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Eine bissige Analyse der deutschen Gesellschaft – Thomas Wieczorek deckt auf, wer beim Spiel mit der Dummheit wirklich die Fäden in der Hand hält! Was hält die deutsche Gesellschaft zusammen? Wird die Kluft zwischen reich und arm, intelligent und doof wirklich immer größer, und sind wir nicht alle schon längst in einem Strudel der allgemeinen Doofheit gefangen? Ob Bildungsbürger oder Ballermann, Brauchtumspatrioten oder Multikultispießer – sind sie alle »typisch deutsch« oder einfach nur »typisch dumm«? Bestsellerautor Thomas Wieczorek beweist in seinem neuen Buch "Einigkeit und Recht und Doofheit" einmal mehr, dass er mit seinen provokanten Thesen und fundierten Recherchen brisante gesellschaftspolitische Diskussionen in Gang bringen kann. Gewohnt scharfsinnig und humorvoll beleuchtet er die aktuellen Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft und Politik. Er deckt schonungslos auf, wer beim Spiel mit der Dummheit wirklich die Fäden in der Hand hält … Ein Muss für alle, die sich für die Zukunft Deutschlands interessieren und verstehen wollen, was unsere Gesellschaft bewegt.
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Seitenzahl: 260
Thomas Wieczorek
Einigkeit und Recht und Doofheit
Warum wir längst keine Dichter und Denker mehr sind
Knaur e-books
This land is your land, this land is my land. This land is made for you and me.
Woody Guthrie, 1940
Kaum hatte Barack Obama im Jahr 2008 sein wahlkämpferisches »Yes we can« dem US-Volk zugerufen, gelangten diese Worte via Satellit selbst in die letzten Ecken der Welt – und auch zu den Deutschen. Hierzulande berührte seit John F. Kennedys »Ich bin ein Berliner« kein Satz eines Ausländers so sehr die Hirne und Herzen. Und wie bei allem in den USA Erfolgreichen folgte die deutsche Imitation auf dem Fuße.
Als aber SPD-Generalsekretär Hubertus Heil Ende 2008 das Parteitagsvolk an der Zauberformel teilhaben lassen wollte, klang er »so stürmisch und so leidenschaftlich« wie einst Herzensbrecher Heinz Rühmann – und traf auf entsprechend entgeisterte Blicke. In der Folge ernteten Kabarettisten todsichere Lacher, indem sie »Yes we can« einfach im nachgeäfften Stile der Merkel, Westerwelle, Steinmeier, Kauder oder Seehofer vortrugen.
Bleiben die Fragen: Warum haben wir keinen Obama? Warum ist, was offenbar Millionen US-Bürger aller Hautfarben und Klassen zu Tränen rührt, bei uns eine Lachnummer? Liegt es wirklich nur an unserem indiskutablen Personal? Was eint die Amerikaner, was wir nicht haben oder kennen? Vor allem aber: Was ist – oder wäre – »deutsche Identität«? Was ist »typisch deutsch«; und kann, muss, darf man es gegen »Undeutsches« und »Fremdes« abgrenzen?
Neidvoll fragt man sich: Warum gibt’s so eine(n) nicht auch bei uns? Dahinter steht die Sehnsucht nach der »Vision«: Worauf steuern die Eliten, die Politiker, »wir« zu? Dies aber führt zur Frage: Wer ist eigentlich »we – wir«?
Und dieses Problem der Abgrenzung stellt sich den Deutschen ja sogar innerhalb der Nation, vor allem zum 20. Jahrestag der Vereinigung: Seit dem Mauerfall wird »zusammengequatscht, was zusammengehört«. Aber wie groß sind die Unterschiede zwischen Ossi und Wessi wirklich, und was ist Legende, Propaganda oder Ergebnis davon? Ist Angela Merkel eine Jammerossi und Heiner Geißler ein arroganter Wessi?
Aber ist – andererseits – nicht gerade die regelmäßige Verbissenheit der Debatte darüber »typisch deutsch«?
»Die Deutschen« gibt es genauso wenig wie »die Briten« oder »die Amerikaner«. Was hat Victoria Beckham mit Sir Peter Ustinov zu tun, George W. Bush mit Michael Moore oder Heidi Klum mit Richard von Weizsäcker?
Besonders komödiantisch ist die Definition des »Durchschnittsdeutschen«. So verdienten laut Statistischem Bundesamt vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Jahre 2008 durchschnittlich 41 509 Euro brutto, also 3459 Euro im Monat.[1] Da wüsste die übergroße Mehrheit der Arbeitnehmer aber was davon.
Der Durchschnittstrick ist denkbar simpel: Angenommen, die 7,8 Milliarden Euro schwere Susanne Klatten spielt mit drei völlig mittellosen Gigolos Schafskopf. Dann besitzt im Schnitt jeder Spieler 1,95 Milliarden Euro. Und wenn einer von ihnen acht Glas Bier trinkt, die anderen aber Selters, so haben sie im Schnitt dennoch jeder zwei Bier intus. Dieser Nonsens liegt freilich nicht (nur) am mangelnden Fachwissen und gesunden Menschenverstand der Statistiker. Vielmehr sollen die sich ständig vergrößernden Einkommens- und damit Klassenunterschiede auf pseudomathematischem Wege eingeebnet werden.
Das Durchschnittsvermögen eines Deutschen liegt bei über 60 000 Euro. Mich würde brennend interessieren, wer meine fehlenden 59 000 Euro hat!
Kommentar in einem Internetforum
Es scheint also etwas dran zu sein an jenem Satz, der Winston Churchill zugeschrieben wird, nach Recherchen des Statistischen Landesamts Baden-Württemberg aber vermutlich von Joseph Goebbels stammt: »Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe.«[2]
Allen wunderschönen Erfolgszahlen zum Trotz fragt sogar der nicht gerade linksradikale Focus: »Wohlstands- oder doch eher Klassengesellschaft?«[3] Und fast zwei Drittel der Wahlberechtigten sind der Überzeugung, es gebe keine Mitte mehr, nur noch oben und unten.[4] Aber nicht nur das Arm-Reich-Gefälle spricht gegen die Betrachtung der Deutschen als uniforme Masse.
So unterteilen die Trendforschungspäpste vom Institut sinus sociovision in einer ausführlichen Studie die Gesellschaft in zehn Milieus, denen sie auch gleich genaue Prozentzahlen zuordnen:[5]
Die Abgehängten (26 Prozent)
»Opa« und »Muttchen« (15 Prozent)
Zwischen den Stühlen: die mittlere Mittelschicht (24 Prozent)
Immer fast, doch nie ganz oben: in der Mitte und nach oben (25 Prozent)
Die da oben: die Gewinner (10 Prozent)
Nicht gesondert betrachtet wird bei Sinus die Gruppe der Reichsten, nämlich jener Dividendenmilliardäre, die ihre gigantischen Einkünfte ohne eigenes Zutun ausschließlich durch – überdies meist ererbten – Kapitalbesitz erzielen. Nicht wenige gestandene Manager oder Unternehmer, die sich nicht ganz zu Unrecht zu den Leistungsträgern der Gesellschaft zählen, haben ihre Probleme mit all den inkompetenten Witwen und Sprösslingen, die in ihre Kreise drängen, ohne jemals selbst zum gesellschaftlichen Fortschritt und Wohlstand beigetragen zu haben.
So weit die Sinus-Studie. Oder wie es so schön bei den Prinzen heißt: »Das alles ist Deutschland, das alles sind wir …«
Wie schwer es ist – und wie leicht gerade stramme Patrioten sich beim Versuch blamieren können –, das »typisch Deutsche« zu bestimmen, zeigt der skurrile Einbürgerungstest, der übrigens auch gleich eine weitere, allerdings nicht nur deutsche Eigenschaft verrät: die Mischung aus völliger Unkenntnis und Großspurigkeit. So enthält der Fragebogen für Niedersachsen falsche Farben in der Landesflagge, Phantasie-Behörden und etliche Ungenauigkeiten – die Testfragen des Innenministeriums sind gar nicht richtig zu beantworten. Ganz zu schweigen davon, dass diesen Test auch ein Großteil der »Blutsdeutschen« nicht bestehen würde. Zudem vermisst nicht nur der Zentralrat der Juden eine ehrliche Thematisierung der Nazi-Verbrechen und spricht von einem »seltsamen Geschichtsverständnis«.
Dass »nationale Identität« gerade nicht eine uniforme dumpfe und fremdenfeindliche Horde bedeutet, sondern den kleinsten gemeinsamen Nenner durchaus unterschiedlicher Individuen und Schichten, wird ja gerade auch in Obamas USA deutlich, wo es den dümmlich-argwöhnischen Texas-Farmer ebenso gibt wie den weltoffenen New Yorker, den arbeitsamen Dreifachjobber ebenso wie den steinreichen Müßiggänger und Schwarz-Weiß-Rassisten auf beiden Seiten sowieso. Dies ist bei uns nicht anders; und selbstverständlich gibt es auch bei uns die unterschiedlichsten Milieus mit ihren scheinbar unvereinbaren Vorstellungen von »Leitkultur«.
Die Weltfinanzkrise vergrößert auch bei uns die Arm-Reich-Schere: Was also – wenn offenbar nicht der Wohlstand – hält die Nation zusammen? »Innere Werte?« Und wenn ja, welche?
Über alledem schwebt seit geraumer Zeit die »Wertedebatte«: Ob Nachrichtenvorleserin Eva Herman (»Heimchen am Herd«), FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher (»biologische Tatsachen«), Papst Benedikt (»Werte-Relativismus«) oder TV-Peter-Hahne (»gute alte Zeit«), Verfassungsrichter Ulrich di Fabio (»Achtung der Tradition«) oder Geschichtsprofessor Paul Nolte (»Unterschicht ohne Werte«) – selbsternannte Mahner aller Couleur beklagen wie schon 63 vor Christi der römische Senator Cicero die »tempora« und »mores«, den allgemeinen Sittenverfall.
Ungeachtet der Inflation an klugen und weniger klugen Publikationen kann kaum jemand die Frage »Was ist eigentlich typisch deutsch?« halbwegs verständlich beantworten – was auch mit der noch immer verlogen-verklemmten Art der Vergangenheitsbewältigung zu tun hat: Zwischen der anmaßenden Arroganz der »späten Geburt« und völkisch-archaischer Sippenhaftung (der Holocaust als quasi biblische Erbsünde) werden vernünftige Meinungen häufig zerrieben. Dies freilich macht die Bestimmung »deutscher Identität« nicht leichter.
Aber gehen wir es an.
Nicht zufällig gab es in Deutschland, anders als etwa in England, Frankreich oder den USA, keine bürgerliche Revolution. »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, in Gestalt der parlamentarischen Demokratien von Weimar und Bonn, waren das Ergebnis verlorener Kriege. Duckmäuser und Radfahrer sind ebenso Attribute der Deutschen wie Herdentiere, Vereinsmeier oder Denunzianten.
Im Jahre 1918 erschien Heinrich Manns bereits 1914 fertiggestellter Roman Der Untertan, in dem anhand eines Fabrikanten namens Diederich Heßling ein gewisser Typ Mensch in der damaligen deutschen Gesellschaft skizziert wird: obrigkeitshörig, feige, ohne Zivilcourage, Mitläufer, Konformist, Stammtischagitator und tyrannisches Familienoberhaupt. Heßling wird einerseits als launischer Despot dargestellt, dem die Hierarchie der Gesellschaft des wilhelminischen Kaiserreichs zur Macht verhilft, andererseits als Untertan, der von der Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen geprägt ist und unter ihm leidet.
1951 wird der Roman von Wolfgang Staudte mit Werner Peters in der Hauptrolle verfilmt. Beide, Regisseur und Hauptdarsteller, erhielten dafür den Nationalpreis der DDR. Staudtes Film wurde in der Bundesrepublik der Adenauer-Ära bezeichnenderweise erst 1956 und auch dann nur in einer um 11 Minuten gekürzten Fassung freigegeben. Erst etwa dreißig Jahre später wurde er auch ungekürzt gezeigt. 1971 schließlich produzierte der WDR den Untertan als 349 Minuten langes Hörspiel mit dem legendären Schauspieler Heinz Drache (»Edgar Wallace«, »Tatort«) als Heßling.
Nicht erst seit dem Hit »Ein ehrenwertes Haus« (1974) des gefühlten Deutschen, aber Österreichers Udo Jürgens ist klar, dass die feigen Duckmäuser und Intriganten in Deutschland keinesfalls ausgestorben sind.
Unvergessen ist der frenetische Applaus der Einwohner von Hoyerswerda für die faschistischen Banden, die im September 1991 Jagd auf Asylbewerber machten und ein Asylantenheim überfielen. Hier erschien der Übergang der Biedermänner zu den Neonazis besonders fließend.
Denn nicht nur Skinheads oder Neonazis, sondern auch viele »anständige Bürger« rotten sich gern zusammen, um über sozial schwächere Mitbürger zumindest verbal herzufallen, und sei es auch nur an den berüchtigten »Stammtischen«. Obwohl bezeichnenderweise der militante Ausländerhass vorwiegend in Regionen auftritt, deren Einwohner zum Teil noch nie einen leibhaftigen Ausländer gesehen haben, kann Xenophobie – die Angst vor allem und allen Fremden – hier keine Ausrede sein. Es handelt sich vielmehr um feigen Abschaum und die nicht weniger feigen und verachtenswerten Sympathisanten.
Ebendiese Mitmenschen aber schleimen sich bei der »Obrigkeit« ein und kuschen vor ihr: Das kann der uniformierte (!) Beamte ebenso sein wie der »Herr Papa«, der Adlige »von und zu« ebenso wie der »Herr Doktor« oder die Frau Landtagsabgeordnete.
Inwieweit dieses Duckmäusertum aus der Nazizeit, aus dem wilhelminischen Reich des 19. Jahrhunderts oder aus noch früheren Epochen von Generation zu Generation weitergereicht wurde, sei dahingestellt. Zu beobachten ist jedenfalls, dass beileibe nicht nur ältere Menschen ein ausgesprochen gestörtes Verhältnis zur Demokratie und ihren eigenen Rechten haben. So macht es für viele Untertanen keinen Unterschied, ob sie vor Gericht als Zeuge oder als Angeklagter auftreten sollen, und erst recht nicht, ob ihnen im Zivilprozess der Anwalt der Gegenseite droht oder ein ordentliches Gericht ein Urteil verkündet. Man will mit der Justiz schlicht nichts zu tun haben und ist zutiefst eingeschüchtert.
Eine logische Folge der duckmäuserischen Angst vor der Obrigkeit und den scheinbar höheren Kasten ist die Opferlamm-Mentalität, wie sie zum Beispiel Hans Fallada in seinem Meisterwerk »Kleiner Mann – was nun?« aus dem Jahre 1932 skizziert. Fallada beschreibt eindringlich und akribisch die damalige Rechtslage für das Arbeitsrecht – gemeint sind Gewerkschaften, Betriebsräte ebenso wie das Kündigungsrecht – sowie das sich innerhalb weniger Monate immer wieder ändernde Sozialrecht, vor allem die damalige Unterstützung für die Arbeitslosen. Der Roman bezieht seine brennende Aktualität aus der Tatsache, dass sich auch heute die Verlierer des Lebens – Hartz-IV-Empfänger und Obdachlose ebenso wie chronisch Kranke oder Alleinerziehende – dem Hass und dem Mobbing vieler »ehrbarer Bürger« ausgesetzt sehen. So ehrenvoll und gut gemeint es sein mag, wenn etwa Arbeitslose Kochrezepte für Hartz-IV-Empfänger zusammentragen, so läuft dies letztlich doch darauf hinaus, sich mit menschenunwürdigen Bedingungen abzufinden, statt gegen sie zu kämpfen. Und von diesen Kochrezepten bis zur Häme des damaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin, der den Hartz-IV-Empfängern einen Speiseplan für täglich 4,25 Euro vorschlug, ist es wirklich nur ein kleiner Schritt.
Und auch Schlager wie Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere von Marie Nejar und Peter Alexander von 1952 hatten natürlich weniger mit Sozialkritik zu tun als mit einem Appell an die kleinen Leute, sich mit ihrem minderen Status abzufinden.
In diesen Rahmen fallen auch die zahlreichen Reisesendungen wie das kürzlich ausgelaufene Voxtours oder Länder – Menschen – Abenteuer auf Phoenix. Diese sollen beileibe nicht in erster Linie dem Normalbürger zur Information oder Reisevorbereitung dienen, sondern vor allem den Ärmeren als Ersatz für eine – für sie unbezahlbare – Reise selbst: Während die parasitären Reichen und Schönen – nicht zu verwechseln mit den echten Leistungsträgern der Gesellschaft – mal eben zum Frühstück nach Rom und zum Shopping nach Mailand düsen, dürfen die Loser Roma und Milano wenigstens vor der Glotze bestaunen und in einigen taktlosen Berichten sogar, wie es sich die »Eliten« dort bei Champagner, Hummercocktail und Scotch mit extra für sie eingeflogenen Alaska-Eiswürfeln gutgehen lassen.
Nicht nur für die Ossis wurde so die lang ersehnte Reisefreiheit zu einem »Muster ohne Wert«: Mallorcas Ballermann 6 oder Antalya, na schön, vielleicht sogar Tunesien oder die Dominikanische Republik – aber auch hier sind die Loser weitgehend unter sich: wie früher die DDR-Bürger am ungarischen Balaton, am bulgarischen Goldstrand oder im rumänischen Mamaia.
Sogar im Urlaub werden also die Verlierer ausgegrenzt, zu denen man mittlerweile getrost auch die Mittelschicht rechnen darf. Das Problem ist aber keineswegs, dass die einen mehr verdienen als die anderen: Zum einen wird man heutzutage nur in Ausnahmefällen durch ehrliche Arbeit reich, sondern meist durch Heirat, Erbschaft oder leistungsloses Einkommen in Form von Aktien oder anderem Kapitalbesitz. Zum anderen scheinen sich die »Betrogenen« mit ihrem Los als Menschen zweiter Klasse abzufinden.
Nachts an einer roten Ampel in einer leergefegten Innenstadt. Weit und breit weder Mensch noch Auto zu sehen. Dennoch wartet der deutsche Duckmäuser geduldig, bis die Ampel Grün zeigt. Legendär ist auch die deutsche Untertanenbürokratie am Hindukusch: Die Bundeswehrtruppen in Kabul mussten sich beispielsweise im Jahre 2003 erst umständlich vom Dosenpfand befreien lassen.[6]
Aber auch bei anderen Bestimmungen weiß man nicht, ob man lachen oder sich an den Kopf fassen soll. So verlangen die Hygienevorschriften, dass Küchenräume in Betrieben glatte, leicht zu reinigende Bodenfliesen haben müssen. Zugleich fordern die Unfallverhütungsvorschriften aber in denselben Räumlichkeiten aus Sicherheitsgründen gerippte Fliesen.[7]
Wohin hirn-, kritik- und charakterlose Befolgung von Anordnungen und Befehlen führt, zeigte der Fall des in Israel wegen millionenfachen Mordes verurteilten und 1962 hingerichteten ehemaligen SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann, der als Leiter der für die Organisation der Vertreibung und Deportation der Juden zuständigen Abteilung des Reichssicherheitshauptamtes zentral mitverantwortlich war für die Ermordung von schätzungsweise sechs Millionen Menschen. Während des gesamten Prozesses verteidigte er sich immer wieder damit, er habe nur auf Befehle hin nach dem sogenannten Führerprinzip gehandelt und sich somit nicht im juristischen Sinne schuldig gemacht. Auch sei er nie direkt an der Ermordung oder Deportation von Menschen beteiligt gewesen, sondern habe lediglich als »Rädchen im System« Befehle weitergegeben.
Ganz ähnlich den Allesbefolgern ticken die Opportunisten.Die ungekrönte Königin des Opportunismus ist zweifellos Angela Merkel. Nach dem Examen 1978 (Promotion 1986) arbeitet sie bis 1990 am Institut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften Berlin und wird Funktionärin für Agitation und Propaganda in der FDJ-Leitung. Als die Mauer fällt, besucht sie gerade die Sauna, und gleich nach der Volkskammerwahl im Frühjahr 1990 wird sie stellvertretende Regierungssprecherin der CDU-Regierung de Maizière.[8] Ähnliches gilt für die Grünen, die quasi über Nacht von der Antikriegs- zur Kriegspartei mutierten.
Noch drastischer und umfassender zeigte sich der Opportunismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Millionen Menschen, die eben noch brav und regimetreu den Hitlergruß praktizierten, wurden quasi von einem Tag auf den anderen im Westen zu vorbildlichen Demokraten, im Osten zu überzeugten Sozialisten. Hätten nicht die Alliierten, sondern die Inder Deutschland befreit, wären sie mit Sicherheit strenggläubige Hindus geworden. Opportunisten, die ihre »Meinung« nach dem eigenen Vorteil ausrichten, findet man überall:
Angestellte, die ihrem Chef weit über die Peinlichkeitsgrenze hinweg Honig ums Maul schmieren, aber gleich nach dessen Entlassung über ihn herziehen und seinem Nachfolger in den Allerwertesten kriechen.
»Politisch Aktive«, die in Bremen SPD-Mitglied waren und nach ihrem Umzug nach Bayern zur CSU wechseln.
»Linke« Studenten, die lauthals die »proletarische Weltrevolution« predigen, aber gleich nach dem Examen und Antreten des ersten Jobs ihre Marx-Engels-Bände im Keller oder auf dem Müll verschwinden lassen und sie durch den Großen Brockhaus und Halbbildungsliteratur à la Guido Knopp ersetzen.
Aufsteigerfiguren, die wegen des Geldes und der Karriere von ehrlichen, aber schlechter bezahlten und scheinbar weniger karriereträchtigen Jobs in solche wechseln, die sie im Grunde ihres Herzens als zutiefst unmoralisch betrachten.
Wie hoch der Prozentsatz der Opportunisten unter den Deutschen ist, wurde nie erforscht, und man will es vielleicht auch gar nicht wissen. Fest steht: Das eigennützige »Einem-nach-dem-Munde-Reden« reicht vom verlogenen Lob für die verhasste, aber reiche Erbtante über die Anpassung an irgendeine abwegige Cliquen- oder Stammtischmeinung, um »dazuzugehören«, bis hin zum Verkauf des geliebten Motorrads der überängstlichen Schwiegermutter zuliebe. Letzteres Beispiel zeigt aber auch, dass die Grenzen zwischen Opportunismus und Rücksichtnahme auf Gefühle anderer gerade in der Privatsphäre fließend sind.
Und die Alternative zum Opportunismus ist keineswegs das »Seinen-Kopf-Durchsetzen« um jeden Preis. Wer zum Beispiel am Sonntag auf den Tatort verzichtet, weil die Partnerin sich schon die ganze Woche auf die aus eigener Sicht unerträglich schmalzige Pilcher-Schmonzette freut, ist genauso wenig ein Opportunist wie jemand, der das eigentlich ungenießbare Essen der Gastgeberin lobt, weil er weiß, dass sie sich deswegen einen halben Tag in der Küche abgemüht hat.
Die Faustregel lautet, dass Opportunismus stets mit beträchtlichem und/oder längerfristigem eigenem Vorteil verbunden ist – oder dem Vermeiden von Konfrontation in wichtigen Fragen. Wenn zum Beispiel zwei Nachbarn über »die Ausländer« herziehen, so ist es opportunistisch, schweigend vorbeizugehen – und geradezu indiskutabel, ihnen um des verlogenen »lieben Hausfriedens willen« auch noch recht zu geben, denn das wäre eine besonders abstoßende Variante des Opportunismus. Aber wie gesagt: Mit dem aufrechten Gang haben nicht wenige unserer lieben Mitbürger so ihre Probleme.
Duckmäuserische Herdentiere achten peinlich genau darauf, dass sich niemand durch mutiges Auftreten, zu dem sie selbst zu feige sind, individuelle Vorteile verschafft. Wenn zum Beispiel in einer kriecherischen Belegschaft einer dem Chef zu widersprechen wagt und der dies als erfrischende Abwechslung empfindet und entsprechend honoriert, dann kochen die Duckmäuser vor Wut. Schließlich hatte man ihnen ja schon als Kinder das elfte Gebot Du sollst nicht aus der Reihe tanzen eingebleut und sie gewarnt: »Glaub bloß nicht, du bist was Besonderes.«
Herdenmenschen haben den Vorteil, sich stets in der Masse verstecken zu können. Selbst die Nazi-Generation redete sich damit heraus, Millionen andere hätten ja auch den Führer gewählt, ihm zugejubelt, von Auschwitz nichts gewusst, seien also auch nicht besser gewesen. Ein ähnliches Verhalten können wir bei Rauchern und Trinkern beobachten. Ein Kettenqualmer fühlt sich unter Nichtrauchern ähnlich unwohl wie ein Säufer unter Antialkoholikern. »Gemeinsam sind wir stark« lautet auch hier die Devise: Eigener Schwachsinn wird umso erträglicher, je mehr Leute ihn ebenfalls betreiben.
Dies wird kaum irgendwo deutlicher als bei der Mode oder dem Trend: Behaupten beispielsweise gewisse Gossenmedien ganz willkürlich Man trägt wieder Hut oder Immer mehr Deutsche bestellen sich Fischers Fritzens frischen Fisch im Internet, so bleibt dies nicht bei jedem ohne Wirkung. Ebenso erleben viele Eltern, dass ihre Sprösslinge zwecks sozialer Akzeptanz gewisse Markenklamotten einfordern, deren astronomischer Preis in der Regel zu zehn Prozent auf die Qualität, zu neunzig Prozent aber auf das Label zurückzuführen ist.
Dass Mode also meist nicht das ist, als was sie ursprünglich entstand – Menschen wollen durch ihre individuelle Kleidung auf sich aufmerksam machen –, erkannte bereits im 18. Jahrhundert der Philosoph Montesquieu: »Jeder nimmt die äußeren Merkmale der von ihm aus nächsthöheren Stellung an.«[9] Dies wiederum bewirkt aber letztlich das Gegenteil: Die Leute wollen durch ihr Äußeres die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Herde demonstrieren. Ob nun Banker oder Punker, Intellektuelle oder Disco-Freaks, Verkäufer oder Nachwuchspolitiker: In der Horde fühlt man sich wohl, in der Horde kann man sich verstecken. In der Horde bekommt man meist recht. Ein solches Herdenverhalten jedoch führt zu dem Phänomen, dass sogar die vermeintlichen Verweigerer des Gruppenzwangs in der »Nonkonformisten-Uniform« (Reinhard Mey, aus dem Lied Annabelle) herumlaufen.
Allerdings ziehen Duckmäuser nicht immer und überall den Schwanz ein, manchmal zeigen sie auch bewundernswerte Zivilcourage, etwa wenn sie den Kindern oder sogar der Ehefrau mutig eine langen, als Autofahrer an der Kreuzung einem die Vorfahrt nehmen oder auf der Autobahn den Vordermann durch Lichthupe und zentimeterdichtes Auffahren zum Spurwechsel nötigen. Idole dieser Verkehrsrowdys sind vermutlich die Mercedes-Testfahrer.
Im Juli 2003 fuhr ein Versuchsingenieur (35) von DaimlerChrysler – Spitzname Turbo-Rolf – auf der A5 mit seinem fast 500PS starken Mercedes so dicht auf den Kleinwagen einer 21-jährigen Frau auf, dass sie das Steuer verriss und gegen einen Baum prallte. Die Frau und ihre zweijährige Tochter waren sofort tot. Das ohnehin lächerlich milde Urteil für faktischen Mord (Tötung aus niederen Beweggründen) von eineinhalb Jahren ohne Bewährung machte das Landgericht Karlsruhe mit der Abmilderung in ein Jahr auf Bewährung endgültig zum Spott auf das Rechtsempfinden ehrlicher Bürger. Womöglich angespornt durch die Annahme, dass Mercedes-Todesfahrer vor deutschen Gerichten eine Art »patriotische Immunität« genießen, rutschte ein weiterer Mercedes-Autotester (33) im Februar 2005 bei einer Fahrt von Stuttgart ins nordschwedische Testgelände Arjeplog in einer Kurve auf die linke Straßenseite und erfasste eine 44-jährige Mutter zweier Kinder, die sofort tot war. Dass Kollegen des Fahrers nach dem Unfall aus dem Auto Testgeräte ausbauten, noch ehe die Polizei zur Stelle war, hatte in Schweden heftige Kritik ausgelöst. Aber auch die Skandinavier zeigten sich nachsichtig. Ein schwedisches Gericht verurteilte den Todesfahrer zu umgerechnet rund 2450 Euro Geldbuße sowie zwei Jahren auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung. Natürlich akzeptierte der Raser das Urteil wie einen Lottogewinn und zahlte unverzüglich die Geldbuße, wodurch ihm auch noch die Gerichtsverhandlung erspart blieb.[10]
Nun fährt natürlich nicht jeder Duckmäuser kaltblütig Mütter tot. Andere toben sich beim Drängeln an der Bushaltestelle ebenso aus wie beim »mutigen« Beschimpfen überforderter Supermarktkassiererinnen und verliebter Pärchen, die es wagen, sich in aller Öffentlichkeit zu küssen. Würden sich dann allerdings die beiden Turteltäubchen als Sohn des Firmenchefs und Tochter des Abteilungsleiters entpuppen, dann bräuchten diese mutigen Duckmäuser wahrscheinlich dringend die Hilfe eines Notarztes oder Psychiaters, vielleicht sogar eines Arbeitsvermittlers.
Völkerkundler und Soziologen unterscheiden zwischen Tratsch und Klatsch. Während der Tratsch gedanken- und ziellos ist und meist nur auf der Wichtigtuerei des Einzelnen beruht, ist der Klatsch tendenziell bösartig, gehässig und verunglimpfend.[11]
Dem professionellen Tratscher zum Beispiel muss man nur etwas »im Vertrauen« erzählen, damit es zuverlässiger und schneller verbreitet wird als durch ein Inserat in der Boulevardpresse.
Mit dem Thema Klatsch, also mit den Formen seiner Verbreitung und seiner sozialen Funktion, dagegen befassen sich besonders Sozialpsychologen. Vor allem im Umkreis der britischen Anthropologen-Denkwerkstatt namens Manchester School hat deren Begründer Max Gluckman den Klatsch gründlich analysiert.[12]
Demnach bilden der Klatsch an sich und die Furcht vor Klatsch über sich selbst die Grundlage für soziale Kontrolle innerhalb einer Gemeinschaft. Werden dann auch noch vermeintliche Normen und verlogene Wertvorstellungen einer Gesellschaft verletzt, begünstigt dies den Klatsch – wenn etwa die Paparazzi-Journaille behauptet, die Witwe habe am Grab ihres Mannes nicht pflichtgemäß geflennt und schon zwei Monate nach dem Tod ihres Gatten einen Neuen, die Sängerin habe vor ihrem Auftritt zwei Flaschen Scotch geleert oder der »Pinkelprinz« (Bild) habe öffentlich seine Blase entleert. Und der geistig-moralische Bodensatz der Gesellschaft, der es in diesem Leben zu nichts gebracht hat und auch in jeder anderen Gesellschaft zu nichts bringen würde, nimmt dies begierig auf und zerreißt sich das Maul: »Wie kann man nur!« Eine Generation früher hieß es noch unverblümt: »Bei Adolf hätte es das nicht gegeben!«
Weil der Klatsch auch frei erfundene und falsche Gerüchte schaffen und weitergeben kann, eignet er sich vortrefflich zur Intrige, also zum Schüren von Feindseligkeiten und Rivalitäten, ohne dass das Klatschmaul mit dem Zielobjekt selbst konfrontiert ist. In fast jedem Betrieb wird geklatscht: »Die Müller ist ja nur befördert worden, weil sie mit dem Chef in die Kiste steigt«, »Der Schulze soll die Venedig-Reisen mit seiner Frau als Spesen abrechnen« und Ähnliches mehr.
Da Klatsch stets hinter dem Rücken des Betroffenen stattfindet, tritt das intrigante Klatschmaul dem Opfer also nie direkt gegenüber und muss im Normalfall auch nicht befürchten, ihm Rede und Antwort stehen zu müssen. Es ist, als werfe man Schneebälle oder Steine aus der vierten Reihe einer Meute ohne Angst, erwischt zu werden. Zudem hat gerade der tumbe, feige Untertan die Illusion, zumindest für einen Moment auf Augenhöhe mit den Reichen und Mächtigen, manchmal sogar in Gestalt simpler Vorgesetzter, zu sein.
Weil es sich aber beim Klatsch um die natürliche Ausdrucksform der rückgratlosen Duckmäuser handelt, ist die natürliche Ergänzung zur Verunglimpfung die hündische Ergebenheit. Man denke nur an jene bemitleidenswerte Minderheit, die an Königs- und Fürstenhochzeiten Anteil nimmt, als wäre es ihre eigene Verwandtschaft. Keinen Deut besser, wenn nicht sogar Propagandisten dieser devoten Mentalität, sind allerdings Hofberichterstatter wie Norbert Lehmann von ZDFroyal: »Pracht, Glanz und Gloria, eine Szenerie und Dramaturgie, die sich über Jahrhunderte kaum verändert hat – das hat was! Und: Bei allen drei Hochzeiten ehelichen die Prinzen eine Bürgerliche – ich bin gespannt, wie sich das in der Anmutung und Atmosphäre mischt, das Blaublütige und das Bürgerliche. Reporterherz, was willst du mehr?!«[13] Offenbar nichts, denn: »Es waren royale Geschichten wie aus dem Märchenbuch … Europas große Königshäuser kommen dem Volk näher und werden dadurch populärer. … Die Monarchien leben nicht mehr allein vom Glanz vergangener Jahrhunderte. Sie glänzen in der Gegenwart – mit sympathischen, weltoffenen Königsfamilien. Gerade die jungen Menschen feiern die Hochzeiten ihrer Prinzen und Prinzessinnen – royale Popstars des 21. Jahrhunderts!«[14]
Da sind übrigens unsere Vorfahren nicht anders: Studien belegen, dass auch Menschenaffen eine große Neugier für die intimsten Lebensumstände ihrer Leittiere entwickeln.
Am Beispiel Norbert Lehmann zeigt sich auch dieser innere Zusammenhang zwischen demütiger Lobhudelei gegenüber den Reichen und Schönen und hemmungslosem Herumtrampeln auf den sozial Schwächeren.
Derselbe Norbert Lehmann ist nämlich Redaktionsleiter der Sendung ZDF.reporter, deren Praktiken bei der Verunglimpfung der »Unterschicht« im April 2006 auch Spiegel Online ans Tageslicht brachte: »Fernsehteam zahlte prügelnden Jugendlichen 200 Euro.« Wie Lehmann schließlich zugeben musste, hatten minderjährige Schüler diese »Aufwandsentschädigung« für wilde Schlägereien erhalten, die in der Sendung am 3. April 2006 als »zufällig eingefangen« ausgegeben wurden und die Verwahrlosung Jugendlicher in Hamburgs Stadtteil Mümmelmannsberg »dokumentieren« sollten. Ein 15-Jähriger gestand: »Die haben uns richtig gekauft. Erst haben sie gesagt, sie wollten viel Positives über den Stadtteil sagen, dann wollten sie Action sehen. Wir sollten so tun, als würden wir uns prügeln und Drogen kaufen.«[15]
Damit erweist sich Norbert Lehmann als personifizierte Verbindung von Buckeln gegenüber der Oberschicht und Treten auf die Unterschicht.
Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.
Hoffmann von Fallersleben
Ebenso wie die Motive der Klatschtante sind auch die des Denunzianten zweigeteilt. Zum einen ist es Wichtigtuerei und devote Handlangerei gegenüber der »Obrigkeit«, zum anderen pure Gehässigkeit.
Der klassische Denunziant hieß im Dritten Reich »Blockwart«; in der DDR »IM«; in der Schule nennt man ihn »Petze«: Dabei ist es ein verhängnisvoller Irrtum, diesen Subjekten irgendeine Art von aufrechtem Pflichtbewusstsein zuzugestehen. Der typische Denunziant ist entweder ein karrierebewusster Schleimer oder ein menschlich-moralischer und womöglich auch beruflicher Versager – was in diesem Fall nichts mit Hartz IV zu tun hat. Dieser Denunziant selbst kriegt nichts auf die Reihe und macht deswegen andere schlecht – als ob sein eigenes verpfuschtes Leben dadurch besser würde.
Legendär ist in diesem Zusammenhang die Menschenjägersendung »Aktenzeichen XY … ungelöst«, in der der Mob zur Denunziation möglicher Verdächtiger für irgendwelche Verbrechen animiert wurde. Und der Pöbel erfüllte die Erwartungen. Wer einen im Treppenhaus nicht freundlich genug grüßte oder die Musik ein wenig zu laut gedreht hatte, wurde schon mal als gesuchter Serienkiller angezeigt, und wer häufig wechselnde Männerbekanntschaften hatte, konnte mit etwas Pech in »XY« als gesuchte Juwelenräuberin landen. Bezeichnend ist übrigens die Vita von »Ganoven-Ede« Eduard Zimmermann, der die Fernsehhetzjagd von 1967 bis 1997 moderierte. Laut verschiedenen Quellen schlug er sich nach dem Krieg zunächst in Hamburg als Zeltarbeiter im Zirkus Hagenbeck und Garderobier von Willy Fritsch, später als Dieb und Schwarzmarkthändler durch und verbüßte in diesem Zusammenhang auch eine Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel.
Nun mag das seinerzeit vom ZDF entfachte und jetzt durch den Ex-Eiskunstläufer Rudi Cerne im XY-Aufguss neu aufgelegte Denunziationsfieber in Einzelfällen durchaus zur Aufklärung von Verbrechen geführt haben. Der wesentliche Aspekt aber war und ist das Wecken niederster Instinkte, nämlich ungeliebten oder verhassten Mitmenschen eins auszuwischen.
Natürlich sind die Denunzianten nur eine Minderheit. Sie wirken aber wie ein Geschwür am Allerwertesten des deutschen Volkes. Und wie das mit Geschwüren so ist: Wenn man sie nicht rechtzeitig entfernt, infizieren sie womöglich den ganzen Körper. Die Kehrseite ist skurrilerweise, dass dieselben Anschwärzer wegschauen, wenn etwa wie im erwähnten Hoyerswerda Neonazis auf Ausländer, Obdachlose oder Behinderte losgehen oder Eltern ihre Kinder misshandeln. Hier mutieren dieselben »ehrenwerten Bürger«, die gerade noch einen Arbeitslosen wegen Schwarzarbeit auf dem Wochenmarkt oder einen Autofahrer wegen Falschparkens angeschwärzt haben, zu Duckmäusern, die sich »nicht einmischen« und »da raushalten« wollen.