7,99 €
So wenig Niveau war nie! Selbst Qualitätsmedien berichten ausführlich und mit Hingabe vom Dschungelcamp oder Deutschland sucht den Superstar. Gleichzeitig dürfen von der Wirtschaft finanzierte Professoren auch in der Tagesschau dreist als unabhängige Experten auftreten. Ihre Phrasen werden uns als alternativlose Wahrheiten verkauft – während kritische Politsendungen im Nachtprogramm verschwinden. In seinem neuen Buch deckt Thomas Wieczorek die Auswüchse der allgemeinen Massenverblödung auf. Und er geht der Frage nach: Wird sie bewusst betrieben? Und von wem? Und mit welchem Ziel? Das Ergebnis seiner Recherchen ist Aufklärung im besten Sinne. Die verblödete Republik von Thomas Wieczorek: als eBook erhältlich!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 383
Thomas Wieczorek
Die verblödete Republik
Wie uns Medien, Wirtschaft und Politik für dumm verkaufen
Knaur e-books
Zwei Dinge sind unendlich:
das Universum und die menschliche Dummheit.
Aber beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher.
Albert Einstein
Mein herzliches Dankeschön für ebenso befruchtende wie erbauliche Mitarbeit durch Diskussionen, Hinweise und Ratschläge gilt besonders Brigitte und Michael Müller, Helge Meves, Wolf-Dieter Narr, Ernst Röhl, Peter Saalmüller, Henning Voßkamp, vor allem aber Karin sowie allen sehr geschätzten Dumpfbacken, die mich die Verblödung als Problem erst erkennen ließen.
Man muss die Welt nicht verstehen – man muss sich darin nur zurechtfinden.
Albert Einstein
Seit Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches im März 2009 ist die Verblödung keinesfalls Geschichte – im Gegenteil. Böswillige Zeitgenossen könnten sogar anmerken, dass Wahlkampfzeiten auch besonders fruchtbare Zeiten für die Verblöder sind. Und so kommt es, dass dieselben Zeitgenossen, die im Leben keinen Schmuddeltalk ansehen würden, den Ausführungen unserer Politiker ehrfurchtsvoll lauschen.
Aber werfen wir doch einfach einen Blick auf die Schlaglichter der letzten Monate:
Ein außerordentlich interessanter Gradmesser für den Geisteszustand unserer lieben Mitbürger waren die Einschaltquoten zum Wahlkampfduell Angela Merkel gegen Frank-Walter Steinmeier. Obwohl in ARD, ZDF, RTL und SAT.1 übertragen, wollten es nur 14 Millionen Zuschauer sehen – ein Drittel weniger als vier Jahre zuvor das Duell Merkel gegen den damaligen Kanzler Schröder. 3,45 Millionen ließen dagegen Politik Politik sein und schalteten Die Simpsons auf Pro Sieben ein. Besonders peinlich für die Politik und ihr Buhlen um die Jugend: In der Zuschauergruppe der 14- bis 19-Jährigen sahen nur 32,8 Prozent das Duell, aber 44,4 Prozent die Zeichentrickfamilie, und selbst in der Altersgruppe 20 bis 29 konnte sich die Politik nur knapp mit 37,9 zu 29,4 Prozent durchsetzen.
Ist diese Verweigerung nun ein Zeichen für galoppierende Verblödung? Wer sich den Plausch der beiden Koryphäen aus beruflichen Gründen antun musste, war enttäuscht, entsetzt oder empört. »Duett statt Duell« wurde schon bald zum geflügelten Wort der seriösen Polit-Medien. »Bei einem Duell reiten eigentlich die Duellanten aufeinander zu«, schrieb Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung, »im Fall Steinmeier/Merkel ritten sie nebeneinander her.«
Daher scheint der Boykott dieses Theaters und sogar das Umschalten auf die US-Kultserie bei vielen keinesfalls auf politisches Desinteresse hinzudeuten, im Gegenteil: Das mehr oder minder hohle Gewäsch der Kontrahenten konnte nur denen imponieren, die sich ansonsten weder mit Politik befassen noch sich damit auskennen.
Selbst ein treuer Gefolgsmann Merkels wie der Chef des CDU-Wirtschaftsflügels, Josef Schlarmann, kritisierte den Wahlkampf seiner Parteichefin und forderte »mehr Inhalte und weniger Kanzlerin«.
Für Welt-Chefredakteur Thomas Schmid war es ohnehin »der seltsamste Wahlkampf aller Zeiten … Deutschland ist in der Unübersichtlichkeit angekommen«. Früher habe es noch echte Fronten gegeben, »Gut rang gegen Böse« und es kämpften … »Links gegen Rechts, Sozialstaat gegen Sozialabbau«.
Tatsächlich sind die vier etablierten Parteien teilweise schwerer zu unterscheiden als Seifenblasen. Daher kann heute – unbeschadet gegenteiliger Beteuerungen – im Prinzip jede Partei mit jeder koalieren. Schwarz-Rot, Schwarz-Gelb, Schwarz-Grün, Rot-Grün, Ampel, Jamaika, und Rot-Rot gibt es ja zumindest schon in Berlin, und in Hessen hätte auch an Rot-Grün-Rot nicht viel gefehlt. Dem entspricht das berechtigte Gefühl des Wählers, dass es letztlich ziemlich wurscht ist, wer an der Regierung ist.
Und könnte nicht Ursula von der Leyen genauso gut in der SPD sein, Cem Özdemir in der FDP, Sigmar Gabriel bei den Grünen und Guido Westerwelle in der CDU?
»Betrachtet man das politische Spitzenpersonal in der Bundesrepublik Deutschland, dann bricht sich schnell Ratlosigkeit Bahn«, meint Reinhard Mohr in Spiegel Online. »Die große Leere. Routinierte Phrasensicherheit, Karrierismus und Opportunismus beherrschen das Feld.« Da scheint es gar nicht so abwegig, einen Gag des ZDF vom Sommer 2009 auch in die hohe Politik einzuführen: das Kanzler-Casting.
Denn weder werden Schwarz und Gelb politische Heilsbringer sein noch unser Land in seinen Grundfesten erschüttern, noch würden rot-rote Bündnisse die Republik zugrunde wirtschaften. Entsprechend geistreich waren die Verblödungskommentare zur Bundestagswahl.
Das Wort hatten aber am Ende die Wähler: Mehr als jedem sechsten Wahlberechtigten – so viel wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik – war das Wahltheater zu blöde, er oder sie blieb ganz einfach zu Hause.
Dennoch ließ sich Angela Merkel, die nicht einmal ein Viertel der Stimmen aller Wahlberechtigten gewinnen konnte, als »Kanzlerin aller Deutschen« feiern. Dabei sagt die nüchterne Statistik: Drei von vier Deutschen haben diese Kanzlerin nicht gewählt, geschweige denn gewollt. Bleibt ihr, zu hoffen, dass das andere Dreiviertel sich nie einig wird.
Der beste Platz für Politiker ist das Wahlplakat. Dort ist er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen.
Loriot
Ein besonderer Coup in Sachen Verblödung ist das Schlagwort Systemrelevanz. Fragt man Politiker und »Experten« danach, so tragen sie gebetsmühlenartig auswendig Gelerntes vor: »Weil sonst die ganze Wirtschaft zusammenbricht.« Genauer erklären konnte das niemand, nicht einmal das Bundesfinanzministerium. »Eine Legaldefinition der Systemrelevanz existiere nicht«, erfuhr das ef-Magazin auf Anfrage. »Es sei vielmehr immer eine Entscheidung im konkreten Einzelfall notwendig.«
Beispiel Hypo Real Estate, die sich als erste Bank unter den 480 Milliarden schweren Rettungsschirm begab: Selbst wenn man »Systemrelevanz« unterstellt: Am 26. September hatte die HRE noch einen Börsenwert von gerade mal 2,9 Milliarden Euro. Wieso pumpte man in eine solche Bank über 100 Milliarden hinein, anstatt sie gleich komplett zu übernehmen? Deutlicher kann die Politik dem Bürger wohl kaum zu verstehen geben, dass sie ihn für total naiv, obrigkeitshörig oder nicht zurechnungsfähig hält.
Ähnlich verhält es sich mit einer »Teilverstaatlichung« wie im Falle der Commerzbank, wo der Bund mit 25 Prozent einstieg. Dem kleinen Mann wird weisgemacht, dies sei schon fast ein Schritt in Richtung Vergesellschaftung der Banken. Das Gegenteil ist der Fall. Sollte durch solche Aktionen der Börsenkurs steigen, dann profitieren vor allem die 75 Prozent der privaten Aktionäre. Geht die Sache schief, kommt der Steuerzahler für die Verluste aus der Staatsbeteiligung auf.
Noch trügerischer ist der Rettungsschirm – also Geschenke des Steuerzahlers – für Unternehmen der Realwirtschaft. Wenn es für ein Produkt keine Käufer gibt, dann helfen auch Milliardenspritzen nicht – oder führen zur Marktverzerrung.
Würden gänzlich uninformierte Außerirdische die Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan verfolgen, dann kämen sie zu dem Schluss, es handele sich um ein deutsches Bundesland und was die Afghanen dort überhaupt zu suchen hätten. Der mehr oder minder krampfhafte Versuch, die Einheimischen nach den Regeln der amerikanischen und deutschen Leitkultur umzuerziehen, hätte vermutlich selbst Maos Rote Garden neidisch gemacht.
Als nach dem von Deutschland angeordneten verhängnisvollen Luftangriff auf zwei Tanklaster im September 200930 Zivilisten getötet wurden, übten selbst engste Verbündete wie Frankreich und England scharfe Kritik. Besonders peinlich: Die Bundeswehr stritt Zivilopfer selbst dann noch ab, als die Nato sie längst eingeräumt hatte.
Der Gipfel der makabren Verblödung aber war erreicht, als ein Afghane namens Mohammadullah Baktasch durch die Medien gereicht wurde, der den Tod seiner eigenen Landsleute begeistert bejubelte. In einer vergleichbaren Lage hätten »nicht nur die deutschen Truppen, sondern alle Regierungs- und internationalen Truppen so gehandelt«.
Ähnlich wie für Roland Koch der Überfall zweier ausländischer Jugendlicher auf einen Rentner im Dezember 2007 scheinbar gerade zur richtigen (Wahlkampf-)Zeit kam, so bescherte der Mord von zwei Jugendlichen am Münchner S-Bahnhof Solln an einem 50-jährigen Geschäftsmann zwei Wochen vor der Bundestagswahl der Politik ein unverhofftes Thema. Natürlich war – in Erinnerung an Kochs Wahlfiasko wegen Instrumentalisierung der Münchner Untat für Ausländerhetze und Angriffe auf den politischen Gegner – keine Partei so blöd, dies zum Wahlkampfthema zu machen. Andererseits ließ es sich vortrefflich zur Ablenkung von den wirklich wichtigen Themen wie Finanzkrise, Arbeitslosigkeit oder neue Armut nutzen: Im Zusammenspiel mit einigen Medien wurde der Eindruck erweckt, dies könne jedem immer und überall auch passieren, um damit nicht nur altersängstliche Menschen in Panik zu versetzen. Tatsache ist allerdings – so schrecklich diese Verbrechen auch waren –, dass sie eben nicht tagtäglich und in jeder Stadt oder Gemeinde, sondern äußerst selten vorkommen. Bedeutend häufiger kommen zum Beispiel Menschen im Straßenverkehr zu Tode, ohne dass Autofahrer deshalb in Panik gerieten.
Während aber die Ablenkung durch das Thema »Brutale Schläger« durchaus einen rationalen Kern hat, kann man dies vom Tod der tragikomischen Pop-Ikone Michael Jackson nicht gerade sagen. Kaum jemand dürfte – unabhängig vom jeweiligen Musikgeschmack – Jacksons Verdienste als einer der wenigen echten Superstars seines Genres bezweifeln. Etwas ganz anderes aber ist es, Details über sein Ableben, die Trauer der Fans und die Beisetzung als wichtiger hinzustellen als Informationen über die Rettungsschirme, die Massenentlassungen bei Opel und Arcandor oder die Gesundheitsreform. Dies alles geschieht natürlich nicht »aus Versehen«, obwohl das scheinbare geistige Niveau der einschlägigen TV-Moderatoren durchaus erahnen lässt, dass die sich »nichts Böses« dabei denken. Selbstverständlich braucht man auch für Massenverblödung entsprechendes Personal.
Der Gipfel politischer Peinlichkeit war erreicht, als ausgerechnet Roland Koch, den im Hessen-Wahlkampf so gut wie jeder politische Gegner juristisch ungestraft einen Rassisten nennen durfte, sich mit dem ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender anlegte. »Roland Kochs ZDF-Attacke schadet dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk erheblich«, meinte Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats. Und die Grünen erinnerten Koch: »Das ZDF gehört nicht der CDU.«
Aber selbst in den eigenen Reihen machte sich Koch nicht nur Freunde. »Die Debatte hat allen Beteiligten und dem Sender nur geschadet«, meinte zum Beispiel sein Parteifreund, der Fernsehratsvorsitzende Ruprecht Polenz. Was Koch eigentlich wollte, außer Machtpolitik der plumpsten Art, ist schwer auszumachen. Zwar faselte er etwas von sinkenden Einschaltquoten, aber selbst seine politischen Freunde nahmen ihm das nicht ab.
Ärgerlich-bizarres Resultat war jedenfalls, dass selbst diejenigen in einer Art »antifaschistischer Einheitsfront« Brender verteidigten, die das ZDF-Programm für jenseits von Gut, Böse, Journalismus und gelungener Unterhaltung hielten. Unter seiner Ägide gelangten Zuschauerbelästigungen wie »Alisa – folge deinem Herzen« oder »Lanz kocht« ins Programm, mit denen er offenbar den Privaten die Zielgruppe der geistigen Unterschichten abwerben wollte. Insofern wäre tatsächlich die Frage zu stellen, wie ein Gefolgsmann Roland Kochs das ZDF noch verblödender gestalten würde. Natürlich könnte man demokratisch inspirierte Sendungen wie Frontal 21 durch Hetze gegen Arbeitslose und Ausländer ersetzen, sicherlich könnte man auch die »Rosenheim Cops« durch Werbeblöcke verhunzen, und wahrscheinlich könnte man die Menschenjägersendung »Aktenzeichen XY … ungelöst« dreimal täglich ausstrahlen – aber sonst?
Aber immerhin haben wir dem ZDF zumindest das Satire-Kleinod Die Anstalt zu verdanken. Und nicht wenige Zuschauer wünschen sehnlich, Urban Priol und Georg Schramm übernähmen die Politberichterstattung, wenn nicht sogar die Regierungsgeschäfte.
Andererseits zeigt sich immer wieder, dass keine Verblödungssatire so extrem sein kann, als dass sie nicht von der Realverblödung übertroffen wird. Letztere ufert nicht zuletzt deshalb dermaßen aus, weil Verblöder und Verblödete auch gleichzeitig Blender sind. So ist es ein beliebtes Partyspiel, inmitten eines gescheiten Disputs gescheiter Leute unvermittelt die Namen frei erfundener Leute zu erwähnen: den Lyriker Vic van Achtern, die Bildhauerin Eva Hastenich oder den römischen Senator Marc Aventis Grautvornix. Jede Wette, dass mindestens einer der klugen Diskutanten vorgibt, von ihnen schon einmal etwas gehört zu haben.
Wer weiß, dass er nichts weiß, weiß mehr als der, der nicht weiß, dass er nichts weiß.
Sokrates
Vollends absurd aber wird es, wenn sich einige Zeitgenossen nicht mit der Rolle des Einäugigen unter Blinden begnügen, sondern sich als hervorragend Sehende wähnen. Wenn sie dann auch noch eine ebenso duckmäuserische wie viertelgebildete Fangemeinde um sich scharen können, die all den Nonsens begierig aufsaugt und ehrfürchtig nachbetet, dann ist der geistig-moralische Supergau perfekt. Insofern ist es bedauerlich und verfehlt, mit Verblödung nur die vermeintlichen »intellektuellen Unterschichten« aufs Korn zu nehmen. Sich über Analphabeten, Alkoholabhängige oder sexuelle Grenzgänger lustig zu machen, ist billig und irgendwann langweilig.
Die wahre Volksverblödung aber findet genau dort statt, wo sie der selbsternannte Bildungsbürger am wenigsten vermutet: in den Medien, der Wirtschaft und vor allem in der Politik. Wer all die hochgestochenen Berichte und Kommentare der »seriösen Medien«, die superwichtigen Konjunkturprognosen der Wirtschaft und die treuherzigen Wahlversprechen der Politik so unreflektiert aufsaugt wie der Bibeltreue das Alte Testament, der ist schon hereingefallen. Heraus kommt ein Abklatsch der Wirklichkeit, der noch weniger wert ist als ein Zerrbild. Letzteres nämlich könnte man – rein theoretisch – entzerren. Was den Bürgern allerdings Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr zugemutet wird, das ist – wie der Volksmund zu Recht sagt – »so falsch, dass nicht einmal das Gegenteil stimmt«.
Dass noch immer viel zu viele Mitbürger dem geballten Müll der Meinungsmacher vertrauen, ist die schlechte Nachricht. Dass immer mehr Menschen den Verblödungsprofis auf die Schliche kommen – siehe auch manche Nichtwähler –, lässt hoffen.
Bis dahin aber geht die Verblödung – jenseits von politischer Farbenlehre – ungehindert weiter.
Als kürzlich japanische Forscher die Welt mit der Meldung erschreckten, »Schimpansen sind am Computer besser als Studenten«, da trösteten sich allein unverantwortliche Optimisten mit dem Einwand, es könne sich dabei nur um angehende Unternehmensberater handeln. Zwar gilt die Überlegenheit unserer Vorfahren bislang nur für die schnelle und exakte Wiedergabe von Zahlenreihen, die kurz auf einem Monitor aufblinken. Dennoch wird angesichts der geistigen Entwicklung hierzulande die Frage immer drängender, ob wir den Primaten nicht seit langem bei ihrer intellektuellen Aufholjagd ein gutes Stück entgegengehen: Drohen die Deutschen ein Volk von Schwachköpfen zu werden?
Kommt im Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz, im Supermarkt oder in Talkshows das Gespräch auf unseren allgemeinen Geisteszustand, fallen schnell Reizwörter wie Verblödung, Bildungsferne und geistige Verwahrlosung. Natürlich ist sofort die Rede von Pisa, von Denglish stammelnden Abiturienten und von Kassiererinnen, die zwei plus zwei nur mit dem Taschenrechner zusammenzählen können, von Lehramtsstudenten, die Rügen neben Sylt vermuten, und von Volkswirtschaftsdozenten, die sich wundern, warum im Kapital von Karl May kein Indianer vorkommt.
Willy Brandts Kampfgefährte Egon Bahr erzählte jüngst von einer jungen Journalistin, die bei ihm um einen Termin mit Herbert Wehner nachsuchte. »Der spricht gerade mit Franz Josef Strauß.« – »Dann versuche ich es später noch mal«, meinte die Garantin der Pressefreiheit. Sicher macht sich dieselbe Journalistin darüber lustig, dass 27 Prozent der Zehnt- und Elftklässler Willy Brandt für einen DDR-Politiker halten – falls sie es nicht selbst glaubt.
»Eine Gehirnwindung weniger, und du gehst auf allen vieren«: Was früher eine flotte Beleidigung war, klingt heute wie eine wissenschaftliche Prognose, vielleicht sogar für große Bevölkerungsgruppen. Wie aber sieht diese Verblödung konkret aus? Wird sie bewusst betrieben und wenn ja: mit welcher Absicht?
Bei der Darstellung von Unwissen sind meist Häme und Bloßstellung im Spiel. Nehmen wir nur die gnadenlos überstrapazierte Standardsituation: Reporter, fiebrig und hibbelig in der Fußgängerzone. Endlich kommt eine Gruppe Opfer, eine fünfköpfige Abordnung der Jugend von heute. Reporter fragt: »Wie heißt denn die Hauptstadt der Türkei?« Die Jugend von heute wechselt Blicke der vielsagenden Art. Einer sagt: »Antalya.« Reporter wendet das Gesicht in die Kamera und macht eine hochwichtige Na-was-hab-ich-gesagt-Grimasse.
Nur wusste der Mann vom Fernsehen nicht, dass die fünf subversiv angehaucht waren und ihn bewusst verladen hatten. Aber selbst wenn jemand Ankara für das spanische Wort für Anker hält und auch nicht ahnt, dass eine Allegorie nicht ansteckend ist und ein Hexameter nichts mit Okkultismus zu tun hat: Derlei Unwissen mag ja peinlich und tragisch sein – aber weiß unser Entlarvungsreporter, dass im Jahre 1947 die Verstaatlichung der bundesdeutschen Schlüsselindustrien nicht von der SED, sondern von der CDU Konrad Adenauers gefordert wurde, andererseits aber unsere Kanzlerin bis zur Wendezeit FDJ-Funktionärin für Agitation und Propaganda war, und dass der Spitzensteuersatz unter dem Einheitskanzler Helmut Kohl vor gerade mal zehn Jahren noch 53 Prozent betrug?
Ist dieses Wissen unwichtiger als die Kenntnis der Namen aller europäischer Hauptstädte und sämtlicher Nebenflüsse des Rheins?
Wer also den Verdacht der Volksverblödung auf die »Bildungsfernen« und geistig Verwahrlosten beschränkt, betreibt Verblödung in der Verblödungsdiskussion.
Erklärtes Ziel und Voraussetzung demokratischer Gesellschaften ist der »mündige Bürger«. Dies wäre auch durchaus erreichbar angesichts der Möglichkeiten der Informationsgesellschaft. In Wahrheit allerdings werden einige wenige immer klüger, bedrückend viele aber anscheinend immer dümmer. Dahinter steckt System: Denn buchstäblich zur Existenzfrage wird die Verblödung in parlamentarischen Demokratien, da hier das Volk seine Vertreter frei wählt und damit die Regierung und die Gesellschaftsordnung formal frei bestimmt. Dieser Sachzwang gilt verstärkt angesichts der nationalen und globalen Verschärfung der sozialen Gegensätze: Die Arm-Reich-Schere öffnet sich immer mehr, und bloßer Kapitalbesitz bringt mehr ein als ehrliche Arbeit.
Man stelle sich nun einmal vor, die Normalbürger wüssten Bescheid über die Fakten und Hintergründe von Armut und Reichtum, Weltwirtschaftsordnung, Konzernpolitik in der Dritten Welt, wirtschaftlichen Verflechtungen und Korruption – ganz zu schweigen von den ökonomischen, politischen und philosophischen Theorien und ihren Folgen.
Wäre unter diesen Umständen eine mit beeinflussbaren Stümpern durchsetzte politische Klasse überhaupt vorstellbar?
Würden informierte, also wirklich mündige Bürger nicht so manchen Politiker sofort als ungeeignet enttarnen und ihr eigenes Urteil über die Gesellschaft sprechen?
Könnten manche hanebüchenen Projekte überhaupt umgesetzt werden, wenn wirklich entscheidungsfähige Bürger darüber urteilten und – sei es auch nur per Wahlen – mitentschieden?
Deshalb ist Verblödung unausgesprochenes oberstes Staatsziel, und dies betrifft beileibe nicht nur die intellektuell-kulturelle Kelleretage: Wer kennt zum Beispiel die Unterschiede zwischen Ordo- und Neoliberalismus, zwischen Keynesianismus, Monetarismus oder Marxismus?
Stattdessen wird plattester Marktradikalismus – allen bisherigen praktischen Erfahrungen zum Trotz – als Heilsbringerreligion etabliert: Der Markt wird zum neuen Gott, zur unbegreiflichen höheren Macht. Selbst der Neoliberalismus-Miterfinder Friedrich August von Hayek sagt unumwunden, sein System funktioniere nur, wenn die Menschen blind an die Marktgesetze glaubten und keine dummen Fragen stellten.[1] Kann aber jemand ohne zumindest oberflächliche Kenntnis dieser Probleme die »richtige« Partei wählen, geschweige denn die Gesellschaft mitgestalten?
Damit diese Unwissenheit möglichst ewig fortbesteht, wird sie auf allen Ebenen bewusst angestrebt und gefördert:
So halten viele Bürger die Forderungen »Weniger Staat, mehr Privatisierung«, »Lohnnebenkosten runter«, »weniger Staatsschulden« blindgläubig für »alternativlose Sachzwänge«. Kaum einem ist bewusst, dass es sich um spezielle eigennützige Ziele der Vermögenden handelt, die von der Werbeagentur Scholz&Friends im Auftrag der Arbeitgeberorganisation »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) formuliert wurden und auf vielerlei Wegen in die »unabhängigen Medien« lanciert werden – nicht ohne Wirkung: Selbst sozial und sozialstaatlich eingestellte Bürger »vergessen«, dass
der Staat laut Grundgesetz »ihr Staat« ist, der die Kernbereiche wie innere und äußere Sicherheit, Kommunikation, Energieversorgung, Wohnen, Staatsfinanzen, Ausbildung, menschenwürdiges Aufwachsen und Altern für alle Bürger zu garantieren hat,
Steuern also kein »Ausnehmen der Bürger« sind, sondern der Beitrag zur Finanzierung der gesetzlichen Pflichten des Sozialstaates,
»Lohnnebenkosten« nichts anderes sind als der sozialstaatliche Beitrag der Arbeitgeber zur sozialen Absicherung der Arbeitnehmer,
die Globalisierung kein Naturgesetz, sondern simples Menschenwerk ist,
Chancengleichheit ohne Sozialstaat dasselbe bedeutet wie die »faire« Chance von tausend Leuten im Kampf um einen einzigen Job oder die Chance aller Lotteriespieler auf den Jackpot,
eine marktradikale Gesellschaft also zwangsläufig immer eine Handvoll Gewinner produziert, wohingegen der Rest mehr oder minder leer ausgeht.
Unter dem Deckmantel der »Eigenverantwortung der Eltern« sieht man der zunehmenden geistigen und sozialen Verwahrlosung seit Jahrzehnten mit geheucheltem Entsetzen tatenlos zu. Frei nach dem Motto: »Es kann ja keiner ahnen, dass Alkoholiker vom Kindergeld Schnaps statt Spielzeug kaufen.« Die Folge sind schulunfähige Sechsjährige. Im Schulsystem setzt sich dies fort: Frühzeitig wird über die Bildung und damit über die spätere Schichtzugehörigkeit entschieden, und auch dies weniger nach Leistung als nach sozialer Herkunft. Bezeichnend ist auch die – im Vergleich etwa zu Frankreich und Skandinavien – beschämend geringe Verbreitung der Ganztagsschule. Pisa ist nur die zwangsläufige Folge: junge Menschen, die oft selbst für eine Lehre untauglich sind und deren Leben in Hartz-IV-Armut vorgezeichnet ist. Die Grenze verläuft hier lediglich dort, wo den Unternehmen die tauglichen Arbeitskräfte fehlen.
Typisch auch die »Integration«: Klassen mit 80 Prozent Immigrantenkindern fallen nicht vom Himmel, sondern werden anscheinend bewusst gebildet. Dass es auch anders ginge, zeigen die ebenfalls seit Jahrzehnten bekannten Beispiele anderer westlicher Staaten.
Auch vor der Ausbildung von Führungskräften macht die Verblödung nicht halt. Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel bezeichnet heutige BWL-Absolventen als »Fuzzis und Systemzwerge. Der US-Ökonom Robert Kuttner sieht gar »eine Generation von graduierten Idioten heranwachsen, die über eine Reihe von Techniken verfügen, aber nichts von Ökonomie verstehen«.[2]
Um die Idealvorstellung vom unpolitischen Fachidioten abzusichern, wird das frühere Vordiplom jetzt Bachelor genannt und so ein kritikloses Schmalspurstudium ermöglicht. Die Geisteswissenschaften werden pauschal als »brotlose Kunst« verspottet, und selbst hier setzen sich im Zuge der »Eigenverantwortung« zusehends »Wissenschaftler« durch, die »Drittmittel einwerben«, also von der Industrie gesponsert sind.
Auch in seriösen Medien, besonders in ARD und ZDF, wird das neoliberale Weltbild als »sachliche Information« verpackt: So werden die Abbauer des Sozialstaates als »Reformer« und die Kritiker als »Blockierer« bezeichnet. In Talkshows sowieso, aber auch in Nachrichtensendungen wie heute journal oder Tagesthemen werden INSM-Vertreter als »unabhängige Wissenschaftler« und »renommierte Experten« ausgegeben. Gleichzeitig wird durch Befragung einzelner Betroffener »Bürgerbeteiligung« vorgegaukelt.
Sogar scheinbar unpolitische Unterhaltung auf Primatenniveau wie etwa die Superstar- und Topmodel-Wettbewerbe verbreiten neoliberale Gedanken: Anfangs Tausende, später nur noch einige Auserwählte kämpfen erbittert jeder gegen jeden – denn nur einer kann gewinnen. Die anderen werden von der Jury verhöhnt, beschimpft und rundum in der Menschenwürde verletzt.
In Daily Soaps und Komödien wird das alte Märchen »Vom Tellerwäscher zum Millionär« aufgewärmt: Im Handumdrehen machen junge dynamische Aufsteiger Karriere als Firmenchefin, Börsengenie, Modeschöpferin oder Arzt. Den perspektivlosen Jugendlichen vor der Glotze wird vermittelt, dass »alles möglich ist« und sie Versager sind, wenn sie nicht einmal eine Lehrstelle ergattern können.
Unbedingt notwendig für herrschende Minderheiten sind Feindbilder: Läuft eine Regierung Gefahr, von der eigenen Bevölkerungsmehrheit gestürzt zu werden, so lenkt es den Volkszorn auf den äußeren Feind. Aktuell sind das die »islamistischen Terroristen«.
Gleichzeitig wird das »Teile und herrsche«-Prinzip angewandt, denn für die Reichen verheerend wäre ein, inzwischen selbst von seriösen Wissenschaftlern wie Peter Glotz und Franz Walter für möglich gehaltener, Aufstand der Bevölkerung. Gold wert sind daher Fronten wie Alte gegen Junge, Frauen gegen Männer, Raucher gegen Nichtraucher, »Karriereweiber« gegen »Hausfrauen«, Jobinhaber gegen Arbeitslose, Dicke gegen Dünne oder Lehrlinge gegen Studenten. Deutlich wurde der Verblödungscharakter im Wahlkampf 2006, als Alice Schwarzer »die Frau« Merkel unterstützte. Motto: Besser den Kündigungsschutz durch eine Frau verlieren als durch einen Mann behalten.
Ein besonders wichtiges Feindbild sind in diesem Zusammenhang die Unterschichten: Gezielt werden exotische Einzelfälle bekennender Faulpelze und extrem Verwahrloster als »typisch« für die Arbeitslosen hingestellt.
»Angst essen Seele auf«, weiß man nicht erst seit Rainer Werner Fassbinders Kultfilm. Da sie auch den Verstand ausschaltet, ist Panikmache ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung von Politik. Bestes Beispiel war Wolfgang Schäubles (missglücktes) Hysterieschüren zur WM2006.
Auffällig ist die Zahl der »in letzter Sekunde verhinderten« Attentate: Sogar die Polizei warnt schon vor Panikmache. Aber nicht nur Ausländer, auch Kidnapper, Raubmörder, Sittenstrolche werden zur Mammutgefahr aufgeblasen. Vor allem älteren Menschen und simplen Gemütern soll trotz rückläufiger Verbrechensstatistik suggeriert werden, hinter jeder Straßenecke lauere das Unheil. Umfragen zeigen, dass sich verängstigte Bürger mehr Schnüffel- und Polizeistaat gefallen lassen.
Durch panem et circenses, »Brot und Spiele«, wollten schon die alten Römer das Volk zufriedenstellen und vor allem von der Politik fernhalten. Es ist das Zuschütten mit unzähligen (auch amüsanten) Lappalien, um nur nicht auf das Wesentliche zu kommen.
Aktuell geschieht dies besonders durch den Einzug des »Boulevard« auch in seriöse Medien – sogar Spiegel Online hält über Pooth, Bohlen oder Klum auf dem Laufenden, und selbst in den Nachrichtensendungen der Öffentlich-Rechtlichen nimmt Unpolitisches (Unfall, Entführung, Prinzenhochzeit, Promischeidung) immer mehr Raum ein. Ähnlich wie in Bild, findet Politik zunehmend nur noch stichwortartig statt. Politmagazine werden gekürzt oder in die Nacht verlegt, dafür das Angebot für »bildungsferne« Mitbürger ständig erhöht. Das Einschaltquotenargument ähnelt dabei einer Knastkantine, die nur Gammelfleisch und Gammelfisch anbietet, und weil 80 Prozent notgedrungen das Gammelfleisch wählen, dieses zum Leibgericht der Insassen erklärt.
Ob Videospiel, Wahrsagerei, Telenovela, Groschenroman oder Sekte: Die Angebote zur Flucht in Scheinwelten schießen wie Pilze aus dem Boden. Dabei ist für jede Schicht etwas dabei: Statt sich politisch oder »nur« gesellschaftlich zu engagieren, soll man sich in die eigene Traumwelt flüchten, die ganz bewusst mit der Realität nichts zu tun hat. Aus dem normalen Abschalten wird so bei immer mehr Bürgern ein dauerhaftes Ausklinken aus einer frustrierenden Wirklichkeit.
Auch die Kirchen tragen zur Volksverblödung dort bei, wo sie – in den Augen vieler argloser Christen im Namen Gottes – die neoliberale Entsozialisierung und Umverteilung als »notwendige Reformen« moralisch abdecken.
Wirklichkeitsflüchtige Staatsbürger sind besonders pflegeleicht für die Obrigkeit. Natürlich weisen die Mächtigen und ihre Politiker den Vorwurf der absichtlichen Verblödung zurück – aber verwahrt sich nicht auch eine bildhübsche umschwärmte 25-jährige Frau gegen die Unterstellung, sie heirate den 86-jährigen Milliardär nicht nur aus Liebe?
Eine große Erleichterung für die Betreiber der Volksverblödung ist die Angewohnheit vieler Menschen, sich der Meinung der vermeintlichen Mehrheit oder eines »neuen Trends« anzuschließen. Dies ist häufig verbunden mit dem hirnschonenden Nachquatschen irgendwelcher Phrasen, um sich wichtig zu machen oder um »dazuzugehören«. Auch so mancher Party-Intellektuelle oder Stammtischphilosoph gibt mit bedeutsamer Miene Weltbewegendes über große Politik und Wirtschaftsreformen wieder, das er kurz zuvor bei Anne Will aufgeschnappt oder im Spiegel gelesen hat. Wenn keiner der Beteiligten den leisesten Schimmer vom Thema hat, braucht auch niemand das blamable Auffliegen zu befürchten.
Zwar wissen wir aus dem Spiel Stille Post, dass die falsche Wiedergabe von Falschem keineswegs etwas Richtiges ergibt. Andererseits kann man jedem alles weismachen, wenn er die Zusammenhänge nicht kennt.
Nun ist Verblödung aber nicht gleich Verblödung: Wer als Finanzberater die optimale Riester-Rente für achtjährige Atomphysiker mit 51 Kindern berechnet, hat andere Defizite als ein hauptschulschwänzender Dschungelcamp-Fan, der beim Raten von vier mal fünf bestenfalls dicht dran ist; und wer Dezibel für einen Internetprovider und Benno Ohnesorg für den Gründer eines Hamburger Volkstheaters hält, steckt in einem ganz anderen intellektuellen Schlamassel.
Da aber gewisse Stufen und Formen des geistigen Notstands an entsprechende Bevölkerungsschichten gebunden scheinen, verdienen sie eine genauere Betrachtung. Mit den Einkommen bewegen sich nämlich logischerweise auch die Lebensumstände und dadurch wiederum die Einstellungen auseinander. Der Umgang miteinander wird gereizter, aggressiver, feindseliger.
Wo früher der Sozialstaat die Klassen und Schichten halbwegs zusammenhielt, die Unterschiede zwischen unten und oben abmilderte und teilweise sogar echte Aufstiegschancen bot und das Gefühl »wir sitzen alle in einem Boot« die Gesellschaft kennzeichnete, machen heute die Schichten »ihr eigenes Ding«.
Die Reichen und Mächtigen klinken sich aus der sozialen Verantwortung und dem gesellschaftlichen Zusammenleben zusehends aus, machen nach unten dicht, »sind wieder elitär, rekrutieren sich in einem lange nicht mehr gekannten Umfang aus sich selbst, nach den – höchst leistungswidrigen – Indikatoren von vertrauter Zugehörigkeit, kulturellen Codes und distinktem Gruppenhabitus«.[3] Integration, soziale Kompromisse und christlich motivierte Solidarität sind ihnen ebenso fremd und zuwider wie die »altmodische« Fürsorgepflicht des Unternehmers.
Gleichzeitig wächst die Armee der Armen, »Bildungsfernen«, Überflüssigen und Chancenlosen, deren erstes spätkindliches Aha-Erlebnis es ist, dass sie unten sind und – wenn nicht ein Wunder oder ein Casting geschieht – immer unten bleiben werden. Überhaupt hat ihr Leben, ihr Erfahrungshorizont mit dem der Reichen nicht das mindeste zu tun.
Sie selbst kommen kaum aus ihrem Viertel heraus und kennen die Welt und sogar Deutschland bestenfalls aus Tourismuswerbung wie Voxtours, während für die anderen Chinatour oder Hawaiiurlaub schon fast ödes Einerlei sind. Für ihren Nachwuchs gilt Endstation Hauptschule, während die Kinder der anderen ein Auslandsschuljahr als reine Routine ansehen. Die einen haben »fließend Wasser von den Wänden«, die anderen goldene Wasserhähne. Und wenn sich beide überhaupt treffen, dann im Luxusbordell: die einen als Prostituierte, die anderen als Freier. Die Frage Sekt oder Selters ist jedenfalls meist schon vor der Geburt entschieden.
Wenn dann der Aufschwung die Einkommen aus Kapitalbesitz explodieren lässt, während er beim Rest der Gesellschaft »nicht ankommt«, heizt dies die Stimmung nur noch mehr an. Kein Wunder, dass bereits 61 Prozent der Wahlberechtigten meinen, es gebe keine Mitte mehr, nur noch oben und unten.[4]
Die Welt hat sich auf die Begriffe RECHTS und LINKS versteift und dabei vergessen, dass es auch ein OBEN und UNTEN gibt.
Franz Werfel
Sogar Bild warnte am 5. Mai 2008, alarmiert durch eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey: »In Deutschland bricht die Mittelschicht weg – Die deutsche Gesellschaft droht immer stärker in Arm und Reich zu zerfallen.«
Nur allzu verständlich, dass diese ominöse Mittelschicht so langsam ins Grübeln kommt: Was ihr gestern noch als reelle Aussicht auf Karriere, soziale Sicherheit und sorgenfreie Zukunft erschien, erkennt sie jetzt als trügerische »Chance« wie in einem Tele-Gewinnspiel. Die Flausen von den unbegrenzten Möglichkeiten der »Informationsgesellschaft« hatte ihr ohnehin schon der Zusammenbruch des neuen Marktes ausgetrieben, doch nun sieht sie, dass es so langsam eng wird: Der Optimismus mutiert zur Skepsis und die Aufstiegsträume zur Angst vor dem sozialen Abstieg.
Diese Spaltung der Gesellschaft in ein winziges Oben und ein riesiges nivelliertes Unten ist aber für die Reichen und Mächtigen brandgefährlich: Was, wenn die Bevölkerung sich einig wird?
Gezielte und systematische Volksverdummung wird damit zur Überlebensfrage!
Könnten Wahlen etwas verändern, würde man sie verbieten.
Rosa Luxemburg
Seit im Juni 2008, ausgerechnet zum Auftakt des Patrioten-Festivals Fußballeuropameisterschaft, eine Allensbach-Umfrage verriet, dass nur noch 31 Prozent der Bürger mit der sozialen Marktwirtschaft zufrieden, 38 Prozent aber unzufrieden sind, herrscht im Lager der Reichen und Mächtigen Alarmstufe Rot. Und seit kurz darauf ebenfalls Allensbach ermittelte, dass 45 Prozent der Deutschen den Sozialismus für eine »gute Idee« halten, rechnet man mit dem Schlimmsten.
Gleichzeitig mit der Staatsverdrossenheit nämlich verschärft sich die Legitimationskrise unseres politischen Systems, denn die moderne Universalausrede vieler Volksvertreter, alles sei sowieso nur »alternativloser Sachzwang«, fällt auf sie selbst zurück: »Wenn das so ist«, fragen sich immer mehr Menschen quer durch alle Schichten, »wozu dann noch wählen und sich politisch engagieren?«
Nicht nur die Erfinder des Grundgesetzes, auch ihre politischen Vordenker haben von der parlamentarischen Demokratie ein schönes Bild gemalt. Demnach treffen die Stimmberechtigten eine »rationale Wahlentscheidung«[5] – sie schalten ihr Gehirn ein. Aber mit jenem Organ zwischen den Ohren ist das so eine Sache. Denn auch wer wählen geht, tut dies, weitestgehend notgedrungen, blind: Er kauft die Katze im Sack.
Daran sind die Leute zum Teil selbst schuld, wie der Vater der Neuen Politischen Ökonomie, Anthony Downs, skeptisch meint: »Ein großer Prozentsatz der Bürger – einschließlich der Wähler – informiert sich nicht in bedeutendem Ausmaß über die Streitfragen, um die es bei der Wahl geht, selbst wenn diese Bürger den Wahlausgang für wichtig halten.«[6] Dabei nimmt die Unwissenheit mitunter kabarettreife Züge an:
Fast die Hälfte der Deutschen weiß nicht, wofür Erst- und Zweitstimme eigentlich gut sind. Einige meinen, mit der Erststimme wähle man die Regierung, mit der Zweitstimme die Opposition.
Viele Wähler kennen nicht einmal die Namen oder die Parteizugehörigkeit von Spitzenpolitikern. So werden Horst Seehofer und Ursula von der Leyen regelmäßig der SPD, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier der CDU zugeordnet. Dass Kurt Beck SPD-Chef war, wussten selbst ein Jahr nach seinem Amtsantritt im April 2006 nur 35 Prozent.
Kaum jemand ist informiert über Qualifikation, Position und die Arbeit seiner »Vertreter« und die Prozedur ihrer Nominierung.
Die wenigsten Bürger kennen die Kompetenzen der einzelnen »Volksvertretungen«, in Bund, Ländern und Gemeinden. Vor allem die EU ist für viele wie ein chinesischer Film ohne Untertitel. Selbst Gerhard Sabathil von der Berliner EU-Vertretung in Berlin beklagt eine »gewisse Bürgerferne« der Europäischen Union. Laut Umfragen nämlich verstehen nur 47 Prozent der Deutschen, wie sie funktioniert. Umso erfreulicher, dass zwei Drittel die Mitgliedschaft in diesem unbekannten Gremium begrüßen und seine Zukunft optimistisch sehen.
Auch sonst übrigens urteilen die meisten Deutschen liebend gern über Dinge, von denen sie – selbst nach eigenem Bekunden – keinen Schimmer haben. Immer wieder amüsant sind die Umfragen zu den Fähigkeiten der politischen Klasse. Da benotet ein Parkwächter aus Radevormwald die Wirtschaftskompetenz der CDU, eine Kartenlegerin aus Sömmerda das Energiekonzept der SPD und ein Fitnesstrainer aus Tötensen die Bildungspolitik der Linkspartei. Das Tragikomische dabei: Die Demoskopen erfragen diese Nonsensurteile zu Recht – denn auf ebendieser abstrusen Grundlage gehen jene mündigen Bürger wählen.
Alle Macht geht vom Volke aus – aber wo geht sie hin?
Bertolt Brecht
Daher ist es nur allzu verständlich, dass viele der wichtigsten Entscheidungen, vom Kriegseinsatz und der Rente ab 67 über den Mindestlohn bis hin zur Erbschafts- und Vermögenssteuer, gegen den erklärten Volkswillen getroffen wurden. Über Kernfragen wie die Deutsche Vereinigung, die Einführung des Euro und die EU-Verfassung ließ man das Volk vorsichtshalber erst gar nicht entscheiden – und konnte es zum Glück für die Politik auch gar nicht: Bundesweite Volksentscheide sind im Grundgesetz außer bei einer Neugliederung des Staatsgebiets nicht zulässig.
Dies ist nach Überzeugung der politischen Klasse auch gut so, denn schon für den legendären österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter »fällt der typische Bürger auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt. Er argumentiert und analysiert auf eine Art und Weise, die er innerhalb der Sphäre seiner wirklichen Interessen bereitwillig als infantil anerkennen würde. Er wird wieder zum Primitiven. Sein Denken wird assoziativ und affektmäßig.«[7] Aus diesem wissenschaftlichen Vorurteil machte Konrad Adenauer im Jahre 1949 den Lehrsatz: »Der Durchschnittswähler denkt primitiv; und er urteilt auch primitiv.«[8]
Diese gesunde Menschenverachtung stammt von einem Geistesblitz des irischen Moralphilosophen Hutcheson. Demnach gleicht die Bevölkerung einer minderjährigen Auszubildenden beim lustgreisen Firmenchef, der glaubt, sie meint »ja«, auch wenn sie »nein« sagt. Daher könne man ruhig gegen den Volkswillen alles Mögliche durchsetzen.[9] Derlei freihändige »Legitimation« nennt der Linguist und Philosoph Noam Chomsky ironisch »Konsens ohne Zustimmung«. Die Regierenden fühlten sich wie »Eltern, die ihr Kind davor bewahren, einfach auf die Straße zu laufen«.[10] Für Chomsky ist dies schlicht »Leninismus in Reinform«[11].
Dieser Grundgedanke, das Volk gleichsam vor sich selbst zu schützen, ist zwar auch bei uns umfassend rechtlich abgesichert. Aber ist nicht wenigstens laut Verfassung das Volk der Souverän?
Das Gros unserer Mitbürger, einschließlich der politischen Klasse, denkt über Herkunft und Quintessenz unseres Grundgesetzes ähnlich intensiv nach wie über die Relativitätstheorie oder das Paarungsverhalten unehelicher Spulwürmer. Das ist auch besser so, denn zum einen wurde das Grundgesetz nicht nur nicht durch Volksabstimmung, sondern nicht einmal durch gewählte Volksvertreter verabschiedet, sondern von den biblischen 65 »Vätern des Grundgesetzes«[12], unter ihnen übrigens auch vier Frauen. Diesen Parlamentarischen Rat hatten im September 1948 die Ministerpräsidenten der elf Westzonenländer auf Anweisung der Alliierten Frankreich, Großbritannien und USA in Bonn eingesetzt.
Zum anderen steht, ähnlich wie die Zehn Gebote über der sündigen Menschheit, das Grundgesetz über dem Volk. Nach der »Ewigkeitsklausel« Artikel 79, Absatz 3 dürfen die Artikel 1 und 20 sowie die Einteilung in Bundesländer von Menschenhand nicht verändert werden.
Damit aber nicht genug: Auch die Gewissensfreiheit der Abgeordneten nach Artikel 38 macht den Volksvertreter vom Volk und seiner Partei unabhängig. Wenn der also, vielleicht sogar nach einem »Informationsaustausch« mit einem Rüstungslobbyisten, entgegen aller Meinungsumfragen und Parteitagsbeschlüsse die Ablehnung eines blutigen Bundeswehreinsatzes mit seinem Gewissen nicht verantworten kann, bleiben dem Bürger und der Partei nur die Nichtberücksichtigung bei der nächsten Wahl.
Wenn nun aber alles schiefläuft und die Volksvertreter doch etwas Gemeinwohlorientiertes beschließen, so bleibt immer noch die Wunderwaffe Bundesverfassungsgericht, das wie König Salamon über den Sterblichen thront und alles für null und nichtig erklären kann, was deutsche Volksvertreter, Regierungen und Behörden beschlossen haben, man denke nur an das Verbot der Fristenregelung bei Abtreibungen 1975 oder der damaligen Vermögenssteuer 1995. Wenn auch das BVerfG derzeit überwiegend bevölkerungsfreundliche Urteile fällt – von der Gleichstellung der Homosexuellen über die Verteidigung der Pressefreiheit bis hin zur Absage an diverse polizei- und schnüffelstaatliche Amokläufe –, so bleibt doch entscheidend, dass hier ein Organ über den Volkswillen gestellt wird, das seit seinem Bestehen vorwiegend von Parteipolitikern der zweiten Garnitur geleitet wird: So war CDU-Mann Roman Herzog (1987 bis 1994) vorher rheinland-pfälzischer Staatssekretär unter Ministerpräsident Helmut Kohl, SPD-Frau Jutta Limbach (1994 bis 2002) Berliner Justizsenatorin und CSU-Mann Hans Jürgen Papier (seit 2002) Vizechef der Ethikkommission der Bayerischen Landesärztekammer.
Diese Parteienwirtschaft freilich hat mit der klassischen Gewaltenteilung nichts mehr zu tun; aber sogar diese – bereits von Aristoteles, John Locke und Montesquieu angedachte und in der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 erstmals umgesetzte – Konstruktion ist so edel nun auch wieder nicht. Mit »Checks and Balances« beabsichtigten die Autoren der US-Verfassung nämlich keineswegs die Stärkung wahrer Demokratie durch gegenseitige Kontrolle der Staatsorgane. Das Ziel war vielmehr, wie der »Vater der Verfassung« und spätere US-Präsident James Madison offen bekannte, »die Minderheit der Wohlhabenden gegen die Mehrheit zu schützen«.[13] Für ihn war Gewaltenteilung ein Mittel gegen die wachsende »demokratische Bedrohung« durch den zunehmenden Anteil derjenigen, »die unter härtesten Bedingungen arbeiten müssen und heimlich eine gerechtere Verteilung der Früchte ihrer Arbeit erflehen«.
Besonders warnte Madison vor einem Wahlrecht, das auch denjenigen »Macht über Eigentum verschafft, die keines besitzen«, denn »wer weder Eigentum noch die Hoffnung auf seinen Erwerb hat, kann nicht mit dem Recht auf Eigentum sympathisieren«. Das Geheimnis der US-Demokratie ist also unglaublich banal, wie auch Noam Chomsky findet: »Folglich sollte die politische Macht in den Händen derer bleiben, ›die dem Reichtum der Nation entstammen und ihn repräsentieren‹ …, während die Öffentlichkeit insgesamt fragmentiert und desorganisiert bleibt.«[14]
Einen kleinen Abklatsch davon erleben wir in Gestalt der Landeslisten der Parteien, denen die Hälfte der Abgeordneten ihr Bundestagsmandat verdankt. Während diese Politiker sich den Teufel um das Volk scheren und sich nur innerhalb der Partei lieb Kind machen müssen, kann der Bürger einzelne Kandidaten nur ablehnen, indem er gleich eine andere Partei oder gar nicht wählt. Ein Merkel-Fan müsste also der Partei seiner Heldin die Stimme verweigern, nur weil er gegen den Dauertalker Wolfgang Bosbach allergisch ist.
Dem Konflikt, den Menschen als Ergebnis von Aufklärung und bürgerlicher Revolution formal alle Möglichkeiten zur aktiven Beteiligung an der Demokratie einräumen zu müssen, sie aber de facto davon abzuhalten, begegnet die Politik durch den Stützpfeiler jeder modernen Demokratie: der Mitwirkungsillusion. Und in einer Parteiendemokratie wie der unseren bietet sich der Verweis auf die Mitarbeit in den Parteien geradezu an.
Allerdings überzeugt dieses äußerst großzügige Angebot nicht einmal jeden vierzigsten Wahlberechtigten: Weniger als 1,5 Millionen von knapp 62 Millionen gehören einer Bundestagspartei an.[15] Aber warum? Sind die Menschen im Allgemeinen und die Bundesbürger im Besonderen von Natur aus »Idioten«[16], die für das Gemeinwohl keinen Finger krumm machen wollen?
Nun wäre eine großangelegte Publikumsbeschimpfung bestenfalls dann berechtigt, wenn sich die Parteien wie ein gemachtes Nest für aktive Demokraten präsentierten. Peinlich aber wirkt die Schuldzuweisung an das angeblich passive Volk, wenn selbst die mitwirkungswilligsten Staatsbürger in Scharen Reißaus nehmen – die aktuellen Bundestagsparteien verloren seit 1990 über ein Drittel ihrer Mitglieder.
Kein Wunder, denn die hochgelobte innerparteiliche Demokratie gleicht zusehends dem berüchtigten Leninschen »Demokratischen Zentralismus«[17]: Die Führung setzt ihre Politik mehr oder minder rücksichtslos nach unten durch. Wer ausschert, fliegt.
So drohte der damalige SPD-Generalsekretär Franz Müntefering bei den Abstimmungen 2001 zum Mazedonienkrieg und 2003 zur Gesundheitsreform den »Abweichlern« mit der künftigen Verweigerung eines guten Listenplatzes und damit mit dem Ende ihrer politischen Karriere. Die superdemokratischen Grünen setzten dies in die Tat um, als sie Hans-Christian Ströbele wegen seiner »regierungsfeindlichen« Haltung in der Friedens- und Sozialpolitik einen aussichtsreichen Platz auf der Berliner Landesliste verweigerten. Ströbele aber blamierte die alternativen Mobber und zog 2002 mit dem bislang einzigen Direktmandat in der Geschichte der Grünen erneut in den Bundestag ein. Und sollte der Demokratische Zentralismus einmal knirschen, dann ist seit Gerhard Schröder die Rücktrittsdrohung ein beliebtes Mittel der Volksvertreter-Erpressung. So koppelte der damalige Kanzler die Bundestagsabstimmung am 16. November 2001 über eine Beteiligung deutscher Soldaten am »Kampf gegen den Terrorismus« mit der Vertrauensfrage.
Diese Variante innerparteilicher Demokratie ist natürlich nicht jedermanns Sache, zieht aber eigennützige Karrieristen magisch an, wie auch der Berliner Politikprofessor Oskar Niedermayer herausfand: »Die meisten Parteiangehörigen entstammen nicht länger traditionellen Trägermilieus, sondern alle Parteien rekrutieren ihre Angehörigen überwiegend aus denselben sozialen Gruppierungen. Männliche Akademiker mittleren Alters aus der neuen Mittelschicht der Beamten und Angestellten dominieren.«[18] Sein Kollege Winfried Steffani resümiert: »Parteien sind Interessengruppen in eigner Sache, die an politischen Führungsaufgaben interessierten Bürgern Karrierechancen eröffnen.«[19]
Wie wenig die politische Kamarilla auch nur im Traum daran denkt, das Volk an den wichtigen Entscheidungen zu beteiligen, zeigt die Schmierenkomödie um die EU-Verfassung, die ursprünglich am 1. November 2006 in Kraft treten sollte. Leider aber mussten die 25 Mitgliedsstaaten dem menschenverachtenden neoliberalen Pamphlet zustimmen. Die deutsche Regierung wusste, dass das Volk so dämlich nun auch wieder nicht sein würde, und ließ eine ehrliche demokratische Abstimmung gar nicht erst zu, sondern entschied wie in China oder früher in der DDR – ohne Volk. Die Länder, die ehrlich abstimmen durften, wie Frankreich oder die Niederlande, lehnten diesen Frontalangriff auf die Menschenwürde im Frühjahr 2005 mit überwältigender Mehrheit ab.
Nun wären Europas Regierungen nicht ihr Geld wert, würden sie nicht in einem zweiten Anlauf – diesmal fast ohne Beteiligung des Volkes – den Freibrief zur schamlosen Umverteilung von Arm nach Reich mit aller Undemokratie durchsetzen wollen. Bedauerlicherweise aber lehnte das einzige Volk, das überhaupt noch abstimmen durfte, die hochfahrenden und sicherlich gut bezahlten Pläne der europäischen Politikerklasse kurzerhand ab. Erster Kommentar von intellektuellen und demokratischen Vorbildern unserer Jugend wie CSU-Generalsekretär Markus Söder: Die Iren sollten einfach noch mal abstimmen.[20]
Und Außenminister Steinmeier inszeniert sich als grotesk-größenwahnsinnige Mischung aus George W. Bush und Bud Spencer und fordert Irland zum Verlassen der EU auf.[21]
Kann Demokratieverständnis verkorkster sein? »Neinsager Irland – Schurkenstaat im Schockzustand«, titelt Spiegel Online.[22]EU-Skeptiker gleich Al Khaida? Ab mit ihnen nach Guantanamo?
Diese offensichtliche Abneigung einiger EU-Regierungen gegenüber ihren eigenen Völkern wertet der Politikprofessor Hubert Kleinert, ein früherer Vertrauter von Joschka Fischer, so: »Die politischen Eliten des demokratischen Großprojekts Europa zittern nicht mehr nur vor dem Votum ihrer Bürger, manche flüchten jetzt sogar in offen manipulative Prozeduren.« Ihre Botschaft laute: »Die europäischen Bürger sind einfach zu blöde, um die Segnungen der Gemeinschaft angemessen zu würdigen. Deshalb fragt sie besser gar nicht erst nach ihrem Votum … Dass die größte demokratische Gemeinschaft der Welt mit diesem autoritären Paternalismus eigentlich ihre eigenen Grundprinzipien auf den Kopf stellt, scheint dabei gar nicht mehr aufzufallen.«[23] Kleinert warnt aber die Merkels, Berlusconis und Sarkozys nachdrücklich, die Bürger seien »weder so blöde noch so ahnungslos, wie sie von den Eliten gehalten werden«.
Genau das ist gemeint mit dem Schlagwort »tiefgreifende Legitimationskrise der demokratischen Marktwirtschaft«. Aber vergessen wir nicht: Die Selbstbestimmung der Völker ist die unversöhnliche Antithese zum »Alternativlosen Sachzwang«. Daher ist gestandenen Neoliberalen schon rein logisch der Störfaktor Demokratie so zuwider wie dem Säbelzahntiger das Wasser. Wie sagte ihr Prophet Hayek so schön: »Liberalismus ist unvereinbar mit unbeschränkter Demokratie.«[24]