7,99 €
Die geplünderte Republik deckt schonungslos auf, wie skrupellose Banker, gierige Wirtschaftslenker und willfährige Politiker die Bürger für ihre Fehler zahlen lassen. Unfassbare Summen werden in das wankende Finanzsystem gepumpt, aberwitzige Milliardenbeträge für Wirtschaftshilfen bereitgestellt, und die Schuldigen an der Krise machen einfach weiter wie bisher – während gleichzeitig immer mehr Arbeitsplätze wegbrechen und Kommunen und Bürger in die Pleite rutschen. Selbst unsere Kinder werden noch für die Gier der Banker und die Unfähigkeit der Politik zahlen müssen. Gewohnt scharfzüngig analysiert Thomas Wieczorek die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise und zeigt, wer von der Krise profitiert, wie tief der Graben in unserer Gesellschaft bereits geworden ist und welche Gefahren daraus erwachsen. Ein aufrüttelndes Sachbuch zur Wirtschaftspolitik und politischen Ökonomie, das die Machenschaften im Kreditwesen und bei den Kreditinstituten offenlegt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 340
Thomas Wieczorek
Die geplünderte Republik
Wie uns Banken, Spekulanten und Politiker in den Ruin treiben
Knaur e-books
Zuerst kommt der Mensch, dann die Wirtschaft. Sie ist keine Herrscherin, sondern sie besitzt eine dienende Funktion.
Rita Süssmuth
Mein herzlicher Dank für ebenso konstruktive wie aufmunternde Mitarbeit durch Diskussionen, Hinweise und Ratschläge gilt besonders Klaus Kampa, Helge Meves, Wolf-Dieter Narr, Ernst Röhl, Peter Saalmüller, vor allem aber Henning Voßkamp und Karin.
Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen: Es muss anders werden, wenn es gut werden soll.
Georg Christoph Lichtenberg
Auch wenn es Vertreter von Politik, Medien und Wirtschaft ständig behaupten und Hinz und Kunz es nachbeten: Die vermeintliche »Weltfinanzkrise« ist keinesfalls eine globale Krise. Sie betrifft die großen westlichen Industrienationen und ihre Finanzmetropolen wie Frankfurt, Zürich, New York, London und Tokio. Andere, teils noch viel größere Volkswirtschaften wie Indien oder China, brachen zwar bei ihren Exporten und als Folge davon auch im Wachstum ein, aber im Vergleich mit den gigantischen Crashs im Westen war dies geradezu harmlos. Ähnliches gilt auch für andere »Schwellenländer« wie Argentinien, Australien, Brasilien, Indonesien, Saudi-Arabien und Südafrika. In vielen dieser Staaten und in den meisten Ländern dieser Welt geht es gar nicht oder nur ganz am Rande um Finanzkrise, Börsenabstürze, Bankenzusammenbrüche, Managergehälter oder Boni, sondern um unvorstellbare Armut, um verhungernde Kinder oder um Aids.
Deshalb kommt es keineswegs unerwartet, dass seit dem G-20-Gipfel von Pittsburgh Ende 2009 vor allem die großen Staaten wie Brasilien, China und Indien sehr selbstbewusst und vor allem einheitlich auftraten. »Wir hatten es diesmal mit einer Wand zu tun«, klagte man in der deutschen Delegation. Die Drohung: »Entweder ihr macht große Konzessionen bei der Reform der internationalen Organisationen, oder wir lassen den Gipfel platzen.« [1]
Hier findet die wahre Globalisierung statt, ob es den reichen Nationen nun passt oder nicht. Und nur wer dies zumindest im Hinterkopf hat, kann sich mit dem nationalen Problem Geplünderte Republik seriös auseinandersetzen.
Wer aber sind nun eigentlich die wahren Plünderer der Republik, die wirklichen Schmarotzer und Parasiten, das »arbeitsscheue Gesindel«?
Diejenigen, die 30 Jahre lang ehrliche Arbeit geleistet haben, um sich dann von den häufig geistig-moralisch oder fachlich minderbemittelten »Dienstleistern« der Arbeitsagentur beschimpfen und niedermachen zu lassen?
Oder diejenigen, die ihr Vermögen geerbt haben und sich auch und gerade während der Wirtschaftskrise ein schönes Leben machen, sich mit Glamour-Girls oder mit Gigolos vergnügen, denen sie mal eben fünf Millionen Euro rüberschieben können? Oder warum sonst frohlockt Welt Online am 21. Juli 2009: »Luxusmode: Die Haute Couture trotzt der Wirtschaftskrise«? Und die Baseler Zeitung titelt am 10. August 2009: »Ferraris neuer Flitzer gegen die Krise«.
All dies ginge in Ordnung, hieße es in Artikel 1 des Grundgesetzes: »Die Rechte der Erben, Spekulanten, Aktionäre und anderer Bezieher leistungsloser Einkommen sind unantastbar.« Stattdessen heißt es dort aber: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ebenso verhält es sich mit dem Sozialstaat. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat, steht in Artikel 20, womit das Einstehen der Starken für die Schwachen keine Frage von Lust, Laune oder Mildtätigkeit ist. Und dass Eigentum verpflichtet, ist durch den Artikel 14 Verfassungsgebot: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Und der Artikel 15 geht noch weiter: Der Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.
Vor diesem Hintergrund bedeutet die Frage nach den Ursachen der geplünderten Republik, inwieweit und ob überhaupt die Starken ihren verfassungsmäßigen Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen nachkommen. Insofern mutet es geradezu skurril an, dass ausgerechnet die Superreichen in Form der Rettungsschirme zwei- bis dreistellige Milliardenbeträge forderten und auch erhielten, während für die Renovierung von Schulen und die Einstellung von Lehrern oder Erziehern kein Geld da ist.
Fast erinnert das Ganze an die letzten Tage von Pompeji oder den Untergang des Römischen Reiches: Man greift ab, was nur abzugreifen ist, wohl wissend, dass sowieso bald alles vorbei ist.
Nun führen nicht nur viele Wege nach Rom, sondern auch zur Plünderung unserer Republik. Der nach wie vor beliebteste ist die Privatisierung. Der Staat verscherbelt im wahrsten Sinne des Wortes »alles Mögliche«, und die Zeche zahlt – wer auch sonst? – die Bevölkerung: Ob irrwitzige Preise für Strom, Gas oder Wasser, eine teilweise lebensgefährliche und unzuverlässige Bahn oder indiskutable Zustände in Krankenhäusern – hinterher ist das Geschrei der Politheuchler groß. Dabei ist die Desasterserie kein Wunder: Das hochtrabende Wort Investor bezeichnet ja nur einen Menschen, der Geld irgendwo hineinsteckt und es ohne einen eigenen Handschlag optimal vermehrt haben will: Auch ein Lottospieler ist in diesem Sinne ein Investor.
Unterm Strich bestätigt sich die alte Volksweisheit: Nur die Reichen können in einem armen Staat leben. Während die Supermarktkassiererin Emma Krause und der Möbelpacker Erwin Lehmann kaum die Schulbücher für ihren Nachwuchs bezahlen können, vergnügen sich die Berufssöhne und -töchter der »Besserverdiener« am Swimmingpool Schweizer Elitegymnasien, lassen ihre geistige Unterbelichtung durch Heerscharen von Privatlehrern therapieren und haben ja ohnehin schon eine Lebensstellung als Nachfolger in Papis Firma sicher. Oder?
Hinzu kommt das streng gehütete Mysterium der Gläubiger des hochverschuldeten Staates. Die Antwort auf die Frage, wer am Ende wirklich die Zeche zahlt, lautet nämlich: Da die Staatsschulden vorwiegend aus Staatsanleihen, Bundesschatzbriefen und Ähnlichem bestehen, sind es die Bürger selbst. Wobei wir wieder beim Problem landen, wer denn »die Bürger« überhaupt sind. Besitzt eine alleinerziehende Mutter mit einem Putzfrauenjob genauso viele Staatsanleihen wie ein Milliardenerbe, ein Großkonzern oder eine FDP-Bundestagsabgeordnete? Nimmt man noch die simple Tatsache hinzu, dass Bundesschatzbriefe jeder kaufen kann, also auch russische Wirtschaftskriminelle oder nahöstliche Emirate, wird es vollends undurchsichtig.
Was dem Normalbürger bleibt, ist die Gewissheit, letztendlich auf der Rechnung sitzenzubleiben und sie begleichen zu müssen.
Die besondere Pointe dabei ist, dass es sich bei der geplünderten Republik keinesfalls um eine Fehlentwicklung, sondern um die klassische Form unserer innig geliebten Marktwirtschaft handelt. Alle anderen Varianten der Erklärung folgen der Logik: »Wasch mich, aber mach mich nicht nass.«
Den inneren – und auch logischen – Zusammenhang von Marktwirtschaft und Ausplünderung der Gesellschaft erhellte im Sommer 2009 der große Skandal um die Halbgötter in Weiß. »Ärzte sahnen bei Klinik-Einweisungen ab«, gab der der Focus preis. [2] So bezahlten Kliniken nach Insider-Angaben immer öfter Ärzte, wenn sie ihnen Kranke zur Behandlung schicken. Medizinische Gründe stehen dabei offenbar kaum im Vordergrund. Krankenhäuser zahlen nach Recherchen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für einen Patienten, der eine neue Hüfte bekommt, bis zu eintausend Euro. Und mittlerweile sei dies in allen Fachrichtungen üblich. »Dass niedergelassene Ärzte von Krankenhäusern Prämien für die Einweisung von Patienten erhalten, ist ein unfassbarer Skandal«, moniert der Vorstand der Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung, Eugen Brysch.
Ebenso kritisiert die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU), vor allem in Ballungsräumen sei die Konkurrenz unter den Kliniken groß. Die Häuser gingen zunehmend dazu über, Ärzte für Patienten mit bestimmten Diagnosen zu bezahlen. Laut DGU handelt es sich um Summen, die das 10- bis 20-Fache des normalen Honorars für Urologen pro Quartal und Patient ausmachen. Dabei ist die DGU noch eher höflich: »Ob die Zuweiser die Prämie fordern oder annehmen – es bleibt ein juristisch und ethisch überaus fragwürdiges Prozedere.« Deutlicher wird da schon Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe. Geld für eine Einweisung zu nehmen, sei »total verboten«. Doch die Medizin sei in hohem Maß kommerzialisiert. »Da halten die Ehrenkodexe nicht mehr.«
Patientenschützer Brysch nennt auch »die Opfer solcher Machenschaften«, nämlich »in erster Linie die Schwerstkranken und Sterbenden«. In ihren letzten Lebensmonaten würden sie im Schnitt fünfmal zwischen Pflegeheim und Krankenhaus hin und her überwiesen.
Unterm Strich bleibt die Erkenntnis, dass trotz des Ansteigens der Arbeitsproduktivität und des gesamtgesellschaftlichen Reichtums neben dem Einkommen auch die Lebensqualität der Normalbürger rapide abnimmt und dass dies offenbar ein Grundgesetz der Marktwirtschaft ist.
Die Plünderung der Gesellschaft hat viele Gesichter unterschiedlichster Größe und Qualität, wobei den Rettungsschirmen für Banken und die Realwirtschaft der eindeutige Spitzenplatz zukommt. Den Staat wegen seiner »Einmischung« beschimpfen, in der selbstverschuldeten Not aber Geld von ihm nehmen und dann noch dreister weitermachen als zuvor: So lautet die wahre neoliberale Logik.
Man darf gespannt sein, wie lange die Bürger sich das bieten lassen. 28,8 Prozent Nichtwähler und eine Kanzlerin, der nicht einmal jeder fünfte Wahlberechtigte seine Stimme gab, sprechen eine deutliche Sprache. [3] Die Bundestagswahl 2009 brachte der FDP, die in den Augen der Bevölkerungsmehrheit wohl wie keine andere Partei für Sozialabbau, Privatisierung und Steuersenkungen für die Bestverdiener und Mächtigen steht, also für die Ausplünderung der Gesellschaft durch Wirtschaft und Wohlhabende, mit 14,6 Prozent (10,5 Prozent der Wahlberechtigten) das beste Ergebnis in ihrer stets unter Lobbyistenverdacht stehenden Geschichte.
Dies ist auf den zweiten Blick aber so unerklärlich nicht: Etwa ähnlich groß dürfte der Anteil der Krisenprofiteure am Gesamtvolk sein. Und gerade in Zeiten, wo den kleinen Leuten die Verschlechterung ihrer finanziellen und sozialen Lage als »alternativloser Sachzwang« verkauft wird, hofft so manch ein »Besserverdiener« auf eine Fortsetzung der Umverteilung von unten nach oben.
Andererseits ist es ja genau das, was – frei nach dem französischen Regisseur Claude Chabrol – den diskreten Charme der Marktwirtschaft ausmacht.
Wenn es brennt, muss das Feuer gelöscht werden, auch wenn es Brandstiftung war.
Peer Steinbrück am 15. Oktober 2008
Schon bei Erscheinen des Buches im März 2010 war absehbar, dass es bald einer Aktualisierung bedürfe. Eine Horrormeldung jagte und jagt die andere, so dass man sogar mit dem Haareraufen vorsichtig sein muss, weil man sonst bald keine mehr hat.
Die Ausplünderung des Staates und ihrer Bürger durch die Reichen und Mächtigen gehört zur Marktwirtschaft wie das Schießeisen zum Revolverhelden. Sogar milliardenschwere Zockerschulden der Banken und Konzerne werden dem Steuerzahler aufgebürdet.
Beim Ablasshandel im Mittelalter drohte man dem gottesfürchtigen Christen mit dem Höllenfeuer, wenn er sich nicht mit irdischen Talern von seinen Sünden freikaufe – zahlbar selbstverständlich an die Kirchenfürsten.
Heute heißt die Drohung, mit der die Bürger finanziell erleichtert werden, Systemrelevanz.Die Drohung: Würde der Steuerzahler nicht einigen Großbanken insgesamt dreistellige Milliardenbeträge spendieren, so drohe der Zusammenbruch des Systems, wenn nicht sogar der Untergang des Abendlandes.
Was kürzlich so vorzüglich funktioniert hat, lädt geradezu zur Wiederholung ein – und zwar auf EU-Ebene.
Diesmal heißt die Hypo Real Estate Griechenland, zu dessen Rettung EU und Internationaler Währungsfonds (IWF) am 2. Mai 2010 ein Rettungspaket von 140 Milliarden Euro beschlossen, wovon Deutschland etwa 25 Milliarden zu tragen hätte. Wenn der Steuerzahler nicht blute, stünde sogar die gemeinsame Währung auf dem Spiel. »Euro in Gefahr«, titelt der normalerweise seriöse Tagesspiegel. Und der in Panikmache schon als Innenminister profilierte Wolfgang Schäuble warnte in seiner Rolle als Finanzminister, es gehe »um die Stabilität des Euro als Ganzes« [4]. Auf Grundlage dieser Horrorvisionen stieg nur fünf Tage später der Umfang des Gesamtpakets auf 700 und der deutsche Beitrag auf 123 Milliarden Euro.
Dies alles erscheint vom Niveau her wie eine Mischung aus Schutzgelderpressung und der Drohung mit dem »Schwarzen Mann« gegenüber unartigen Kindern. Doch kaum jemand, die meisten TV-Ökonomen nicht und die selbsternannten »Experten« unter den Journalisten erst recht nicht, könnte den Zusammenhang zwischen Hellas-Krise und Euro-Stabilität schlüssig und wahrheitsgemäß erklären. [5] Aber darum geht es ja auch gar nicht. Vielmehr sollen die EU-Bürger mit Gruselszenarien genötigt werden, die Zeche zu zahlen.
»Deutschland schröpft die Geringverdiener«, titelt die Süddeutsche Zeitung am 11. Mai 2010. Rund 46 Prozent an Steuern und Sozialabgaben müssen Alleinerziehende und Singles mit wenig Einkommen abdrücken. Unter den 30 Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zahlen die sogenannten kleinen Leute nur in Belgien und Ungarn noch mehr. Aber Roland Koch ist dies noch nicht genug. In einer »Kriegserklärung an die Jugend« (Spiegel) fordert er drastische Einsparungen bei Kitas und Schulen. [6] Dass Koch am 25. Mai 2010 »aus persönlichen Gründen« seinen Rückzug aus der Politik androhte, sollte man mit Vorsicht genießen. Außerdem steht Koch keineswegs allein: »Bundesländer schlachten ihre Bildungsetats«, bemerkte Zeit Online am 20. Mai 2010. [7]
Aber auch das griechische Volk wird kräftig zur Kasse gebeten. Geplant sind:
dreijähriges Einfrieren der Löhne und Gehälter im Öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft,
Abschaffung des 13. und 14. Gehaltes im Öffentlichen Dienst,
Streichung von Sonderzahlungen (für Ostern, Urlaub und Weihnachten) für Pensionen des Öffentlichen Dienstes und der Privatwirtschaft,
Solidaritätsabgabe bei Pensionen von mehr als 1400 Euro pro Monat,
gleiches Pensionsalter für Frauen und Männer im Öffentlichen Dienst. [8]
»Es geht in diesem Wirtschaftsregime schon lange nicht mehr darum, Bedürfnisse zu befriedigen und Wohlstand zu gewährleisten«, schreibt Detlef Esslinger in der Süddeutschen Zeitung.»Es ist ein System, das Menschen nicht mehr als Personen in ihrer Ganzheit sieht. Nur noch deren Funktionen nimmt es wahr.« [9]
Ausnahme – wie bei uns – die Superreichen: »Warum retten wir diesen Griechen-Milliardär?«, fragt Bild diesmal ausnahmsweise nicht ganz zu Unrecht. Der Reeder, Bankier und vierfache Milliardär Spiros Latsis besitzt für zwölf Milliarden Euro griechische Staatsanleihen. Die hohen Zinsen kann ihm das Land aber nur mit Hilfe der EU-Finanzspritze zahlen. [10] Selbiges gilt, nur in viel größerem Maße, für die Banken, deren Anleihen samt Traumzinsen ebenfalls abgesichert sind. Dies ist auch der wahre Grund – DAX-Konzerne sind nicht dem Allgemeinwohl, sondern dem Staat verpflichtet – für die symbolische »Unterstützung« der Griechenlandhilfe durch die Banken. »Heucheln statt helfen«, [11]kommentiert Spiegel Online.
Der Grünen-Chef im EU-Parlament, Daniel Cohn-Bendit, nennt ein nirgendwo dementiertes Beispiel: »Wir sagen, die Griechen sollen sparen, aber sowohl die französische wie die deutsche Regierung fordern, dass die Verträge mit der Vorgängerregierung über Waffenkäufe nicht angetastet werden. Die Franzosen haben denen Fregatten für zweieinhalb Milliarden Euro verkauft, dazu Helikopter und Flugzeuge. Die Deutschen haben U-Boote im Wert von einer Milliarde in Griechenland abgesetzt.« [12]
Dass Griechenland überhaupt in diese Lage kam, hat natürlich nichts mit der »Faulheit« oder dem »Über-ihre-Verhältnisse-Leben« der Griechen zu tun, wohl aber mit Währungsspekulation. Selbst CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt fordert »eine schwarze Liste mit den Namen der Spekulanten, die gegen Griechenland gewettet haben«. Mit Banken, die auf den internationalen Finanzmärkten staatliche Währungen kaputtmachen wollten und auf Staatsbankrotte setzten, dürfe es in Deutschland keine Geschäfte mehr geben. [13]
Auch Christoph Schwennicke betont in Spiegel Online, »dass die Spekulanten der internationalen Großbanken das angeschlagene Land aufs Korn genommen und regelrecht zu Tode gehetzt haben. Sie haben wie bei einem Pferderennen gewettet auf Griechenland, Spanien, Portugal – in diesem Fall darauf gehofft, dass der Gaul auf der Strecke zusammenbricht. Sie haben gegen den Euro gewettet.« Und er fordert: »Wer zockt, muss zahlen.« [14]
Eine Schlüsselrolle kommt den berüchtigten Rating-Agenturen zu. Sie seien »die heimlichen Risikomanager der Welt« und hätten »in dieser Rolle verheerende Fehler gemacht«, stellt Hans von der Hagen in der Süddeutschen Zeitung fest. So habe die US-Agentur Standard & Poor’s (S&P) die Griechenlandkrise mit ihrer Herabstufung griechischer Anleihen auf Ramschniveau und den Abwertungen von Portugal und Spanien »dramatisch verschärft«. Zugleich seien die Interessenkonstellationen »undurchsichtig«: Erstens, weil jene Institutionen, die die Ratings bekämen, die Agenturen dafür bezahlten. Zweitens, weil die Agenturen kommerziell organisiert sind – hinter S&P steckt beispielsweise der Medienkonzern McGrawHill. Dessen Zeitschrift Business Week wird als Flaggschiff der US-Wirtschaft gesehen. Außerdem säßen alle relevanten Agenturen ausnahmslos in den USA, was »eine Wirtschafts- und Industriepolitik durch die Hintertür« ermögliche. [15]
»Sie sind graue Eminenzen, Schattenmänner und Strippenzieher zugleich«, schreibt Spiegel Online. »Sie haben enorme Macht über Kredite, Deals, Firmen, sogar Staaten. Doch hinterfragt werden sie selten – geschweige denn zur Rechenschaft gezogen.« [16]
Tatsächlich weiß kein Mensch, wie die Rater zu ihren Urteilen kommen. Die Methoden – wenn es solche überhaupt gibt – sind geheimer als die Saucenrezepte Berliner Currywurstverkäufer. Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman hält das System der Agenturen jedenfalls für »zutiefst korrupt« [17].
Schon im Jahre 2008 wollte die EU-Kommission die Kaffeesatzleser einer verbindlichen Kontrolle unterwerfen. Sogar der Chef der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), Jochen Sanio, regte an, ein unabhängiges Gremium solle künftig unsolides Geschäftsgebaren von Rating-Agenturen frühzeitig erkennen und so Finanzkrisen vorbeugen. [18]
Dennis Snower, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), findet: »Es kann nicht sein, dass Rating-Agenturen, die die Finanzkrise zu einem großen Teil mitzuverantworten haben, weil sie wertlosen Papieren Bestnoten verliehen haben, immer noch solch eine herausragende Rolle spielen.«
Beispiel gefällig? Einen Tag nach der Herabstufung Portugals und Griechenlands hatte S&P am 28. April 2010 auch die Kreditwürdigkeit Spaniens abgewertet. Der Euro gab binnen Sekunden nach Bekanntwerden der Nachricht ebenso nach wie die Aktienmärkte. [19]
Den tückischen Mechanismus dieser Machenschaften und damit der Marktwirtschaft erläutert Robert von Heusinger in der Berliner Zeitung: »Wann ist ein Land pleite? Bei einem Schuldenstand von 120 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt, wie ihn die Griechen haben? Japan hat fast 200 Prozent Staatsschulden und gilt als Top-Schuldner. Oder bei einem Haushaltsdefizit von 13,6 Prozent wie in Griechenland? England und die USA haben eine genauso hohe Staatsverschuldung und sind noch obenauf.« Der Starökonom Willem Buiter, seit Januar 2010 im Dienste der Citibank, habe sogar herausgefunden, die strukturellen Defizite in England und den USA seien viel dramatischer als in Griechenland, Portugal und Spanien. Aber »solch rationale Argumente zählen an den Märkten nicht. Ein Land ist dann pleite, wenn es keinen Kredit mehr bekommt«, weil »kein Vertrauen in die Rückzahlung desselben besteht … Je mehr Anleger glauben, dass ein Land Probleme hat, seine Schulden zurückzuzahlen, desto höhere Zinsen muss das Land bieten; und je höher die Zinsen, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Land die Schulden nie wird zurückzahlen können. Deshalb ist Vertrauen das allerhöchste Gut im Kapitalismus.« [20]
Es geht aber gerade nicht um das Vertrauen der Bürger – auch wenn man die natürlich in Panik versetzen und zum Sturm auf die Bankautomaten treiben kann. Es geht ausschließlich um das Vertrauen der Banken und Spekulanten.
Deshalb hat Heribert Dieter von der Stiftung Warentest durchaus recht mit seiner Warnung, die Griechenlandhilfe sei eine »Einladung an Spekulanten, im nächstschwächeren Staat auch wieder die Zinsen hochzutreiben, bis sie den dortigen Fiskus überfordern und die Euro-Gemeinschaft eintreten muss«. Dieter befürchtet »eine Rutschbahn, von der niemand weiß, wo sie endet« [21].
Um dem richtigen Eindruck entgegenzuwirken, die Kosten der Krise blieben allein beim Steuerzahler hängen, sorgte die BaFin am 18. Mai 2010 für einen »Paukenschlag« (Süddeutsche) mit dem Beschluss, bestimmte hochspekulative Finanzgeschäfte bis zum 31. März 2011 zu verbieten, insbesondere die »ungedeckten Leerverkäufe«, bei denen Spekulanten zum Beispiel in der Hoffnung auf sinkende Börsenkurse Aktien verkaufen, die sie sich vorher nicht einmal geliehen haben. Ebenfalls verboten wurden ungedeckte Leerverkäufe von Anleihen der Euro-Staaten.
Die Zockermeute reagierte prompt: Der Euro fiel mit 1,22US-Dollar auf den tiefsten Stand seit 2006. [22]
Zeitgleich einigte sich die Koalition am 18. Mai auf eine »Initiative« für eine Finanzmarktsteuer auf alle Devisengeschäfte, die der von Globalisierungsgegnern seit Jahren geforderten Tobin-Steuer verblüffend ähnelt. Zudem wolle die Regierung in der EU für eine Finanzaktivitätssteuer kämpfen, die im Nachhinein auf Gewinne und Gehälter von Banken erhoben würde, oder gar eine Steuer auf alle Finanztransaktionen. [23]
Der Spiegel nennt das Ganze »Volks-Beruhigungssteuer«. Die Frage sei, »wie ernst die Initiativen tatsächlich gemeint sind. Droht womöglich am Ende eine reine Mogelpackung – erdacht zur Besänftigung der aufgebrachten Wählerinnen und Wähler?« [24]
Nicht zu vergessen: Ein ähnliches Gesetz gab es noch bis zum Ende der Ära Helmut Kohl. Erst Rot-Grün beschloss nach dem Rücktritt des damaligen Finanzministers Oskar Lafontaine unter seinem Nachfolger Hans Eichel die verheerende Körperschaftssteuerreform mit der Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne von Kapitalgesellschaften. [25]
Zusätzliche Kritik erntete Merkel für ihr Vorgehen: »Die Kanzlerin peitscht das Nothilfe-Paket für den Euro durchs Parlament – und beschädigt damit nicht nur die Demokratie«, heißt es im Freitag. Merkel habe »so gehandelt, wie man es von ihr inzwischen schon gewohnt ist. Ihre Politik richtet sich nicht nach Überzeugungen oder Prinzipien aus, sondern vor allem an dem eigenen Machterhalt.« [26]
Obwohl laut Kinderhilfswerk gut drei Millionen Kinder in Deutschland als arm gelten, lehnte das Bundessozialgericht im März 2010 Zuschüsse für Hartz-IV-Empfänger ab, deren Kinder infolge des Wachstums ständig neue Kleidung brauchen. Zynische Begründung: »Wachstum bei Kindern ist der Normalfall«, Kleidung gehöre zum regelmäßigen Bedarf und sei im Regelsatz enthalten. [27]
Da Chefärztinnen, Börsenbetrüger, Trash-Moderatorinnen und Notare so etwas aus der Schampuskasse zahlen können, damit die lieben Kleinen wenigstens äußerlich top wirken, Arbeitslose aber nicht, ist die Botschaft klar: Nur die Besserverdiener sollen künftig Kinder kriegen, den anderen wird es schon rein finanziell fast unmöglich gemacht.
Dies deckt sich mit dem Ehrgeiz von Ex-Familienministerin Ursula von der Leyen, vor allem gebildeten Frauen das Gebären schmackhaft zu machen, beispielsweise durch Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Erziehung und Beruf. Dies erinnert allerdings – ob gewollt oder nicht – an frühere Rassetheorien. So fragt Hardy Prothmann in der ARD ernsthaft: »Welche Folgen aber hat die zunehmende Kinderlosigkeit der Akademikerinnen? Stirbt am Ende die Intelligenz aus?« Und auch Susanne Seyda vom Institut für Wirtschaft in Köln ist überzeugt: »Intelligenz hat sicher mit dem genetischen Einfluss zu tun.« [28]
Die Barmer GEK fordert im April 2010 eine Erhöhung des allgemeinen Beitrags für die 70 Millionen gesetzlich Krankenversicherten. Das sei zur Deckung der absehbaren Milliardenlöcher notwendig, sagte Barmer-Chefin Fischer dem Handelsblatt. Erforderlich sei außerdem ein Ausgabenmoratorium bei Kliniken und Ärzten. Ansonsten müssten die Defizite der Kassen allein mit Zusatzbeiträgen ausgeglichen werden. Zurzeit beträgt der einheitliche Beitragssatz für gesetzlich Krankenversicherte 14,9 Prozent. [29]
Der Gesetzgeber kann aber den allgemeinen Beitragssatz erst anheben, wenn der Gesundheitsfonds weniger als 95 Prozent der Kassenausgaben deckt. Auf Deutsch: Die ersten fehlenden fünf Prozent – rund acht Milliarden Euro – müssen die Versicherten tragen. Erst dann kann der Beitragssatz steigen, der von den Arbeitgebern mitgezahlt wird. [30] Man staunt immer wieder über den Ideenreichtum der Politik, wenn es um die Entlastung der Unternehmen auf Kosten der Beschäftigten geht. Und noch mehr darüber, dass bei fast all diesen Diskussionen die Pharmaindustrie offenbar tabu ist, und das, obwohl die Arzneimittelkosten der zweitgrößte Ausgabenposten der Krankenkassen sind und in den meisten EU-Ländern dieselben deutschen Medikamente bedeutend billiger sind als bei uns. [31]
Erst FDP-Gesundheitsminister Philipp Rösler wagt sich seit März 2010 an das Thema heran und will »das Preismonopol der Pharmabranche brechen« und die Hersteller teurer Präparate notfalls zu Zwangsrabatten verpflichten sowie den Nachweis verlangen, dass neue und viel teurere Medikamente auch wirklich besser sind als die bisherigen preiswerteren. [32] Man darf gespannt sein, wie lange Rösler seine Rolle als Robin Hood der Kranken durchhält und mit welchem Erfolg.
Dass man die Kleinen hängt, die Großen aber laufen lässt und noch belohnt, zeigt sich einmal mehr am Beispiel der Staatsbank KfW. Fast 20 Milliarden Euro kostet den Steuerzahler die Misswirtschaft der IKB-Bank, die zu 38 Prozent der KfW gehört. Und im September 2008 überwies die KfW der US-Bank Lehman Brothers nach deren Pleite 320 Millionen Euro. Gesamtschaden laut KfW-Sprecher Wolfram Schweickhardt 536 Millionen. [33]
Köpfe sollten rollen, aber im Mai 2010 wird bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Frankfurt ihre Verfahren gegen aktive und ehemalige KfW-Vorstände mangels Schuld einstellen will. Und es kommt noch besser: Die von der KfW gefeuerten Ex-Vorstandsmitglieder Detlef Leinberger und Peter Fleischer haben laut Süddeutscher Zeitung jetzt »gute Chancen, von der Staatsbank nachträglich Gehälter und Boni zu kassieren« [34].
Einige Politiker allerdings tanzen zumindest verbal aus der Reihe. So fordert Saarlands Ministerpräsident Peter Müller neben einer Extramehrwertsteuer auf Luxusgüter zu prüfen, ob die seinerzeit von Rot-Grün beschlossene Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 42 Prozent »weiter Bestand haben könne« [35].
Dazu passend entlarvte das arbeitgebernahe Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dass der Afghanistaneinsatz den Steuerzahler dreimal mehr kostet als vom Verteidigungsministerium vorgegaukelt, nämlich bislang 35 Milliarden Euro. »Nur wenn die Öffentlichkeit die wahren Zahlen kennt«, sagt Tilman Brück vom DIW, »kann eine fundierte politische Debatte darüber entstehen, … ob das Geld an anderer Stelle womöglich größeren Nutzen gestiftet hätte.« [36]
Demgegenüber spricht Bundespräsident Köhler Klartext. Er »schwadroniert über Auslandsmissionen deutscher Soldaten – und bricht ein Tabu: Horst Köhler hält militärische Einsätze auch zur Verteidigung von ökonomischen Interessen für legitim. Imperialistische Töne vom deutschen Staatsoberhaupt?«, fragt die Süddeutsche Zeitung rhetorisch. [37] Kurz darauf tritt er zurück.
Das schwarz-gelbe Sparprogramm vom Juni 2010 erfüllt so ziemlich alle Vorurteile, dass die Normalbürger und die Armen die Zeche zahlen müssen. »Schwarzgelb stutzt den Sozialstaat«, titelt Spiegel Online am 7. Juni 2010: »Besonders hart trifft es den Sozialbereich«. [38] Gespart wird beim Arbeitslosengeld, bei der Rentenversicherung für Hartz-IV-Empfänger, beim Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger, beim Elterngeld für Harz-IV-Empfänger – die Theorie des Rassegesetzmitschreibers und Kanzleramtsamtschefs Konrad Adenauers, Hans Globke, lässt grüßen: Warum sollen die Untermenschen überhaupt so viele Kinder kriegen?
Wann immer Politiker den Bürgern an den Geldbeutel oder an die Lebensqualität wollen, sagen sie natürlich nicht, »wir wollen euch mal wieder ausplündern«, sondern reden vom »Prüfstand«: Ob Renten oder Hartz IV, Krankenkassenbeiträge oder Praxisgebühr, Mehrwertsteuer oder Schwimmbadpreise, Pendlerpauschale oder Datenschutz. Kaum ein gesellschaftlicher Bereich, der nicht früher oder später »auf den Prüfstand« muss.
Dabei merken viele Politiker nicht, dass sie bei immer mehr Menschen bereits selbst auf dem Prüfstand stehen.
Es gab kein Erdbeben, und keine Fabrik wurde in die Luft gesprengt: Die großen Firmen – nicht nur in Deutschland – sind stofflich-materiell bestens aufgestellt und könnten also eigentlich jederzeit alles produzieren. Selbst Opel hätte ja sofort alle möglichen Modelle liefern können – nur dass sie niemand haben wollte oder bezahlen konnte. Der Streit um die Abgaswerte zum Beispiel erwies sich rückblickend als Pyrrhussieg: als Anfang vom Ende.
De facto bestimmt nämlich nicht die Produktqualität den Marktanteil, sondern der Marktanteil des Unternehmens bestimmt, welches Produkt am Markt bestehen kann. Frühere Generationen nannten dies »Konsumterror«. Deshalb wurden zum Beispiel jahrzehntelang unwirtschaftliche und umweltschädliche Spritschleudern in den Markt gedrückt und gekauft. Sogar auf ein Tempolimit wurde, anders als in den meisten anderen Ländern, verzichtet, um hirnlosen Rasern den Gebrauch ihrer hochgezüchteten Karossen zu ermöglichen. Doch irgendwann hatten auch die debilsten Autokäufer die Nase voll. Außerdem: Wie viele Autos soll ein 4-Personen-Haushalt denn noch haben? Vier? Fünf? Fünfzehn?
Dass zuweilen am Markt vorbei produziert wird, ist natürlich nur die halbe Wahrheit, denn auch die verbraucherfreundlichsten Angebote hätten an der Krise nichts geändert. Der von David Ricardo und Karl Marx aufgedeckte Konjunkturzyklus zeigt die periodischen Krisen als solche der Überproduktion beziehungsweise der Überakkumulation: Milliardensummen an Kapital finden keine erfolgversprechenden Anlagemöglichkeiten. Beispiel Autoindustrie. Viele Karossen stehen auf Halde, weitere werden gar nicht erst produziert. Die Konzerne sitzen auf ihrem Geld und ihren Produktionskapazitäten. Dass sie sich deshalb auch als Zocker betätigen, werden wir später noch sehen.
Konkret: Da den ehrlich Arbeitenden das Geld fehlt, können sie sich manches nicht leisten. Autos kaufen keine Autos, wusste schon Henry Ford. Andererseits können auch die Reichen und Schönen gar nicht so viele Autos kaufen, wie nötig wären, um die fehlende Nachfrage auszugleichen. Wäre das Geld anders verteilt, müsste es keine Wirtschafskrisen geben. Daher wird die Krise zuweilen auch Unterkonsumtionskrise genannt. [39] Nachfrage in der Marktwirtschaft ist nämlich immer zahlungskräftige Nachfrage. Und die Krise geht stets vom Endverbraucher aus: Das ist der sogenannte kleine Mann ebenso wie der Konzern, der Dienstwagen oder Büromöbel kauft, oder der Staat als Waffenkäufer. Von der mangelnden »Kauflaune« des Konsumenten frisst sich die Krise nach oben durch: weniger Absatz, weniger Handel, weniger Nachfrage nach Maschinen oder nach Stahl und kommerziell genutzter Energie. Da in einer Volkswirtschaft ein Rädchen ins andere greift, sind vom »Sand im Getriebe« letztlich fast alle betroffen – ausgenommen vielleicht Branchen wie die Fahrradindustrie, weil sich viele kein Auto mehr leisten können.
Dieses Nachfragedefizit versuchte man in den USA auszugleichen – also quasi die Krise auszutricksen –, indem man den Normalverdienern und den Ärmeren Immobilien und über Kreditkarten alle möglichen anderen Waren auf Pump aufschwatzte. Dass dies im Einzelfall gutgehen konnte – der Schuldner könnte ja in der Lotterie gewinnen –, insgesamt aber zur Katastrophe führen muss, war den Machern klar. Wenn ein Wirt einem chronisch Klammen immer anschreibt, kann er sich ausrechnen, dass er am Ende keinen müden Cent sieht.
Deshalb verkauften die Gläubiger die hochriskanten Kredite einfach weiter, und die Käufer wiederum suchten wie beim Schneeballsystem andere Dumme und so weiter und so fort: »Den letzten beißen die Hunde.« Aber hier bissen die Hunde auch das gesamte System.
»Die kapitalistische Produktion strebt beständig, die ihr immanenten Schranken zu überwinden«, wusste schon Karl Marx, »aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs Neue und auf gewaltigerem Maßstab entgegenstellen. Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst.« [40]
Schon an dieser Stelle zeigt sich, dass der Markt keineswegs ein vernünftiger Automat, eine segensreiche »unsichtbare Hand« à la Adam Smith ist, im Gegenteil. Jeder Monopolyspieler weiß, dass gesetzmäßig die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Und wenn die Armen keine Straßen, keine Häuser und auch kein Geld mehr für die Miete haben, ist das Spiel aus.
Anders ausgedrückt: Hätte man den Immobilien- und Kreditkartenschuldnern ihre Schulden erlassen beziehungsweise aus der Staatskasse bezahlt, so hätte es keine Finanzkrise gegeben. Aber genau das ist ja nicht Sinn der Marktwirtschaft. Dieselben spießigen Mittelständler, die das leistungslose Einkommen der Milliardäre ganz in Ordnung finden, hätten Zeter, Mordio und »Sozialismus« geschrien.
Die Frage ist allerdings – dies weltfremde Gedankenspiel sei gestattet –, ob die USA und damit die ganze Welt unterm Strich damit nicht besser gefahren wären.
Der Schlüssel zum Verständnis der kapitalistischen Krisen im Allgemeinen und der Finanzkrise im Besonderen liegt im leistungslosen Einkommen. Ein »Investor« ist nämlich zumeist nichts anderes als ein Zocker, dem es relativ wurscht ist, ob er Bayern München gegen Schalke tippt oder in Form von RWE-Aktien auf den Anstieg der Energiepreise setzt. Die eigentliche Funktion des Geldkapitals, nämlich ehrlichen Konzernen und Mittelständlern den Ausbau oder Betrieb ihres Unternehmens zu finanzieren, gerät zusehends in Vergessenheit.
Schlimmer noch: Eher kommt die Pleitebank Hypo Real Estate an über 100 Milliarden Euro heran als ein Tischlermeister an einen Kredit über 10000 Euro zum Ausbau seiner kleinen Werkstatt. Kaum eine private oder staatliche Bank, die nicht mitgespielt hat im globalen Casino. So kaufte die Bayerische Landesbank in der Hoffnung auf höhere Bilanzsummen und Renditen für Milliarden riskante Finanzprodukte und Kredite – und erhält nun vom Steuerzahler zehn Milliarden Euro.
Wohin das führen kann, wird sich zeigen.
Langsam fragt man sich, was der größere Skandal ist: Die unverschämte Misswirtschaft zu Lasten der Allgemeinheit oder die Tatsache, dass die Bürger ihre eigene Ausplünderung nahezu lethargisch hinnehmen.
Der römische Senator Marcus Porcius Cato (234–149 v.Chr.), genannt »Cato der Ältere«, beendete jede seiner Reden mit der stereotypen Forderung: »Ceterum censeo, Carthaginem delendam esse – Übrigens meine ich, dass Karthago zerstört werden muss.«
Genauso gebetsmühlenartig wird gegenwärtig über die »Gier« geklagt. Allein die Schlagzeilen der »seriösen« Presse sprechen Bände:
»Köhler kritisiert ›hemmungslose Gier‹« – Focus Money Online am 10. Oktober 2008.
»CDU will Gier an den Märkten Grenzen setzen« – Der Westen am 17. Oktober 2008.
»Müntefering kritisiert Gier der ›Hopper‹-Manager« – Welt Online am 14. Dezember 2008.
»DGB-Chef Sommer: In Chefetagen herrscht ›die nackte Gier‹« – stern.de am 1. Mai 2005.
»Hirnforscher führt Finanzkrise auf angeborene Gier nach Geld zurück« – Telepolis am 20. Juni 2009.
»Dalai Lama hält Gier für Ursache der Krise« – Spiegel Online am 26. Juni 2009.
»Papst rügt Gier und ungezügelten Kapitalismus« – Berliner Zeitung am 8. Juli 2009.
Aber auch die Meinungsmacher selbst mischen munter mit:
»Gier frisst Hirn« – Handelsblatt am 22. Januar 2008.
»Gier ohne Grenzen« – Spiegel Online, vom 17. August 2007.
»Die Wirtschaftselite und das Gier-Virus« – manager-magazin.de am 11. Dezember 2007.
»Lafontaines Linke profitiert von Gier der Reichen« – Welt Online am 19. Februar 2008.
Unter den zahllosen Erklärungen für die periodisch wiederkehrende Wirtschaftskrise – man denke nur an Karl Marx, John Meynard Keynes oder Friedrich August von Hayek – gehören zweifellos »Gier und Spekulation« zu den blödsinnigsten und verlogensten. Schließlich beruht unser gesamtes Wirtschaftssystem auf Eigennutz und Profitstreben.
»Gier ist die populärste Erklärung der Wirtschaftskrise und zugleich die rätselhafteste«, schreibt Mark Siemons in der FAZ. »Da wird dem Kapitalismus plötzlich als Versagen angekreidet, was bisher als der Grund seiner Überlegenheit galt: sein Zusammenklang mit jener Natur des Menschen, die ihren eigenen Nutzen sucht und dabei Kräfte entfesselt, die alle Grenzen zentral definierter Angemessenheit hinter sich lassen.« [41]
Spätestens hier wird das grundlegende Dilemma des Kapitalismus deutlich.
Adam Smith sprach einigermaßen nachvollziehbar davon, dass der Fleischer seine Wurst nicht aus reiner Menschenliebe verkaufe, sondern weil er damit Geld für seinen Lebensunterhalt verdienen wolle. Aber was hält den Fleischer davon ab, Gammelfleisch zu verkaufen? Smith versuchte das Problem durch seine Theorie of Moral Sentiments zu lösen: Die Menschen seien im Grunde ihres Herzens frei nach Goethe »edel, hilfreich und gut«. Dies allerdings führt zu einem logischen Widerspruch, den die Wissenschaft auf den Namen »Adam-Smith-Problem« taufte. Der Kapitalismus fördert angeblich die gesellschaftliche Wohlfahrt, indem er egozentrisches Verhalten belohne. Andererseits erwarten wir von den somit belohnten Egoisten, dass sie sich eines bislang bestraften Altruismus besännen und aufgrund solcher Motive das Gemeinwohl förderten.
Die Neoliberalen – und nur das macht den Zusatz Neo plausibel – »lösten« dieses Problem, indem sie ein Menschenbild namens homo oeconomicus schufen, für den Rücksicht gegenüber Mitmenschen, Solidarität und Abgeben irrational sind, skrupellose, über Leichen gehende Raffgier aber rational. [42]
Dies ist keine Fiktion: Sie begegnet uns gerade heute in jener gewissenlosen Spezies, die das Ausnehmen und Hereinlegen der Mitbürger als »rationales Wirtschaften« betrachtet und die mit entsprechend windigen Geschäften die Weltwirtschaft an den Rand der Katastrophe gesteuert hat.
Dieses Menschenbild vertreten auch zahlreiche Politiker, wie Roland Koch, wenn auch verquerer. Man dürfe Egoismus und Altruismus »nicht ausspielen, wie etwa mit dem Slogan ›Solidarität statt Ellenbogen‹ geschehen. Vielmehr bedingen diese Begriffe einander«, und so »liegt es auf der Hand, dass eine leistungsfähige soziale Marktwirtschaft ohne sie nicht fähig wäre« [43]
Die unverfrorene Schlussfolgerung daraus könnte von Roland Koch sein, stammt aber vom früheren Chefethiker der Katholischen Universität Eichstätt, dem Volkswirtschaftsprofessor und Unternehmensethiker Karl Homann: Egoismus ist demnach die höchste Form der Solidarität; und Wettbewerb ist solidarischer als Teilen. Kurzum: Die Zehn Gebote sind als ökonomisches Kalkül zu betrachten. [44]
»Christlich« – ohne diese Selbstbeschreibung kommt kaum ein Mitglied der Eliten von Politik und Wirtschaft aus – ist damit nur ein anderes Wort für »eigennützig« oder »marktwirtschaftlich«. Eine schönere Ode an die Gier ist schwer vorstellbar.
In seinem berüchtigten Buch Das Ende der Geschichte (1992) beschreibt der neokonservative US-Politologe Francis Fukuyama den Verlauf der geschichtlichen Evolution als gesetzmäßige und gottgewollte Verkettung von Ereignissen. Die Geschichte sei also keine zufällige Anhäufung von Umständen. In einer Art moderner Variante der Hegelschen Dialektik behauptet Fukuyama, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges und der Fall der Berliner Mauer zu einer Schlussphase der politischen Systementwicklung geführt haben. Nun stehe der endgültigen weltweiten liberalen Demokratie nichts mehr im Weg.
Wäre dem wirklich so, könnte man angesichts von Guantanamo, Abu Ghraib und der unzähligen getöteten Frauen und Kinder in Afghanistan und im Irak nur noch hilflos »Na dann Prost Mahlzeit« seufzen.
Nun wäre es albern, den Hang der Menschen zum Egoismus generell zu leugnen. Das Eigennutzaxiom ähnelt sogar der Marxschen These vom Unternehmer als personifiziertem Kapital und ist – zumindest auf den Kapitalismus bezogen – letztlich ehrlicher und richtiger als unbewiesene Behauptungen über den »Gutmenschen« Manager oder Politiker. Und auch die kleinen Leute verfolgen ja eigennützige Interessen.
Nur sind Eigennutz und geldbezogene Habsucht verschiedene Dinge. Eine reiche Tante zahlt natürlich auch aus Eigennutz die Operation der Nichte: sie profitiert persönlich emotional davon, dass ihre Familie glücklich ist. Ist die Tante aber raffgierig, dann lässt sie die Nichte lieber sterben – und investiert in Medizin-Aktien. Schließlich wird ja nach der neoliberalen Theorie durch Tantchens Profitmaximierung sogar die ganze Gesellschaft bessergestellt, und der Tod der Nichte war deren Solidarbeitrag. [45]
Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.
Albert Einstein
Die Quintessenz: Das Profitstreben – die »Gier« – gehört zum Wesen des Kapitals, der Manager und vieler anderer mehr; und es ist ja gerade Aufgabe der Politik, dem einen Riegel vorzuschieben und es in »geordnete Bahnen« zu lenken.
Die Eliteeinheit der Gierigen sind die Spekulanten. Hier handelt es sich um besonders schwarze Schafe, ohne die der schöne Kapitalismus angeblich krisenfrei und zu aller Wohlstand funktionieren würde. Und auch hier überschlägt sich die veröffentlichte Meinung in Sachen Wortradikalismus:
»Rohstoffe: Soros ätzt gegen Spekulanten« – manager magazin am 2. Juni 2008.
»Spekulanten verschärfen Reis-Krise« – Stern am 22. April 2008.
»Die Verantwortung der Spekulanten für teures Öl und Hunger in der Welt« – Wirtschaftswoche am 20. Juni 2008.
»Spekulanten: Ekstasen der Geldverbrennung« – Stuttgarter Zeitung am 9. Juli 2009. [46]
»Kein Sozialismus für Spekulanten« – Berliner Zeitung am 26. September 2008.
Natürlich hat sich seit dem 19. Jahrhundert mit dem Kapitalismus auch die Spekulation verändert. Dennoch lohnt ein Blick auf einen Artikel, den Karl Marx am 15. Dezember 1857 zur englischen Handelskrise in der New York Daily Tribune geschrieben hat: [47]