Die grünen Witwen von Rothenfelde - Hansjörg Martin - E-Book

Die grünen Witwen von Rothenfelde E-Book

Hansjörg Martin

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Beschreibung

Kommissar Leo Klipp hat Pech – in jeder Beziehung. Erstens liegt Rothenfelde noch eben im Zuständigkeitsbereich seiner Dienststelle. Zweitens liegt in Rothenfelde ein Toter, einwandfrei von einem Pferd zu Tode getreten, aber er muß hinfahren, weil die Mordkommission bei allen gewaltsamen Todesfällen erst einmal eingeschaltet wird. Drittens lebt seine Nichte (eigentlich Kusine) dort in einer Landkommune, und seine Tante, ihre Mutter, macht sich Sorgen um sie – der Onkel (eigentlich Vetter) soll da mal nach dem Rechten sehen. Den Tod des Stallburschen hat ein Wallach namens Wotan auf dem Gewissen (insoweit Pferde ein Gewissen haben); die Sache ist schnell abgeschlossen. Der Besuch auf dem ‹Idiotenhof› – die grünen Aussteiger pflegen Behinderte – verläuft erfreulich, alles in allem. Aber der Nebel am Abend, der Klipps Heimfahrt verhindert und ihn zwingt, in einem ländlichen Gasthof abzusteigen, wirft ihn unversehens in die Arme einer Frau, die er vor vielen Jahren einmal … Fast in ihre Arme. Draußen polterten Schritte. Es klopfte an der Tür. «Herr Klipp! Sind Sie noch wach?» Es ist der Wirt, und er ist der Ehemann der Ehemaligen. «Ein dringendes Telefongespräch für Sie!» Am Telefon ist Hanna, die Kusine/Nichte. Die vom ‹Idiotenhof›: «Ulli … Ulli Hillwein … Er ist tot.» Diesmal ist der Wallach Wotan unschuldig.

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Hansjörg Martin

Die grünen Witwen von Rothenfelde

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Kommissar Leo Klipp hat Pech – in jeder Beziehung.

Erstens liegt Rothenfelde noch eben im Zuständigkeitsbereich seiner Dienststelle. Zweitens liegt in Rothenfelde ein Toter, einwandfrei von einem Pferd zu Tode getreten, aber er muß hinfahren, weil die Mordkommission bei allen gewaltsamen Todesfällen erst einmal eingeschaltet wird. Drittens lebt seine Nichte (eigentlich Kusine) dort in einer Landkommune, und seine Tante, ihre Mutter, macht sich Sorgen um sie – der Onkel (eigentlich Vetter) soll da mal nach dem Rechten sehen.

Den Tod des Stallburschen hat ein Wallach namens Wotan auf dem Gewissen (insoweit Pferde ein Gewissen haben); die Sache ist schnell abgeschlossen. Der Besuch auf dem ‹Idiotenhof› – die grünen Aussteiger pflegen Behinderte – verläuft erfreulich, alles in allem. Aber der Nebel am Abend, der Klipps Heimfahrt verhindert und ihn zwingt, in einem ländlichen Gasthof abzusteigen, wirft ihn unversehens in die Arme einer Frau, die er vor vielen Jahren einmal … Fast in ihre Arme.

 

Draußen polterten Schritte. Es klopfte an der Tür.

«Herr Klipp! Sind Sie noch wach?»

Es ist der Wirt, und er ist der Ehemann der Ehemaligen.

«Ein dringendes Telefongespräch für Sie!»

Am Telefon ist Hanna, die Kusine/Nichte. Die vom ‹Idiotenhof›:

«Ulli … Ulli Hillwein … Er ist tot.»

Diesmal ist der Wallach Wotan unschuldig.

Über Hansjörg Martin

Hansjörg Martin (1920–1999) war ursprünglich Maler und Graphiker. Nach dem Krieg arbeitete er als Clown, war Bühnenbildner und Dramaturg, dann freier Schriftsteller. Er schrieb Kriminalromane und Kinder- und Jugendbücher.

Inhaltsübersicht

Die Hauptpersonen«Das ist das ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel

Die Hauptpersonen

Hanna

spielt die Nichte, obwohl sie eigentlich die Kusine ist.

Kommissar Leo Klipp

spielt den Onkel und hat Schwierigkeiten mit einem Fischhändler.

Kriminalrat Rolf David

redet gern und träumt von kuhwarmer Milch.

Erwin Kraatz

stirbt, obgleich dies ein Kriminalroman ist, an den Folgen eines echten Unfalls.

Hempel und Hampel

ist nicht von einem Pferd erschlagen worden und heißt tatsächlich Manfred K. Lämmel.

Ulli Hillwein

ist nicht «der Baghwan» – oder doch? Wie auch immer – jetzt ist er tot.

Robert Harms

ist derzeit trocken und hat Angst vor Pferden.

sind grün und fühlen sich als Witwen.

Rudi

gibt sich als Spaßmacher, bis ihm das Lachen vergeht.

Holger Bragatzky

geht erst mal auf Kollisionskurs.

Volker Lämmel

hat a) einen Dachschaden und b) Glück.

Maria

ist ein Stück Vergangenheit und holt fast die Gegenwart ein.

Frau Riese

ist winzig.

Sula

bekommt ein Trinkgeld und einen Kuß.

«Das ist das alte Dilemma: Auf der Suche nach der Wahrheit, kommt man nicht immer ohne Lügen aus!»

 

Leo Klipp

1

Ich hätte mich darauf nicht einlassen sollen.

«Das ist nicht mein Bier!» hätte ich sagen sollen. «Schicken Sie den Kollegen Körner hin, Chef, der stammt vom Dorf und weiß sicher besser als ich, wie dort totgeschlagen wird …»

Vielleicht hätte ich mir den letzten Teil des Satzes verkniffen, denn man soll sich vor dem verfluchten Zynismus hüten, der in unserer Branche – wie bei Chirurgen – im Schwange ist, was niemanden wundern darf bei soviel Blut, Tränen, Heuchelei und Elend, mit denen wir dauernd zu tun haben.

Ich habe mich wohl auch deshalb breitschlagen lassen, nach Rothenfelde zu fahren, weil kurz vorher Erna angerufen hatte. Erna, die es sich immer verbittet, Tante Erna genannt zu werden, ist die jüngste Schwester meines Vaters, fast zwanzig Jahre jünger als er und somit nur funfJahre älter als ich. Früher, als ich noch ein Schuljunge war und mich durchs gleiche Gymnasium quälte wie sie, habe ich, um sie zu foppen, in der Pause manchmal quer übern Schulhof ‹Hallo, Tantchen!› gerufen, was der damals Sechzehnjährigen heftig auf den Wecker ging.

Aber heute haben wir ein gutes Verhältnis zueinander. Seit sie geschieden ist, sogar ein noch besseres als vorher. Ihr gewesener Gatte ist ein Ekelpaket und kümmert sich um nichts. Wenn sie Rat braucht, ruft sie mich an oder kommt zu mir, und ich tue, was ich kann, um ihr zu helfen. Kurzum, aus der Tante-Neffe-Beziehung hat sich ein Beinah-Bruder-Schwester-Status entwickelt. Und deshalb nennt mich ihre Tochter Hanna ‹Onkel Leo›, obschon ich ‹nur› ihr Cousin bin.

Erna hatte also angerufen, kurz bevor mein Chef mit der Rothenfelde-Sache kam, und sie hatte mir von ihrem Kummer mit Hanna erzählt.

«Kannst du da nicht mal hinfahren, Leo?» hatte sie gesagt. «Es ist nur eine knappe halbe Stunde weit. Rothenfelde heißt das Dorf, gleich hinter Berglaken. Sie wohnen auf einem alten Hof, den einer von ihnen gepachtet hat – nein, nicht der, in den Hanna sich verliebt hat; der heißt Holger … Den Familiennamen weiß ich nicht.»

«Und was soll ich dort?» hatte ich gefragt. «Soll ich als besorgter Onkel Leo nach dem Rechten sehen und meine niedliche Nichte dazu bewegen, wieder in den Schoß der Familie zurückzukehren? Sie ist 22, dein Fräulein Tochter. Die könnte schon selber Mutter sein.»

«Um Himmels willen!» hatte Erna gestöhnt. «Mal bloß den Teufel nicht an die Wand!»

«Teufel? Enkelkinder sind eher Engel», hatte ich geflachst. «Aber die Gefahr, Oma zu werden, ist ja heutzutage nicht mehr so groß … Bist du selbst noch nicht dort gewesen?»

«Nein. Sie will das nicht», hatte Erna gesagt.

Nun – hin und her – ich hatte mich nicht festgelegt.

Zehn Minuten später kam Rolf David in mein Zimmer.

Er ist mein Vorgesetzter, Kriminalrat, einsfünfundsechzig groß, untersetzt und im großen Ganzen ganz genießbar – wenn man davon absieht, daß er ein vorbildlicher Beamter ist.

Vorbildliche Beamte verlieren mit der Dauer ihrer Dienstzeit den Sinn für das, was das Leben interessant macht: Überraschungen, Zufälle, Unwägbarkeiten … Alle Geschehnisse, die sich nicht mittels Richtlinien, Vorschriften, Dienstanweisungen, Verordnungen einordnen, klären und erledigen lassen, empfinden vorbildliche Beamte als störend, wenn nicht gar als persönliche Beleidigung.

Nun lassen sich zwar für Beamte im Arbeitsbereich eines Katasteramtes Störungen und persönliche Beleidigungen dieser Art weitgehend vermeiden – aber ausgerechnet bei der Polizei läßt sich das Ruhebedürfnis vorbildlicher Beamter nur schwer befriedigen, weil sich zum Beispiel Giftmischerinnen nicht an Bürozeiten zu halten pflegen und Messerstecher gelegentlich überraschend und völlig außerhalb aller Vorschriften tätig werden.

Wenn es nach des vorbildlichen Beamten Rolf Davids Wünschen und nach seiner Berufsauffassung ginge, fände Kriminalität nur montags, dienstags, donnerstags und freitags von 8.00 bis 12.00 und von 14.00 bis 17.00 Uhr statt. Niemals an Mittwochnachmittagen und schon gar nicht an Wochenenden. Seinen Ärger über Fälle, die ihm Feierabend oder Freizeit oder gar die Ferien verdarben, ließ er mitunter auch an uns aus. Doch im großen und ganzen war er, wie gesagt, ein er- und verträglicher Vorgesetzter.

Rolf David kam also in mein Zimmer, gerade als ich die Füße auf den Schreibtisch legen und mich in dem Stahlrohrsessel zurücklehnen wollte, der mir dienstgradmäßig zusteht und in dem ich mich hie und da zum Nachdenken zurücklehne.

Ich weiß heute nicht mehr, worüber ich hatte nachdenken wollen. Wahrscheinlich – ausgelöst von Ernas Anruf – über Erziehungsprobleme und über die Jugend von heute und darüber, ob es ein Glück oder ein Mangel sei, keine Kinder zu haben. Ich kam jedenfalls nicht dazu, das Problem auszuloten, sondern gab dem Chef Feuer für die Zigarette und mir den Anschein von Aufmerksamkeit, wie sich’s einem Ranghöheren gegenüber gehört.

Kriminalrat David hatte sich in dem zweiten Stahlrohrsessel niedergelassen, rauchte und sagte zunächst nichts.

Das hatte er in einem der Lehrgänge gelernt, in dem Psychologen Unternehmern, Nachwuchs-Führungskräften und höheren Beamten ihr Einmaleins der Menschenbehandlung beibringen und sie mit den Tricks vertraut machen, die sie für die Erhaltung unseres Gesellschaftssystems für richtig und wichtig halten und die ja in vielen Fällen immer noch und immer wieder funktionieren. Das geht vom Lächelnlernen bis zum gezielten Spiel mit dem Kugelschreiber. Dazu gehört auch das Schweigen vor der Erteilung eines schwierigen Auftrags oder einfach nur als Vorbereitung für ein Gespräch, bei dem man sein Gegenüber gern unsicher hätte.

Ich tat also so, als mache mich Davids Schweigen unsicher, lächelte ihn stumm an und dachte, na komm schon, alter Junge, du hast was in Petto! Los, spucks aus – in welchem Mietshaus soll ich die vier Wochen alte Leiche eines Rentners besichtigen? Wo soll ich einen Pennbruder suchen und festnehmen, weil er eine Zeitungsausträgerin erdrosselt hat …?

«Sie verstehen doch was von der Landwirtschaft, Herr Klipp?» fragte David.

«Landwirtschaft?» fragte ich verblüfft zurück.

«Ja», sagte er. «Ich erinnere mich, daß Sie neulich beim Essen in der Kantine mal eine Lanze für die Leute gebrochen haben, die ihre Höfe gegen den Bau einer Autobahn verteidigten. Und da haben Sie allerlei gewußt und gesagt, das mir fachkundig klang.»

«Nun ja», gab ich zurück, «fachkundig … Also ich weiß nicht … Ich habe mich ein bißchen mit Ökologie beschäftigt, weil ich nicht gern vergiftete Äpfel esse oder verseuchtes Wasser trinke – aber das war mehr politisch motiviert als aus Interesse an Ackerbau und Viehzucht.»

«Immerhin.» Er drückte seine Zigarette aus. «Das ist ja doch was! Dann können Sie eine Kuh von einem Pferd unterscheiden. Wer kann das heute schon noch in unserer hochtechnisierten Welt? Mein kleiner Neffe hat neulich gesagt: ‹Wie sehen eigentlich die Maschinen aus, die die Eier machen?› – Haha!»

Ich verzog höflich die Mundwinkel zu einem Lächeln und hörte zu, gespannt, worauf das alles eigentlich hinauslaufen sollte. Denn ohne Hintergedanken hatte David mich nicht nach landwirtschaftlichen Kenntnissen gefragt. Die Gradlinigkeit seiner Gedanken, Absichten und Wünsche gleicht einer Landstraße im Gebirge; ich kannte ihn nicht anders und hatte mich an seine Weitschweifigkeit gewöhnt. Außerdem hielt er sich für einen guten Erzähler und hörte sich so gern zu, daß er darüber manchmal sogar sein Publikum vergaß.

«Dabei weiß der Junge natürlich, daß es Hühner gibt», fuhr er fort. «Aber er bringt sie nicht in Verbindung mit den Eiern, die er zum Frühstück ißt … Woher denn auch? Diese moderne Jugend, noch dazu, wenn sie in der Großstadt aufwächst, die kann einem richtig leid tun, finden Sie nicht, Herr Klipp?»

«Ja», sagte ich brav, obschon mir die Stadtkinder auch noch aus anderem Grunde leid taten als wegen ihres Mangels an zoologischen Kenntnissen.

«Wenn ich da an meine Kindheit denke …» plauderte David weiter; «wir sind in den Hecken rumgekrochen, um die verlegten Hühnereier zu suchen, und wußten mit der Zeit genau die Stellen, wo welche zu finden waren – natürlich nicht aus Wissensdrang, um den Geheimnissen der Natur auf die Schliche zu kommen oder so was; nee, einfach bloß, weil wir Hunger hatten, verstehen Sie? Das waren die schlechten Jahre nach dem Krieg. Und ich weiß noch genau, wie ich von einem der großen Jungen gelernt habe, wie man Eier austrinkt, ohne die Schale zu zerbrechen … Na ja. Haben Sie schon mal ein nestwarmes Ei ausgetrunken?»

«Nein», sagte ich, «ich habe schon kuhwarme, frische Milch …»

«Oh, kuhwarme Milch!» unterbrach er mich und drehte verzückt die Augen zur Zimmerdecke. «Das ist unbeschreiblich! Dafür lasse ich noch jetzt jeden Champagner stehen.»

Ich erschauerte beim Gedanken an den Vergleich zwischen kuhwarmer Milch und eisgekühltem Champagner, aber ich nickte zustimmend; mir war nicht nach einer Debatte über die Geschmacksrichtung meines Vorgesetzten zumute. Ich wollte endlich, zum Kuckuck, wissen, was er im Schilde führte.

Aber er kam immer noch nicht mit der Sprache heraus, sondern verlor sich in Kindheitserinnerungen und einem larmoyanten Lamento über die schlimme gegenwärtige Welt, die doch der guten alten Zeit so ganz und gar den Garaus gemacht habe:

«Was war das früher gemütlich und geruhsam! Und mit welch kleinen Freuden waren wir als Kinder schon glücklich zu machen. Ein Glas Himbeerwasser an heißen Sommernachmittagen … Oder eine kleine Tüte Rocks am Sonntag – erinnern Sie sich noch an Rocks? Ich weiß nicht, ob’s die überhaupt noch gibt. Fünf Stück für’n Groschen kriegte man damals, solche mit Blümchen oder anderen Mustern … Und in den schönsten Farben. Wenn man die richtig lutschte, blieb das Blümchen bis zum Schluß heil … Ach ja!»

Er brach seufzend ab und redete dann von der maßlosen Unbescheidenheit der heutigen Jugend, für die Sahneeis – seinerzeit Gegenstand unerfüllbarer Sehnsucht – was Alltägliches geworden sei … Und so weiter und so weiter.

Ich verkniff mir die Bemerkung, daß es in der guten alten Zeit auch Kinder gegeben hat, die nach einem Zwölf- oder Vierzehnstundenarbeitstag in der Fabrik mit einem Stück Brot mit Sirup glücklich waren, gab ihm Feuer für die nächste Zigarette und dachte an seine Vorliebe für Feinschmeckerrestaurants, in denen er an einem Abend fünfmal mehr für Weinbergschnecken und Artischockenböden, Kalbsnieren und flambiertes Sonstnochwas ausgab, als ein Arbeiter in der guten alten Zeit im ganzen Monat verdient hatte.

Und dann, plötzlich, als ich schon beinahe glaubte, er sei vielleicht wirklich nur zum Schwatzen in mein Zimmer gekommen, sagte er:

«Also fahren Sie mal raus in das Dorf, Herr Klipp, und gucken Sie sich den Toten an!»

«Welchen Toten? In welchem Dorf?» fragte ich.

«Ein Fischgroßhändler – Hempel oder Hampel, ich weiß nicht. Er soll von einem Pferd erschlagen worden sein. Daß die Schuster nicht bei ihren Leisten bleiben können! Muß ein Fischhändler denn reiten? Na, von mir aus. Es ist in einem Reitstall passiert, heute mittag. In Rothenfelde. Gleich hinter Berglaken. Zwanzig Kilometer von hier. Autobahnabfahrt Diemelbach. Es gehört noch zu unserem Bereich. Wenn der Fischmensch im nächsten Dorf zu Tode gekommen wäre, müßten die Kollegen aus Neustadt feststellen, ob es wirklich das Pferd war, das ihn auf dem Gewissen hat – obschon ja ein Pferd kein Gewissen …» Es folgte noch ein Dreiminutenmonolog über die Schwierigkeit, den Begriff ‹Gewissen› überhaupt zu definieren, vom Gewissen der Reitpferde ganz zu schweigen.

 

Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen.

‹Das ist nicht mein Bier›, hätte ich sagen sollen, aber der Ortsname Rothenfelde und der mir anerzogene Obrigkeitsglaube … Also gut, oder nicht gut, ich übernahm die Sache – von ‹Fall› konnte ja noch nicht die Rede sein – und machte mich auf die Beine.

2

Um halb drei war Kriminalrat David in mein Zimmer gekommen, um mir, auf dem Umweg über seine nostalgischen Reminiszenzen, den Auftrag zu erteilen. Jetzt war es erst kurz vor drei, obschon mir sein Geplauder die knappe halbe Stunde zum Gummiband gemacht hatte.

Ich fuhr auf die Autobahn, klappte die Blende herab, weil mir die Sonne ins Gesicht schien, und war ganz guter Dinge – wie fast immer, wenn ich das Gebäude verlassen kann, in dem alles verwaltet, registriert, protokolliert, erfaßt, erforscht und ausgewertet wird, was es an Verstößen, Vergehen und Verbrechen gibt.

Das Wetter war schön. Die Landschaft wurde immer lieblicher, je weiter die Stadtrandzersiedlung zurückblieb, die mich stets an häßliche Hautkrankheiten erinnert.

Noch ein Autofriedhof, eine Reihe schäbiger kleiner Fabriken, ein paar blechgedeckte Baracken, scheußliche Schrebergartenkolonien; dann Felder, Weiden, Wiesen mit Kuschelwäldchen dazwischen und einem Flüßchen, das sich noch schlängeln durfte.

Über dem Ganzen das silberne Graugrün, das nach Frühling aussieht und – wenn man das Autofenster herunterkurbelt und nicht gerade hinter einem Fernlastzug fährt – auch so riecht. Mitte März, ein bißchen früh für Frühling, aber schon sehr tröstlich.

Ich hoffte, die Sache, die ich zu besichtigen beauftragt war, würde sich als unzweifelhafter Unfall herausstellen und nicht als Mord oder anderes Menschenwerk. Und ich dachte, daß eine so liebliche Landschaft ja keine Kulisse für Gewalt sei – was natürlich ein Irrtum und Vorurteil ist.

Im Laufe dieser Gedankenkette fiel mir zum hundertstenmal meine erste Begegnung mit dem Bösen ein. Das war in den Ferien im Bayerischen Wald gewesen, vor vielen, vielen Jahren …

 

Man hatte uns gesagt, daß es im Tal jenseits D. Forellen gäbe. So stiegen wir nach dem Essen auf die Räder und verließen das Dorf. Die Straße lief zuerst ohne große Steigungen an der Hügelkette entlang. Es war sehr heiß und staubig, und die Sonne brannte uns ins Gesicht.

Wir waren vergnügt, und Walter jodelte, wenn es sachte bergab ging, und ich nahm die Füße von den Pedalen, ließ die Beine baumeln und spielte Motorradfahrer.

In D. rasteten wir im Gasthof ‹Zu den drei Kronen› und tranken in der kühlen, dunklen Wirtsstube kühles, dunkles, würziges Bier aus Steinkrügen. Als wir aus der Wirtschaft auf die Straße traten, legte sich die Hitze und der Geruch nach Heu und Staub wie eine Decke um uns.

Nach D. steigt die Straße in Serpentinen steil an, so daß wir die Räder schieben mußten. Wir schwitzten und waren froh, den Wald zu erreichen und nach einer weiteren Straßenbiegung wieder fahren zu können. Die Fahrluft kühlte unsere glühenden Gesichter, und als wir an einen Kahlschlag kamen und hinter uns tief unten die kleinen Häuser um das Kirchlein geschart sahen wie Küken um eine Glucke, wich unsere Müdigkeit wieder der übermütigen Laune von vorhin. Wir lehnten die Räder an einen Felsbrocken, und ich stieg auf eine einzelnstehende hohe Tanne und warf mit Zapfen und kleinen Ästen nach Walter, der sich im Moos ausgestreckt hatte und rauchte.

Es war sehr schön, dort oben zu sitzen, und ich empfand den Wald mit seinem starken Geruch, das tiefe Summen ringsum und den fast weißen Himmel, der sich wie eine Glocke über dem Land wölbte, als Inbegriff des Friedens.

Ich saß eine ganze Weile ganz still oben im Gezweig und wünschte, immer dort bleiben zu können.

Aber nach einer Weile rief Walter zum Aufbruch, und als ich hinabkletterte, sah ich durch die Stämme am Rande des Kahlschlags Wasser blinken. Es schien ein kleines Stauwerk zu sein, das die von den Bergen kommenden Wildbäche sammelt.

«Dort wird’s auch Forellen geben», meinte Walter, und ich lief, während er bei den Fahrrädern blieb, quer über die Lichtung abwärts, um nachzusehen.

Als ich den Wald betrat, schlug der Harzgeruch geradezu über mir zusammen. Nach einigen Schritten sah ich das Wasser und zugleich ein schindelgedecktes Haus am Rande eines kleinen betonierten Beckens.

Es war sehr still, nur ein seltsames gurgelndes Geräusch war zu hören. Auf den Steinstufen, die vom Haus zum Staubecken führten, lag ein Bündel Kleider, blau und weiß. Von da kam auch das Geräusch.

Ich rief. – Keine Antwort.

Als ich näher trat, bewegte sich das Kleiderbündel.

Die Tür des Häuschens war offen. Auf der Schwelle saß eine zimtfarbene Katze und leckte sich die Pfoten.

Plötzlich erkannte ich, daß es eine alte Frau war, die dort mit geschlossenen Augen auf den Stufen lag und die gurgelnden Töne ausstieß.

Ich nahm an, daß sie schlafe, und ging zu ihr hin. Da sah ich das Blut und sah, daß sich über ihren Kopf eine breite, klaffende Wunde hinzog, und wußte, daß sie starb …

Alles Folgende war eine turbulente Häufung von Entsetzen, Angst, Hilflosigkeit. Ich rannte über die Lichtung zurück zu Walter. Der schwang sich aufs Rad, um Hilfe zu suchen. Auf der Straße kam ein Lastauto mit Holzfällern, das ich anhielt. Sie fuhren zum Dorf, um Arzt und Pfarrer zu holen.

Ich lief zurück zu der Sterbenden und stand lange bei ihr. Ich hatte ihren Kopf hochgestützt, mehr war nicht zu tun, und wedelte mit einem Farnzweig die Fliegen weg, die vom Blutgeruch angezogen wurden. Ekelhafte, dicke Fliegen mit blauschimmernden Leibern.

Walter kam mit Bauersleuten vom nächsten Hof. Die Holzfäller brachten Arzt und Pfarrer. Die friedliche Waldeinsamkeit war zerrissen, kein Insekt schien mehr zu summen, der weiße Himmel sandte feindliche Glut auf den Trupp gedämpft durcheinander redender und gestikulierender Menschen.

Der Arzt erhob sich von der Seite der Frau und nahm mit einer resignierenden Bewegung die Schlauchenden des Stethoskops aus den Ohren, dem Geahnten, Gefürchteten damit das Siegel des Endgültigen aufdrückend.

Der Pfarrer betete leise und spendete das Sakrament. Es war nun sehr still im Kreis. Es roch nach zertretenem Gras und Wald.

Einer der Holzfäller kam mit stoßendem Atem gelaufen. Er hatte bergaufwärts am Bach ein blutiges Beil gefunden …

 

Um ein Haar hätte ich die Autobahnabfahrt Diemelbach verpaßt und wurde von einem ärgerlichen oder erschrockenen Fiat-Fahrer angehupt, weil ich im letzten Moment bremste, blinkte und rechts abbog.

Oben an der Ausfahrt wies ein Schild mir den Weg: Rothenfelde 7, Berglaken 4 Kilometer nach rechts. In der anderen Richtung ging es nach Telders, aber da wollte ich nicht hin.

Erstens haben sie dort mitten in die wunderhübsche Heide einen Artillerieschießplatz gebaut – da wird die Verteidigung der Freiheit geübt – gegen wen eigentlich? –, und das ist eine geräuschvolle Übung, und zweitens habe ich mir vor langer Zeit mal in Telders einen Korb eingehandelt, als ich nachts nach einer Tanzerei ein Mädchen heimgebracht und gehofft hatte, ich könnte bei ihr bleiben und erst am anderen Morgen zurückfahren. Das Mädchen war sehr niedlich, und ich war mir nach dem schmusigen Getanze und der kurzen Knutscherei im Auto eigentlich meiner Sache sicher gewesen, daß da was zu machen wäre – aber dann ließ sie mich an der Straßenecke halten und erklärte kühl und kategorisch, daß es sehr nett gewesen sei und vielen Dank fürs Heimfahren und adieu, Leo …«Nein, keinen Kuß! Bist du verrückt? Mitten auf der Straße!»

«Ist das alles?» hatte ich gefragt.