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Augen zu, wenn bei ehrgeizigen Großprojekten Milliarden versenkt werden. Hand auf, wenn Wirtschaftsbosse sich Vorteile verschaffen wollen. Wird Deutschland von völlig abgehobenen Falschspielern regiert? Parteienforscher Thomas Wieczorek wirft einen kritischen Blick ins Parlament und macht den Politiker-Check. Die Ergebnisse sind erschreckend. Kompetenter Weitblick und Integrität? Fehlanzeige. Stattdessen Arroganz, Verantwortungslosigkeit und blanker Egoismus. Das Wohl des Volkes bleibt auf der Strecke. Wieczorek deckt die eklatanten Missstände auf.
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Seitenzahl: 321
Thomas Wieczorek
Die Volksverblöder
Wie Poltiker uns belügen und betrügen
Knaur e-books
This land is your land, this land is my land – this land is made for you and me.
Heimliche US-Nationalhymne, von Woody Guthrie
Die Sängerlegende Bruce Springsteen fügte in seiner Interpretation hinzu: Ich sah aber auch bitterarme Leute, die sich fragen: Ist dieses Land auch für uns gemacht?
Auf Deutsch: WIR sind das Volk. Aber: Sind wir das noch?
Die Welt wird von ganz anderen Persönlichkeiten regiert, als diejenigen glauben, die nicht hinter die Kulissen blicken!
Benjamin Disraeli, britischer Premierminister 1868 und 1874 bis 1880[1]
Auf die Frage, was sein Sohn Roland denn gerade so treibe, pflegte Vater Karl-Heinz Koch stets zu antworten: »Der studiert auf Bundeskanzler.«[2] Damit traf Papa den Nagel auf den Kopf, und zwar nicht nur für den späteren hessischen Schwarzgeld-Ministerpräsidenten, sondern für einen Großteil der politischen Klasse insgesamt. Gerade unter den jüngeren Politikern denkt kaum einer auch nur im Traum daran, einen ehrlichen Beruf zu ergreifen. Und die Mär vom selbstlosen, um das Gemeinwohl besorgten Staatsmann ist spätestens seit dem Mega-Reibach des Peer Steinbrück nur noch eine Lachnummer. Aber das Volk ist nicht ganz so blöde, wie es sich die politische Klasse erhofft:
»Politiker sind so unbeliebt wie nie zuvor«, ergab eine Untersuchung des Marktforschungsunternehmens GfK. Das Vertrauen der Deutschen in ihre Politiker ist auf einen historischen Tiefpunkt gesunken. In einer Umfrage landen Politiker abgeschlagen auf dem letzten Platz. Nur noch 9 Prozent vertrauen ihnen: Im Vorjahr waren es 14 Prozent. Manager, Werbefachleute und Journalisten schneiden ebenfalls schlecht ab.[3] Unsere Volksvertreter als arbeitsscheues, geld- und ruhmgeiles Gesocks, das zur Not sogar Doktorarbeiten fälscht?
Politik: Eine Hand wäscht die andere, und wenn’s mit Schmierseife ist.
Ekkehard Fritsch
Rund 45 Millionen Deutsche sind zwischen 25 und 64 Jahre alt,[4] also im regierungsfähigen Alter. Ließen sich unter dieser ungeheuren Masse keine 50 Leute finden, die es in Sachen Intelligenz locker mit unserer Bundesregierung aufnehmen können und die vor allem integer sind? Menschen also, um die sich nicht permanent Gerüchte von Korruption und Plagiat, fachlicher Überforderung und Verlogenheit ranken?
Sollten wir tatsächlich keine Besseren haben als die Hanseln in der Regierung, so wäre das die größtmögliche Blamage und Bankrotterklärung unseres Volkes.
»Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen«, hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt im Wahlkampf 1980 gelästert.[5] Offenbar haben sich viele (angehende) Politiker seine Worte zu Herzen genommen, denn tatsächlich hatte das Land selten eine derart allumfassende Perspektivlosigkeit wie heute. Schon allein das Grundgesetz mit seinen »ewigen Werten« wie Menschenwürde und Streben nach Glück wirkt angesichts der Wirklichkeit und der Aussagen der meisten Politiker wie der Wunschkalender naiver Zwölfjähriger.
Längst geht es nicht mehr um Ideen oder Pläne für eine bessere Welt, sondern nur um die Verhinderung des Schlimmsten. Arbeitnehmer denken nicht einmal mehr an Verkürzung der Arbeitszeit oder höhere Reallöhne; der bloße Arbeitsplatz gilt als Privileg. Senioren sind schon zufrieden, wenn sie der Altersarmut entgehen, Patienten, wenn sie im Krankenhaus aus Kostengründen nicht draufgehen, und Jungakademiker, wenn sie ein unbezahltes Praktikum erhaschen. Auf der anderen Seite verdoppelt sich das Vermögen der Steinreichen – nur 10 Prozent der hundert reichsten Deutschen haben ihr Vermögen nicht erheiratet oder ererbt, sondern durch ehrliche Arbeit erworben. Sogar dann, wenn sie für zehn Jahre im Koma liegen, werden sie reicher und reicher: Fast scheint es, als habe sich die Evolution umgekehrt, und wir würden in einigen tausend Jahren wieder auf den Bäumen leben – angesichts unseres Systems womöglich noch früher.
Und selbst für den gutwilligsten Demokraten führt die Suche nach den Ursachen der Katastrophe und den Schuldigen zur Wirtschaft. Längst lautet die Frage nicht mehr, ob, sondern wie lange unsere Marktwirtschaft und ihr System der parlamentarischen Demokratie noch überleben.
Schwarz-Gelb, Rot-Grün, Linkspartei und jetzt auch noch die Piraten: Wenn das grundgesetzlich garantierte Recht der Bürger auf Stimmabgabe für die Partei ihrer Wahl zur »Unregierbarkeit« führt, dann passen Grundgesetz und unsere parlamentarische Demokratie offenbar nicht zusammen. Und nicht wenige aus dem Volk – damals der Dichter und Denker, heute der Duckmäuser und Denunzianten – wünschen sich einen starken Mann. 1933 lässt grüßen.
Dabei kann die politische Klasse nicht sagen, man habe sie nicht frühzeitig gewarnt. Schon im Juli 2008 meldeten sich zwei der brillantesten politischen Vordenker zu Wort.
So beschrieb Ex-Richter Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung »Das letzte Gefecht der Volksparteien«,[6] und der Göttinger Politikprofessor Franz Walter analysierte in Spiegel Online die Folgen, »Wenn Volksparteien zur Allerweltspartei werden«.[7] Denn die Logik der Parteien entspricht exakt dem neoliberalen Credo. Die Volksparteien haben längst keine Überzeugungen mehr, um andere dafür zu gewinnen, sondern sie suchen nach Marktlücken für Wählerfang.
Politik: die Führung öffentlicher Angelegenheiten zu privatem Vorteil, ein Streit der Interessen, der sich als Wettstreit der Prinzipien ausgibt.
Ambrose Bierce
»Die alten Bindungskräfte dieser Parteien haben stark nachgelassen, sie sind den Menschen nicht mehr, wie früher, eine politische Heimat, sondern eine Art Hotel: die Leute kommen und gehen – und bleiben immer öfter ganz weg. Sie finden dort nicht mehr, was sie jahrzehntelang gefunden haben: Grundorientierung. Das liegt nicht nur, aber auch an diesen Parteien.«[8]
Oder mit anderen Worten: »Gefordert und versprochen wird, was die meisten Stimmen verspricht: Nur keinen vor den Kopf stoßen: Immer stärker biedern sich die großen Parteien der sogenannten Mitte an und verzichten auf klare Wertvorstellungen. Die Beliebigkeit löst Loyalitäten und Machtgefüge auf, Populisten wittern ihre Chance. Ist die bürgerliche Industriegesellschaft dem Untergang geweiht?«[9]
Prantl bringt dies unmittelbar mit der sozialen Gerechtigkeit in Verbindung:
»… spektakulär ist die Bedeutung dieser Wahlen: Es handelt sich für SPD und CDU, für die ehemals großen Volksparteien, um das letzte Gefecht in dieser Rolle. Beide Parteien waren Volksparteien, und sie sind es immer weniger … Wie viel Volk braucht eine Volkspartei? Wenn 73 Prozent der deutschen Wahlbevölkerung die Verhältnisse in Deutschland als ungerecht betrachten und zugleich eine große Mehrheit glaubt, dass es ihr in zehn Jahren nicht besser, sondern schlechter gehen wird, dann ist das eine gewaltige Misstrauenskundgebung gegen die Volksparteien.«
Und dieses Misstrauen ist statistisch belegt: »Die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung geben eine Vorahnung von den Spaltungslinien der Gesellschaft: die Ungleichheit verschärft sich; die beispiellose Zunahme an Gleichheit, die Deutschland wie alle westlichen Länder im interkulturellen Vergleich seit dem 19. Jahrhundert erlebt hat, ist gestoppt; die soziale Dynamik der fünfziger Jahre, als in der Nachkriegsgesellschaft Millionen Menschen bei null anfangen mussten, hat sich längst erschöpft; die Bildungsoffensive der siebziger Jahre, als die Kinder kleiner Handwerker und strebsamer Facharbeiter zu Hunderttausenden auf der Strickleiter, die ihnen das BAföG geknüpft hatte, nach oben kletterten, gibt es nicht mehr.«
Und weiter: »Das Projekt sozialer Aufstieg ist beendet. Chancen für alle, Wohlstand für alle: Es waren dies die strahlenden Großunternehmungen der beiden Volksparteien. Neue Großprojekte der Befriedung, der Integration und der politischen Leidenschaft haben sie bisher nicht bieten können; die Desintegration nach Hartz IV hält an … Die politische Zukunft der bisherigen Großparteien wird … davon abhängen, ob ihnen ein glaubwürdiger Kurs gelingt, der Anschluss an die gesellschaftspolitischen Grundstimmungen findet.«[10]
Aber wie soll das gehen – vor allem bei diesem Personal? Wie kann es sein, dass im Jahr 2012 der 93-jährige Ex-Kanzler Schmidt als der beliebteste deutsche Politiker galt, nur knapp gefolgt vom 92-jährigen Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker?
Unabhängig von der allgemeinen Zweifelhaftigkeit von Beliebtheitsumfragen: Allein die Frage nach einem Fanclub für die Merkels, Pofallas und Seehofers, Gabriels, Steinbrücks und Nahles, Roths, Trittins und Kippings würde bei der Bevölkerung Hohngelächter auslösen.
Dabei wäre es zu einfach, unsere Politiker pauschal als inkompetente Stümper einzuschätzen. Einige sind vielleicht gar nicht so dumm und unfähig.
Der Politik ist eine bestimmte Form der Lüge fast zwangsläufig zugeordnet: das Ausgeben des für eine Partei Nützlichen als das Gerechte.
Carl Friedrich von Weizsäcker
Warum wohl wurde die 2004 von Deutschland unterzeichnete UN-Konvention, die Korruption umfassend und nicht nur beim Abstimmen unter Strafe stellt, vom Bundestag noch immer nicht umgesetzt?
Warum wohl gibt es bis heute kein Gesetz zur »Straftat Geldverbrennung« (Heribert Prantl), so dass die Verantwortlichen und Gewinner der Finanzkrise sich auf Kosten des Steuerzahlers weiterhin einen vergoldeten Lenz machen können? Die meisten Bankster und Börsenbetrüger verzeichnen teilweise nicht einmal geringste Abstriche, sondern sogar einen Zuwachs ihrer irrwitzigen Einkünfte. Auch hier gilt: Bankraub war gestern, heute geht es um Investmentbanking und Spekulation.
Und die Politik verhindert dies nicht, sondern unterstützt es. Warum wohl? Aber was erwarten wir: dass sich unsere Volksvertreter einen Zettel »käuflich« an die Stirn heften?
Dabei sind diese Figuren selbst nur Produkte des Systems der freien Marktwirtschaft. Und dieses System erlebt seit Beginn der Finanzkrise einen unaufhaltbaren Abstieg, einen Tod auf Raten. »Nach langer schwerer Krankheit verstorben«, wird es irgendwann heißen.
Und das zu Recht: Eben noch wurden staatlicher Einfluss und soziale Marktwirtschaft als »DDR ohne Mauer« verhöhnt, kurz darauf erpressen dieselben Marktradikalen insgesamt billionenschwere Hilfspakete von ebendiesem verhassten Staat.
Der Philosoph Robert Misik schreibt dazu: »Der Neoliberalismus hat der Welt das größte globale Desaster seit Hitler und Stalin beschert. Tolle Bilanz.«[11]
Tatsächlich hat derselbe Staat, der weder dem Nachwuchs ein Minimum an Bildung zu sichern noch den Armen ein menschenwürdiges Existenzminimum zu garantieren beabsichtigt, Abermilliarden für die Zocker und Bankster übrig. »Selbstheilungskräfte des Marktes« sehen anders aus. Auch Altkanzler Helmut Schmidt konstatierte »eine unerhörte Fahrlässigkeit der politischen Klasse insgesamt, die sich leichtfertig auf die Illusion einer selbsttätigen Heilungskraft der Finanzmärkte verlassen hat, statt rechtzeitig einzugreifen«.[12]
Eigentlich soll die Wirtschaft ja den Menschen dienen, aber als zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht am 11. September 2012 den Euro-Rettungsschirm ESM genehmigte,[13] da sprach niemand über die Bedeutung für Europas Bevölkerung, stattdessen fast jeder über das »Vertrauen der Märkte«:
»Die Börsen feiern das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zugunsten des Euro-Rettungsschirms ESM. Christian von Engelbrechten, Fondsmanager des Fidelity Germany Fund, glaubt, dass das Vertrauen der Märkte und Unternehmen dadurch nachhaltig gestärkt wird.«[14]
Heribert Prantl schreibt dazu in der Süddeutschen Zeitung: »Die Euro-Rettung geschieht nicht in Solidarität mit den Nicht-Betuchten. Sie ist eine ver-rückte Rettung. Mit der Rettungssemantik wird suggeriert, es ginge um die Menschen. Gerettet werden aber Schuldverhältnisse, Finanzbeziehungen, Machtgefüge, Wirtschaftssysteme; sie sollen überleben. Ob und wie Menschen dabei überleben, ist sekundär.«[15]
Zwangsläufig springen dabei auch die letzten Reste des demokratisch-parlamentarischen Systems über die Klinge. So forderte Wolfgang Schäuble im Oktober 2012 für die EU einen Super-Sparkommissar (Spiegel), »der ganz allein die Macht hat, nationale Haushalte abzulehnen – auch nachdem sie schon von einem nationalen Parlament beschlossen wurden. Um den Vorwurf des Demokratiedefizits zu entkräften, sollen flankierend auch die Europa-Parlamentarier mehr mitreden dürfen, allerdings nur die Abgeordneten aus den Euro-Ländern.«[16]
Wie unverschämt unsere Politiker und die sie schmierenden Reichen und Mächtigen andererseits mit unserem Geld umgehen, bewies Anfang 2013 der Bundesrechnungshof. Was den Ärmsten fehlt, fließt als Edelchampagner in die Badewannen der steinreichen Parasiten.[17]
Übrigens: Es ist zu Recht verboten, »klammheimliche Freude« über einen Terroranschlag zu äußern. Aber ist es auch verboten, mit Schampus anzustoßen, wenn ein Kotzbrocken auf einem Stück Seife ausrutscht? »Taktlos«, werden die katholischen Kinderschänder zum Beispiel vom Berliner Canisius-Kolleg sagen. Aber strafbar ist es nicht.
Es kann nicht alles ganz richtig sein in der Welt, weil die Menschen noch mit Betrügereien regiert werden müssen.
Georg Christoph Lichtenberg
»Alle Gewalt geht vom Volke aus«, heißt es vielversprechend im Grundgesetz, und: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Mit der Wahlstimme geben die Bürger auch gleich fast jeden Einfluss auf »ihren« Staat ab; die Volksgewalt verschwindet in allen möglichen dubiosen, teil kriminellen und korrupten Kanälen. Und Menschenwürde ist für unsere Politeliten zumeist ein unbekannteres Fremdwort als Shareholder Value: Mit wenigen Ausnahmen bedeutet das Grundgesetz für die politische Klasse weniger als eine abgelaufene Bahncard.
»Alle Gewalt geht vom Markt aus«, lautet das kaum noch heimliche Gesetz unserer Volksvertreter. Kaum noch ein Gesetz oder Beschluss wird danach beurteilt, ob es der Bevölkerung nutzt: ihrem Recht auf Bildung, Absicherung in Krankheit und Alter, der Erhaltung von Natur und Umwelt. Oder ob es dem »Streben nach Glück« nicht eher schadet.
Gradmesser ist allein die Zufriedenheit der ebenso allgegenwärtigen und allmächtigen wie undurchschaubaren Märkte. Und diese ominösen und nebulösen Märkte sind nichts anderes als das giergesteuerte Treiben der »Anleger« und »Investoren« nebst ihren »Börsianern« und Spekulanten – einer ehrenwerten Gesellschaft also, die sich ohne jede produktive Leistung ausschließlich durch Zockerglück, zwielichtige Manipulationen und Bauerntricks mehr oder minder legal irrwitzige Reichtümer ergaunert und astronomisch vermehrt.[18]
»Der allmächtige Markt« hat für die Reichen und Mächtigen samt dem von ihnen ausgehaltenen Hofstaat aus Politik und Medien den »lieben Gott« längst abgelöst. An die Stelle der Kreuzzüge sind Eroberungskriege wie gegen Afghanistan und Irak getreten, an die Stelle der sadoperversen Inquisition und Hexenverbrennung nicht minder abartige Lager wie Guantanamo und Abu Ghraib.
Die naheliegende Frage ist: Wenn der Markt sowieso »alternativlose Sachzwänge« diktiert, wie viel an Entscheidungsspiel, Eigenverantwortung und Gestaltungsmöglichkeit bleiben dann überhaupt noch den Volksvertretern? Eine weitere Frage folgt auf dem Fuß: Wollen die Politiker überhaupt all ihre Kraft zum Wohle des Volkes einsetzen? Sehen sie ihr Amt oder Mandat nicht vorwiegend als Mittel, möglichst »reich, mächtig und berühmt« zu werden und in Steinzeitmanier an »Weibchen« heranzukommen, die ihre Enkelinnen sein könnten? Kurzum: Welches Minimum an Kompetenz und Integrität benötigen und besitzen unsere Spitzenpolitiker überhaupt? Und: Was wissen wir eigentlich über unsere Volksvertreter, über Lebenslauf, Ausbildung, beruflichen und politischen Werdegang und ihre fachliche und moralische Qualifikation? Selbst über unseren höchsten Mann im Staate erfuhren wir ja 90 Prozent des unbedingt Wissenswerten erst lange nach seiner Inthronisation.
Eines jedenfalls kann man schon zu Beginn dieses Buches feststellen: Die Tatsache, dass die Deutschen mit überwältigender Mehrheit auf die Frage nach den glaubwürdigsten, kompetentesten und integersten Politikern den über 90 Jahre alten Ex-Kanzler Helmut Schmidt nennen, ist nicht nur eine Verbeugung vor diesem großen Politiker der deutschen Geschichte. Vor allem ist es eine erstklassige Blamage, ja geradezu eine Schande für die meisten heute im Politbusiness Tätigen.
Aber wen hätten die Bürger auch sonst nennen sollen? Vielleicht Westerwelle oder Wulff, Guttenberg oder Gabriel, Steinbrück oder Seehofer, Koch oder Künast, Merkel oder Mißfelder, am Ende womöglich Anne Will oder Günther Jauch?
Während jedoch das Ansehen der Spitzenpolitiker rapide abnimmt, lässt sich feststellen, dass Frust und Desinteresse offenbar hauptsächlich den Akteuren gelten, keineswegs der Politik selbst. Während die Wahlbeteiligung in Bund, Ländern und Kommunen galoppierend sinkt, engagieren sich immer mehr Menschen in NGOs, Bürgerinitiativen und Aktionsbündnissen zu konkreten Fragen vom Fluglärm bis zum Schulgebäudeverfall.
Um der Gefahr noch größerer bürgerlicher Gegenwehr bis hin zu sozialen Unruhen zu begegnen, lassen die Reichen und Mächtigen ihre Politiker seit geraumer Zeit eine an Horrorschinken und Verfolgungswahn grenzende Hysterie schüren. Die unverschämtesten Umverteilungen von Arm nach Reich, die dreistesten Amputationen von Herzstücken des Sozial- und Rechtsstaats werden »begründet« mit der Drohung, andernfalls breche das gesamte System zusammen, und das Land samt EU und womöglich der gesamten industrialisierten Welt werde zurückfallen auf unterstes Steinzeitniveau. Es sind niederste und mieseste Terroristenmethoden: »Wenn ihr nicht so und so viel Milliarden zahlt, dann werfen wir über eurem Land Atombomben ab.«
Was macht ein trotziges Gör, um seinen Willen zu erzwingen? Es droht. Nicht anders die Politik.
Die angebliche Eurozusammenbruchsgefahr soll die Menschen derart in Panik versetzen, dass sie nicht mehr klar denken können und – ähnlich wie die Eltern eines entführten Kindes – buchstäblich jeden Preis zahlen. Die Bevölkerung soll psychisch sturmreif geschossen werden für eine weitere Absenkung ihres Lebensstandards zugunsten des steinreichen Parasitengesindels: Es verlieren ja nicht alle – vielmehr gibt’s eine »Krötenwanderung« von den Normalbürgern und Armen hin zu den nur von Kapitaleinkünften und nicht von ehrlicher Arbeit lebenden Eiterbeulen am Gesäß der Gesellschaft.
Damit ist der Rahmen abgesteckt, in dem sich dieses Buch bewegt. Es untersucht nicht mehr und nicht weniger als die Rolle unserer politischen Hauptakteure: ihre fachliche Kompetenz und moralische Eignung ebenso wie ihre Spielräume, Abhängigkeiten und wahren Ziele. Wollen wir doch mal sehen …
Häufig wird es als Stärke der parlamentarischen Demokratie herausgestellt, dass fast jede Partei mit jeder anderen Partei eine Koalition bilden kann: Schwarz-Gelb oder Rot-Grün, Schwarz-Rot oder Rot-Gelb-Grün (»Ampel«), Schwarz-Grün oder Rot-Gelb, sogar Rot-Rot. Dies ist aber keinesfalls ein Plus unseres Systems. Vielmehr zeigt es, dass die Parteien sich zunehmend zum Verwechseln ähnlich werden.
Und das ist keineswegs ein Zufall, sondern ein zwangsläufiges Kennzeichen einer marktwirtschaftlichen Demokratie. Wie schon Anthony Downs, der Mitbegründer der neoliberalen Neuen Politischen Ökonomie, erkannte, haben Parteien »als Hauptmotiv den Wunsch, sich die mit dem Regierungsamt verbundenen Vorteile zu verschaffen; daher streben sie nicht die Regierung an, um vorgefasste politische Konzepte zu verwirklichen, sondern formulieren politische Konzepte, um an die Regierung zu kommen«.[19] Folglich ist »das Hauptmotiv der Regierung Maximierung der Stimmen, nicht des Nutzens oder der Wohlfahrt«.[20]
Dies gehört zwar zum System, war aber keineswegs immer schon so augenfällig wie heute. In der »guten alten Zeit« der Weimarer Republik gaben in der Regel die »Christen« dem Zentrum ihre Stimme, die »Arbeiterklasse« der SPD und KPD, dann (fast) alle gemeinsam der NSDAP und in der jungen Bundesrepublik die (meist katholischen) Christen dem Zentrumserben CDU/CSU und die Arbeiter wieder der SPD. »Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen«, lautete der Text des legendären Plakats des ebenso legendären Künstlers Klaus Staeck als Wahlkämpfer für den Friedenspolitiker Willy Brandt gegen die Kalten Krieger und Faschisten, die noch immer die »Ostgebiete« zurückhaben und ein Deutschland in den Grenzen von 1937 wollten (»Dreigeteilt niemals«). Schwarz-Rot wäre damals undenkbar gewesen.
Aus verschiedenen Gründen – man denke nur an die Verwandlung der SPD in eine Volkspartei durch das Godesberger Programm von 1959 sowie den unaufhaltsamen Rückgang des Industrieproletariats – wurden aus Interessenvertretern gesellschaftlicher Gruppen machtbesessene Parteien. Rot-Grün wurde zur asozialsten Bundesregierung aller Zeiten und schlug beim Sozialabbau und der Umverteilung von unten nach oben die Union um Längen, und die wiederum schwang sich mit diversen Änderungsforderungen an der Agenda 2010 zur Anwältin der »kleinen Leute« auf. Die Folge: Die Bindungskräfte der Parteien schwinden, die Beliebigkeit steigt.
Diese Beliebigkeit führt seit einiger Zeit zu einem Gewinn der kleinen zu Lasten der beiden großen Parteien. Nicht auszuschließen, dass sich am Ende ein »System der mittelgroßen Parteien« etabliert.
Nach Meinung des Göttinger Politikprofessors Franz Walter verlieren die Parteien durch die Aufgabe von Prinzipien und Visionen aber auch »an innerer Kraft, die aber unverzichtbar ist, um nach außen anziehend zu wirken, um kluge und ehrgeizige Mitglieder zu gewinnen, auch um Kraft- und Führungsnaturen zu rekrutieren«.[21] Was übrig bleibt, sind die Dilettanten: »Allerweltsparteien fehlen gesellschaftliche Wurzeln, intellektuelle Ambitionen; die Choreographie von Möglichkeiten jenseits dessen, was gerade ist.« Walter fragt mit Recht: »Aber wozu braucht man Parteien dieses Charakters eigentlich noch?«[22]
Bislang galt als Hauptproblem der CDU ihr Charakter als reiner, inhaltsloser Kanzlerin-Wahlverein. Doch nun zeigt sich eine langfristig viel größere Schwierigkeit:
Ironisch schreibt stern.de: »Es wäre eine gute Frage für Jauchs Millionärsquiz … Es gibt 20 deutsche Städte mit mehr als 300000 Einwohnern. In wie vielen davon stellt die CDU den Oberbürgermeister? A: 12? B: 9? C: 6? D: 3? Die für die Christdemokraten niederschmetternde korrekte Antwort lautet: D: 3. In Worten: DREI! Sie heißen Dresden, Düsseldorf und Wuppertal. Ja, Wuppertal! Ansonsten: Fehlanzeige.«[23]
Tatsache ist: Nicht nur Stuttgart, Tübingen und Freiburg, auch in Karlsruhe konnte die CDU ihre Bastion nicht verteidigen. Einmal mehr zeigt sich, dass sie in Großstädten derzeit keine Chance hat. Doch auch auf dem Land könnte es für sie bald schlecht aussehen. Denn es handelt sich um ein strukturelles Problem, das die meisten Bürger längst kennen und selbst erlebt haben: Die ländlichen Gebiete sind den Großstädten wesensfremder als fast jede andere Großstadt der Welt. Wer zum Beispiel in manch ein oberbayerisches Dorf zieht, nicht katholisch ist und, selbst wenn, nicht jeden Sonntag zur »Heiligen Messe« erscheint und anschließend nicht mit der Dorfelite zum Frühschoppen geht, ist erledigt – ob als Arzt oder Apotheker, Feinkosthändler oder Lehrer. »Die neuerliche Niederlage befeuert die Strategiedebatte. Baden-Württembergs Landeschef Thomas Strobl will seine CDU für großstädtische Milieus öffnen. Vertreter des ländlichen Raums fürchten, dass dann auch noch die Macht in den vielen kleinen Gemeinden erodieren könnte.«[24] Er sagt es ja: Großstadt und Dorf passen in Deutschland nicht zusammen. Was die einen großartig finden, bringt die anderen auf die Palme. Im November 2012 kritisierte ein gutes Dutzend von CDU-Abgeordneten aus Großstädten den Zustand ihrer Partei: Die habe »den Anschluss an wichtige Multiplikatoren und gemeinwohlorientierte Interessengruppen weitgehend verloren« und verhalte sich in den Großstädten »allzu oft als Nachhut der öffentlichen Debatte, meist in defensiver Abwehr- oder Erklärungshaltung«. Ihr Image sei deshalb »häufig exklusiv mit den Themenfeldern Sicherheit und Ordnung und einer konservativen Grundausrichtung verbunden«. Damit spreche man aber »eher ältere Wählerschichten an«.[25]
Dabei deutete sich die Krise der Partei schon lange an. Auch nicht erst die Wirtschaftskrise, schon die Verwandlung von 640000 Wählern in Nichtwähler bei der Bundestagswahl 2005 im Vergleich zu 2002 – bei der SPD waren es »nur« 370000 – zeigt deutlich, dass die Anhängerschaft der CDU/CSU aus verschiedenen Gruppen besteht, deren Erwartungen immer weniger unter einen Hut zu bringen sind.
Die zukunftsängstlichen Senioren, die sich von der Politik verraten fühlen und die Altersarmut ebenso fürchten wie den Verfall der Demokratie und jegliche soziale Veränderung.
Die bröckelnde politische Mitte, die alle neoliberalen Reformen bislang bereitwillig mitgemacht hat, sich aber nun um den Lohn dafür betrogen sieht. Dass der »Umbau« des Sozialstaates auch die Zukunft ihrer Kinder gefährdet, also quasi ihren Lebensinhalt, entfernt sie mehr und mehr von der Union.
Die marktradikalen Scharfmacher, die die Grundwerte der Union hinwegfegten.
Der Feind der Parteimehrheit war diesmal nicht der Bolschewist mit Planwirtschaft, Mauer und Stacheldraht, sondern die selbst ernannte neoliberale Elite, die die traditionellen Einrichtungen, Bräuche und Kulturen recht emotionslos vernichtete. Jene Spezies also, deren »rauschhafte Party entgrenzter Märkte«[26] wie zum Beispiel 2003 auf dem Leipziger CDU-Parteitag die meisten Funktionäre am liebsten ungeschehen machen würden.
Nun aber ist das Loblied auf den Rheinischen Kapitalismus und seine eben noch als Schnee von gestern verhöhnte soziale Marktwirtschaft wieder in Mode. Herablassende Bemerkungen über »Gutmenschen« und »Sozialkitsch« leistet sich inzwischen niemand mehr, möchte man doch selbst vor den Bürgern als guter Mensch gelten.
Ob dies aber beim Bürger verfängt, ist schon deshalb fraglich, weil zum einen auch die SPD inzwischen auf diese Masche gekommen ist, zum anderen aber gerade christlich motivierte Anhänger der CDU mit der Partei Die Linke moralisch mehr gemeinsam haben als beispielsweise mit dem Wirtschaftsflügel der Union.
Dies umso mehr, als die CDU das Wiederentflammen ihrer Liebe zum Sozialstaat denkbar unglaubwürdig verkauft. Parteichefin Merkel zum Beispiel redet auf dem Stuttgarter Parteitag Anfang Dezember 2008 ellenlang und ermüdend über die soziale Marktwirtschaft, ohne den Begriff inhaltlich zu füllen. »Die Kanzlerin will, sagt sie, die soziale Marktwirtschaft nach Europa, ja in die ganze Welt exportieren, sie will diese zum Exportschlager machen, wie Druckmaschinen, Kaffeefilter und Plüschtiere aus Deutschland. Druckmaschinen und Plüschtiere sind greifbar, Merkels soziale Marktwirtschaft ist es nicht«, lästert Heribert Prantl. »Sie will etwas exportieren, was sie selber nicht beschreiben kann. Ein solcher Export ist ein Leerverkauf. Merkels Problem ist überdies, dass sie die soziale Marktwirtschaft vor ein paar Jahren noch abschaffen wollte. Also hört man Merkels frohe Botschaft, aber es fehlt einem der Glaube daran, dass sie ernst gemeint ist und auch morgen noch gilt. Wenn die Kanzlerin von sozialer Marktwirtschaft redet, dann klingt das so, als ob der Papst von den Vorzügen des Protestantismus spräche.« [27]
Und es ergänzt wohl das Bild der CDU, dass der Parteitag zwar keinerlei Beschlüsse zur Wirtschaftskrise, wohl aber die zur Festschreibung der deutschen Sprache im Grundgesetz fasste – und das auch noch gegen den Willen der Kanzlerin.
Dass echten Neoliberalen nicht einmal der Neoliberalismus heilig ist, sondern nur der eigene Nutzen, wird dann vom Vorteil zum Handicap, wenn der Wähler dahinterkommt. Er erkennt Politik und Politiker als unberechenbar, und wenn man ihn oft genug auslacht, weil er auf Wahlversprechen hereingefallen ist, dann hält er am Ende jedes Programm und jede Aussage für eine Lüge.
Wenn es überhaupt noch aussagekräftige Programme gibt: »Öffnung zur Mitte« ist nichts anderes als ein wohlklingendes Wort für Inhaltslosigkeit. Wie sonst auch will man »jedem etwas« bieten, also zusammenführen, was nicht zusammengehört: AKW-Gegner und Atomfetischisten, emanzipierte Frauen und »Heim-am-Herd«-Machos? Ehrliche Christen und gewissenlose Neoliberale, aufgeschlossene Weltbürger und nationalistische Rassisten, Freunde und Feinde des Sozialstaats? Wie will man die einen gewinnen, ohne die anderen zu verprellen, inklusive möglicher Koalitionspartner?
Weil die CDU also eindeutige Aussagen vermeiden muss, entwickelt sie sich mehr als ohnehin schon zum Wahlverein. Das hat aber auch handfeste personelle Gründe: Mit Roland Koch, Günther Oettinger, Christian Wulff, Jürgen Rüttgers, Norbert Röttgen, Karl-Theodor zu Guttenberg, Annette Schavan und Franz Josef Jung verlor Merkel bereits acht Führungsfiguren. Der CDU gehen so langsam die Leute aus. Ein verbitterter, als Lügner entlarvter alter Mann, ein ewiges Girlie, das die Zweifel um die Seriosität ihrer Doktorarbeit so wenig loswerden wird wie andere die Schuppenflechte, und ein konturloser »Merkel-Mann«: Nicht auszudenken, fiele jetzt auch noch Strahlefrau von der Leyen aus. Momentan präsentiert sich die CDU als Auslaufmodell, und möglicherweise wird man schon in 30 Jahren fragen: »War die CDU ein Waschmittel oder eine Automarke?«
Wenn jemand für ein NPD-Verbot eintritt, so klingt das zunächst ehrenwert und antifaschistisch.[28] Als allerdings die CSU Anfang 2013 mit einem eigenen Verbotsantrag vorpreschte, argwöhnten Spötter, die Christsozialen wollten sich in Wahrheit nur lästige Konkurrenz vom Leibe halten.
Dies ist auch verständlich, wenn man sich die inhaltliche Nähe ansieht. Beispielsweise beim Thema Steuerliche Gleichstellung von Homo-Ehen: Da erklärte der CSU-Chef und ertappte Ehebrecher Horst Seehofer schon vor dem für den Sommer 2013 erwarteten Urteil des Bundesverfassungsgerichts, ein Kompromiss bei der Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe sei nicht möglich. »Daran werde sich auch durch das Gerichtsurteil nichts ändern. Die CSU bleibe bei ihrer Linie, ›wie auch immer die Richter entscheiden‹.«[29] Schöner kann man seine abgrundtiefe Verachtung des Rechtsstaats nicht ausdrücken.
Aber die totalitäre Geringschätzung der Verfassung ist nur eine Seite des Freistaats. Die andere ist die Amigo-Wirtschaft. »Das System Strauß: Als Amigo noch kein Schimpfwort war«, schrieb sueddeutsche.de im Mai 2010 über Bayerns damaligen Regierungschef. »Wenn einer in Bayern als Hund tituliert wird, dann darf er sich geehrt fühlen, aber oft schwingt in diesem Lob auch mit, dass hier ein Spitzbub am Werk ist, der das Gesetz gerne zum eigenen Vorteil auslegt.«
Aber seine Nachkommen hielten die hemmungslose Korruption in Ehren. »Amigo-Affäre ist die umgangssprachliche Bezeichnung eines Bestechungsskandals um den bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl und andere CSU-Politiker, der 1993 zum Rücktritt Streibls führte. Der Begriff … wird seitdem insbesondere im Zusammenhang mit der CSU als Synonym für Affären um die Verstrickung von Politik und Wirtschaft verwendet.« Streibl musste vor dem Landtag gestehen, zweimal auf fremde Kosten einen Brasilien-Urlaub gemacht zu haben.
Jahrzehntelang galt die Vetternwirtschaft in Bayern als ganz normal und wurde vom Volk seit 1970 mit der absoluten Mehrheit bei den Landtagswahlen abgesegnet. Die Logik der kleinen Leute, wie sie in der empfehlenswerten Politkrimiserie Der Bulle von Tölz mit Ottfried Fischer authentisch beschrieben wird: Solange ich selbst mit 100 Euro profitiere, gönne ich den korrupten Baulöwen, Kirchenleuten und Politikern ihre Millionen.
All das änderte sich schlagartig im Jahre 2008, als die CSU nur noch auf 43,4 Prozent kam und unter Horst Seehofer erstmals auf eine Koalition mit der FDP angewiesen war. Und siehe da:
Plötzlich kämpft die Amigo-Partei gegen die von ihr selbst eingeführten Studiengebühren, weil demnächst ein Volksbegehren droht, und nimmt dabei sogar den Bruch der Koalition mit der FDP in Kauf.
Und dann auch noch der Skandal um Gustl Mollath. Ihn hatte man nach einer Entlarvung einer mutmaßlichen Schwarzgeld-Affäre rund um die HypoVereinsbank[30] kurzerhand in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Dort sitzt er heute noch, obwohl inzwischen klar ist, dass jedes seiner Worte der Wahrheit entsprach.
Zu alledem passt eine schon komödienhafte Vetternwirtschaft. Vom achtjährigen Neffen bis zur achtzigjährigen Oma wird zuweilen die ganze Sippe untergebracht. In vorderster Front hierbei wie so oft die CSU.
Insgesamt 56 christsoziale Parlamentarier haben in den vergangenen drei Wahlperioden die Beschäftigungsverhältnisse mit Verwandten ersten Grades auf Basis der Ausnahmeregel von 2000 fortgeführt. Unter den neu bekannt gewordenen Namen ist auch Siegfried Schneider, ehemals Kultusminister und Staatskanzleichef. Da hilft es auch nicht, dass sich im »Freibier-Parlament« (Spiegel) unter den 79 Anfang Mai geouteten Landtagsabgeordneten mit Familiensinn auch zahlreiche SPD-Parlamentarier befinden. Für den mündigen Bürger ist und bleiben Amigo-System und Vetternwirtschaft vor allem ein Markenzeichen der CSU.
Andererseits wurde die Sache angesichts der Bundestagswahl auch ein ernsthaftes Problem für die Kanzlerin. In der Emnid-Umfrage Anfang Mai sackte die Union um drei Punkte auf nur noch 37 Prozent ab.
Bei der Eindämmung der – wie sagt man so schön – »legalen, aber nicht legitimen« Familienwirtschaft musste Merkel sich allein auf Seehofer verlassen. Und der stellte auch wirklich hartes Durchgreifen zur Schau. Landtagsfraktionschef Georg Schmid servierte er ab, weil der seiner Ehefrau 23 Jahre lang bis zu 5500 Euro als Mitarbeiterin gezahlt hatte – doppelt so viel wie ein übliches Gehalt einer Sekretärin.
Seine betroffenen Minister und Staatssekretäre müssen die Gehälter zurückzahlen, die ihr Familienclan auf des Steuerzahlers Kosten abgesahnt hatte. Und seit Juni 2013 ist die Anstellung von Verwandten für Abgeordnete untersagt.[31]
Bei vielen politischen Quertreibereien scheint es der CSU mehr noch als ihrem Koalitionspartner FDP eher auf Machtspielchen anzukommen als auf Inhalte. Ob Abtreibungsverbot oder Herdprämie, Sozialstaatsabbau, »christlich-abendländische Tradition«: Hier geht es in erster Linie um Machtpolitik.
Wem würde ein Platzen der Koalition mehr schaden? Seehofer will ohnehin nicht König von Deutschland werden, sondern Kaiser von Bayern bleiben. Ganz bewusst legten die Bayern die Landtagswahl auf den 15. September 2013, obwohl die Bundestagswahl nur eine Woche später stattfindet.
Aber lassen wir doch den intelligentesten und großartigsten Rhetoriker zu Wort kommen, den Bayern je hervorgebracht hat, nämlich Edmund Stoiber.
Edmund Stoiber über die Vorzüge des Transrapid beim Neujahrsempfang der CSU München, 21. Januar 2002:
Wenn Sie vom Hauptbahnhof in München … mit zehn Minuten, ohne, dass Sie am Flughafen noch einchecken müssen, dann starten Sie im Grunde genommen am Flughafen … am … am Hauptbahnhof in München starten Sie Ihren Flug. Zehn Minuten. Schauen Sie sich mal die großen Flughäfen an, wenn Sie in Heathrow in London oder sonst wo, meine sehr … äh, Charles de Gaulle in Frankreich oder in … in … in Rom. Wenn Sie sich mal die Entfernungen anschauen, wenn Sie Frankfurt sich ansehen, dann werden Sie feststellen, dass zehn Minuten Sie jederzeit locker in Frankfurt brauchen, um Ihr Gate zu finden. Wenn Sie vom Flug … vom … vom Hauptbahnhof starten – Sie steigen in den Hauptbahnhof ein, Sie fahren mit dem Transrapid in zehn Minuten an den Flughafen in – an den Flughafen Franz Josef Strauß. Dann starten Sie praktisch hier am Hauptbahnhof in München. Das bedeutet natürlich, dass der Hauptbahnhof im Grunde genommen näher an Bayern – an die bayerischen Städte heranwächst, weil das ja klar ist, weil auf dem Hauptbahnhof viele Linien aus Bayern zusammenlaufen.[32]
Das ist also der klügste CSU-Politiker aller Zeiten. Die zweitklügsten können demnach nur ein Schimpanse und ein Pavianweibchen sein.
Übertrieben? »Oberbayern: Jugendliche terrorisieren 900-Seelen-Dorf«, titelte sueddeutsche.de am 28. Februar 2013. »Brandstiftung, Nötigung, Körperverletzung: Vier Kinder und Jugendliche aus einem Jugendheim im oberbayerischen Thaining haben wochenlang Betreuer und Nachbarn tyrannisiert. Nun muss die Regierung von Oberbayern den Betrieb stilllegen.« Die Oberbayern als gemeingefährliches Bergvolk: Dort machen nur noch Leute Urlaub, denen die Golanhöhen, Mali oder russisches Roulette zu langweilig sind. »Die Täter waren elf bis 17 Jahre alt, zwei von ihnen waren also noch nicht schuldfähig. Die Polizei Landsberg berichtet von Brandstiftung, Nötigung, Körperverletzung, Beleidigung und Drogendelikten.«[33]
Und da sage noch einer, die Bayern könnten ihre Kinder nicht über Generationen hinweg in ihrem Sinne erziehen. Nicht zufällig lag Hitlers Hauptquartier anfangs in Bayern. Der Bürgerbräukeller, in dem »Der Führer« seit 1933 jährlich am 8. November seine Reden hielt, und in dem es ihn 1939 fast erwischt hätte, lag ebenfalls in München.
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.
Bert Brecht, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, 1941
Damit aber keine Missverständnisse entstehen: Die CSU erhielt zuletzt »nur noch« knapp über 40 Prozent der Stimmen: »Betrüger, Behämmerte und Beknackte« trifft also nicht einmal auf die Hälfte aller bayerischen Wähler zu. Dem Volk der Bayern gilt meine ausdrückliche Hochachtung.
Wie schon am rapiden Rückgang der Wahlbeteiligung überdeutlich erkennbar, wird das Volk immer unzufriedener und sein Vertrauen in die Politik immer geringer. Dies kann man, wie Prof. Franz Walter es tut, an der ominösen »gesellschaftlichen Mitte« festmachen. Sie nämlich sei »keineswegs mehr rundum sozialzufrieden … nicht mehr Apologetin der herrschenden Verhältnisse, keine Prätorianergarde der Märkte und kapitalistischen Profite«. Diese Mitte wird zusehends von Ängsten um Arbeitsplätze, bescheidenen Wohlstand und insgesamt um die Zukunft geplagt. Folglich findet man hier neuerdings »mehr Biss gegen Banker, größere Wut über Privatisierungen in der Wirtschaft und Marktprinzipien im Bildungssystem als bei den Mitgliedern des Parteivorstandes der SPD«.[34]
Ist ja auch klar: Wer sechsstellige Jahresgehälter einstreicht, versteht Kleingewerbler und Geringverdiener nicht wirklich, sondern sieht sie nur noch als Stimmvieh. Die logische Folge: »Der größte Exodus aus dem sozialdemokratischen Lager vollzog sich jedoch seit 2002 im unteren Drittel der Gesellschaft … Steinbrück muss im Übrigen für diese Schichten kein schlechter Kandidat sein … Er kommt nachweislich gut an bei Männern mit formal geringer Bildung in schlecht bezahlten Jobs«, sprich: bei dem verwahrlosten Proletengesindel, das bei Bier und Korn RTL schaut und auf »die Ausländer« schimpft, also ebenso gut NPD wählen könnte. »Sein Rambo-Habitus nutzt ihm dort. Aber auch große Teile der Wirtschaftsbürger schätzen ihn deswegen; der Macho-Auftritt bildete eine eigentümliche Klammer zwischen den Führungsmännern in Unternehmen oben und dem maskulinen Antifeminismus unten. Allerdings: Frauen goutieren das – und daher Steinbrück – weit weniger.«[35]
Steinbrück als Idealkandidat für den männlichen, geistig-moralischen Sumpf. Nun gut, schließlich wird ja auch der SPD