie mir elf Minuten Zeit.«

»Elf?«

»So lange brauche ich, um morgens fertig zu werden.«

»Die meisten Leute würden zehn sagen.«

»Dann sind sie schneller als ich oder drücken sich weniger präzise aus.« Er schloss die Tür, ging zum Bett und zog seine Hose wieder aus. Sie sah nicht schlecht aus. Sie wurde nie gebügelt, aber weil er sie regelmäßig unter die Matratze legte, war sie nie ganz verknittert. Er betrat das Bad und drehte die Dusche auf. Er putzte sich die Zähne, stellte sich unter den schwachen lauwarmen Strahl und verbrauchte die restliche Seife und das Shampoo. Dann trocknete er sich mit feuchten Handtüchern ab, zog sich an und machte sich auf den Weg zum Parkplatz. Nach exakt elf Minuten. Er war ein Gewohnheitsmensch.

Major Sullivan hatte mit ihrem Wagen gewendet. Sie fuhr einen Ford: das gleiche Modell wie der silberne Wagen, der ihn vor vielen Tagen quer durch Missouri gebracht hatte. Er öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Sullivan straffte sich, stellte den Wählhebel auf D und lenkte das Auto über den Parkplatz zur Straße, alles umsichtig und ohne Hast. Ihr Uniformrock endete an den Kniescheiben. Sie trug blickdichte Nylonstrümpfe und schwarze Schnürschuhe.

Reacher fragte: »Wie heißen Sie?«

Sullivan sagte: »Sie können lesen, nehme ich an.«

»Ich meine mit Vornamen.«

»Ist der wichtig? Für Sie bleibe ich doch Major Sullivan.« Das sagte sie weder freundlich noch unfreundlich. Ihre Aussage kam auch nicht überraschend. Eine persönliche Beziehung war nicht geplant. Von der Army gestellte Verteidiger waren gewissenhaft, intelligent und professionell, aber sie standen immer nur auf der Seite der Army.

Das Diner war tatsächlich nur zwei Blocks entfernt, aber die Blocks waren lang. Erst links abbiegen, dann rechts abbiegen, dann kam eine kleine Einkaufspassage mit einer Handvoll Läden. Zu den Geschäften gehörte ein Eisenwarenladen, die Filiale einer Apothekenkette, ein Rahmengeschäft, ein Waffengeschäft und ein Zahnarzt, der auch ohne Voranmeldung behandelte. Das Diner stand am Ende der Einkaufspassage auf einem eigenen Grundstück. Der weiß verputzte Bau wies eine Inneneinrichtung auf, die Reacher vermuten ließ, der Inhaber sei Grieche und habe eine Million Gerichte auf der Speisekarte. Was das Lokal seiner Ansicht nach zu einem Restaurant machte. Diner waren schmucklos schlichte Buden ohne jeglichen Schnickschnack, funktional wie ein Sturmgewehr.

Sie entschieden sich für eine ruhige Sitznische. Eine Bedienung brachte ihnen unaufgefordert Kaffee, was Reacher eine etwas bessere Meinung von dem Laden verschaffte. Die Speisekarte bestand aus fünf oder sechs laminierten Seiten und war fast so groß wie die Tischplatte. Als Reacher auf Seite zwei Pfannkuchen und Spiegeleier entdeckte, suchte er nicht weiter.

Sullivan erklärte: »Ich rate zu einer Verständigung mit der Anklage. Sie wird fünf Jahre fordern, und wir bieten eines und einigen uns auf zwei. Die halten Sie aus. Zwei Jahre bringen Sie nicht um.«

Reacher fragte: »Wer war Candice Dayton?«

»Nicht mein Fall. Darüber spricht jemand anders mit Ihnen.«

»Und wer war Juan Rodriguez genau?«

»Jemand, der an Kopfverletzungen gestorben ist, die Sie ihm zugefügt haben.«

»Ich kann mich nicht an ihn erinnern.«

»Das ist in solchen Fällen nicht die beste Aussage. Sie erweckt den Eindruck, als hätten Sie so viele Leute über den Schädel geschlagen, dass Sie den Überblick verloren haben. Das könnte zu peinlichen weiteren Ermittlungen führen. Jemand könnte versucht sein, eine Liste aufzustellen. Und nach allem, was ich gehört habe, könnte das eine verdammt lange Liste werden. Das 110th hat damals weitgehend ohne Kontrolle operiert.«

»Und wie steht es heute da?«

»Vielleicht etwas besser. Aber weit unterhalb von erstklassig.«

»Das ist Ihre Meinung?«

»Das ist meine Erfahrung.«

»Wissen Sie etwas über Susan Turners Situation?«

»Ich kenne ihre Anwältin.«

»Und?«

»Sie hat sich bestechen lassen.«

»Steht das eindeutig fest?«

»Die Beweislage könnte kaum eindeutiger sein. Vorgestern um zehn Uhr hat sie ein Bankkonto auf den Cayman Islands eröffnet, um elf Uhr waren hunderttausend Dollar darauf, und um zwölf Uhr ist sie, mehr oder weniger auf frischer Tat ertappt, verhaftet worden. Ein glasklarer Fall, denke ich. Und relativ typisch für das 110th.«

»Sie scheinen meine alte Einheit nicht sehr zu mögen. Was ein Problem sein könnte. Weil ich ein Recht darauf habe, kompetent verteidigt zu werden. Sechster Verfassungszusatz und so. Glauben Sie, dass Sie die richtige Person für diesen Job sind?«

»Ich bin, was die Army Ihnen stellt, also gewöhnen Sie sich daran.«

»Ich müsste wenigstens die Beweise gegen mich zu sehen bekommen. Finden Sie nicht? Steht das nicht auch im Sechsten Verfassungszusatz?«

»Vor sechzehn Jahren hat das 110th kaum Aufzeichnungen gemacht.«

»Aber doch einige.«

»Ich weiß«, sagte Sullivan. »Ich habe die wenigen Akten eingesehen. Vor allem die Diensttagebücher. Aus einem geht hervor, dass Sie weggefahren sind, um Mr. Rodriguez zu befragen. Dann habe ich eine Bescheinigung der Notaufnahme eines County Hospitals, dass er später am selben Tag mit Kopfverletzungen und Platzwunden eingeliefert worden ist.«

»Und das ist alles? Was beweist einen Zusammenhang? Er kann eine Treppe runtergefallen sein, als ich längst weg war. Er kann von einem Lastwagen angefahren worden sein.«

»Das haben die Ärzte in der Notaufnahme ursprünglich auch gedacht.«

»Ein schwacher Fall«, meinte Reacher. »Eigentlich überhaupt keiner. Ich kann mich an nichts davon erinnern.«

»Aber Sie erinnern sich an eine Treppe, die Mr. Rodriguez nach der Befragung runtergefallen sein könnte.«

»Spekulation«, sagte Reacher. »Hypothese. Eine bloße Redewendung. Genau wie der Lastwagen. Sie haben nichts in der Hand.«

»Sie haben eine eidesstattliche Versicherung«, sagte Sullivan. »Wenig später von Mr. Rodriguez selbst beschworen. Er benennt Sie als den Angreifer.«

8

Sullivan legte ihren Aktenkoffer auf die mit Kunstleder bezogene Bank und klappte den Deckel auf. Sie nahm eine dicke Akte heraus, die sie vor Reacher legte. Sie sagte: »Viel Spaß damit.«