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Der Widerstand der Bürger gegen Ausbeutung, Willkür und Sozialabbau wächst! In Die rebellische Republik geht Bestsellerautor Thomas Wieczorek der aufgeheizten Stimmung in der Bevölkerung auf den Grund. Die Risse in der Sozialordnung klaffen immer weiter auseinander: Umverteilung nach oben, Sparzwang nach unten. Die Bürger sollen die Folgen der Krise ausbaden und die letzten noch verbliebenen Sozialleistungen als angeblich nicht mehr finanzierbar opfern. Obendrein dürfen sie nun bis 70 arbeiten und froh sein, wenn sie überhaupt noch einen Job haben. Doch die Menschen lassen sich nicht mehr länger für dumm verkaufen: Sie setzen sich zunehmend zur Wehr. Wieczorek zeigt eindrucksvoll, wie sich die Empörung der Bevölkerung Luft verschafft und in konkretes politisches Engagement und Aktivismus mündet. Ein aufrüttelndes Buch über den wachsenden Widerstand der Bürger gegen die herrschende Politik und die sozialen Missstände in unserer Gesellschaft.
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Seitenzahl: 495
Thomas Wieczorek
Die rebellische Republik
Warum wir uns nicht für dumm verkaufen lassen
Knaur e-books
Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich, und dann gewinnst du.
Mahatma Gandhi
Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Bert Brecht
Es ist etwas faul im Staate Deutschland: Ob Hartz IV oder Gesundheitsreform, Atommüll-Endlagerung oder umweltzerstörender Bahnhofsneubau, Bildungskatastrophe oder Rente erst nach dem Tod – lange, vielleicht zu lange, haben sich die Bürger das angesehen und ihrem Ruf als »schweigende Mehrheit« alle Ehre gemacht. Nun aber fiel jener Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wo man auch hinschaut: Es brodelt im Volk, und zwar quer durch alle Altersgruppen und sozialen Schichten.
Und die Verantwortlichen? Bisher ging die ebenso emsig eingeübte wie bodenlos unverschämte Nummer so: Wann immer die Kritiker, egal ob Opposition oder Normalbürger, offenbar dem Volk aus der Seele sprechen, werden sie als »Populisten« beschimpft, wohingegen man den Raubzug gegen die Bevölkerung als »alternativlosen Sachzwang« und die hanebüchenen und zurechtgelogenen Begründungen dafür als »unbequeme Wahrheit« verkauft. Sobald die politischen Entscheidungsträger merken, dass sie hoffnungslos in die Enge getrieben werden, fordern sie von Kritikern und murrenden Bürgern trotzig »bessere Konzepte« – dabei haben die Verantwortlichen ihrerseits nicht einmal den Hauch eines Konzepts, weder für das allgemeine Desaster insgesamt noch für konkrete Projekte wie Gesundheits- oder Steuerreform. Man stelle sich nur einmal vor, ein offenkundig hoffnungslos überforderter Chirurg würde den ungehaltenen Patienten anfahren: »Dann operieren Sie sich doch selbst.« Diese verstandesbeleidigenden Spielchen aber machen die Bürger offenbar nicht länger mit.
Die Süddeutsche Zeitung spricht von einer »Protest-Demokratie«[1], der Spiegel von einer »Barrikadenrepublik Deutschland«[2], wieder andere warnen vor einer »Dagegen-Republik«[3], die Abteilung »Irre lustiger Vorspann« von hart aber fair verfällt auf »Deutschland 21 – Land der Schlichter und Stänkerer?«[4], und die Gesellschaft für deutsche Sprache kürt »Wutbürger« zum Wort des Jahres 2010. Diese abwertend-überhebliche Kennzeichnung, die außer seinem Erfinder, dem Spiegel-Angestellten Dirk Kurbjuweit[5], so gut wie niemand benutzt, soll jeden aktiven kritischen Bürger in die Nähe des Hysteriker-Darstellers Louis de Funès oder des legendären cholerischen HB-Männchens rücken. Aber das ist ein alter Hut: Je gefährlicher Trends oder Bewegungen den Herrschenden erscheinen, desto unflätiger die Wortwahl, desto zügelloser die Hetze – nun also gegenüber den rebellischen Deutschen.
Was denn: Die Deutschen und Widerstand? Passt das nicht zusammen wie die Malediven mit Rasterfahndung? Sind die Deutschen nicht eher ein Volk der Untertanen, Duckmäuser und Denunzianten, das sich mit egal welcher Obrigkeit schnell und bereitwillig arrangierte, das selbst zum Sturz der NS-Diktatur fremder Hilfe bedurfte und das man zur Zivilcourage – worunter man den in anderen Ländern selbstverständlichen Mut zum Einschreiten gegen Unrecht versteht – erst mit Kampagnen auffordern und mit Preisen ködern muss?
So meint man, dabei haben die Deutschen durchaus eine Geschichte des Widerstandes. Im Dritten Reich waren es zwar beschämend wenige – und von denen wollten viele lediglich einen NS-Staat ohne die Person Hitler –, aber es gab sie. Recht aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist auch ein Blick auf die gescheiterten Aufstände wie etwa die Bauernkriege (15.bis 17. Jahrhundert) oder den schlesischen Weberaufstand von 1844. Eine Ausnahme bildet die Märzrevolution von 1848/49 als Beginn der Deutschen Revolution, ausgelöst durch die erfolgreiche französische Februarrevolution.[6]
Nahezu ohne Gegenwehr der bis dahin Herrschenden bildeten die deutschen Einzelstaaten liberale »Reformministerien«. Als Erfolge der Märzrevolution gelten die Einführung des konstitutionellen Regierungssystems, der Pressefreiheit, der Schwurgerichte sowie die Vorbereitung von Wahlen zu einem deutschen Nationalparlament.[7] Eine bürgerlich-demokratische Verfassung konnte aber erst 1919 nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs als Ergebnis des Ersten Weltkriegs durchgesetzt werden. Den widersprüchlichen Verlauf der Märzrevolution schildert der Lyriker Ferdinand Freiligrath 1848 in einem vertonten Gedicht, das noch heute zum Standardliedgut »linker« Bewegungen zählt.
Das war ’ne heiße Märzenzeit,
Trotz Regen, Schnee und alledem.
Nun aber, da es Blüten schneit,
Nun ist es kalt, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem –
Trotz Wien, Berlin und alledem –
Ein schnöder scharfer Winterwind
Durchfröstelt uns trotz alledem!
Das ist der Wind der Reaktion
Mit Meltau, Reif und alledem!
Das ist die Bourgeoisie am Thron –
Der dennoch steht, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Trotz Blutschuld, Trug und alledem –
Er steht noch und er hudelt uns
Wie früher fast, trotz alledem!
Die Waffen, die der Sieg uns gab,
Der Sieg des Rechts trotz alledem,
Die nimmt man sacht uns wieder ab,
Samt Kraut und Lot und alledem!
Trotz alledem und alledem,
Trotz Parlament und alledem –
Wir werden unsre Büchsen los,
Soldatenwild trotz alledem!
Doch sind wir frisch und wohlgemut,
Und zagen nicht trotz alledem!
In tiefer Brust des Zornes Glut,
Die hält uns warm trotz alledem!
Trotz alledem und alledem,
Es gilt uns gleich trotz alledem!
Wir schütteln uns: Ein garst’ger Wind,
Doch weiter nichts trotz alledem!
Denn ob der Reichstag sich blamiert
Professorhaft, trotz alledem!
Und ob der Teufel reagiert
Mit Huf und Horn und alledem –
Trotz alledem und alledem,
Trotz Dummheit, List und alledem,
Wir wissen doch: die Menschlichkeit
Behält den Sieg trotz alledem! …
Nur, was zerfällt, vertratet ihr!
Seid Kasten nur, trotz alledem!
Wir sind das Volk, die Menschheit wir,
Sind ewig drum, trotz alledem!
Trotz alledem und alledem:
So kommt denn an, trotz alledem!
Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht –
Unser die Welt trotz alledem!
Obwohl die Märzrevolution dem Volk nur einen halben Sieg brachte, war sie doch weit mehr als ein Unentschieden, denn man erkämpfte die Befreiung der Bauern für ganz Deutschland und die erste preußische Verfassung vom 31. Januar 1850.[8] Die schrieb zwar das Dreiklassenwahlrecht fest,[9] aber wenigstens hatten die Bürger jetzt »etwas Schriftliches in der Hand«, und insofern machte diese Verfassung Appetit auf mehr.
Hervorzuheben bleibt der als Novemberrevolution bekannte Übergang von der Monarchie zur parlamentarischen Demokratie im Jahr 1918. Der Name ist allerdings irreführend, denn sie bestand gerade aus der Niederschlagung der Januarrevolution (»Spartakusaufstand«), wie man den Generalstreik und die bewaffneten Kämpfe in Berlin vom 5. bis 12. Januar 1919 später nannte.
Der damalige SPD-Boss Friedrich Ebert, den laut Wikipedia »die heutige SPD … als eines ihrer größten Vorbilder«[10] sieht, hatte im Ersten Weltkrieg durch seine Politik des Burgfriedens und der Vaterlandsverteidigung durch Bewilligung der Kriegskredite im Jahr 1914 der Monarchie buchstäblich bis zum letzten Atemzug die Treue gehalten.
Nach dem Krieg wollte die SPD – »ist der Ruf erst ruiniert …« – die alten kaiserlichen Eliten nicht völlig entmachten, sondern mit der neuen Demokratie versöhnen. Dazu verbündete sie sich mit der Obersten Heeresleitung und ließ den Spartakusaufstand mit Hilfe nationalistischer Killerkommandos blutig niederschlagen.[11] Am 6. Januar übergab der erst am 19. Februar als Reichspräsident inthronisierte, also zu diesem Zeitpunkt von keinem Menschen in irgendein Staatsamt gewählte Ebert den Oberbefehl über die Truppen in und um Berlin seinem SPD-Kumpan Gustav Noske, der sofort weitere »Freikorps« aufstellte. Zu organisierten Schlachten kam es nicht, da die Aufständischen nicht darauf vorbereitet waren; vielfach ergaben sie sich freiwillig. Dennoch erschoss das Militär über hundert Aufständische und eine unbekannte Zahl von unbeteiligten Zivilisten vor Ort. Ein Untersuchungsausschuss des Preußischen Landtags bezifferte die Zahl der Todesopfer später auf 156. Wie der international anerkannte und gewiss nicht als SPD-Hasser bekannte Historiker Hans Mommsen den Sozialdemokraten ins Stammbuch schrieb, folgten der militärischen Besetzung erhebliche Gewaltexzesse der braunen Horden, die vorherige Aktionen einiger Linker weit in den Schatten stellten.[12] Am 15. Januar 1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von aufgeputschten Soldaten, also von Noskes Untergebenen, heimtückisch und kaltblütig umgebracht.
Als diese von der SPD-Führung zu verantwortenden Morde zu republikweiten Unruhen führten, war Noske erst richtig in seinem Element. Er hetzte Freikorps und Reichswehrverbände auf alle Andersdenkenden mit dem Ergebnis von etwa 5000 Todesopfern und einigen politischen Morden an führenden Vertretern der Linken.[13]
Zusammengefasst: Der oberste Chef der Mörder von Luxemburg und Liebknecht sowie 5000 weiterer Frauen und Männer war die SPD-Ikone Friedrich Ebert. Und ist die These wirklich so absurd, dass Ebert durch seine Kooperation mit den Monarchisten einen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg – und damit letztlich auch Adolf Hitler – erst möglich machte? Wieso hat die SPD ihre Stiftung eigentlich nach Friedrich Ebert und nicht gleich nach Gustav Noske benannt? Möglicherweise hat man ja gewürfelt …
Heinrich Manns 1914 fertiggestellte Satire Der Untertan spielt zwar in der wilhelminischen Ära, beschreibt aber auch das Verhalten einer gewissen Sorte Mensch von 1933 bis heute. Die Rede ist von der Radfahrermentalität: nach oben buckeln, nach unten treten. Als Lehre aus der Nazizeit nahm die damalige Generation mit: »nur nicht auffallen«, »nur nicht aus der Reihe tanzen«, »sich nie mit der Obrigkeit oder mit Stärkeren anlegen«, »sein Fähnlein stets nach dem Wind hängen«. So entsteht »Mob« oder »Pöbel« – eine Ansammlung feiger Würstchen, die in der Masse aber gemeingefährlich werden kann.
In der Nachkriegszeit kamen zwei Dinge zusammen: Zum einen hatte fast jeder Zweite irgendwie »Dreck am Stecken« und wollte kein Aufsehen. Zum anderen – und das gilt bis heute – entwickelten manche Mitbürger ein schlechtes Gewissen bis hin zum blanken Hass auf diejenigen, die sich das trauten, wozu sie selbst zu feige waren. Dabei war kein Anlass zu lächerlich: Selbst wer nur gegen ein spießiges Outfit durch eine andere, zuweilen sogar individuelle Selbstpräsentation protestierte, konnte regelrechte Wutanfälle provozieren: »Wie die rumläuft; so was hätte es früher nicht gegeben« – hat es natürlich doch, aber die Spießer waren schon immer zu feige.
Erst recht entlädt sich diese Variante von Neid beim öffentlichen oder gar politischen Protest. Vor nicht allzu langer Zeit hielt der kriecherische Mainstream jegliche Proteste und erst recht Demonstrationen schon als solche für anstößig: »Man widerspricht nicht« – Kinder nicht den Erwachsenen, Erwachsene nicht der Obrigkeit. Wenn man (das hier tatsächlich Mann bedeutet) überhaupt seinem Herzen Luft machte und auf die Obrigkeit schimpfte, dann höchstens in den »eigenen vier Wänden« oder am Stammtisch. Die Faust wurde bestenfalls in der Hosentasche geballt. Und die Frauen spielten ihre Hausfrau-und-Mutter-Rolle großenteils mit. Wie in der Satireserie Ein Herz und eine Seele mit Ekel Alfred brillant beschrieben, war der Mann für »die Politik« zuständig, das Heimchen für den Herd. Dies hat sich spätestens seit der Studentenbewegung geändert. Heute demonstrieren sogar Polizisten, Zahnärzte und Radfahrer beiderlei Geschlechts auf offener Straße und unvermummt.
Dabei ist Widerstand beileibe nicht gleich Widerstand: Die Gruppe Stauffenberg trennten – bei all deren politisch problematischen Positionen wie der Ablehnung der parlamentarischen Demokratie[14] – Lichtjahre von faschistischen Ausländermördern. Und auch der Aufruf des Rechtspopulisten und Historikers Arnulf Baring zum Steuerboykott »Bürger auf die Barrikaden«[15] hat nichts gemein mit Boykottaufrufen vieler Umweltorganisationen wie Greenpeace 1995 gegen den Energiemulti Shell, der die Erdölplattform Brent Spar im Atlantik versenken wollte. Kritiker befürchteten schwere Umweltschäden, da die Plattform massiv mit gefährlichen Giftstoffen belastet war. Wegen des großen öffentlichen Drucks und eines Umsatzrückgangs von über 25 Prozent allein in Deutschland ließ Shell sein Vorhaben fallen und entsorgte Brent Spar an Land.[16]
Dass selbst Normalbürger keine egoistischen »Geiz-ist-geil«-Idioten sind, musste auch die Drogeriekette Schlecker erfahren. Laut einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) brachen die Erlöse in den ersten vier Monaten 2010 um 16 Prozent ein. Nach der Debatte um Dumping-Löhne hatten mehr als eine Million Kunden dem Unternehmen den Rücken gekehrt. GfK-Experte Wolfgang Twardawa äußerte sich in der Wirtschaftswoche: »Die in diesen Fragen zunehmend kritischen Verbraucher bestrafen solche ethischen Fehltritte inzwischen nicht mehr nur durch zeitweilige Kaufzurückhaltung, sondern durch dauerhaften Vertrauensentzug.«[17]
Mal nebenbei gefragt: Was hindert die Verbraucher eigentlich daran, sich einen Supermarkt, einen Discounter nach dem anderen vorzunehmen. Dass viele Schlecker-Boykotteure auf eine andere Drogeriekette umsteigen, hilft ja dem bestreikten Konzern nicht im Geringsten. Und hat die Verbrauchermacht den einen Wirtschaftsriesen weichgeklopft, kommt der nächste dran … Übrigens können »Widerständler« durchaus auf den erst 1968 eingefügten Artikel 20 des Grundgesetzes verweisen:
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Nun haben viele Mitbürger zum Widerstand ein gestörtes Verhältnis. So unterstellte Franz Josef Strauß dem späteren Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt Landesverrat,[18] weil er von Norwegen und Schweden aus den Widerstand gegen Hitler organisierte: »Eines wird man Herrn Brandt doch fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.«[19]
Aber wie sang schon der Liedermacher Franz Josef Degenhardt:
Grundgesetz, ja Grundgesetz, ja Grundgesetz:
Sie berufen sich hier pausenlos aufs Grundgesetz.
Sagen Sie mal, sind Sie eigentlich Kommunist?
Befragung eines Kriegsdienstverweigerers (1972)
Dennoch scheinen sich die Deutschen zu einem »Volk der Widerborste« und einer »Dagegen-Republik« (Spiegel) zu entwickeln. Eine Protestwelle rollt durch Deutschland. Allerorten kämpfen Bürger gegen die Projekte von Politikern, bemerkt der Spiegel. Und das Interessante: Anders als frühere Protestbewegungen, wo Studenten, Hartz-IV-Geschädigte oder Gewerkschafter praktisch unter sich waren, umfassen sie nahezu alle Bevölkerungsschichten. »Bei unseren Montagsdemonstrationen versammeln sich Ärzte, Lehrer, Ingenieure und Anwälte«, sagt eine Stuttgarter Bahnhofsaktivistin. »Das sind Leute, die unsere Gesellschaft tragen – aber diesen politischen Amoklauf nicht länger hinnehmen wollen.«[20] Und da die Herrschenden geradezu darauf angewiesen sind, die Armen und die Normal- und Besserverdiener, die Jungen und die Alten, die Arbeitslosen und die Job-Inhaber, ja sogar die Raucher und Nichtraucher gegeneinander aufzuhetzen, könnte sich eine »Kollaboration« der unterschiedlichen Schichten für »Die-da-oben« zu einer brenzligen Angelegenheit entwickeln.[21] Sind also die wiederauferstandene Anti-Atomkraft-Bewegung und die Kämpfe um den Stuttgarter Hauptbahnhof nur ein Sturm im Wasserglas oder der Anfang einer beispiellosen Protestlawine, deren Richtung und Ziel bislang völlig ungewiss sind?
Deutschland besiegte nicht aus eigener Kraft die Nazidiktatur, sondern musste von den Alliierten befreit werden. Die Auseinandersetzung mit Hitlers Reich war meist ein Tabu; die »Entnazifizierung« geriet zur Farce, die von den Alliierten aufgrund der Ernennung der UdSSR zum neuen Hauptfeind mehr oder minder geduldet wurde. Wie der jüdische Historiker Chaim Frank verbittert feststellt, »stülpte die Ideologie des ›Kalten Krieges‹ den ewiggestrigen und unbelehrbaren Nazis ein wärmendes Persil-Westchen über, mit dem diese Faschisten nun nicht mehr vor ihrer Vergangenheit ängstlich zu frieren oder sich zu schämen brauchten«.[22]
So konnte der frischgebackene Bundeskanzler Konrad Adenauer schon in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949 unwidersprochen feststellen: »Durch die Denazifizierung ist viel Unglück und viel Unheil angerichtet worden. Die wirklich Schuldigen … sollen mit aller Strenge bestraft werden. Aber im Übrigen dürften wir nicht mehr zwei Klassen von Menschen in Deutschland unterscheiden: die politisch Einwandfreien und die Nichteinwandfreien. Diese Unterscheidung muss baldigst verschwinden.«[23] Und im Oktober 1952 forderte er im Bundestag: »Wir sollten jetzt mit der Naziriecherei einmal Schluss machen, denn, verlassen Sie sich darauf, wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört.«[24] Nicht zufällig war eines der ersten Gesetze, das der Deutsche Bundestag 1949 erließ, das einstimmig verabschiedete Amnestiegesetz. Dem folgte 1954 die zweite Bundesamnestie, nach der die große Mehrheit der verurteilten NS-Täter begnadigt und die Urteile aus dem Strafregister gelöscht wurden.[25]
Vor diesem Hintergrund entstand die Achtundsechziger-Bewegung. Wer aber über sie redet, darf über die Vorgeschichte nicht schweigen, vor allem nicht über ein nicht nur aus heutiger Sicht sensationelles Dokument:
»Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr als das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert … Ausgangspunkt aller Wirtschaft ist die Anerkennung der Persönlichkeit. Freiheit der Person auf wirtschaftlichem und Freiheit auf politischem Gebiet hängen eng zusammen … Die neue Struktur der deutschen Wirtschaft muss davon ausgehen, dass die Zeit der unumschränkten Herrschaft des privaten Kapitalismus vorbei ist. Es muss aber ebenso vermieden werden, dass der private Kapitalismus durch den Staatskapitalismus ersetzt wird … Monopolartigen Charakter haben die Kohlenbergwerke schlechthin wegen des von ihnen geförderten, für das gesamte Volk lebenswichtigen Urproduktes … sie sind somit zu vergesellschaften … Auch bei der eisenschaffenden Großindustrie ist der Weg der Vergesellschaftung zu beschreiten. … Das Genossenschaftswesen ist mit aller Kraft auszubauen.«
Na, wer schreibt denn so was? Fragt man nun unsere Parteifunktionäre danach, so werden die meisten auf das Programm der damaligen SED-Filiale DKP, die Memoiren von Erich Honecker oder einen abgefangenen Kassiber der Häftlinge der RAF (»Rote Armee Fraktion«) oder auf ein Thesenpapier von deutschen Kuba-Emigranten tippen. Alles ganz weit daneben. Die Passagen entstammen dem Ahlener Programm der CDU vom 3. Februar 1947, was viele, besonders die Milchbärte der Jungen Union, erst glauben, wenn sie es schwarz auf weiß sehen.[26]
Mit der Absage an den Kapitalismus sowie der Forderung nach Verstaatlichung der Schlüsselindustrie und Ausbau des Genossenschaftswesens ist dies das mit Abstand linkeste Programm einer größeren Partei nach Kriegsende; entsprechend hagelt es heute Ausreden, was das Zeug hält. Tenor: »Ist doch Schnee von gestern. War einfach eine ganz andere Zeit damals.« Fragt sich nur, was an Menschenwürde und Ausrichtung der Wirtschaft am Gemeinwohl historisch überholt sein soll. Fest steht: Wäre dieses Programm wirklich in die Tat umgesetzt worden, hätten wir heute eine gänzlich andere Republik. Ständig verspätete oder entgleisende Züge und massenhaft verschwindende Briefe und Pakete hätte es wohl nicht in heutigem Ausmaß gegeben, ebenso wenig die endlose Reihe von Skandalen, von Gammelfleisch und Umverteilung nach oben über die unzähligen Parteispendenaffären, bis hin zur gigantischen, von Deutschland mitverschuldeten großen Finanz- und Wirtschaftskrise.
Den Achtundsechzigern war es mit ihrem Widerstand ernst, sie wollten Worten auch Taten folgen lassen. Allerdings waren sie alles andere als eine von denselben Zielen motivierte, homogene Studentenbewegung. Grob gegliedert, wurde sie von acht Aspekten geprägt:
Aufarbeitung der Nazizeit und Hochschulreform
Kampf für eine national und global bessere Gesellschaft
pseudopolitischer Terrorismus
Emanzipation der Frau
sexuelle Befreiung
antiautoritäres Miteinander
zwanghaft-alternatives Leben
totales Aussteigen aus der Gesellschaft
»Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren« – diese erstmals 1967 von Hamburger Studenten anlässlich der Rektoratsübergabe auf einem Transparent gezeigte Parole spielte auf das »Tausendjährige Reich« der NS-Diktatur an. Als Foto ging sie um die Welt und wurde zu einem zentralen Motto der frühen deutschen Studentenbewegung. Der Ordinarius für Islamkunde Bertold Spuler rief beim Anblick des Transparents den Studenten zu: »Sie gehören alle ins Konzentrationslager!«[27] Daraufhin wurde er vorübergehend suspendiert.
Zu diesem Zeitpunkt galt das Interesse der Studenten noch der Nazivergangenheit ihrer Mütter und vor allem ihrer Väter, allgemein der Elterngeneration und daher natürlich auch ihrer Professoren. Nicht wenige Familien zerbrachen am Wissensdurst und den Pauschalurteilen der Jungen (»Irgendwie wart ihr doch alle Nazis.«) ebenso wie an der Uneinsichtigkeit der Alten (»Was hätte ich denn tun sollen?« Einige verteidigten sogar das Dritte Reich, auch wenn sie das Thema satthatten, den Holocaust für »überflüssig« und den Weltkrieg für »taktisch ungeschickt« hielten.
Einen Schlag ins Kontor bedeutete das im Jahr 1968 in der DDR erschienene Braunbuch – Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin[28], enthielt es doch die Namen nicht nur führender bundesdeutscher Politiker, sondern auch unzähliger Professoren. Die Entlarvten und die noch nicht Erwischten schäumten vor Wut, und auch viele Normalbürger wollten die Vergangenheit lieber ruhen lassen.
Der Historiker Götz Aly rezensierte das Buch in der Süddeutschen Zeitung anlässlich des Nachdrucks im Jahr 2002. »In der alten Bundesrepublik galt der Band lange als ›politische Pornographie‹.« Ihm zufolge handelte es sich bei dem Band, der die deutsche Öffentlichkeit mit der NS-Vergangenheit von Ministern, Staatssekretären, Generälen und Admiralen der Bundeswehr, Justizbeamten, Staatsanwälten und Richtern und weiteren Berufsgruppen konfrontierte, um Propaganda. Aber Aly betont, dass die Fakten in der Regel stimmen würden und die Irrtumsquote »deutlich unter einem Prozent« liege, was das Buch vor zahllosen historischen Nachschlagewerken auszeichne.[29]
Damals jedenfalls kam es gerade jüngeren Studenten, die zunächst wissbegierige Familienchronisten waren und dann zu Antifaschisten mutierten, gerade recht – ebenso jenen, die seit jeher gegen die damalige Unistruktur ankämpften. »Die deutschen Hochschulen knüpften 1945 in ihrer inneren Organisation und ihrem Selbstverständnis an jene Traditionen an, die durch das nationalsozialistische ›Führerprinzip‹ überlagert worden waren. Im Mittelpunkt stand erneut der (zumeist noch männliche) ›Ordinarius‹, also ›Lehrstuhlinhaber‹. Ordinarien konnten als Direktoren ihrer Institute, die die organisatorische Grundeinheit der Universitäten bildeten, alleinverantwortlich über deren Angelegenheiten verfügen.«[30] Und ebenso wie der US-Wahlkampf wegen Barack Obamas Hautfarbe zwangsläufig den Rassismus zu einem Thema machte, war auch damals der Kampf um die Demokratisierung der Uni (durchgesetzt wurde tatsächlich eine wenn auch nur scheinbare Demokratisierung[31]) ohne eine Auseinandersetzung mit dem Faschismus – und damit mit Politik überhaupt – unmöglich. »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg«, war eine zentrale Parole jener Tage.
Endgültig politisiert und radikalisiert wurden Teile der Studenten durch die Tötung ihres Kommilitonen Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin nach einer Kundgebung gegen den diktatorischen, »US-hörigen« Schah von Persien Reza Pahlavi. Es begann mit einer wüsten Prügelorgie von 150 mit Dachlatten und Eisenstangen bewaffneten Agenten des persischen Geheimdienstes Savak, die der deutschen Politik damals hochwillkommen waren, gegen die unbewaffneten, meist studentischen Demonstranten. Die Polizei räumte schließlich den Platz und begann eine wilde Verfolgungsjagd durch die umliegenden Straßen. Eine Lautsprecherdurchsage, die Studenten hätten soeben einen Polizisten erstochen, sollte die Stimmung unter den Beamten zusätzlich anheizen und vor den Bürgern ihr brutales Vorgehen rechtfertigen, in dessen Verlauf der politisch nie aktive Student Benno Ohnesorg in einem Hinterhof zunächst von mehreren Beamten zusammengeschlagen und schließlich vom Beamten Karl-Heinz Kurras durch einen Schuss aus eineinhalb Metern in den Hinterkopf lebensgefährlich verletzt wurde.[32]
Trotzdem machte die Polizei weiter. Erst die herbeigeeilte Krankenschwester Frederike Dollinger konnte die Beamten zum Aufhören bewegen. »Die Polizisten haben geprügelt wie blöd«, erinnert sie sich. »Ist denn niemand hier, der helfen kann? Er kann ja nicht mehr alleine aufstehen, und er atmet ja auch kaum noch«, hatte sie gerufen. Ein Polizist brüllte sie an: »Was? Dem wollen Sie noch helfen?«
Im Gerichtssaal.
Staatsanwalt: »Das Opfer wurde zwölfmal in den Hinterkopf geschossen.«
Angeklagter: »Tja, das war der erschütterndste Selbstmord, den ich in zwanzig Jahren Polizeidienst erlebt habe.«
Ein Foto, auf dem sie sich über den blutenden Ohnesorg beugt, ging um die Welt und stellte Deutschland gerade mal zweiundzwanzig Jahre nach Kriegsende erneut als brutalen Polizeistaat dar.[33] Den Krieg und Deutschlands Befreiung hatte der damals vierjährige Benno Ohnesorg überlebt, den Berliner Polizeieinsatz vom 2. Juni 1967 nicht.
Hätte Ohnesorg trotzdem gerettet werden können? Anwesende Polizisten weigerten sich zunächst, einen Krankenwagen zu holen. Sie hinderten einen herbeigeeilten norwegischen Schiffsarzt daran, dem Verletzten Erste Hilfe zu leisten. Der zehnminütige Wortwechsel endete damit, dass der Arzt wegen eines Abzeichens der Résistance[34] als Kommunist verdächtigt wurde. Erst gegen 20:50 Uhr, also zwanzig Minuten nach dem Polizeischuss, traf der Krankenwagen ein. Die Fahrt ins Krankenhaus dauerte etwa fünfundvierzig Minuten, da das zunächst angefahrene Albrecht-Achilles-Krankenhaus und die Westendklinik vorgaben, keine Betten für Verletzte mehr frei zu haben. Die Begleiter, ein Sanitäter und eine selbst verletzte Krankenschwester, versuchten während der Fahrt Ohnesorgs Leben zu retten. Nach Aussage der Schwester starb er in ihrem Beisein auf dem Transport. Gegen 21:35 Uhr erreichte der Wagen mit dem toten Benno Ohnesorg das Krankenhaus Moabit.
In den nächsten Tagen tönte die Springer-Journaille wie erwartet: Bild druckte das Foto eines blutenden Polizisten ab: »Gestern haben in Berlin Krawallmacher zugeschlagen, die sich für Demonstranten halten. Ihnen genügte der Krach nicht mehr. Sie müssen Blut sehen. Sie schwenken die rote Fahne, und sie meinen die rote Fahne. Hier hören der Spaß und die demokratische Toleranz auf. Wir haben etwas gegen SA-Methoden.«[35] Die BZ trompete: »Die Berliner haben keinen Sinn und kein Verständnis dafür, dass ihre Stadt zur Zirkusarena unreifer Ignoranten gemacht wird, die ihre Gegner mit Farbbeuteln und faulen Eiern bewerfen … Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen.«[36] Die Berliner Morgenpost stellt den Todesschuss als Notwehr dar; »Krawallradikale« hätten die Zusammenstöße provoziert. »Benno Ohnesorg ist nicht der Märtyrer der FU-Chinesen, sondern ihr Opfer … Das Maß ist nun voll. Die Geduld der Berliner Bevölkerung ist erschöpft. Wir sind es endgültig leid, uns von einer halberwachsenen Minderheit, die noch meist Gastrecht bei uns genießt, terrorisieren zu lassen.«[37]
Im Bereich der Printmedien stand die Springer-Presse mit ihren Ergüssen allerdings ziemlich allein da. So schrieb Karl Heinz Bohrer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. Juni 1967, die Polizei habe »… ohne gravierende Notwendigkeit, mit Planung, einer Brutalität Lauf gelassen, wie sie bisher nur aus Zeitungsberichten über faschistische oder halbfaschistische Länder bekannt wurde … Dieselbe Polizei, die am Nachmittag einer … persischen Prügelgarde zusah, wie sie mit Latten und Totschlägern deutsche Demonstranten anging, sah am gleichen Abend offensichtlich die Stunde gekommen, ihr Mütchen an jenen zu kühlen, die nicht aufhören wollten, den hohen Staatsgästen ihre unroyalistischen Ansichten zu zeigen.« Heinz Grossmann kommentierte am 26. Juni 1967 voller Ironie in der Zeit: »Man wird sich daran zu gewöhnen haben, dass der Geheimpolizei irgendeines demokratischen Vorzeigelandes – Persiens, Spaniens oder Griechenlands – bei uns die Funktion einer Hilfspolizei zugebilligt wird.«[38] Im Stern vom 27. Juni 1967 sah Sebastian Haffner die Vorgänge so: »Es war ein systematischer, kaltblütig geplanter Pogrom, begangen von der Berliner Polizei an Berliner Studenten … Sie hat sie abgeschnitten, eingekesselt, zusammengedrängt und dann auf die Wehrlosen, übereinander Stolpernden, Stürzenden mit hemmungsloser Bestialität eingeknüppelt und eingetrampelt.«[39]
Übrigens finden sich im Berliner Landesarchiv reichlich Dokumente über massive Vertuschungsversuche. Demnach hat ein Assistenzarzt auf Weisung einen Totenschein mit falschem Todeszeitpunkt ausgestellt, und ein wichtiges Beweisstück, ein bei der Obduktion herausgetrenntes Knochenstück mit dem Einschussloch, ist plötzlich »spurlos verschwunden«.[40]
Am 7. Juni wurde Polizeipräsident Duensing – der zwei Tage zuvor zu Ohnesorgs Erschießung vor Journalisten erklärt hatte: »Nehmen wir die Demonstranten wie eine Leberwurst, nicht wahr, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt.«[41] – beurlaubt und am 22. September vorzeitig pensioniert.
Der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz räumte nachträglich »schwere Fehler« ein und trat am 26. September 1967 zurück.[42]
Kurras selbst wurde in zwei Verfahren wegen fahrlässiger Tötung freigesprochen und durfte sogar Polizist bleiben. Später soll er seiner Hauswartsfrau gegenüber geprahlt haben, er habe seine Waffe gezogen, auf den Hinterkopf Ohnesorgs gezielt und abgedrückt. »Ein Lump weniger«, habe er gesagt. Erst jetzt, nachdem seine Stasi-Vergangenheit bekannt geworden ist, fordern einige, ihn erneut anzuklagen – wegen Mordes, denn »Mord verjährt nie«.[43]
Aber dieser plötzliche Schwenk um 180 Grad ist so verlogen, dass es einem schlecht wird: Nur weil gewisse Kreise erfuhren, dass Kurras in Wahrheit doch kein so strammer, die deutsche Volksgemeinschaft gegen die ungewaschenen Radaubrüder verteidigender Deutschnationaler war, sondern ein DDR-Spion, wurde seine Tat in null Komma nix von heldenhafter Notwehr zum kaltblütigen Mord umgedichtet. Dies erinnert an einen Vater, der erfährt, dass sein verhätschelter Sohnemann gar nicht sein eigen, sondern des Briefträgers Fleisch und Blut ist, und ihn daraufhin unverzüglich vor die Tür setzt und seine Kreditkarte sperren lässt.
Ob dies nun die Geburtsstunde der Achtundsechziger war, mögen Historiker entscheiden. Jedenfalls machte der Tod Benno Ohnesorgs gleichsam über Nacht aus unpolitischen politisch interessierte und aus denen wiederum politisch aktive Studenten: Alle waren ein Stück nach links gerückt – die Gegenseite aber auch ein Stück nach rechts. Nicht nur jene, die Nazidreck am Stecken hatten oder nach 22 Jahren den »Zusammenbruch« des Dritten Reiches bedauerten, sondern auch im Zuge des Kalten Krieges von den Medien aufgehetzte Normalbürger beschimpften jeden, den sie für einen linken Studenten hielten, als »Kommunistenschwein« und gaben ihm den geistreichen Tipp: »Geh doch rüber in die Ostzone.«
Die Ermordung des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King am 4. April 1968 und Robert Kennedys am 6. Juni 1968 heizte die Stimmung noch weiter an, und nach dem Attentat auf Rudi Dutschke genau eine Woche später eskalierte die Situation erst richtig. Noch am selben Abend zogen Tausende von Studenten zum Berliner Springer-Haus, da man in den Blättern des Verlages die wahren Schuldigen ausgemacht hatte. Zeitungslieferwagen gingen in Flammen auf oder wurden umgestürzt.[44]
Dass binnen kurzer Zeit auch die Unterstützung der »Völker der Dritten Welt« hinzukam – allen voran Vietnam, Laos und Kambodscha, aber auch die damaligen portugiesischen Kolonien Angola, Mosambik und Guinea-Bissau oder der Iran unter dem Schah –, war eigentlich nur eine logische Folge. Fernsehbilder wie die des Massakers von My Lai vom 16. März 1968 erübrigten jeden Kommentar und machten Ausreden und Abstreiten unmöglich: Die Soldaten vergewaltigten Frauen und ermordeten fast alle Bewohner des vietnamesischen Dorfes: 503 Zivilisten, darunter 182 Frauen, 172 Kinder, 89 Männer unter sechzig Jahren und sechzig Greise.[45] Diese Bilder schockierten die US-Bürger dermaßen, dass sich ihre verhaltene Zustimmung zum Krieg in empörte Ablehnung verwandelte, woraufhin die Regierung Richard Nixon am 27. Januar 1973 durch ein Waffenstillstandsabkommen mit dem Vietcong de facto ihre Niederlage eingestand und ihre Truppen abziehen musste.
Ebenso vorhersehbar wie die Internationalisierung der studentischen Solidarität war die Tatsache, dass sich die politischen Achtundsechziger früher oder später zerstreiten und zersplittern würden. Unzählige Gruppen entstanden, darunter allein sechs maoistische mit 1970 laut Verfassungsschutz insgesamt 15000 Mitgliedern. Extreme des linken Wirrwarrs waren die Terroristen der RAF (Rote Armee Fraktion) einerseits und die Anhänger des »Marsches durch die Institutionen« andererseits, womit zunächst nur die SPD gemeint war. Dieser Marsch führte vor allem für »geläuterte« Maoisten nach ganz oben: So wurden Jürgen Trittin (Kommunistischer Bund) und Ulla Schmidt (KBW) Bundesminister. Am meisten aber räumten die Genossen aus dem Umfeld der KPD ab: Antje Vollmer wurde Bundestagsvizepräsidentin, Kurt Ziesemer Chefredakteur des Handelsblatts, Alan Posener Kommentar-Boss der WamS, und Ex-KPD-Chef Christian Semler Leiter der taz. Nicht zu vergessen die »Undogmatischen« vom Revolutionären Kampf wie Thomas Schmid und Joschka Fischer, von denen es einer zum Chef der Welt und der andere zum Außenminister brachte.
Die Studentenbewegung habe durch ihr »verbales Liebäugeln mit der Gewalt die Saat der späteren Gewaltexplosion gelegt«, meint der rechtsgerichtete Schriftsteller Willi Winkler.[46] Zweifellos entstammte die erste Generation der RAF der Achtundsechziger-Bewegung und gab sich als »sozialistische Volksbefreier« aus (siehe Anhang 2). Und obwohl die aktiven Terroristen nur aus einem kleinen Häuflein bestanden, zählte ein zeitweilig recht großer Teil der Bewegung die RAF zur Linken und verglich sie sogar mit der Guerilla Südamerikas. Und wie der Name schon sagt und das RAF-Gründungspapier vom 5. Juni 1970 ausführlich darlegt, wollte sich zumindest die »Erste Generation« als eine Art Militärabteilung des Volkes darstellen.[47] Aus der Distanz von über 40 Jahren mutet es allerdings merkwürdig an, dass dieselben superkritischen linken Intellektuellen, die im Zweifelsfall eher misstrauisch als gutgläubig waren und die Frage nach der Uhrzeit mit der Gegenfrage »wozu willst du denn das wissen?« beantworteten, dass also diese tiefschürfenden Analytiker ausgerechnet der von Anfang an dubiosen RAF ihren guten (= »linken«) Willen so einfach abnahmen.
Der Mensch ist bereit, für jede Idee zu sterben, vorausgesetzt, dass ihm die Idee nicht ganz klar ist.
Gilbert Keith Chesterton
Nicht ganz unschuldig an dieser Solidarisierung, vor allem mit den »politischen Gefangenen« der RAF, waren Teile der Politik und gewisser Medien, die gleich die gesamte Studentenbewegung und sogar jede Menge Prominente zu Sympathisanten und geistigen Wegbereitern des Terrorismus zählten – u.a. die Schriftsteller-Legende Jean-Paul Sartre, seine Kollegen Martin Walser, Oskar Negt, die Nobelpreisträger Heinrich Böll und Günter Grass, Verleger Klaus Wagenbach, die Regisseure Margarethe von Trotta und Claus Peymann, Berlins Ex-Bürgermeister und Pfarrer Heinrich Albertz, ja sogar Außenminister Willy Brandt und Justizminister Gustav Heinemann.[48] Überhaupt spielte in der Linken der Streit um »Gewalt gegen Sachen und Personen« lange Zeit eine große Rolle: Motto: »Polizeiautos anzünden ja, ›politische‹ Morde nein« (siehe Anhang 2).
Auch wenn die RAF durchaus im Laufe der tiefgehenden Auseinandersetzung der Achtundsechziger-Bewegung um die Wege und Mittel des Protests entstanden ist, erscheint es aus heutiger Sicht verlogen und absurd, der Studentenbewegung diese pervertierte Radikalisierung einiger weniger Protagonisten anzulasten. Schließlich macht man ja auch nicht den Papst für die Sittenstrolche in der Soutane verantwortlich, ebenso wenig wie die schwarz-braunen Sarrazine für künftige Morde an fremdländisch aussehenden Menschen.
Ein ebenfalls wichtiges Anliegen der Achtundsechziger war der Kampf für die Emanzipation der Frau. Schließlich galt damals allgemein (und in gewissen Kreisen noch heute) die Hausfrau und Mutter als ideale Frau: Erst seit 1958 dürfen Frauen ihr Vermögen selbst verwalten und ohne Zustimmung des Ehemannes berufstätig sein,[49] erst seit 1977 sind sie nicht mehr in erster Linie zur Haushaltsführung verpflichtet,[50] und erst seit 1997 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Einen Meilenstein stellte das Bekenntnis 374 teils prominenter Frauen im Stern vom 6. Juni 1971 dar: »Wir haben abgetrieben.«[51]
Eine Frau, die ihren Widerstand aufgibt, geht zum Angriff über.
Marcello Mastroianni, Schauspieler (1924–1996)
Nicht verwechselt werden darf damit die meist von Männern initiierte Bewegung für die »sexuelle Befreiung«. Einerseits wurde die faschistoide Diskriminierung und Strafverfolgung Homosexueller ebenso hinweggefegt wie der Kuppeleiparagraph, wonach sich Eltern strafbar machten, die ihre Tochter in einem Raum mit ihrem Freund übernachten ließen. Andererseits handelte es sich häufig um den plumpen Versuch lächerlicher Machos – Standardspruch: »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment« –, Frauen unter ideologischen Vorwänden buchstäblich »ins Bett zu quatschen«. Man denke nur an die legendären Kommunen.
Zwangsalternative und Aussteiger waren zwar eher Randgruppen der Achtundsechziger, leisteten aber auf ihre Art ebenfalls Widerstand gegen die bürgerliche Gesellschaft, wenn auch »nur« durch Verweigerung und Verletzung der »Spielregeln«. Die einen kehrten der Gesellschaft demonstrativ den Rücken, zogen aufs Land und versuchten sich in ökologischer Landwirtschaft und im Extremfall in weitestgehender Autarkie inklusive Petroleumlampe statt elektrischem Licht und abgekochtem Fluss- oder Regen- statt Leitungswasser, selbstgenähter Kleidung und selbstgebauter Möbel und Boykott sämtlicher Medien und anderer Informationsquellen mit Ausnahme der gelegentlichen Besucher aus der »Zivilisation«. Dass dieses Steinzeitspielen im Nachhinein mehr mit den heutigen Überlebenscamps für Manager gemein hatte als mit alternativem Leben und folglich nur von kurzer Dauer war, liegt auf der Hand.
Die anderen waren in gewisser Weise Vorläufer der Punks. Sie wollten um jeden Preis – meist durch ihr Äußeres – auffallen und provozieren. Da lange Haare, Parka, Flickenjeans, Schlaghosen, Stirnband oder Che-Guevara-Outfit längst zur »Nonkonformisten-Uniform« (Reinhard Mey) verkommen waren, mit denen man kaum noch jemanden provozieren konnte, und die Gesellschaft für den Punkerkult mit Nasenpiercing und Steißbeintattoo noch nicht reif genug war, praktizierte man zunächst zivilere Varianten des Auffallens um jeden Preis. Einige dieser »Alternativisten« wurden zu unfreiwilligen Lachnummern: Die einen hatten einen Vorrat von zwanzig Sorten Früchtetee und töpferten ihre Aschenbecher selber, die anderen machten rundum auf Bio – von der Biobanane über das Biobettzeug bis hin zur Biolek-Biographie –; wieder andere verloren sich in den Untiefen der esoterisch verbrämten Rundumtherapie bei therapiebedürftigen Laientherapeuten. Sie ließen den lieben Gott einen guten Mann und die liebe Göttin eine gute Frau sein und verbrachten ihre Zeit damit, sich des alternativen Lebens zu freuen oder über das »elementare Zerwürfnis des Seins«[52] vor sich hin zu meditieren und blauäugige Appelle zu verbreiten.
»Make love, not war« und »Flower Power« lautete das Credo der Hippiebewegung. Im Gegensatz zu den »Aussteigern« aber wollten sie nicht prinzipiell der Gesellschaft den Rücken kehren, sondern ein anderes, menschenwürdiges Zusammenleben. In engem Zusammenhang damit stand das Aufkommen leichter Drogen wie Haschisch oder Marihuana. Selbst Bill Clinton gab zu, in seiner Studentenzeit »ein Tütchen« probiert zu haben: »Als ich in England war, habe ich ein oder zwei Mal mit Marihuana experimentiert, und ich mochte es nicht«, verriet er im März 1992 der New York Times. »Ich habe nicht inhaliert und es nie mehr probiert.«[53]
Aber wie dem auch sei: Langfristig muss jedes alternative Lebenskonzept, das die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Realität einfach ignoriert, schon allein daran scheitern, dass es von der Marktwirtschaft aufgesaugt wird. Heute leben von den Marotten unserer Möchtegern- oder edelalternativen Mitbürger ganze Branchen – dubiose »Naturheiler« und selbsternannte »Therapeuten« ebenso wie Ökoboutiquen und Biokosthändler. Letzteren sagt ein uraltes Gerücht bekanntlich nach, sie würden Discounter-Äpfel im Straßenmatsch wälzen und zum fünffachen Preis in ihrem Laden als »unbehandeltes Obst« anbieten.[54]
Man kann niemals eine Revolution machen, um damit eine Demokratie zu gründen. Man muss eine Demokratie haben, um eine Revolution herbeiführen zu können.
Gilbert Keith Chesterton, Schriftsteller (1884 –1936)
Vereinfacht ausgedrückt: Sobald sich mehr als hundert Leute für irgendetwas »Unkonventionelles« interessieren, entdeckt es irgendein Hersteller als Profitquelle. Dies ist übrigens auch das große Problem der – logischerweise als Abgrenzung von »den Erwachsenen« gedachten – Jugendkultur. Kaum ist etwas Neues entstanden, verliert es in Windeseile seine Exklusivität an die Großen: Oma lädt sich Klingeltöne runter, Opa hört Tokio Hotel auf dem MP3-Player, Mama säuft Alkopops, und Papa flucht wie ein Zwölfjähriger. Fast scheint es, als habe die Marktwirtschaft frei nach Udo Lindenberg »alles im Griff auf dem sinkenden Schiff«.
Der antiautoritäre Mythos ist für viele Volksdeutsche ein rotes Tuch. Kern des Hasses einiger Mitbürger ist vor allem die angebliche Aufweichung von »Zucht und Ordnung«, vor allem in der Kindererziehung. Gerade die endlose Kette seit alters üblicher, bestenfalls als Kavaliersdelikt gerügter und bis heute andauernder Kindesmisshandlung macht diesen Hass begreiflich. Hier ein Kinder verprügelnder Bischof, dort Sittlichkeitsverbrecher in der Jesuiten-Soutane, an weltlichen Eliteschulen wie den allesamt eliteorientierten Privatschulen Schloss Salem, Birklehof und Odenwaldschule sexueller Missbrauch – wer im geistig-moralischen Sumpf erwischt wird, reagiert eben aggressiv.[55] Zumal skurrile Missverständnisse »antiautoritärer« Erziehung ja Argumente liefern: völliger Verzicht auf Einflussnahme auf die Entwicklung der lieben Kleinen und das Beibringen sozialen Verhaltens. Der kleine Fridolin Theodor, der im Lokal Leuten am Nebentisch die Bulette vom Teller klaut, ist eben nicht »süß«, sondern verzogen. Und auch das Parken der lieben Kleinen vor der Glotze hat nichts mit »freier Entfaltung der Persönlichkeit« zu tun.
Andere wiederum werfen den Achtundsechzigern natürlich ihre humanistische Grundeinstellung vor und überhaupt alles, was den Demokraten vom faschistoid-spießigen Pöbel unterscheidet. »Trostlos sei auch die Kleidung gewesen«, gibt Bild-Chef Kai Diekmann bei der Vorstellung seines Buches Der große Selbstbetrug[56] im Oktober 2007 zum Besten: Parka, Poncho, Palästinensertuch. »Kein Arbeiter ist so rumgelaufen.« Da sei »mangelnde Hygiene als Ausdruck innerer Werte verstanden« worden. Nur ein paar wenige seien es gewesen, die irgendwann genug gehabt hätten von der »blöden Solidarität mit den Kaffee-, Baumwoll- und Bananenpflückern dieser Welt«.[57] Nase voll von christlicher Nächstenliebe?
Der zu seiner eigenen Überraschung zur Präsentation eingeladene frühere Kulturstaatsminister Michael Naumann (SPD) zog Diekmann verbal das Fell über die Ohren. Ein angeblicher Haupttäter wie der Sozialistische Deutsche Studentenbund habe »auf seinem Höhepunkt nicht mehr als 2000 Mitglieder« und die größte Demo nach dem Tod von Rudi Dutschke gerade mal 70000 Teilnehmer gehabt. Sollte Diekmann recht haben, so Naumann, dann hätte dieser kleine Haufen auf die bundesdeutsche Mehrheit eine geradezu »heroische Wirkungsmacht« gehabt. Diekmann argumentiere mal mit dem großen Wir derer, die sich vom Staat entmündigen lassen, mal mit dem kleinen Wir derer, die sich nach einem Führer sehnen. »Es wird nicht so klar, welches Wir er von Kapitel zu Kapitel bevorzugt. Aber das ist ja der Vorzug des Populismus: Gemeint sind immer die anderen.«[58]
Die netteste Kritik ist die aus der eigenen Familie, in diesem Fall von WamS-Kommentarchef Alan Posener: Der Ex-Maoist verteidigt im Mai 2007 in seinem Weblog die Generation Dutschke gegen Kai Diekmanns Anwürfe: »Die Achtundsechziger zwingen ihn noch heute, täglich auf der Seite 1 eine Wichsvorlage abzudrucken, und überhaupt auf fast allen Seiten die niedrigsten Instinkte der Bild-Leser zu bedienen.«[59]
Noch verschärfter argumentiert der Historiker Götz Aly, der zwischen den Achtundsechzigern und der Nazigeneration kaum einen Unterschied sieht. Auf Deutsch: Reichskristallnacht und Vietnamdemonstrationen waren im Prinzip Jacke wie Hose. »Waren die Studenten so schlimm? Oder die Nazis vielleicht doch auch nur eine Jugendbewegung?«, mokiert sich Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung vom 19. Februar 2008. Alys Buch sei eine »Hasstirade« und »seinem Leiden entsprungen«, kein Ordinarius geworden zu sein.[60] Auch der Historiker Norbert Frei weist Alys Vorwurf zurück, die Achtundsechziger seien »verkappte Nazis und Antisemiten« gewesen.[61]
»Widerstand ist zwecklos«, lautet eine der beliebtesten Phrasen aus Vorabendkrimis. »Widerstand ist zwecklos« suggerieren auch die Gralshüter von Recht & Ordnung bei den unerhörten, aber weltweit gehörten Demonstrationen gegen AKW-Kamikaze, Umweltzerstörung oder G8-Gipfel. Aber ist Widerstand überhaupt zwecklos? Der zweifellos berühmteste, vielleicht weil friedliche, Widerstand der vergangenen hundert Jahre ist der des Inders Mahatma Gandhi gegen die »britischen Kolonialherren«, wie sich die ebenso verkommenen wie königlichen Herrenmenschen damals höflich nannten. Aber ist Widerstand Schnee von gestern? Und vor allem: Was ist eigentlich Widerstand?
Das Volk ist da recht erfinderisch. Man denke nur an den Aufruf der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft zum »Gebärstreik« von 1917, mit dem die Geburt künftiger Soldaten verhindert werden sollte.[62]
Eine solche Aktion verkündeten im Jahr 2002 Hunderte von Finninnen gegen den Bau eines Atomkraftwerks.[63] Zynischer Unsinn ist dagegen die »Analyse« des aktuellen Geburtenrückgangs bei berufstätigen Frauchen durch die Busenfreundin von Angela Merkel und Friede Springer, Alice Schwarzer: »Die deutschen Frauen sind in den Gebärstreik getreten.«[64] Wer die individuelle Entscheidung verzweifelter Frauen in einer im Turbokapitalismus ausweglosen Situation zum »Gebärstreik« hochjubelt, der bezeichnet auch das Elend in der Dritten Welt als »Hungerstreik« und die seltene Anwesenheit unserer Ärmsten in edlen Politikerrestaurants als »Konsumstreik« – das hämische Wort »mangelnde Kauflaune« gehört ja bereits zum festen Wortschatz unserer Herrscherkaste und ihrer Gossenmedien. Die Formen des echten Widerstandes sind allerdings durchaus mannigfach.
Hundertprozentig ungefährlich ist natürlich nichts im Leben. Auf dem Weg zum Zigarettenautomaten können wir ausrutschen und das Zwei-Euro-Stück verbiegen, bei Tempo 280 kann uns ein Reifen platzen, und bei Fahrten mit der Deutschen Bahn können wir nicht ausschließen, dass wir im Winter erfrieren, im Sommer ersticken und jeden Moment entgleisen. Nicht einmal beim Schlafen im Bett sind wir sicher: »In der schönsten Traumphase wächst auch die Lebensgefahr«, haben US-Forscher jetzt entdeckt: Der Abbau bestimmter Gehirnzellen kann ihnen zufolge zu tödlichen Atemaussetzern führen.[65]
Aber von diesen Risiken einmal abgesehen, können wir zum Beispiel beim Sammeln von Unterschriften oder der Teilnahme an Demos und anderen Aktionen zwischen »riskant« und »ungefährlich« unterscheiden: Was kann uns körperlich, juristisch, beruflich und sozial passieren?
Mutig war zum Beispiel bis in die noch immer nazidurchtränkten sechziger Jahre das Eintreten für die Rechte von Homosexuellen – schließlich konnten gemäß dem erst 1994 ganz gestrichenen § 175 des Strafgesetzbuches Lesben und Schwule noch bis 1969 wegen Homosexualität auch unter Erwachsenen für fünf Jahre ins Gefängnis wandern. Hinzu kam – vor allem in katholischen Gegenden – die zuweilen in Hass ausartende Ausgrenzung in Nachbarschaft, Job oder Verein. Heute dagegen spukt Homophobie zwar noch immer in den Köpfen einiger Psychopathen, und Homosexuelle riskieren in katholischen Einrichtungen die Kündigung;[66] aber eine Teilnahme am Christopher Street Day, wo sogar Promis wie der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (»Ich bin schwul, und das ist auch gut so«) ganz vorn mit dabei sind, erscheint doch wenig Gefahrenpotenzial zu bergen.
Anton und Berta im Streit. Anton sagt: »Die neue Fassade des Rathauses ist doch klasse.« Mischt sich Chris ein: »Ja, da haben Sie recht.« Nun Berta: »Die Fassade ist doch das Allerletzte.« Darauf Chris: »Ja, da haben Sie recht.« Jetzt Anton und Berta: »Sie können doch nicht uns beiden recht geben. Das widerspricht sich doch.« Chris nickt: »Ja, da haben sie recht.«
Generell gilt: Wenn bei irgendwas Spitzenpolitiker mitmachen oder gar mehrere Parteien (die Linke meist ausgenommen) dazu aufrufen, dann können wir ruhig mitlaufen. Dies gilt auch für Aktionen und Forderungen, gegen die ohnehin kaum jemand etwas hat – häufig auch, weil sie zu allgemein und unverbindlich sind. Beliebte Themen sind Morde an Ausländern, kriminelle Islamisten, Rechtsradikalismus, Klimawandel, Rettung des tropischen Regenwaldes, Hunger und Armut (wenn man nicht gerade die Großkonzerne und deren Regierungen als Schuldige erwähnt), Kinderpornographie oder Rettung von Robben und Walen. Unvergessen ist die Szene in der Komödie Miss Undercover mit Sandra Bullock, in der jede einzelne Kandidatin einer Miss-Wahl zum Abschluss ihrer Präsentation ausruft: »Und außerdem bin ich für den Weltfrieden.«
Diese Art von »Widerstand« ist für die Politik meist Teil des Wahlkampfes und der Eigenwerbung. Aber auch ganz gewöhnliche Karriere-Opportunisten versuchen hier zu punkten. Wenn zum Beispiel ein Moderator, der stets allen wichtigen Politikern aller wichtigen Parteien recht gibt, plötzlich kämpferisch wird und mit bebender Stimme bekennt: »Ich bin gegen Kinderschänder ebenso wie gegen Serienkiller«, dann hat das so viel mit »Mut« und »Widerstand« zu tun wie ein Fisch mit einem Fahrrad.
Eng verwandt mit dieser Form des ungefährlichen Widerstands sind »von oben« initiierte Protestaktionen wie Schweigemärsche oder Lichterketten gegen jene Morde an Ausländern, die sich wegen einer undichten Stelle nicht totschweigen lassen. Angeführt wird dieses Theater oft von Politikern, deren Parteien erst die Stimmung für solche Verbrechen geschaffen haben. Das allerdings soll nicht heißen, dass unzählige aufrechte Menschen sich an diesen Lichterketten und Demos beteiligen. Ihnen gehen die Morde wirklich nahe; ihnen sagt kein persönlicher Referent: »Wenn Sie wiedergewählt werden wollen, dann müssen Sie sich unter diesen Idioten und Gutmenschen auch blicken lassen. ARD und RTL sind auch schon bestellt.«
Zu den echten Arbeitskämpfen kommen wir später, hier geht es um die symbolische, ritualisierte Form. Dieses »So tun als ob« gilt insbesondere für die Gewerkschaften. Häufig rufen Gewerkschaftsbosse nicht hauptsächlich deshalb zu Streiks auf, um Forderungen durchzusetzen, sondern damit die Beschäftigten »Dampf ablassen« und die Arbeitnehmervertreter die Kampfentschlossenen geben und »Wir tun was« vortäuschen können.
Allerdings müssen die Gewerkschaften aufpassen; hängt doch ihre Macht wesentlich von der zahlenmäßigen Stärke und der Kampfbereitschaft ihrer Basis ab. Der seit Jahren andauernde massive Mitgliederverlust von 7,8 Millionen im Jahr 2000 auf 6,3 Millionen im Jahr 2009[67] zeigt den Schwund des Vertrauens in die Führung, was eigentlich kein Wunder ist. So boykottierte die DGB-Spitze nahezu jede »Hartz-IV-muss-weg«-Demonstration. Und Gewerkschaftsführer machten der Belegschaft auch freiwilligen Lohnverzicht zwecks Rettung von Arbeitsplätzen schmackhaft.
Hier mal ein Warnstreik für Mindestlöhne, gegen Werkschließungen oder unzumutbare Arbeitsbedingungen, dort eine Kundgebung gegen unbezahlte Überstunden, Abbau des Kündigungsschutzes oder für mehr Ausbildungsplätze. Und die Adressaten, ob Regierung oder Arbeitgeber, lehnen sich entspannt zurück: Solange der Protest von einer DGB-Gewerkschaft inszeniert oder wenigstens kontrolliert wird, besteht nicht die geringste Gefahr.
Das amüsanteste Beispiel bieten die Tarifverhandlungen selbst. Ob nun im Straßenbahner-Waldheim unter dem Stuttgarter Fernsehturm oder im Kongresszentrum Potsdam mit Blick auf den Templiner See: In irgendeinem Tagungsraum wird streng geheim, also ohne Zeugen, »hart und zäh« verhandelt. Vor der Tür hocken Journalisten: die von den Agenturen und vom Fernsehen, um Geheimverhandler auf dem Weg zum WC abzufangen und auszuquetschen, die anderen, um Skat oder Poker zu spielen. Denn die Ergebnisse der erbitterten Verhandlungen stehen schon seit Tagen bis ins Detail genau fest. Deshalb liegen auch die Medienleute mit ihren Tipps fast immer richtig. Die Faustregel ist einfach: Forderung vier Prozent, Angebot zwei Prozent, Abschluss drei Prozent. Was die geheimen Streithähne ohnehin am meisten umtreibt, ist die Frage, wie möglichst jede Seite ihren Leuten das Ergebnis als Erfolg verkaufen kann. Und weil dieser Erfolg umso größer erscheint, je härter er »erkämpft« wurde, vertagt man sich einige Male ohne Ergebnis, und die Gewerkschaften faseln pressewirksam etwas von einer Streik-Urabstimmung und die Arbeitergeber von gefährdeten Arbeitsplätzen. Alles ist so sorgfältig inszeniert, dass – ähnlich wie einige Mitbürger den ZDF-Bergdoktor für einen echten Arzt halten – sehr viele diese Verhandlungs-Show als einen Ausdruck von Tarifautonomie betrachten.
Eine im Rahmen der parlamentarischen Demokratie wichtige Form des Widerstands ist die immer geringere Wahlbeteiligung. Der Grund liegt auf der Hand: Laut Forsa-Umfrage vom Sommer 2009 glauben nur noch fünf Prozent der Deutschen, sie könnten die Politik durch Wahlen »in starkem Maße« mitbestimmen. 57 Prozent glauben, man könne wenigstens »etwas« mitbestimmen, während 38 Prozent nicht einmal das für möglich halten. Besonders realistisch sind Arbeiter: Dass sie die Politik durch Wahlen maßgeblich beeinflussen könnten, meinen null Prozent. »Das Vertrauen ins demokratische Ideal ist zur Restgröße verkümmert«, fasst Hans-Ulrich Jörges im Stern zusammen.[68]
Nur folgerichtig geht bei Kommunalwahlen meist weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten zur Urne. Und bei der Schicksalswahl 2009 in Hessen erreichte die Wahlbeteiligung mit 61 Prozent ein historisches Tief: Ein Jahr zuvor bei der »Ypsilanti-Wahl« lag sie noch bei 64,3 Prozent.[69] Selbst die Bundestagswahl im September 2009 erreichte mit blamablen 70,2 Prozent einen historischen Tiefststand.[70] Und bei der Landtagswahl in NRW im Mai 2010 fanden gerade mal 59,3 Prozent der Wahlberechtigten den Weg ins Wahllokal.[71]
Das wahre Wahlergebnis von NRW
Nichtwähler
46,1%
CDU
18,6%
SPD
18,6%
Grüne
6,5%
FDP
3,6%
Linke
3,0%
Es lässt sich nicht mehr leugnen: Sowohl im Bund als auch in den Ländern sind die Nichtwähler längst die stärkste Fraktion. Besonders dramatisch ist die Entwicklung beim Bund, wo die Zahl der Nichtwähler von 9,9 Prozent im Jahr 1972 über 20,9 Prozent 2002 auf 22,3 Prozent bei der Wahl 2005 und auf 29,8 Prozent im Jahr 2009 stetig gestiegen ist.
Das wahre Ergebnis der Bundestagswahl 2009
Nichtwähler
29,8%
CDU/CSU
23,7%
SPD
16,2%
FDP
10,2%
Linke
8,4%
Grüne
7,5%
Ein Grund für diese Enthaltsamkeit der Wahlberechtigten ist die schwindende Unterscheidbarkeit der Parteien. Anthony Downs, der Mitbegründer der Neuen Politischen Ökonomie, führt diese Entwicklung auf den Eigennutz der Politiker zurück. Sie hätten »als Hauptmotiv den Wunsch, sich die mit dem Regierungsamt verbundenen Vorteile zu verschaffen; daher streben sie nicht die Regierung an, um vorgefasste politische Konzepte zu verwirklichen, sondern formulieren politische Konzepte, um an die Regierung zu kommen«.[72] Logische Folge ist die permanente Suche nach Marktlücken. So macht schon mal die SPD auf law and order (Schily) und neoliberal (Agenda 2010), die Union dagegen auf sozial (von der Leyen). Die FDP spielt die Pharmakonzerngegnerin (Rösler), und die Grünen machen sowieso seit eh und je alles mit, was ihnen zum Erringen und Erhalten der Macht nützlich ist: ob Afghanistankrieg oder Hartz IV, Gerhard Schröders Unterstützung der Auto- und AKW-Industrie oder gleich eine schwarzgrüne Koalition.
Bei diesem Bäumchen-wechsle-dich-Wirrwarr ist es keinem Bürger zu verdenken, wenn er am Wahltag lieber ins Grüne fährt. Und wenn er dann auch noch von einem Franz Müntefering hören muss, es sei »unfair«, eine Partei an ihren Wahlkampfversprechen zu messen, dürfte der Bedarf des Bürgers an Wahlen und fast allen politischen Parteien bis auf weiteres gedeckt sein.[73] Und wenn er aktiv genug ist, übt er seinen Widerstand gegen unsere Variante der parlamentarischen Demokratie nicht passiv aus, sondern schließt sich einer Organisation wie Attac oder Greenpeace an.
Das rasante Abnehmen der Wählerzahl darf aber wohl auch darauf zurückgeführt werden, dass der Einfluss der Bürger auf die Politik, wie von ihnen vermutet (siehe Umfrage oben), trotz Wahlen gegen null geht. So kündigte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit im Jahr 2010 schon vor dem Volksentscheid über die Zukunft des Flughafens Tempelhof an, dass ihm das Votum der Bürger schnurzegal sei und er sich keinesfalls danach richten werde.[74] So redet nur jemand, der das Volk für verblödete Duckmäuser hält.
Dabei heißt es in Artikel 63, Absatz 1 der Verfassung von Berlin eindeutig: »Ein Gesetz … ist durch Volksentscheid angenommen, wenn eine Mehrheit der Teilnehmer und zugleich mindestens ein Viertel der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten zustimmt.«[75] Dabei hat Wowereit die nassforsche Art gerade nötig. Bei den Wahlen 2006 stimmten für ihn nur peinliche 17,9 Prozent der Wahlberechtigten, dennoch fühlt er sich als Bürgermeister aller Berliner. Und gingen auch nur drei Bürger zur Wahl, und wählten zwei von ihnen dieselbe Partei, so würde er sich strahlend vor der Kamera aufbauen und mit stolzgeschwellter Brust verkünden, das Ergebnis von 2 zu 1 habe seiner Partei eine überzeugende Zweidrittelmehrheit aller Bürger beschert.
Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung nennt solche realitätsblinden Politiker, die nur noch die Wähler als vollwertige Bürger betrachten, »Agenda-Menschen«: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, nimmt man die Wähler als das eigentliche Volk. »Die politische Kommunikation konzentriert sich auf den noch wählenden Rest«, konstatiert Heribert Prantl. »Wahlabende sind Resteabende geworden, die Parlamente Resteparlamente … Die großen Parteien verhalten sich zu dieser Malaise wie der Autofahrer, der erklärt, ihm seien steigende Benzinpreise egal – er tanke ohnehin immer nur für dreißig Euro.«[76]
Für Prantl hat diese Betrachtungsweise einen gefährlichen Aspekt: »Die Missachtung der Dauer-Frustrierten, die Geringschätzung der Reformverlierer und politische Ausblendung der relativ Armen zeigt sich auch darin, dass sich an Wahlabenden einfach diejenige Partei zum Sieger erklärt, die weniger Stimmen verliert als die andere.«[77] Das ganze Brimborium erinnert an feudale Zeiten. Bei Hof wird ausgelassen getanzt und sich selbst gefeiert, während das Volk außen vor bleibt – es hat ja mit diesen Schmierenkomödien sowieso nichts zu tun.
Das Gefährlichste am Wahlboykott aus Politikerverdrossenheit – die für den Göttinger Politikprofessor Franz Walter den »Diebstahl an Demokratie« befördert[78] – ist aber der Verfall von Autorität und Gestaltungsspielräumen. Als Folge hat ein solches Parlament kaum noch Einfluss auf Entscheidungen, die treffen die politischen Anführer und »Strippenzieher« bei geheimer Mauschelei in irgendwelchen Hinterzimmern.
Gleichzeitig starren die Spitzenpolitiker auf Umfragen gebannter als das Kaninchen auf die Schlange. »Debakel für Kanzlerin Merkel und ihre Union«, fasste der Stern eine Umfrage vom Juli 2010 zusammen. Mit 28 Prozent lag die SPD trotz Gabriel und Nahles erstmals seit Jahren nur noch einen Prozentpunkt hinter der Union, die erstmals seit 2006 unter 30 Prozent rutschte. Auch die Werte der beiden anderen Oppositionsparteien änderten sich nicht: Die Grünen, die inzwischen außer mit den Zeugen Jehovas und Arminia Bielefeld um der Diäten und der Machtillusion willen praktisch mit jedem koalieren, verteidigten ihr damaliges Rekordhoch von 19 Prozent, die Linke hielt ihre 11 Prozent.[79] Nun weiß jeder, der schon einmal mit dem Entstehen solcher Umfragen zu tun hatte, dass hier mehr geschlampt und getürkt wird als beim Tageshoroskop der Privaten. Man denke nur an das Eingeständnis der legendären Wahlforscherin Elisabeth Noelle-Neumann, dass Demoskopie sich vorzüglich zur Demagogie eigne.[80]
Dennoch ist der Normalbürger nicht ganz so dumm und kritiklos, wie die politische Klasse ihn gern hätte, und insofern nehmen die Parteipaschas Umfragen nicht zu Unrecht ziemlich ernst, denn auch sie sind eine Form des Widerstands. Insofern herrscht in den Parteizentralen zu Recht Alarmstufe Rot, wenn etwa laut Allensbach-Umfrage vom Januar 2010 rund 58 Prozent der Bürger die Verteilung der Einkommen und Vermögen für ungerecht und nur knapp 15 Prozent für »im Großen und Ganzen gerecht« halten und 71 Prozent meinen, die soziale Gerechtigkeit habe seit 2006 weiter abgenommen. Nur folgerichtig: Für 49 Prozent ist die deutsche Variante der Marktwirtschaft »nicht wirklich sozial«, nur für 35 Prozent ist sie »sozial«.[81]
Nun sind ja Zahlen geduldig und Umfragewerte erst recht; aber in Verbindung mit dem steigenden Wahlboykott dürften bei den »Eliten« sämtliche Alarmglocken schrillen: Ist darauf Verlass, dass das deutsche Duckmäusertum ewig währt und »systemkritische« Umfragen das Äußerste an Widerstand bleiben werden?
Vereinfacht ausgedrückt, unterscheiden sich Protestparteien von »normalen« Parteien dadurch, dass sie zur Durchsetzung von Forderungen bzw. zur Abwehr bestimmter Missstände in einzelnen Bereichen der Politik gegründet werden. So entstanden die Grünen aus der Bewegung gegen Umweltzerstörung und Atomgefahr, die WASG wandte sich gegen Hartz IV und die Piratenpartei trat für mehr Freiheiten im Internet ein. Logischerweise wurden diese Parteien nur ins Leben gerufen, weil ihre Anhänger das Vertrauen in die etablierten Parteien verloren hatten. Dies bedeutet aber keineswegs, dass sich diese Vereinigungen nicht irgendwann in die anfangs kritisierte gegenwärtige Parteiendemokratie integrieren und ihrerseits zur etablierten Partei und zum vollwertigen Mitglied der politischen Kaste werden.
Manche Mitbürger halten Freitag, den Dreizehnten für verhext, Gewitterblitze für göttliche Zeichen und die Grünen für eine Protestpartei. An den ersten beiden Vermutungen könnte vielleicht doch etwas dran sein, an der dritten wohl kaum. Richtig allerdings ist, dass Bündnis 90/Die Grünen als einzige Bundestagspartei aus außerparlamentarischen Protestbewegungen hervorgegangen ist.
Gegner von Umweltzerstörung, Atomkraft und Krieg, aber auch des gesamten kapitalistischen Systems und seinen Lebensformen gründeten am 13. Januar 1980 die Grüne Partei, wobei eine gleichzeitige Mitgliedschaft bei den Maoisten (»K-Gruppen«) abgelehnt wurde. Am 6. März 1983 kamen die Grünen mit 5,6 Prozent der Zweitstimmen erstmals in den Bundestag, am 24. Oktober 1983 nahmen mehrere Fraktionsmitglieder, unter ihnen der spätere als »Kriegsminister« geschmähte Joschka Fischer, an der Blockade der US-Militärbasis in Frankfurt am Main teil, um gegen den NATO-Doppelbeschluss zu protestieren.
Am 12. Dezember 1985 wurde Joschka Fischer hessischer Umwelt- und Energieminister und damit erster Grüner in einer Landesregierung. Zur Bundestagswahl 1990 trat eine Liste Bündnis 90/Grüne-Bürger/-innenbewegung an und scheiterte wegen der getrennten Auszählung für Ost und West in den alten Ländern an der Fünf-Prozent-Hürde, während sie in der Ex-DDR acht Bundestagsmandate errang. Einen Tag nach dem Wahldesaster fusionierten die west- und ostdeutschen Grünen, am 21. September 1991 wurde die Listenvereinigung Bündnis 90 in eine Partei umgewandelt, und am 14. Mai 1993 vereinten sich beide zur gesamtdeutschen Partei Bündnis 90/Die Grünen.
1990/1991 entbrannte ein teilweise hasserfüllter Richtungsstreit zwischen den systemkritischen Ökosozialisten (»Fundis«) und den staatstragenden Marktwirtschaftlern (»Realos«), der mit dem Rückzug der damals im Bundesvorstand und den meisten Delegiertenkonferenzen dominierenden »Fundis« (darunter Jutta Ditfurth, Rainer Trampert und Thomas Ebermann) endete.[82] Dies beschleunigte – ähnlich wie 1999 Oskar Lafontaines Rücktritt als Parteichef bei der SPD – einen bis dahin für unmöglich gehaltenen Rechtsruck der Grünen. Entsprechend verschwand auch das »Rotationsprinzip«, nach dem bei Halbzeit der Wahlperiode die Abgeordneten ihr Mandat an ihre Nachrücker übergaben, lautlos in der Versenkung. Schließlich sollte es ja jene Berufspolitikermentalität und Machtfülle einschränken, die für die »Realos« bis heute offenbar das Lebenselixier und so ziemlich ihre einzigen erkennbaren Ziele sind.
Die Vollbeschäftigung und das angebliche Bildungsparadies mit lebenslanger Job-Garantie wichen der Massenarbeitslosigkeit, auch bei Akademikern. Alle Karrierewege schienen versperrt – auch die in den öffentlichen Dienst. Zehntausende waren nach ihrem Lehrstudium zunächst arbeitslos. Und auch eine Politkarriere in der für sie einzig in Frage kommenden SPD erschien angesichts der vielen Nachwuchsplatzhirsche à la Lafontaine und Schröder aussichtslos. Also gründeten sie ihre eigene Partei: die anfangs scheinbar unangepassten und exotischen Grünen. Schon bald allerdings war von den »grünen Milieus aus Schlabberlook und Zottelhaaren, mit den Gegenorganisationen von roten Buchläden, Kinderhorten, Wohngemeinschaften, selbstverwalteten Handwerksbetrieben, Bioläden und Vollkornbäckereien gesellschaftlich nicht viel übrig geblieben. Als die Zugehörigen des alternativen Milieus, die Aktivisten der Ökologie-, Frauen- und Friedensbewegung, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre auf das dreißigste Lebensjahr zugingen, löste sich der Milieuzusammenhang rasch auf.«[83]
Etliche hatten nun eine Anstellung in den öffentlichen Kultur-, Bildungs- und Sozialdiensten der Republik ergattert. »Der Protest wurde verbeamtet, es veränderte sich der Habitus. Und die Anti-AKW-Plakette landete als Erinnerungsstück an die großen Kämpfe gegen die Energieindustrie in den Schubladen.« Man war inzwischen »materiell gut versorgt … mit der Republik und den parlamentarischen Institutionen versöhnt und hatte eine ironisch-liebevolle Distanz zu den alten Mythen und Utopien« aufgebaut.[84]
Einen Meilenstein beim schrittweisen Umbau zur Kriegspartei und damit das Ende des scheinheiligen Pazifismus-Theaters bedeutete im Jahr 1995 das Ja des Bundestagsfraktionschefs Fischer zur militärischen Aufrechterhaltung der UN-Schutzzonen in Bosnien und Herzegowina. Durch Lobeshymnen auf die profitorientierte Marktwirtschaft machte er die Grünen endgültig stubenrein für die neoliberale rot-grüne Koalition.
Bereits kurz nach Amtsantritt als Außenminister machte Fischer die Bundesrepublik zum wichtigsten Helfer der USA beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg[85] gegen Jugoslawien (24. März 1999–10. Juni 1999). Als Fischer deswegen auf dem Grünen-Parteitag am 13. Mai 1999 in Bielefeld einen Farbbeutel ans Ohr bekam, markierte ausgerechnet der Ex-Steinwurfprofi den sterbenden Schwan, stellte aber seinen beschmierten, vermutlich sündhaft teuren Maßanzug dem Bonner Haus der Geschichte für eine Ausstellung zur Verfügung.[86]
Internationale Spitzenklasse beim Vortäuschen schwerer Bedenken bewiesen die Grünen bei der Frage der Kriegsbeteiligung in Afghanistan. So kündigten acht Bundestagsabgeordnete am