Die Dilettanten - Thomas Wieczorek - E-Book

Die Dilettanten E-Book

Thomas Wieczorek

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Beschreibung

Unfähig, überfordert, handwerkliche Fehler - befinden sich Deutschlands Politiker in der Hand von Dilettanten? In Die Dilettanten unterzieht Parteienforscher Thomas Wieczorek unsere Volksvertreter einem schonungslosen Eignungstest. Von der Weltfinanzkrise bis hin zu fragwürdigen Gesetzen und Konjunkturpaketen - die Ergebnisse sind erschreckend. Egal ob Regierung oder Opposition, fachliche Kompetenz scheint Mangelware zu sein. Stattdessen dominieren Mittelmaß und Unfähigkeit die politische Landschaft. Doch diese Missstände können schnell gefährlich werden. Mit scharfem Blick und pointierter Analyse holt Wieczorek die Wahrheit ans Licht: Ein Buch, das die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie hinterfragt und zum Nachdenken anregt. Die Dilettanten ist ein Aufruf zu mehr politischer Verantwortung und ein Plädoyer für eine kompetente Führung unseres Landes in herausfordernden Zeiten. Ein Buch, das jeder politisch interessierte Bürger gelesen haben sollte.

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Thomas Wieczorek

Die Dilettanten

Wie unfähig unsere Politiker wirklich sind

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

MottoDanksagungEinleitungA. Alle vier Jahre wieder: Die Parteien vor der Wahl1. CDU: Neoliberaler Sozialstaat gefällig?2. CSU: Staatspartei oder nur noch Volkspartei?3. SPD: Lieber klein, aber fein?4. FDP: Zu früh gefreut?5. Die Linke: Pflegeleichte Populisten?6.Die Grünen:Zu jeder machtpolitischen Schandtat bereit?B. Die Partei hat immer recht1. Ohne Parteien läuft nichts2. Die Sprossen der Karriereleiter3. Innerparteiliche Demokratie –Gift für das RückgratC. Kompetenz von eigenen Gnaden – Unsere Spitzenpolitiker1. Wann ist ein Experte ein Experte?2. Experte werden ist nicht schwer – Das Vortäuschen von Kompetenz3. Raider heißt jetzt Twix4. Müssen Fachpolitiker vom Fach sein?5. Das Recht des Volkes auf kompetente Politiker6. Kompetenz unerwünscht –Der Nutzen inkompetenter Politiker6.1. Können Politiker lügen?7. Die Kernkompetenz der Politiker8. Müssen Kritiker es besser können?9. Unsere Besten: Das Kompetenzteam Bundesregierung9.1. Juristen bevorzugt10. »Wie soll ich das wissen?« –Verschwendung als Folge von Inkompetenz10.1. »Ehrliche« Verschwendung10.2. Beraterboom: »Wir machen das schon«D. Von Asmussen bis Zypries –Wer kann und tut was?1. Macher und Entscheider2. Landesfürsten3. Heimliche Herrscher4. Endlosschwätzer5. Wirtschaftsvertreter6. Scheinlinke7. Flexible Karrieristen8. Rechter Rand9. Unkündbare – Gekommen, um zu bleiben10. Belohnte Lakaien11. Komplett inkompetent?12. Ewige WiedergängerE. Von wem ist die Politik abhängig?1. Wenn man nicht alles selber macht:Die Lobbyisten1.1 Lobbyisten in Ministerien2. Finanziell: Was erhält die Politik von wem?2.1. Die Einkünfte vom Staat2.2. Die Parteispenden: Legale Bestechung?2.3. Regierungssponsoring –»Dies Gesetz wird Ihnen präsentiert von …«3. Abhängigkeit und Korruption3.1. Korruption – was ist das eigentlich?3.2. Dankeschönjobs:Es gibt ein Leben nach der Politik3.3. Die Nebenjobs3.4. Die schleichende bargeldlose KorruptionF. Die Tröpfe der Politik1. Kaum erfunden und schon überholt: Tina2. Die Wirtschaft:Nur wenn der Pilot seinen Stoff kriegt …3. Aller Widerstand steht still –Die Gewerkschaften4. Um Gottes willen – Die Kirchen5. Ich bin in den Medien – also bin ich6. »Opposition ist Mist« – Das ist Mist7. Das Bundesverfassungsgericht – Bollwerk gegen die Verfassungsfeinde in der Regierung8. Seine Majestät: Das VolkG. Und nun?1. Der Kampf gegen die Inkompetenz2. Die neue alte Bedeutung von KompetenzLiteratur

Die Überzeugung, dass er es »draußen im Lande« mit Millionen von Idioten zu tun hat, gehört zur psychischen Grundausstattung des Berufspolitikers.

Hans Magnus Enzensberger

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Danksagung

Mein herzlicher Dank für ebenso befruchtende wie erbauliche Mitarbeit durch Diskussionen, Hinweise und Ratschläge gilt besonders Brigitte und Michael Müller, Helge Meves, Wolf-Dieter Narr, Ernst Röhl, Peter Saalmüller, Henning Voßkamp, Klaus Kampa, vor allem aber Karin.

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Einleitung

Seit der Finanzkrise ist alles anders: Der Turbokapitalismus hat fertig.

Ob Union oder SPD, ja sogar Grüne und FDP: Niemand will mehr mit der eben noch von ihnen entfesselten Wirtschaftsform etwas zu tun haben und beruft sich auf die gerade noch als »total antiquiert«, als »Weicheier-System« verhöhnte oder als »DDR ohne Mauer« verhasste Soziale Marktwirtschaft. Ehrliche Arbeit war out, leistungsloses Einkommen in. Dass die Bevölkerung immer ärmer, die oberste Oberschicht immer reicher wird, galt selbst Linken noch als notwendiges Übel: »Der Kapitalismus ist ungerecht, aber er funktioniert«, lobte Gregor Gysi.

Aber dann kam der Knall: Der Funke der US-Immobilienkrise wurde flugs zum globalen Steppenbrand – und prompt rufen die Neoliberalen nach dem Staat wie der Junkie nach dem Stoff. Plötzlich flehen die »Marktteilnehmer« ebenjenen Staat, dessen Einmischung sie sich bis dato als »sozialistischen Dirigismus« streng und arrogant verbeten haben, um Regulierung an, sprich: um Steuermilliarden. Resümee des Philosophen und Polit-Autors Robert Misik: »Der Neoliberalismus hat der Welt das größte globale Desaster seit Hitler und Stalin beschert. Tolle Bilanz.«[1]Rettungsschirm avanciert zum heimlichen Unwort des Jahres, und sogar die marktversessene schwarz-rote Koalition begeht im Januar 2009 mit der Teilverstaatlichung der Commerzbank einen bis dato undenkbaren Tabubruch.

Und derselbe Staat, der weder den Armen ein menschenwürdiges Existenzminimum noch dem Nachwuchs ein Minimum an Bildung zu sichern gedenkt, schüttet plötzlich das Milliardenfüllhorn über die Wirtschaft und ihre teilweise hochkriminellen Akteure aus. Selbstheilungskräfte des Marktes?

Über Nacht erweist sich der unantastbare Neoliberalismus als banale Hellseherei mit gezinkten Tarotkarten und die Deregulierung als Blindekuhspiel auf Glatteis, als russisches Roulette, bei dem die Pistole allerdings immer auf das Volk gerichtet ist.

Die Philosophien der Deregulierung und des Neoliberalismus in den westlichen Ländern sind tot.

Joseph Stiglitz, Wirtschaftsnobelpreisträger, im Oktober 2008

Besonders die Börsen-Analysten glänzen als marktradikale Blindschleichen: Obwohl mit »hochwissenschaftlichen« Zahlen, Daten, Fakten bis zum Abwinken versorgt, sagen sie Ende 2007 für 2008 einen durchschnittlichen DAX-Kurs von 8641 Punkten voraus – in Wahrheit liegt er mit 4779 Punkten um 45 Prozent niedriger.[2]

Als kein bisschen seriöser entpuppen sich auch die Wirtschaftsinstitute, die noch kurz vor Ausbruch der Krise das Hohelied auf die deregulierte entfesselte Marktwirtschaft singen: Neoliberale sind wie die antiken Auguren, nur dass die römischen Hellseher wohl überwiegend nach bestem Wissen und Gewissen tätig waren. Umso absurder, dass sich die Politik bei ihrem »Wettlauf der Pessimisten« (Süddeutsche) ausgerechnet auf diese Scharlatane beruft – allerdings nicht ohne Hintergedanken: Je schwärzer die »Prognose«, desto leichter der weitere Sozialabbau und desto strahlender das Regierungsbild, wenn es dann doch nicht so schlimm kommt.

Natürlich wurde der Globalschlamassel nicht von ein paar besonders unfähigen Bundespolitikern verursacht. Aber selbst wenn das Unheil von den USA aus seinen Lauf rund um die Welt nahm: Dass dies »kein Mensch ahnen konnte«, ist eine der dreistesten Lügen dieser Tage. Beileibe nicht nur der frühere Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine oder der geläuterte Kapitalismuskritiker Heiner Geißler warnten schon dann vor dem entfesselten Kapitalismus, als für Peer Steinbrück die Heuschrecken noch »geradezu ein Segen für die Volkswirtschaft eines Landes« waren. So konnte etwa am 25. September 2006 im Spiegel-Artikel »Die Billionen-Bombe« sogar jeder Halbgebildete haarklein alles über Derivate, Immobilienkredite und Spekulationsblasen nachlesen, was später »völlig unerwartet« eintraf.[3] Schon deshalb kann man allen Mitwirkenden und Wegbereitern unter den Volksvertretern pauschal ein »Ungenügend« plus Schulverweis verpassen.

Unkenntnis, Überforderung und Stümperei, so weit das Auge reicht: Altkanzler Helmut Schmidt konstatiert »eine unerhörte Fahrlässigkeit der politischen Klasse insgesamt, die sich leichtfertig auf die Illusion einer selbsttätigen Heilungskraft der Finanzmärkte verlassen hat, statt rechtzeitig einzugreifen«.[4] Und selbst Nobelpreisträger Paul Krugman sagt sehr höflich über die Kanzlerin und ihren Finanzminister: »Vielleicht fehlt ihnen intellektuelle Beweglichkeit.«[5] Anzeichen gibt es reichlich:

Peer Steinbrück beispielsweise kennt, wie wir noch sehen werden, nicht einmal den Unterschied zwischen dem Abwickeln und der Rettung einer Bank, und derlei Inkompetenz kann teuer werden. So blockierte sein Ministerium laut Spiegel Online zwei Jahre lang eine verschärfte Aufsicht über die Krisenbank Hypo Real Estate. Bereits im Frühjahr 2007 hatte die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) beim Ministerium eine bessere Kontrolle beantragt. Auch Finanzholdings sollten voll unter BaFin-Aufsicht gestellt werden. Reagiert wurde erst zum April 2009.[6] Hätte ein rechtzeitiges Handeln die Pleite verhindert?

Im Sozialismus werden die Banken erst verstaatlicht und gehen dann pleite. Im Kapitalismus gehen sie erst pleite und werden dann verstaatlicht.

Das Konjunkturprogramm vom Herbst 2008 dürfte eigentlich nicht so heißen, weil es erstens seit langem von der Partei Die Linke gefordert wird und zweitens das kindische Märchen von den »Selbstheilungskräften des Marktes« Lügen straft. Das Programm selbst gerät weitaus mickriger und zögerlicher als bei allen anderen Industrienationen. Grund: Statt rechtzeitige Krisenbekämpfung wenigstens zu versuchen, will die Regierung lieber ein Strohfeuer des Aufschwungs direkt zur Bundestagswahl erreichen. Schon rein fachlich sind die Maßnahmen eine einzige Blamage. Wer zum Beispiel kauft ein Auto für 19000 Euro, um einmalig 109 Euro zu sparen?

Auch das zweite Paket über 50 Milliarden Euro vom Januar 2009 glänzt durch Stümperei. So hilft die Abwrackprämie – 2500 Euro für über neun Jahre alte Autos – nicht etwa den deutschen Arbeitsplätzen, sondern ist ein »willkommenes Geschenk für die Hersteller« und »ein Konjunkturprogramm für die Autowerke in Rumänien, Tschechien oder Italien, finanziert aus deutschen Steuergeldern«.[7] Zudem erweist es sich als »Förderprogramm für die organisierte Kriminalität« (Deutsche Umwelthilfe). Tatsächlich gelang es den Machern des Politmagazins Monitor, »verschrottete« Autos erneut anzumelden oder nach Polen zu verkaufen.

Zudem entlastet die Kfz-Steuerreform vor allem die teuren Spritschleudern: So zahlt etwa der Fahrer eines Audi Quattro Q7 mit knapp sechs Litern Hubraum statt 926 nur noch 656 Euro, wohingegen die Steuer eines VW Golf mit 1,4 Litern nur von 94 auf 86 Euro sinkt. Während sogar Barack Obama zwei Notwendigkeiten miteinander verbindet und in seinem Mammutprogramm auch den Klimaschutz berücksichtigt, kämpft Angela Merkel nach der Devise »Umwelterhaltung schadet der Wirtschaft« gegen »zu viel Klimaschutz«.[8] Für den früheren UN-Chefumweltschützer Klaus Töpfer (CDU) ist der Missbrauch des Klimaschutzes als »Verfügungsmasse« konjunkturpolitischer Überlegungen schlicht »ökonomisch und ökologisch unverantwortlich«.[9]

Ein soziales Konjunkturprogramm – also auch für die Arbeitslosen, Ein-Euro-Jobber sowie verarmten Rentner und Familien – war hingegen nicht einmal beabsichtigt. Stattdessen hilft das Paket »vor allem dem Mittelstand, und es tut den Reichen nicht weh«.[10]

Aber auch unabhängig von der Weltfinanzkrise dilettiert die Regierung fröhlich vor sich hin: In der EU erkämpft man günstige Abgas-Höchstwerte für deutsche Spritschleudern – nutzt aber nix, weil die Verbraucher sie weltweit nicht kaufen.

Beim neuen Gesundheitsfonds überlegt man lange, bei wem die Methode »teurer, aber dafür schlechter« auf den wenigsten Widerstand stoßen würde, und stößt einmal mehr auf die Senioren: Seit 2009 zahlen 76,2 Prozent der Rentner mehr Geld für eine immer fragwürdigere medizinische Versorgung.

Von der Online-Durchsuchung bis zur Pendlerpauschale stümpern Regierung und Parlament Gesetze zusammen, die das Bundesverfassungsgericht als grundgesetzwidrig stoppen muss.

Auf der anderen Seite ist die 2004 von Deutschland unterzeichnete UN-Konvention, die Korruption umfassend und nicht nur beim Abstimmen unter Strafe stellt, noch immer nicht umgesetzt.

Ebenso fehlen Gesetze zur »Straftat Geldverbrennung« (Heribert Prantl), so dass die Schuldigen an der Finanzkrise sich auf Kosten des Steuerzahlers ins Fäustchen lachen. Investmentbanker müssen teilweise nicht einmal auf ihre astronomischen Einkommen verzichten.

Wegen der Sturmflut von Klagen an den Sozialgerichten bringt Hartz IV bedeutend mehr statt weniger Bürokratie. Und die meisten Kläger bekommen recht. Das Bundessozialgericht erklärt »die massivste Leistungsreduktion in der bundesdeutschen Sozialgeschichte« (Franz Walter) für teilweise verfassungswidrig: Der Regelsatz für Minderjährige von 211 Euro im Monat sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Das Landessozialgericht Hessen findet sogar, Hartz IV sei insgesamt ungerecht und verweigere den Familien ein »soziokulturelles Existenzminimum«. Christian Bommarius von der Berliner Zeitung meint, »dass der Gesetzgeber sich schämen müsste, hätte er nicht im Umgang vor allem mit Familien als Hartz-IV-Empfänger längst jedes Schamgefühl verloren«.[11]

Zu Stümperei und Sozialraub kommt auch noch Schmu: Selbst Hessens Sozialministerin Silke Lautenschläger wirft der Regierung und der Bundesagentur für Arbeit »Statistik-Schwindel« vor: So rechnet man unter anderem die Ein-Euro-Jobber, die über 58-Jährigen, die Teilnehmer an Fortbildungskursen heraus und kommt auf 3,6 Millionen Arbeitslose. Addiert man aber die Bezieher von ALG I und II – 1,1 und 5,1 Millionen –, so kommt man auf 6,2 Millionen Erwerbslose. Grund für das Tricksen, frei nach dem antiken Römischen Senat: »Wenn die Sklaven sehen, wie viele sie sind, fegen sie uns hinweg.«

Auch die Spätfolgen früher neoliberaler Exzesse häufen sich. So fordert die Post pünktlich zum 20-jährigen Jubiläum ihrer Privatisierung, samstags keine Briefe mehr zustellen zu müssen.

Nach der Devise »Nationalismus statt Menschwürde« verabschiedet der CDU-Parteitag 2008 die Forderung nach Deutsch im Grundgesetz. Nötig scheint es zu sein, wenn man sich die Pisa-verdächtige Begründung des saarländischen Amateurgermanisten Peter Müller anhört: »Deutsch ist deutsch sprechen und deutsche Identität« – für den Diplomlästerer Henryk M. Broder hat der Satz »gute Chancen, von kommenden Abiturientenjahrgängen auf seine formale und inhaltliche Richtigkeit überprüft zu werden«.[12]

Überhaupt das leidige Dauerthema Bildung: Bildungsministerin Schavan will allen Ernstes »Top-Mitarbeiter« aus der Wirtschaft als Lehrer einsetzen. »Die Schulmisere sollen also Manager beheben, die Banken ruiniert haben«, folgert die Süddeutsche Zeitung.[13]

 

Wesentlich begünstigt werden diese Glanzlichter des Dilettantismus durch eine atemberaubende Ausbildung und Kompetenz: Hindert selbst bei allem guten Willen schon allein der Mangel an Fachwissen viele Volksvertreter an einer Arbeit für das Gemeinwohl?

Würden Sportler für die Olympiamannschaft so nominiert wie Politiker für die Fachressorts, so träte eine gelernte Hochspringerin im Gewichtheben, ein Turmspringer im Freistilringen, eine Diskuswerferin im Dressurreiten und ein Hürdenläufer im Degenfechten an.

Jurist Olaf Scholz war früher Hamburger Innensenator und SPD-Apparatschik. Mit seinem Ressort »Arbeit und Soziales« hatte er zuvor aber laut Vita nichts zu tun.

Jurist Franz Josef Jung war Europaminister in Hessen, hatte mit dem Ressort Verteidigung nie etwas zu schaffen und bekam den Job wohl als Dank, dass er in Roland Kochs Spendenaffäre das Bauernopfer gespielt hatte.

Sonderschullehrerin Ulla Schmidt ist für Gesundheit zuständig, Elektroingenieur Wolfgang Tiefensee für Bau und Verkehr, Elektrohandwerkerin Ilse Aigner für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Englischlehrer Sigmar Gabriel für Umwelt und Reaktorsicherheit, und lange Zeit war Müllermeister Michael Glos Bundesminister für Wirtschaft.

Die Kanzlerin selbst ist Physikern, was dem tumben Wahlvolk schon mal als Garantie für logisches Denken und Qualifikation für die Leitung der Staatsgeschäfte verkauft wird.

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Regierung zum Spielball der verschiedensten »Berater« und Interessengruppen werden muss. Denn selbstverständlich vollbringen unsere Politiker ihre Glanztaten nicht im luftleeren Raum, sondern in einem Abhängigkeitsgeflecht:

So üben zum Beispiel die Medien, »die Wirtschaft« und einzelne Konzerne, die Gewerkschaften, die Kirchen und nicht zuletzt die eigenen Parteiführungen mehr oder minder Druck auf unsere Volksvertreter aus: Was aber ist tatsächlich ein »Sachzwang« und was nur dumme Ausrede?

 

Dies führt schließt zu der Frage, ob »Kompetenz« nicht neu definiert werden muss. Eine der Lehren aus der Weltfinanzkrise lautet, dass der Mensch eben nicht für die Wirtschaft da zu sein hat, sondern umgekehrt: Dass also reines Expertentum nichts ist ohne die soziale Kompetenz.

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A. Alle vier Jahre wieder: Die Parteien vor der Wahl

Einer Binsenweisheit zufolge haben Parteien in einer marktwirtschaftlichen Demokratie »als Hauptmotiv den Wunsch, sich die mit dem Regierungsamt verbundenen Vorteile zu verschaffen; daher streben sie nicht die Regierung an, um vorgefasste politische Konzepte zu verwirklichen, sondern formulieren politische Konzepte, um an die Regierung zu kommen«.[14] Entsprechend ist »das Hauptmotiv der Regierung ›Maximierung der Stimmen‹, nicht des Nutzens oder der Wohlfahrt«.[15]

Das liegt zwar in der Natur der Sache, war aber nicht immer so offenkundig wie heute. In Weimar wählten überwiegend die »Gottesfürchtigen« das Zentrum, die Arbeiter die SPD, dann alle gemeinsam Adolf Hitler, und dann in der Bundesrepublik die (katholischen) Christen die Zentrumsnachfolger CDU/CSU und die Arbeiter wieder die SPD.

Aus den verschiedensten Gründen – zu den wichtigsten zählt die Umdefinition der SPD in eine Volkspartei durch das Godesberger Programm von 1959 sowie das massive »Wegsterben« des Industrieproletariats – präsentieren sich die Parteien heute längst als machtorientierte »Allerweltsparteien«. Die Schröder-SPD schlägt beim Sozialabbau die Union um Längen, und die wiederum demonstriert mit diversen Änderungsforderungen zur Agenda 2010 ihr Herz für die Kleinen Leute. Die Folge: »Die alten Bindungskräfte dieser Parteien haben stark nachgelassen, sie sind den Menschen nicht mehr, wie früher, eine politische Heimat, sondern eine Art Hotel: die Leute kommen und gehen – und bleiben immer öfter ganz weg. Sie finden dort nicht mehr, was sie jahrzehntelang gefunden haben: Grundorientierung.«[16]

Damit aber erweist sich die Vergrößerung der Zielgruppe als Nachteil: Ein nicht mehr traditions- oder ideologiegebundener Bürger wird nämlich nicht nur zum Wechselwähler, sondern auch im Wortsinn »wählerisch« und wendet sich verstärkt den kleineren Parteien zu: Die CDU koaliert inzwischen mit allen außer der Partei Die Linke, die SPD sogar mit der, und auch die Unversöhnlichkeit der Grünen und der FDP beruht kaum noch auf Inhalten, sondern im Gegenteil auf dem erbitterten Kampf um das weitestgehend selbe Wählerpotenzial.

Diese Beliebigkeit führt seit geraumer Zeit zu einem Raumgewinn der kleinen zu Lasten der beiden großen Parteien. Gut möglich, dass am Ende ein »System der mittelgroßen Parteien« entsteht.

In jedem Fall aber verlieren die Parteien durch die Aufgabe von Prinzipien und Visionen »an innerer Kraft, die aber unverzichtbar ist, um nach außen anziehend zu wirken, um kluge und ehrgeizige Mitglieder zu gewinnen, auch um Kraft- und Führungsnaturen zu rekrutieren«.[17] Was übrigbleibt, sind die Dilettanten: »Allerweltsparteien fehlen gesellschaftliche Wurzeln, intellektuelle Ambitionen; die Choreografie von Möglichkeiten jenseits dessen, was gerade ist«, bemerkt Franz Walter. »Aber wozu braucht man Parteien dieses Charakters eigentlich noch?«[18]

1. CDU: Neoliberaler Sozialstaat gefällig?

Nicht erst die Wirtschaftskrise, schon die Verwandlung von 640000 Wählern in Nichtwähler bei der Bundestagswahl 2005 im Vergleich zu 2002 – bei der SPD waren es »nur« 370000 – zeigt deutlich, dass die Anhängerschaft der CDU/CSU aus verschiedenen Gruppen besteht, deren Erwartungen immer weniger unter einen Hut zu bringen sind.

Die zukunftsängstlichen Senioren, die sich von der Politik verraten fühlen und vor Altersarmut ebenso Angst haben wie vor dem Verfall der Demokratie und vor jeglicher sozialer Veränderung.

Die bröckelnde politische Mitte, die alle neoliberalen Reformen bislang bereitwillig mitgemacht hat, sich aber nun um den Lohn dafür betrogen sieht. Dass der »Umbau« des Sozialstaates auch die Zukunft ihrer Kinder gefährdet, also quasi ihren Lebensinhalt, entfernt sie mehr und mehr von der Union.

Die marktradikalen Scharfmacher, die die Grundwerte der Union hinwegfegten.

Der Feind der Parteimehrheit war diesmal nicht der Bolschewist mit Planwirtschaft, Mauer und Stacheldraht, sondern die selbsternannte neoliberale Elite, die die traditionellen Einrichtungen, Bräuche und Kulturen recht emotionslos vernichtete. Jene Spezies also, deren »rauschhafte Party entgrenzter Märkte«[19] wie zum Beispiel 2003 auf dem Leipziger CDU-Parteitag die meisten Funktionäre am liebsten ungeschehen machen würden.

Nun aber ist das Loblied auf den Rheinischen Kapitalismus und seine eben noch als Schnee von gestern verhöhnte Soziale Markwirtschaft wieder in Mode. Herablassende Bemerkungen über »Gutmenschen« und »Sozialkitsch« leistet sich inzwischen niemand mehr; möchte man doch selbst vor den Bürgern als guter Mensch in der Politik gelten. Kurzum: Geißler schlägt Merz.

Ob dies aber beim Bürger verfängt, ist schon deshalb fraglich, weil zum einen auch die SPD inzwischen auf diese Masche gekommen ist, zum anderen aber gerade christlich motivierte Anhänger der CDU mit denen der Partei Die Linke moralisch mehr gemeinsam haben als beispielsweise mit dem Wirtschaftsflügel der Union.

Dies umso mehr, als die CDU das Wiederentflammen ihrer Liebe zum Sozialstaat denkbar unglaubwürdig verkauft. Parteichefin Merkel zum Beispiel redet auf dem Stuttgarter Parteitag Anfang Dezember 2008 ellenlang und ermüdend über die Soziale Marktwirtschaft, ohne den Begriff inhaltlich zu füllen. »Die Kanzlerin will, sagt sie, die soziale Marktwirtschaft nach Europa, ja in die ganze Welt exportieren, sie will diese zum Exportschlager machen, wie Druckmaschinen, Kaffeefilter und Plüschtiere aus Deutschland. Druckmaschinen und Plüschtiere sind greifbar, Merkels Soziale Marktwirtschaft ist es nicht«, lästert Heribert Prantl. »Sie will etwas exportieren, was sie selber nicht beschreiben kann. Ein solcher Export ist ein Leerverkauf. Merkels Problem ist überdies, dass sie die soziale Marktwirtschaft vor ein paar Jahren noch abschaffen wollte. Also hört man Merkels frohe Botschaft, aber es fehlt einem der Glaube daran, dass sie ernst gemeint ist und auch morgen noch gilt. Wenn die Kanzlerin von sozialer Marktwirtschaft redet, dann klingt das so, als ob der Papst von den Vorzügen des Protestantismus spräche.«[20]

Und es ergänzt wohl das Bild der CDU, dass der Parteitag zwar keinerlei Beschlüsse zur Wirtschaftskrise, wohl aber die zur Festschreibung der deutschen Sprache im Grundgesetz fasste – und das auch noch gegen den Willen der Kanzlerin.

Dass echten Neoliberalen nicht einmal der Neoliberalismus heilig ist, sondern nur der eigene Nutzen, wird dann vom Vorteil zum Handicap, wenn der Wähler dahinterkommt. Er erkennt Politik und Politiker als unberechenbar, und wenn man ihn oft genug auslacht, weil er auf Wahlversprechen hereingefallen ist, dann hält er am Ende jedes Programm und jede Aussage für eine Lüge.

Insofern geht es der Union nicht besser als der SPD und den anderen Parteien. Sie muss versuchen, sich dem Volk wenigstens als kleinstes Übel zu präsentieren. Deshalb war und ist auch für die »christlichen Parteiführer« die Verunglimpfung des politischen Gegners – etwa Linke als Stalinisten und die SPD als ihre Kumpanin – ebenso unverzichtbar wie als Zielgruppe das arglose, politisch ungebildete Stimmvieh.

Und für diese Klientel war wohl auch die Lobeshymne des Parteitags auf die SED-Blockflöten bestimmt. Ein Antrag mit dem Satz »Die Führung der Blockpartei CDU bestand aus Einflussagenten und Handlangern der SED« wurde verworfen und stattdessen einer verabschiedet, wonach die Mitglieder der Ost-CDU die Idee der christlichen Demokratie auch in Zeiten der Diktatur wachhielten. Sie hätten versucht, in den sich bietenden Freiräumen zu wirken und »konnten so einen Beitrag zur friedlichen Revolution leisten«. Gerade zu heldenhaft klingt das, wird damit aber nicht weniger unglaubwürdig.

Für dieses tumbe Wahlvolk ist auch die obligatorische Koalitionsaussage gegen die SPD und für die FDP völlig bedeutungslos. Auch nach der Wahl 2005 warf niemand der Union »Wahlbetrug« vor.

Fazit der Süddeutschen Zeitung: »Die Wähler können sich aussuchen, welche Union sie denn gerne hätten: vielleicht die Peißenberger römisch-katholische CSU mit einem Schützenkönig als Generalsekretär oder die hanseatisch-urbane, angegrünte CDU mit dem Freiherrn von Beust oder die Kochsche Vierkant-CDU aus Hessen oder die sächsische Alles-passt-drunter-CDU?«[21]

2. CSU: Staatspartei oder nur noch Volkspartei?

Als die CSU bei der Bayernwahl im September 2008 über 17 Prozentpunkte und damit die Zweidrittelmehrheit im Landtag verliert, ist das Geschrei groß; dabei hat sie der Wähler doch nur von der Staatspartei zur Volkspartei zurückgestuft. Diesen Status, der sonst nur noch der Partei Die Linke in einigen neuen Ländern zukommt, besitzt sie freilich im Westen exklusiv.

Die CSU ist ein Lehrbeispiel, wie die Soziale Marktwirtschaft im Idealfall funktioniert. Das Volk nimmt korruptive Beziehungen – Klüngel oder Amigosysteme zwischen Politik, Wirtschaft und sogar Kirche – durchaus hin, solange es selbst davon profitiert. Dass der Wohlstand der Reichen mehr und schneller wächst als der eigene, wird dabei akzeptiert, solange Rieseneinkommen wenigstens dem Anschein nach auf Leistung und nicht auf bloßem Kapitalbesitz beruhen: Soll der Bauunternehmer doch Schmiergeld für Aufträge zahlen, wenn er dadurch Arbeitsplätze schafft und Menschen zu »Lohn und Brot« verhilft.

Insofern ist die CSU ein Opfer der neoliberalen Reformen und des Turbokapitalismus: Hektische Ausrichtung des Schulsystems auf Konzernbedürfnisse, Vorrang der neoliberalen Ziele »schlanker Staat« und »ausgeglichener Haushalt« vor Sozialsystemen und Infrastruktur, dann auch noch das Rauchverbot im Wirtshaus und schließlich die hemmungslose und desaströse Zockerei der Bayerischen Landesbank – all dies wurde vom Wähler ebenso bestraft wie die dazu passende Personalpolitik. Erwin Huber als Parteichef und Günther Beckstein haben nach Meinung des Politikberaters Michael Spreng »den Verfall beschleunigt und dynamisiert. Die Bayern sind ein stolzer Volksstamm. Sie wollen nicht durch Leute repräsentiert werden, die von einigen als Witzfiguren angesehen wurden … Man kann aus zwei Zwergen keinen Riesen machen.«[22]

Als die CSU dann – wie auch die Die Linke – die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale forderte, im Bundestag aber dagegen stimmte, nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Der neue »Bayernkönig« Horst Seehofer profilierte sich gleich nach seiner Machtübernahme in Sachen Erbschaftssteuer und machte es erfolgreich, wie der Kölner Politikprofessor Christoph Butterwege formuliert, zur »Prestigefrage, Villenbesitzersgattinnen am Starnberger See und Kinder von Konzernherren ganz von der Erbschaftssteuer zu befreien«.[23] Dass man dies auch so begründete, sonst müsse etwa ein kleiner Handwerker den vom Vater geerbten Betrieb schließen und seine drei Angestellten entlassen, ist ein Meisterwerk an Demagogie. Selbst Arbeitgeberverbände können keinen einzigen derartigen Fall nennen.

Andererseits entspricht dies dem Bestreben, die Kastenunterschiede zwischen Arm und Reich möglichst zu verewigen. Die meisten der heutigen superreichen Familien sind schon seit allen Zeiten ganz oben – vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und das Dritte Reich bis in die Nachkriegszeit und das vereinigte Deutschland.

Mal sehen, ob die anderen – die ebenfalls seit Generationen kleine Leute sind – dies weiterhin für Gottes Wille halten und CSU wählen oder im Zuge der Wirtschaftskrise den Ausruf eines Münchner Arbeiters von 1918 – »Na mach’ ma halt a Revolution, daß endlich wieda a Ruah’ is!«[24] – bei der kommenden Bundestagswahl parlamentarisch umsetzen.

3. SPD: Lieber klein, aber fein?

Auch für die SPD ist das Hauptproblem die Basis. Ihre Jahrzehnte als relativ einheitliche Partei der kleinen Leute und vor allem der Arbeitnehmer scheinen endgültig vorbei. Derzeit hat die Gesamtbevölkerung prozentual dreimal so viel Arbeiter wie die SPD Anhänger. Ähnlich wie die CDU leidet sie nun darunter, dass sich Interessen ihrer zwei neuen großen Mitglieder- und Wählergruppen unvereinbar widersprechen.

Da sind einmal die Agenda-Befürworter, die bereits die Mehrheit der Funktionäre und Mandatsträger stellen.Deren Zielgruppe sind die »Aufstiegsgewinner,« die durch »Bildung« (sprich: neoliberales Halbwissen), moralische Immunität und materielle Sicherheit für den skrupellosen Existenzkampf in einer immer ungleicheren Gesellschaft am besten gerüstet und motiviert sind. Entsprechend betreiben die Parteiführer seit Schröder Politik nicht mehr zur Durchsetzung von Überzeugungen, sondern von Marketingkonzepten und Werbekampagnen.

Einen solchen Betrieb halten anständige, sozial motivierte Funktionäre und aktive Mitglieder nur unnötig auf. Weshalb man sie auch schnell aufs Abstellgleis schob oder gleich ganz herausekelte. Dummerweise aber bilden die rüde Abservierten ein beträchtliches Wählerpotenzial. Schon Mitte Juli 2007 unterstützten 48 Prozent der SPD-Wähler und 30 Prozent der SPD-Anhänger die wichtigsten Forderungen der Partei Die Linke wie Mindestlohn für alle, Bundeswehrabzug aus Afghanistan sowie Rücknahme von Hartz IV und Rente mit 67, gerade mal 20 Prozent der Genossen lehnen sie ab. Soziale Gerechtigkeit ist für die meisten Mitglieder noch immer das Wichtigste. Sie wollen »nichts mehr hören von den Zwängen der Globalisierung, von kippenden Bevölkerungspyramiden, von Nullrunden in der Rentenanpassung. Sie wollen wieder echte Sozialdemokraten sein. Sozialdemokraten wie in den 70er-Jahren. Sozialdemokraten wie in der Partei Die Linke.«[25]

Deshalb macht Franz Walter der SPD für den Umgang mit der Linkspartei einen konsequenten Vorschlag: Statt sich ständig in Widersprüche und Zerreißproben zwischen neoliberalem und sozialem Anspruch zu verwickeln, solle sie sich als »moderne Agentur ressourcenstarker neuer Eliten in der modernen Wissensgesellschaft« verkaufen. »Für die Apologeten der überlieferten Wohlfahrtsstaatlichkeit und für die Kritiker des globalisierten Neokapitalismus wäre dann allein die Lafontaine-Gysi-Partei zuständig.«[26] Eine solche Partei wäre, wenn die Sozialdemokraten endlich den Mythos der »Einheit der allein sozialdemokratisch legitimierten Arbeiterbewegung« aufgäben, »eine Entlastung für einen Modernisierungskurs der ›Neuen Mitte‹. Man wäre dann nicht mehr Volkspartei. Aber darauf kommt es in einem Vielparteiensystem machtpolitisch auch nicht mehr an.«[27]

Wenn nur nicht mit der Wirtschaftskrise das gesamte neoliberale Konzept gescheitert wäre! Heute traut sich kaum noch ein SPD-Oberer, die Sozialstaatsanhänger als »ewig gestrige Weicheier« zu beschimpfen. Von daher war das Kaltstellen von Kurt Beck zumindest unglückliches Timing: Nicht dass der glücklose Pfälzer ein Sozialdemokrat im eigentlichen Sinne gewesen wäre – die gibt es ja selbst unter der sogenannten »Parteilinken« in der Führungsriege nicht mehr –, aber selbst das zaghafte Hinterfragen der Agenda 2010 war schon revolutionär, verglichen mit dem betonköpfigen Festhalten am rot-grünen Meisterwerk durch die Schröder-Nachfahren Steinmeier, Steinbrück und Müntefering. Zudem ist diese Troika schwer beschädigt, wie wir noch sehen werden: Steinmeier als »Guantanamo-Mann«, Steinbrück als »Heuschrecken-Mann« und Müntefering als »Altersarmuts-Mann«.

Nur folgerichtig ist keine Spur mehr von innerparteilicher Demokratie zu erkennen. Die einst berühmten inhaltlichen Flügelkämpfe wurden ersetzt durch die »Intrige von kleinen personalen Flechtwerken … Der Putsch von oben ist zur Methode sozialdemokratischer Oligarchien im Prozess der organisatorischen Auflösung und ideologischen Entleerung der Partei geworden. Schröder machte 2004 Müntefering zu seinem Nachfolger, Steinmeier ruft 2008 wiederum Müntefering an und nominiert ihn dann öffentlich. So regelten einst feudale Gesellschaften die Thronfolge.«[28]

Diese Konstellation ist Lichtjahre von der SPD Willy Brandts entfernt und könnte daher jene angesprochene Arbeitsteilung mit der Lafontaine-Truppe begünstigen – aber nur scheinbar: Zum einen braucht auch eine noch so biegsame Linkspartei die Zustimmung ihrer Basis, und die besteht zum nicht geringen Teil aus enttäuschten Sozialdemokraten: Wer aber verlässt schon die SPD, um sich mit ihr in einer Koalition wiederzufinden? Zum anderen lehrte bereits das Platzen der New-Economy-Blase, dass bei Millionen von großspurigen Karrieristen mit dem Job und dem Traumgehalt über Nacht auch »Eigeninitiative« und »Selbstverantwortung« verlorengehen und lauthals nach der verachteten »sozialen Hängematte« gerufen wird: Mit der zur Elite strebenden »Neuen Mitte« dürfte auch das Wählerpotenzial der SPD rapide schmelzen.

Bleibt also das, was mehr oder weniger schon immer und weit mehr als bei der Union ein Markenzeichen der SPD war: Man versucht erst gar nicht, die Wähler für irgendwelche Programme oder gar Visionen zu begeistern – Steinmeier ist nun wirklich nicht Obama –, sondern sich als kleineres Übel gegenüber CDU/CSU und Schwarz-Gelb zu verkaufen.

4. FDP: Zu früh gefreut?

Bis vor kurzem war die FDP die einzige Bundestagspartei, die dem Wähler wenn schon nicht reinen, so doch vergleichsweise wenig gepanschten Wein einschenkte. Die FDP, darauf konnte man vertrauen, steht für den neoliberalen Aberglauben an die Allheilkräfte »des Marktes«, also für das kompromisslose Hauen und Stechen der einzelnen Bürger um den Maximalprofit als Garanten für Friede, Freude, Wohlstand sowie für Privatisierung, »Eigeninitiative« und »Selbstbestimmung«. Im Stile von Versicherungsdrückern wurde selbst der größte Depp zum »mündigen Bürger« verklärt – und auch dieser Unfug ehrlicherweise gleich relativiert: »Partei der Besserverdiener« nannten sich die Liberalen vorübergehend sogar selbst. Je mehr allerdings diese Schicht zwischen den Steinreichen und den Normalbürgern zerrieben wurde, desto mehr gerierte sich die FDP wieder als »Marktpartei für alle«.

Zunächst scheinbar mit Erfolg: Selbst ein versierter Parteienforscher wie der Göttinger Politprofessor Franz Walter kommt noch im Januar 2008 zu dem Schluss: »Es sind goldene Jahre für die Liberalen … Die bürgerliche Mitte … dehnt sich aus. Der Trend zur Selbständigkeit nimmt zu. Die Deutschen sind in den letzten zwei, drei Jahrzehnten gebildeter geworden, auch toleranter, weltgewandter, kurzum: liberaler.«[29]

Da war zuerst der Traum der New Economy, als jedes knapp dem Analphabetismus entronnene Würstchen ein »Startup«-Unternehmen gründete und man Heftklammern in Aspik via Internet verkaufen wollte – und FDP wählte. Dann kam – ein wenig tiefer gehängt – die Casting-Epidemie-Marke Leistungslos reich und berühmt für den Pöbel: eine unfreiwillige Bankrotterklärung des Neoliberalismus, die sich ja auch statistisch im Nicht-Ankommen des Aufschwungs bei den Bürgern niederschlug. Aber selbst hier mag noch das FDP-Dogma gewirkt haben: Wer es nicht packt, ist selber schuld – immerhin ging Guido Westerwelle im Herbst 2000 im Big-Brother-Haus auf Stimmenfang: »Es ist meine Aufgabe als Politiker, junge, politikverdrossene Menschen zu begeistern.«[30]

Doch nun hat man den Salat in Gestalt der Weltfinanzkrise, und die »FDP ringt mit eigener Sprachlosigkeit« (Handelsblatt). Folglich ist das Problem gerade nicht, wie Walter fälschlich meint, die Besetzung der Führungsetage mit Witzfiguren: »Wo früher mal Scheel, Dahrendorf und Dehler waren, ist heute nur noch Westerwelle.«[31] Den Politiktrickser Hans-Dietrich Genscher und den Marktradikalen Otto Graf Lambsdorff vergisst er an dieser Stelle zu Recht, aber die früheren Innenminister Werner Maihofer und vor allem Gerhart Baum sind schon deshalb wichtig, weil sie lange Zeit das »verfassungsliberale« und insofern eigentliche Standbein der FDP verkörpert haben: »Polizei- und Schnüffelstaat« ist mit der FDP auch heute noch schwer zu machen.

Wer heute noch FDP wählt, tut dies zumeist freilich nicht wegen irgendwelcher bürgerrechtlicher Flausen. Der Mitgliederschwund von 86500 im Jahr 1981 auf 65000 Anfang 2008 spricht eine deutliche Sprache.

Andererseits bleibt die FDP die große Hoffnung naiver Mittelständler: Es war ja tatsächlich nicht die FDP, die – auch zu Lasten des Mittelstandes – dem Raubtierkapitalismus und den Heuschrecken alle Schleusen geöffnet hat. Ebenso wenig haben Rot-Grün und Schwarz-Rot den Mittelstand vom Wust an – teils aber notwendiger – Bürokratie entlastet. So entsteht nach zehn Jahren FDP-freier Bundesregierungen bei einigen hart arbeitenden Mittelständlern die infantile Vorstellung, die FDP könne irgendetwas für sie tun, und sei es auch nur auf Kosten der übrigen Bevölkerung.

Umfragewerte von über 15 Prozent ermutigen die FDP zu Plänen zur Teilhabe an der Macht, wobei eine schwarz-gelbe Koalition angesichts der zu erwartenden rechnerischen rot-rot-grünen Mehrheit nicht einmal die erfolgsträchtigste Option ist, wohingegen Ampel oder Jamaika sogar in diesem Bundestag schon möglich gewesen wären. Dem aber steht derzeit das eigenartige Verhältnis der FDP zu den Grünen entgegen, also die »sozialisationsbedingten Neurosen« (Franz Walter) ihres Vorsitzenden Westerwelle, der ein »fixes Feindbild« vor sich hertrage.

Für den nämlich bestünden die Grünen »immer noch aus all den verachtenswerten Menschen, die nach einem einundzwanzig Semester dauernden, unabgeschlossenen Soziologiestudium eine nach A15 bezahlte Festanstellung als Schmetterlingsbeauftragte der Stadt Freiburg anstreben«.[32] Nun wäre es aber schon seltsam, wenn ausgerechnet eine Partei, die den skrupellosen machtversessenen »rationalen« homo oeconomicus als Menschenbild predigt, sich aufgrund äußerst irrationaler Vorurteile den Weg zu den Futtertrögen der Macht selbst versperrte.

Ebenso vertrackt sieht es mit der natürlichen Zielgruppe der FDP aus: Die gutsituierten ellbogigen Karrieristen rund um die Generation Golf ließen sich schon vor der Wirtschaftskrise, die gleichzeitig ihre angeblich brillante Ökonomieausbildung als lächerliche Makulatur entlarvte, bestenfalls als Stimmvieh aktivieren, nicht aber für Parteiarbeit – da springt ja zunächst nichts heraus. Sie misstrauen allem, was nach »Gutmensch« riecht, also soziale Verpflichtungen, moralische Prinzipien und solidarische Regeln, kurzum: dem Sozialstaat. Weshalb es nicht ganz leicht ist, sie überhaupt an die Wahlurnen zu bekommen.

5. Die Linke: Pflegeleichte Populisten?

Weit entfernt von irgendwelchen Inhalten, wird von jeder Partei und möglichst jedem Politiker der Schwur verlangt, unter keinen Umständen an eine Koalition mit dem linken Gesindel auch nur zu denken – auf Bundesebene schon gar nicht. Nun ist das Ganze nicht sonderlich originell, wenn man sich nur gegen die faschistoide Hetze gegen die Studentenbewegung und die aus ihr hervorgegangene Grüne Partei erinnert: »Homosexuelle, ungewaschene, arbeitsscheue, bolschewistische Müslifresser« wurden sie beileibe nicht nur vom Boulevard betitelt. Nicht viel anders ergeht es heute der Partei Die Linke, nur dass man die eleganten »Womanizer« Lafontaine und Gysi schlecht als schwule Dreckspatzen bezeichnen kann. Nun ist die SED-Vergangenheit eines großen Teils der Partei und ihrer Mitglieder nicht etwa der Grund für die streckenweise unkontrollierte Hysterie, sondern eher ein willkommener Anlass zur Diffamierung. Gerade Lafontaine und Gysi nämlich legen bei jeder Gelegenheit mündliche Eide auf die Verfassung und das Wirtschaftssystem ab. Die »Parteidoktrin« ist der Keynesianismus, entgegen der Meinung selbst von Funktionären der Linken keineswegs eine »linke Ideologie«. Er besagt im Wesentlichen nur, der Staat solle für die fehlende private Nachfrage einspringen und durch Planung die Wirtschaft stärker bestimmen. Keynes selbst meinte, man könne seine Theorie akzeptieren, ohne Kommunist, Sozialist oder Faschist zu sein.

Wäre der Stiefnachbar von Lafontaines Urgroßvater Seeräuber gewesen, dann würde die Konkurrenz auch dies zum zentralen »Argument« erheben. Der wahre Grund für die tiefe Abneigung aber ist ebenso simpel wie offensichtlich: 40 Prozent der Bundesbürger sympathisieren mit den zentralen Punkten des Programms der Linken, und auch der Kampf gegen die Privatisierung findet zunehmend Anklang, wie der Parteieintritt von 221 der 300 Busfahrer der staatlichen Saarbahn GmbH im Sommer 2008 aus Protest gegen den geplanten Verkauf ihres Betriebes beweist.

Die außerplanmäßige Erhöhung der Renten durch die große Koalition halte er für eine Reaktion auf die Kritik von Oskar Lafontaine, schimpfte Alt-Bundespräsident Roman Herzog: »Da hat er offenbar einen wunden Punkt bei den Volksparteien getroffen.«[33]

Der »wunde Punkt« besteht darin, dass die große Mehrheit der Menschen sich absolut nicht mit dem Ende des Sozialstaats abfinden will: Immerhin brachten die siebziger Jahre vielen Bundesbürgern nicht nur materiellen Wohlstand, sondern auch ein vergleichsweise riesiges und chancengerechteres Bildungssystem sowie soziale Sicherheit in Krankheit und Alter. Um dies alles aufzugeben zugunsten eines Systems des gegenseitigen Vernichtungskampfes, bei dem am Ende wie beim Lotto eine Handvoll Millionäre und Millionen Verlierer übrigbleiben, müssten die Bürger schon bessere Argumente hören als frei erfundene »Sachzwänge der Globalisierung«. Schon der sprichwörtliche gesunde Menschenverstand sagt: Es kann nicht sein, dass trotz ständig steigender Produktivität und einer gigantischen Vergrößerung des globalen und nationalen Gesamtreichtums die Masse der Menschen immer ärmer wird.

Dies zu benennen bringt der Partei den permanenten Vorwurf des Populismus ein, aber was bedeutet er schon? Ob Pendlerpauschale, Rente ab 67, Mindestlöhne oder Hartz-Korrektur: eben noch als »populistisch« diffamiert, wird eine Idee der Linken nach der anderen klammheimlich übernommen. Als die Fraktion schon im Februar 2007 im Bundestag eine Börsenumsatzsteuer gegen Zockerei vorschlägt, schäumen die anderen Parteien: »Milchmädchenrechnung« und »Rote Socken«. Zwei Jahre später fordern die Sozialdemokraten dasselbe. »SPD kupfert Wahlkampf-Idee bei Linkspartei ab«, titelt Spiegel Online am 12. Februar 2009.

Aber selbst wenn tatsächlich vereinfacht und das Blaue vom Himmel gefordert wird: Wieso fallen immer mehr Menschen darauf herein? Warum gelingt es den anderen Parteien nunmehr seit Jahrzehnten nicht so recht, ihr neoliberales Rezept zu »erklären«, die Bürger »abzuholen« und »mitzunehmen«? Vielleicht deshalb, weil die Bürger bereits sehr gut verstanden haben und weder »abgeholt« noch »mitgenommen« werden wollen? Rot-Rot könnte schon deshalb auch bundesweit eine realistische Option für die SPD werden, weil sich Die Linke als mitregierender Juniorpartner durchaus ähnlich entwickeln könnte wie in Berlin: Mit der einzigen Vision, um jeden Preis an der Macht zu bleiben.

Es spricht tatsächlich Bände, dass die Partei in einer Regierung mit dem SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin sitzt, der einen Mindestlohn von fünf Euro vorschlägt und mit seinem Speisenplan für Arbeitslose für einen Aufschrei sorgt. Ebenfalls nicht zufällig wird der in Offenbach geborene Wirtschaftssenator Harald Wolf, vorher Trotzkist und dann Grüner, von der Hochfinanz und dem Mittelstand hochgelobt, während er sogar von Oskar Lafontaine so offen wie eben möglich kritisiert wird.

Übrigens spielt hier ähnlich wie bei den Grünen die Sozialisation eine Rolle: Viele Spitzenfunktionäre könnten in puncto Bedeutung, Wichtigkeit und nicht zuletzt Einkommen außerhalb der Politik nicht annähernd so viel erreichen. Für sie ist Regierungsbeteiligung ein Wert an sich, und für ehemalige SED-Kader darüber hinaus eine späte Genugtuung in Sachen »Ankommen in der Demokratie«.

Hinzu kommt – jenseits von Karrierismus und Eigennutz – eine tiefsitzende, romantische Hassliebe zur SPD: »Pack schlägt sich, Pack verträgt sich«: Für viele westliche »Renegaten« einschließlich Lafontaine ist die SPD eine – wenn auch derzeit von Neoliberalen okkupierte – linke Partei. Ähnliches gilt für die Ostdeutschen: Wer den DDR-Staatskapitalismus mit »gescheitertem Sozialismus« verwechselt, der hält auch knallharte Marktradikale für »irrende Sozialisten«. Allerdings erlitt die damalige PDS mit ihrer streckenweise peinlichen Umarmungstaktik 1998 bösen Schiffbruch. Als sie ankündigte, im Bundestag Schröder zum Kanzler zu wählen, kam sie mit 4,0 Prozent der Zweitstimmen erst gar nicht hinein.

6.Die Grünen:Zu jeder machtpolitischen Schandtat bereit?

Mit der lauthals hinausposaunten Option Schwarz-Grün schließt sich für die Grünen der Kreis: Von der humanistischen Friedens- und Umweltbewegung zur allseits verleumdeten, dann nur noch ungeliebten Oppositionspartei, später zum frechen und nervigen Juniorpartner in Hessen und über den staatstragenden, pflegeleichten, nahezu kritik- und prinzipienlosen Mehrheitsbeschaffer für Gerhard Schröder bis hin zum Buhler um die Gunst der traditionell »rechtesten« aller Bundestagsparteien. Damit erfüllen sie gerade archetypisch die Hauptthese des neoliberalen Mitbegründers der Neuen Politischen Ökonomie, Anthony Downs, wonach »die Parteien in der demokratischen Politik den Unternehmen in einer auf Gewinn abgestellten Wirtschaft ähnlich sind. Um ihre privaten Ziele zu erreichen, treten sie mit jenen politischen Programmen hervor, von denen sie sich den größten Gewinn an Stimmen versprechen, so wie die Unternehmer … diejenigen Waren produzieren, von denen sie sich den meisten Gewinn versprechen.«[34]

Und dies sind bei den Grünen Wahlversprechen an jene Zielgruppe der (rein formal und nur im Vergleich mit Pisa-Bürgern) »Hochgebildeten«, zu denen sich die Grünen bekanntlich selbst zählen. Wieso eigentlich? Parteichef Özdemir ist FH-Pädagoge, sein Vorgänger Reinhard Bütikofer Studienabbrecher und die frühere Parteichefin Angelika Beer (2002 bis 2004) Arzthelferin. Als Umweltminister fungierte der Sozialwirt Jürgen Trittin und als Außenminister ein Taxifahrer.

Jüngste Studien enthüllen allerdings, was sich hinter den »hochgebildeten Eliten« tatsächlich verbirgt: »›Statusmilieus‹, in denen nicht mehr Gesellschaftskritik geübt, sondern Luxuskonsum zelebriert wird.«[35] Der Modebegriff für diese Herrschaften lautet LOHAS (»Lifestyle Of Health And Sustainability«). Frei nach Oscar Wilde, »Mein Geschmack ist ganz einfach: Von allem nur das Beste«, prassen sie wie Lucullus in der Endphase, strikt abgegrenzt gegenüber den Normalbürgern, die man »Unterschichten« nennt und »klassisch oberschichtig als ordinär und vulgär ansieht.« Überhaupt sind die grünen LOHAS, wie Franz Walter sie beschreibt, »explizit elitär; man achtet darauf, ›entre nous‹ zu kommunizieren, mit anderen ›Gebildeten‹ in der gesellschaftlichen Beletage unter sich zu bleiben. Alt- und Neubürgerliche treffen sich daher zumindest im urbanen Raum auf den gleichen Ausstellungen, bei den üblichen Theaterpremieren, im besten Restaurant der Stadt.«[36]

Denen, die jeden Cent zweimal umdrehen müssen, empfiehlt man wie zum Beispiel Renate Künast, sie sollten die »Geiz-ist-geil-Mentalität« vergessen und höhere Qualität zu entsprechenden Preisen kaufen.

Dazu passt, dass sich ausgerechnet viele der ins gemachte Nest hineingeborenen Berufssöhne und -töchter den Grünen zuwenden und die längst sogar von der Union eingestandene Tatsache vehement leugnen, dass die soziale Herkunft über Bildung, Karriere und Einkommen mitentscheidet.

Kein Wunder auch, dass Grünen-Fans Mindestlöhne ablehnen, wohingegen ihr ehemals »kräftiger Impetus in der sozialen Frage« nur noch aufblitzt, »wenn es um üppige Gehaltserhöhungen im öffentlichen Dienst geht. Denn keine Partei ist so beamtenhaft geprägt wie die der Grünen«, und entsprechend groß war auch die Begeisterung zu Schröders Agenda-2010-Reformen – sie selbst betraf der Sozialabbau ja nicht. Gleiches gilt für die Bundeswehreinsätze in aller Welt.

Das aktuelle Problem der Grünen ist die Unvereinbarkeit der überholten neoliberalen mit der während der Wirtschaftskrise wiederauferstandenen humanistisch-sozialstaatlichen Ideologie. »Sie müssen sich weit spreizen … feurige Appelle an die neuen Protestkohorten senden, zugleich beruhigende Worte an die nun etablierten, konservativ gewordenen Postmaterialisten von ehedem richten.«[37] »Solche Parteien« aber, wie Franz Walter süffisant bemerkt, »sehen sich stets der Gefahr ausgesetzt, als prinzipienlos und machtversessen verschrien zu sein. Die Scharnierposition mag die machtpolitische Option der Grünen vermehren, doch zugleich kann sie dann die programmatische Schärfe mindern, die politische Sprache verdünnen, die kulturelle Eindeutigkeit von ehedem vernebeln – und der Flair von Authentizität und Alternative wäre endgültig dahin.« Die Folge sieht Walter schon 2007 voraus: »Wenn die Partei der Grünen nicht aufpasst, dann werden es nicht der Herr Bütikofer oder die Frau Roth sein, die an der Spitze einer erwartbaren Öko- oder Bürgerrechtsbewegung marschieren. Der neue Typus des voranschreitenden Weltverbesserers lauert vielmehr irgendwo zwischen Jauch und Kerner.«[38]

Andererseits bleiben die Grünen nach wie vor attraktiv für jene, die links wählen und rechts leben wollen.

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B. Die Partei hat immer recht

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin, fragte Bert Brecht, und entsprechend könnte man über die im Grundgesetz versprochenen Möglichkeiten zur Wahl der Volksvertreter frei nach Wilhelm Bendow fragen: »Ja, wo laufen sie denn hin?«

1. Ohne Parteien läuft nichts

So ähnlich wie in dem Witz Der Feldwebel rät einem Rekruten: »Kaufen Sie sich einen Panzer und machen Sie sich selbständig« verhält es sich mit dem Bürger und der Mitgestaltung der Gesellschaft: Der Weg zur parlamentarischen Einflussnahme führt bei uns nur über die Parteien. Wer also in der Politik etwas bewegen und selbst nicht zu kurz kommen will, der scheint in einer Partei gut aufgehoben. Aber selbst dort sind honorige Individualisten völlig chancenlos – auch bei exzellenter Sachkompetenz. Fähige, uneigennützige Politiker und sogar solche, die lediglich eine andere Meinung haben, werden oft aussortiert wie seinerzeit Rita Süssmuth, Norbert Blüm, Heiner Geißler von Helmut Kohl oder Rudolf Dreßler von Gerhard Schröder.[39]

Umgekehrt führt neben unserem Parteiensystem das Listenwahlrecht dazu, dass der Bürger Dilettanten in der Regierung und im Parlament gar nicht verhindern kann. Soll zum Beispiel eine CDU-Anhängerin Angela Merkels Partei deshalb nicht wählen, weil sie Wolfgang Schäuble für indiskutabel hält? Ebenso gelangen über die Listenplätze Personen in den Bundestag, die vermutlich in keinem Wahlkreis der Welt eine Chance hätten. Auch dies verstärkt natürlich das Gefühl, durch Wahlen nichts ändern zu können – man kann durch den Urnengang ja nicht einmal die von niemandem gewünschten Politiker loswerden.

Ohne Parteien läuft bei uns auch jenseits der Politik buchstäblich nichts, mit dem richtigen Parteibuch dagegen stehen einem alle Türen offen, ob nun in den nach Parteienproporz besetzten Rundfunk- und Fernsehräten oder im Mieterschutz, ob in den Gewerkschaften, im Sport oder sogar in den Amtskirchen:

Präsident des Deutschen Mieterbundes ist der frühere SPD-Bürgermeister von Willich (NRW) Lukas Siebenkotten.

Chef des DGB ist der SPD-Mann Michael Sommer, der IG Metall und der IG Chemie-Papier-Keramik