Die Habenichtse - Katharina Hacker - E-Book

Die Habenichtse E-Book

Katharina Hacker

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2006 Isabelle und Jakob treffen sich am 11. September 2001 nach Jahren auf einer Party in Berlin wieder. Sie verlieben sich, heiraten und bekommen die Chance, nach London zu ziehen, wo Jakob – Schicksal? Zufall? – eine Stelle in einer Anwaltskanzlei antritt, die eigentlich für einen Kollegen vorgesehen war, der bei den Anschlägen auf das World Trade Center umgekommen ist. Isabelle arbeitet von dort aus weiter für ihre Berliner Grafikagentur und genießt, in den spannungsreichen Wochen vor Ausbruch des Kriegs im Irak, ihr Londoner Leben. Die beiden haben alles, was ein junges, erfolgreiches Paar braucht – und stehen doch mit leeren Händen da. Sehnsüchtig und ratlos sehen sie zu, wie ihr Leben aus den Fugen gerät. Jakob ist fasziniert von seinem Chef, Isabelle von Jim, dem Dealer. Die untergründigen Ströme von Liebe und Gewalt werden spürbar, und das Nachbarskind Sara wird ihr Opfer. Wie das Weltgeschehen ins eigene Leben eingreift, wie sehr dabei die Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen oder mitzufühlen, kollidiert mit der Sehnsucht nach existentiellen Erfahrungen, das erzählt Katharina Hacker meisterlich.

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Seitenzahl: 458

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Katharina Hacker

Die Habenichtse

Fischer e-books

1

–Alles wird anders, verkündete Dave, als der Umzugswagen klappernd davonfuhr, und hob Sara auf seine Schultern, was er schon lange nicht mehr getan hatte, und er galoppierte los, die Straße entlang bis hinunter zur Kirche, vor der ein Pfarrer stand, der ihnen freundlich winkte. Die Bäume begannen eben, sich zu verfärben, –nur ein bißchen, siehst du? sagte Dave, weil jetzt erst September ist, er blieb unter einer Platane stehen, damit Sara sich ein Blatt abreißen konnte. –Wie groß das ist, staunte Sara, und Dave setzte sie ab, hielt es vorsichtig vor ihr Gesicht. –Größer als dein Gesicht, verkündete er ernst. –Warum sind wir hier? fragte sie noch einmal, und Dave erklärte es ihr geduldig. –Du bist jetzt hier zu Hause, schloß er. Sara dachte nach. –Aber gestern noch nicht, sagte sie unsicher, –nein, stimmte ihr Dave zu, gestern noch nicht, gestern sind wir erst hergezogen. –Und wenn Tante Martha noch leben würde, sagte Sara, dann auch nicht. –Wenn Tante Martha lebte, dann würden wir noch in Clapham wohnen, bestätigte Dave, aber er hatte genug. –Steig auf, sagte er und ging in die Knie. Sie hob das Bein über seinen Kopf, hielt sich an seinen Haaren. –Nicht an den Haaren! rief Dave, und los ging es, die Straße hinunter, die Straße herauf, –kannst du dir das merken? fragte Dave, Lady Margaret Road Nummer 47. Sara wiederholte es gehorsam. –Du mußt das wissen, falls du verlorengehst, schärfte Dave ihr ein, jetzt, sagte er feierlich, da du in die Vorschule kommst, –da ich in die Vorschule komme, wiederholte Sara und galoppierte auf ihr neues Zuhause zu.

Die viktorianischen Häuser reihten sich eines an das andere, unterschieden sich nur in Details der Fassaden, manche der Häuser hatten eine Wohnung im Souterrain, andere nicht. Wo es keine garden flat gab, gehörte der Garten – ein schmaler Streifen, von einer Ziegelmauer umgeben – zur Erdgeschoßwohnung, von der Straße führte ein kleiner Eingang zum Keller, in dem früher Kohlen gelagert wurden und wo jetzt ausgediente Möbel, Matratzen, kaputte Fernseher standen. Da war auch ein Kinderbett, Saras Vater schleppte es hoch und fluchte, –aber du solltest froh sein, sagte ihre Mutter enttäuscht zu ihm, und dann stritten sie über die Decke, die auf dem Sofa lag, eine Decke mit Schlingpflanzenmuster und einem riesigen Tiger dazwischen. Das Sofa stand im Erker, von draußen sah man den Tiger zwischen all dem Grün hervorleuchten.

–Da ist Polly! rief Sara, als sie auf Daves Schultern auf den Eingang zuritt. Die schwarz-weiße Katze sprang auf die Sofalehne und streckte sich aus, ihre Pfoten berührten den Tigerkopf. –Da ist Polly, wiederholte Dave und lauschte auf die erregte Stimme seines Vaters, und als sie klingelten, öffnete Mum und schaute mit starrem Blick an ihnen vorbei.

–Du wirst sehen, sagte Dave abends, auf ihrem Bettrand sitzend, er streichelte ihr Haar, –das ist etwas ganz anderes als Clapham. –Weil die Häuser anders sind? fragte Sara. –Weil die Häuser anders sind und die Leute auch, sagte er, Dad wird eine Arbeit finden, und hast du gesehen, wie Mum gelächelt hat? Sara schwieg zweifelnd. –Du wirst in die Schule gehen, sagte Dave, ganz bestimmt, er stand auf und legte sich in sein Bett. –Dave? fragte Sara, aber er war schon eingeschlafen.

Der nächste Tag war ein Montag, sie wachte von den Stimmen im Flur auf, und dann schlug die Tür zu. Keiner kam, um sie zu wecken, dann ging wieder die Tür zu, und es war still. Sie stand auf, lief zum Fenster, wo ein kleiner Bus hielt, der Fahrer klappte eine Trittleiter aus und wartete, bis aus dem Haus gegenüber eine alte Frau kam und in den Bus kletterte, während der Mann rauchte, dann klappte er die Trittleiter wieder hoch, stieg vorne ein und fuhr davon. Dave war weg und ihre Eltern auch, aber Polly kam und schmiegte sich an Saras Beine. Im Wohnzimmer standen noch Kisten, ihr Spielzeug war auch in einer Kiste, und der Tag verging und verging nicht, bis endlich am Nachmittag, in einer neuen Schuluniform, Dave kam. Er roch es sofort und fand die Stelle, wo sie hinter dem Sofa gehockt und in die Hosen gemacht hatte, es war nur ein kleiner Fleck, und er boxte sie, –was kriege ich, wenn ich es nicht sage? Dann half er ihr, die Sachen auszuwaschen, er sah traurig aus. –Wir hängen sie vors Fenster, sagte er, Mum merkt es gar nicht. Er suchte für sie die Puppe, sie war in einer Kiste im Wohnzimmer, und während er Sachen auspackte, versteckte sie sich hinter dem Sofa und streichelte Polly. –Nun hilf mir doch, sagte Dave später, er hielt Teller und Besteck in der Hand. –Du wirst sehen, sagte er, Mum bringt etwas zu essen mit, und heute abend sitzen wir alle vier hier um den Tisch. –Und Polly, sagte Sara. –Und Polly, stimmte Dave zu.

2

Der Fernseher thronte auf einem niedrigen braunen Regal, über das Parkett flackerten die Schatten der in sich zusammenstürzenden Türme, der Menschen, die sich von den Fassaden lösten und in den Tod sprangen. Gläser und Teller für mindestens dreißig Gäste standen auf dem Eßtisch, aber die meisten waren nicht gekommen. Ginka hatte nachmittags drei Flaschen Gin gekauft und einen Kasten Schweppes, –für die, die etwas Stärkeres als Wein brauchen, sagte sie und zeigte auf Jakob, der zum ersten Mal eingeladen war. Am Morgen war er aus New York zurückgekommen, tags zuvor noch im World Trade Center gewesen, die anderen scharten sich um ihn wie um einen Überlebenden und stellten Fragen, die er nicht beantwortete; er war unkonzentriert. Isabelle verschwand in Ginkas Arbeitszimmer, um Alexa anzurufen, der Anrufbeantworter sprang an, und Isabelle fragte sich, wo Alexa und Clara diesen Abend verbrachten. Vor dem Fernseher war Isabelle fast in Tränen ausgebrochen, mit dem Telefon in der Hand, Alexas kurzer Ansage lauschend, fand sie es absurd, über Menschen zu weinen, die man nicht kannte, und unzählige andere Tote unbeweint zu lassen. Ein kleines, graues Sofa stand in Ginkas Büro, der Lederbezug war abgesessen, ein Kissen verrutscht, jemand hatte versucht, einen Fleck wegzureiben, eine längliche, helle Verfärbung verriet es. Sie setzte sich, schnürte nach kurzem Zögern die Schuhe auf, legte die Füße auf die Lehne, sie wollte die Augen schließen, nur für ein paar Minuten, als es klopfte und Jakob eintrat, er setzte sich umstandslos neben sie, ihre Füße berührten fast seinen Hals. Du erinnerst dich nicht, konstatierte er. Sie betrachtete ohne Neugierde das rotblonde Haar, die etwas zu weichen Gesichtszüge, die rundlichen Backen, die den Mund kleiner erscheinen ließen und durch die kräftige Nase und hohe Stirn ausgeglichen wurden, er sah gut aus oder jedenfalls angenehm. Sie erinnerte sich nicht. Auf einem alten, kleinen Tischchen mit dünnen Beinen stand ein Wasserglas mit drei verblühten Rosen, die Stengel hatten sich schon dunkel verfärbt, im schimmernden Wasser schwamm ein Blatt darin, wie vergrößert. Ginka rief etwas, rief nach ihr oder nach dem Mann, der vorsichtig ihre Hand faßte, in der seinen hielt, die ein wenig feucht war, und wartete. Freiburg, dachte Isabelle. Ungeachtet der zurückgelegten Kilometer, der Jahre und unzähligen Entscheidungen, Handgriffe, spie das Gedächtnis seine Erinnerungen aus, an die regennassen Baumstämme, kahl und dunkel in der Dämmerung, an das ausgedünnte Unterholz, wie zerzaust von einem Sturm, der doch so tief in den Wald nicht eingedrungen sein konnte, an den steilen Anstieg zum Bromberg hinauf, wo im Sommer unter Buchen Gras wuchs wie auf einer Lichtung, da die Bäume entfernt voneinander standen, als wollte keiner in seiner Ruhe gestört werden. Erstaunt sagte sie seinen Namen. Jakob. Sie erinnerte sich an den Spaziergang vor zehn Jahren, an den Wald, die Dämmerung und Nässe, an die Verwirrung, die sie nach Jakobs Hand hatte greifen lassen, obwohl sie wußte, daß sie zu ihrem Liebhaber zurückkehren würde, in ihr verwahrlostes und demütigendes Zusammenleben. Durch die halb geschlossene Tür fiel ein Lichtstreif genau auf die drei Rosen.

Jakob atmete ruhig ein und aus, ihr Gesicht war noch immer faltenlos, vielleicht war der Leberfleck eine Spur größer geworden, und ihr Hals schien weicher, er hätte ihn gerne geküßt. Ihre Augen erwiderten unbefangen seinen Blick, sie hatte sich damals im Wald gefürchtet und in sein schlecht geheiztes Studentenzimmer mitnehmen lassen. Er begriff, daß sie nicht auf ihn gewartet hatte.

Ginka trat in die Tür, auf ihren Stöckelschuhen und schmerzlich grimassierend. Als sie die beiden auf dem Sofa fand, brach sie in Gelächter aus und rief den anderen etwas zu, das niemand verstand.

Zu Hause versuchte Isabelle noch einmal vergeblich, Alexa zu erreichen. Der Fernseher lief, in einer perfekten, geraden Linie flog das Flugzeug auf den zweiten Turm zu.

 

Am nächsten Morgen war sie im Büro die erste. Sie schaltete den Computer ein, öffnete die Fenster, das Kopfsteinpflaster sah nach dem gestrigen Regen frisch aus, die Backsteinbögen der S-Bahn-Trasse wirkten dagegen glanzlos, als dämmerten sie ihrem Verfall entgegen. Auf Isabelles Schreibtisch lagen Entwürfe, die sie gestern ausgedruckt hatte, um sie Andras und Peter zu zeigen, es war nicht dazu gekommen, die Buchstaben der Firmeninhaber, Pannier & Tarnow, leuchteten blau, energisch unter dem Firmennamen: Hausordnung – Berliner Hausverwaltung. Sie mochte diese kleinen Aufträge, die den beiden Männern auf die Nerven gingen, Firmenschild, Broschüre, Briefpapier, Visitenkarten. Fertig. Kleinvieh, das auch Mist machte. Nur die Broschüre fehlte noch.

Um zwölf Uhr, Peter war endlich gekommen, ging sie in die Mittagspause. Sie lief zum Hackeschen Markt, der unbelebter war als sonst um diese Zeit, doch die Cafe´s und Restaurants hatten geöffnet, Touristen saßen darin, erkennbar unentschlossen, ob sie ihr Sightseeing-Programm fortsetzen sollten oder nicht. Überall die Zeitungen mit den Fotos. Isabelle ging, in einem halblangen und engen Rock, Turnschuhe an den Füßen, bis zur Oranienburger Straße – vor der Synagoge standen mehr Polizisten als gewöhnlich –, kehrte um, bog schließlich in die Rosenthaler Straße ein. Der Himmel war bedeckt, Straße und Schaufenster milchig, Passanten wie hinter einer dünnen Decke verborgen, als müßte man abwarten, sich vielleicht verstecken, und was sollte man denken, mit was für einem Gesicht herumlaufen? Isabelle stoppte vor einem Schuhgeschäft, um ihr Spiegelbild zu mustern, das keine Gefühlsregung zeigte. Sie nestelte das Gummi aus ihrem Haar. Hellbraune, mitteldicke Haare. Das Gesicht nur deshalb nicht durchschnittlich, weil es zu vollkommen war, ein ebenmäßiges, blasses Oval. Sie drückte ihre Nase nach rechts und nach links. Neben ihr stand, wie aus dem Erdboden gestampft, ein kleines Mädchen, äffte sie nach, dann grinste es Isabelle an und rannte los, in winzigen, pinkfarbenen Ballerinas. Isabelle warf einen Blick auf ihre Schuhe und trat in den Laden. Die Verkäuferin hob mißmutig den Kopf, schob die aufgeschlagene Zeitung vom Tresen, um sie achtlos zu Boden fallen zu lassen, unbekümmert um den weiteren Sturz derer, die auf dem Foto wie in der Luft festgefroren waren. Um acht Uhr, hatte Jakob gesagt, würde er sie im Würgeengel erwarten, und das Problem, dachte Isabelle, waren nicht die Schuhe, sondern wie man sich darin bewegte. Sie ließ sich ein Paar mit kleinen, halbmondförmigen Absätzen geben, lang und schmal zulaufend, in einem matten, ungleichmäßigen Schwarzbraun. Auf der Höhe des Spanns wurden sie rechts und links von einem schwarzen Gummi gehalten; klappernd auf dem dünnen, neuen Parkett, das schon verkratzt war, lief Isabelle vor dem Spiegel auf und ab, –ich habe heute abend ein date, sagte sie, und … –Heute abend? vergewisserte sich die Verkäuferin, als hätte Isabelle eine Beerdigung angekündigt. Es war unsinnig, sich vorzustellen, daß wie in einem schlechten Film statt Jakob ihr Freiburger Liebhaber auftauchen könnte, den Geruch nach Heu in den Kleidern, der so wenig zu ihm paßte. Ebenso wie Jakob würde er sie sofort erkennen, weil sie sich kaum verändert hatte, seit sie zwanzig war, weil ihr Gesicht glatt blieb, unschuldig.

Weiter ging sie vor dem Spiegel auf und ab, den Blick auf ihre Füße gerichtet. Die Verkäuferin schaute zu, kreuzte ihre Beine in langen, engen Stoffhosen, spielte mit ihren Schuhen, hochhackig, rosa, mit einem goldenen Insekt statt einer Schnalle, zog eine Grimasse und schwieg. Sie hatte vergessen, Musik aufzulegen, aber welche Musik legte man an solch einem Tag auf? Und draußen die Autos, als führen sie langsamer als sonst. Durch die Schaufenster sah man ein Kind auf einem Fahrrad, die Mutter hielt den Gepäckträger fest. Jakob hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß sie sich heute abend sehen würden, im Würgeengel, und dann weiter. Dann sehen wir weiter. Er hatte es nicht sagen müssen, hatte nicht mehr gelächelt, während Ginka kicherte und betont rücksichtsvoll die Türe zuzog. Tak-Tak die halbmondförmigen Absätze auf dem Parkett, Musik hätte jetzt geholfen, ein Rhythmus, ein sentimentales Lied, die Verkäuferin ging zum Tresen, beugte sich zu einer Stereoanlage hinunter, anmutig, aus der Hüfte heraus, die Beine gerade durchgedrückt, nur ihr kleiner Po streckte sich nach hinten, die Bluse rutschte hinauf, gab ein Stück Rücken frei, beinahe weiß, sehr schlank, darunter die leichte Schwellung, wo die Pobacken ansetzten, glatt und fest. –Sieht cool aus, wirklich, sagte die Verkäuferin gleichgültig.

Vormittags hatte Isabelle endlich Alexa erreicht, –ich bitte dich, was soll uns passiert sein, im Hintergrund Claras Lachen, –um was machst du dir Sorgen? Es hatte Isabelle einen Stich gegeben, wie jedesmal, nicht an erster Stelle zu stehen, nicht die erste Geige zu spielen bei Alexa, niemals, und warum auch –weil sie eine Wohnung geteilt hatten für zwei Jahre? Jakob aber würde sie heute abend erwarten, –ich warte auf dich, hatte er gesagt und war gegangen. Im ersten Berliner Jahr hatte Isabelle wie besessen Kleider gekauft, um den Heidelberger, den Freiburger Provinzmief loszuwerden, doch Hanna hatte sie ausgelacht. Alexa war zu Clara gezogen, und seither hortete Isabelle das Geld, als horte sie ihre Vergangenheit und ihre Zukunft, um in dem schmalen Spalt dazwischen unberührt zu bleiben, rührte das Geld, das ihre Eltern schickten, nicht an, zur freien Verfügung, wie ihr Vater jede Weihnachten und jeden Geburtstag schrieb. Isabelle schlüpfte aus den Schuhen, stand in schwarzen Nylonstrümpfen auf dem Parkettboden und nickte der Verkäuferin zu. 279DM. Draußen setzte sich quietschend eine Straßenbahn in Bewegung. Entschlossen ließ Isabelle die Turnschuhe in eine aufgehaltene Papiertüte fallen, schlüpfte wieder in die neuen Schuhe; deutlich klackerten die Absätze auf dem Bürgersteig, das Kind mit dem Fahrrad, ein kleiner Junge, sah zu ihr auf, strahlte, als er sich auf den Sattel setzte und schwankend davonradelte. Fast wäre er gestürzt, als er sich noch einmal nach Isabelle umdrehte. Kinder mochten sie, als wäre sie selbst ein Kind, nur verkleidet, eine gealterte Vierzehnjährige, hatte Alexa behauptet und Kinderwäsche aus Frottee gekauft, in der sie Isabelle fotografierte. In der Luft kreiste ein Hubschrauber.

3

Jakob war früh aufgewacht und ging zu Fuß ins Büro. Nach dem gestrigen Regen trockneten die Straßen, aber es war ein kühler, unfreundlicher Tag. Im März war er dreiunddreißig Jahre alt geworden, die Zusammenfassungen eines verstrichenen Jahres schienen immer weniger Platz einzunehmen. Ab jetzt würde die Zeit anders vergehen, langsamer; für das, was vergangen war, genügte die Zusammenfassung, genügten ein paar Notizen zur Orientierung, dachte er, ein unkomplizierter Fall, der mit einem knappen Kommentar auskam. Die ernsten Gesichter der wenigen Passanten ärgerten ihn, es war ihnen nichts zugestoßen, es war nicht ausgemacht, daß ihnen etwas zustoßen würde, dachte er. Seit dem Tod seiner Mutter, war er selber von Unglück verschont geblieben. Sie war kurz vor seinem zwölften Geburtstag gestorben, und Tante Fini war zu ihm und seinem Vater gezogen, hatte mittags gekocht, mit dem Ausdruck heimlicher Genugtuung, daß ihr jüngerer Bruder ohne sie nicht zurechtkam, daß die Ehe mit einer Kleinbürgerin aus Pommern doch gescheitert war.

Am Tod. Jakob hatte einige Wochen lang kaum gesprochen, schon gar nicht mit Tante Fini, die peu a` peu das Schreibzimmer ihrer Schwägerin Anngrit leer räumte, ärgerlich, daß gegen den Biedermeiersekretär, ein Geschenk ihres Bruders an seine Frau, nichts einzuwenden war. Die Briefe und Fotos räumte sie aber aus den Schubladen, und andere Möbel ließ sie abholen, zwei Sessel, ein Tischchen, die bunten Jakobsen-Stühle, die Anngrit Holbach in den siebziger Jahren gekauft hatte, durchsichtige, aufblasbare Plastikhocker, Lampen. Erst als Tante Fini vier Jahre später das Haus zugunsten der neuen Freundin ihres Bruders, Gertrud, hatte räumen müssen, bemerkte Jakob, wie sehr es verändert war. Er versuchte sich an seine Mutter zu erinnern, an die hellen Farben und klaren Formen, die sie geliebt hatte, und er sehnte den Moment herbei, da er ausziehen würde, nicht mehr die Tür in die dunkle Stille des Hauses öffnen müßte. Auch Gertruds Zuversicht war bald aufgebraucht. Sie kam abends, vor seinem Vater, mit Tüten beladen nach Hause, rief Jakob laut beim Namen, spielte in der Küche ihre alten Kassetten, Beatles, Fats Waller, Thelonious Monk. Aber es hielt nicht lange vor, nichts hielt lange vor in diesem Haus, das sie bewohnten wie Durchreisende, die rücksichtsvoll mit den fremden Möbeln umgingen und auf die Abreise warteten. Sein Vater blieb alleine zurück, denn mit Jakob, sagte Gertrud zu Jakob, würde auch sie das Haus verlassen. Er bildete sich nicht ein, daß sie seinetwegen geblieben war, aber er war in sie verliebt. Zum Abschied, sie hatte einen Minibus geliehen und ihn mit all seinen Sachen nach Freiburg gefahren, küßte sie ihn auf den Mund. Die Matratze hatten sie gemeinsam in sein neues Zimmer getragen, und monatelang grämte er sich, daß er nicht mit ihr geschlafen hatte. Bald darauf fing er einen Flirt mit seiner Mitbewohnerin an und schlief mit ihr, doch er bewahrte die Erinnerung an Gertrud, die wirklich seinen Vater verließ, wartete auf einen Brief, der nie eintraf, und erst als er sich, drei Jahre später, in einer Vorlesung über Rechtsgeschichte, neben Isabelle setzte, verliebte er sich wieder.

Er hatte Hans. Aus dem Kindergarten, antwortete Jakob, wenn er gefragt wurde, woher er Hans kannte. Tatsächlich hatten sie sich in Freiburg kennengelernt, am Tag nach Jakobs Ankunft, an dem Tag, an dem er sich neue Schuhe gekauft hatte und zum ersten Mal in die Mensa zum Essen ging, in teuren Herrenschuhen von Bally, mit denen er den Anfang von etwas markieren wollte, seinen Anfang, den Punkt, von dem an er eigene Erinnerungen haben oder nicht haben würde, die Freiheit abzustreifen, was das kleinliche Gedächtnis anderer ihm aufzuzwingen versuchte. Sie waren beide alleine nach Freiburg gekommen, ohne Freunde oder Mitschüler, die ebenfalls dort Jura studierten, und es traf sich, daß sie in der Schlange vor der Mensa nebeneinanderstanden, in dem warmen Luftzug, vor dem verdreckten, vollgekritzelten Beton, im Essensgeruch, der Jakob Übelkeit bereitete und Hans wunderte. Schritt für Schritt schoben sie sich vorwärts, an einem Bücherstand vorbei, Tag für Tag würden sie hier stehen, und Jakob heftete seinen Blick auf das neue, braune Leder, auf die Nähte, die zuverlässig aussahen und haltbar sein würden. Weil er nicht aufpaßte, rempelte er Hans an, der vor ihm stand, mit dem Studentenausweis in der Hand, als rechnete er jeden Moment damit, sich rechtfertigen zu müssen. Er kam aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald, wo seine Eltern einen Bauernhof hatten.

Die ersten vier Semester waren rasch vergangen. Sie wanderten über den Bettlerpfad nach Staufen und weiter nach Basel. Sie fuhren per Anhalter nach Straßburg. Einmal nahm Hans ihn an Weihnachten zu seinen Eltern mit.

Während Hans Vorlesungen in Kunstgeschichte besuchte und keine größere Ausstellung in Basel oder Stuttgart verpaßte, ging Jakob lieber ins Kino oder Konzert, für Politik interessierte er sich wochenweise, dann studierte er mehrere Zeitungen am Tag, ausländische auch. Am Tag nach dem Mauerfall war er morgens zu einem Reisebüro gelaufen, hatte gewartet, bis der Besitzer kam, und zwei Flüge nach Berlin gebucht. Das Flugzeug flog von Stuttgart ab, er lieh sich ein Auto und fuhr mit Hans los, sie waren jedoch zu spät und erreichten den Flug nicht mehr. Danach hatte Jakobs Neugierde wieder nachgelassen, die Regierungen Modrow und de Maizie` re, die Kommentare seines Vaters, der plötzlich fast täglich anrief, stießen ihn ab. Er fühlte sich, als zöge man ihm den Boden unter den Füßen weg, sein Land, die Bundesrepublik, verschwand, so daß er auswanderte, ohne es zu wollen, ohne sich vom Fleck zu rühren. Auch das war keine anhaltende Stimmung. Hans lachte ihn aus. Der Einigungsvertrag und das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen beschäftigten Jakob dann aber dauerhaft. Ein Gespräch mit seinem Vater darüber setzte dessen Anrufen ein Ende. An Weihnachten klärte Tante Fini ihn, nicht ohne Häme, darüber auf, daß derlei Vorgänge unangenehme Erinnerungen weckten. In den fünfziger Jahren habe Herr Holbach um seine Firma gebangt, die zu einem sehr anständigen Preis dem jüdischen Partner von Jakobs Großvater abgekauft worden sei. Man wisse nie, so Tante Fini, was die Zukunft bereithielt. Jakob nahm sich vor, dem nachzugehen, das Wort Arisierung aber schreckte ihn zunächst, und im Herbst lernte er Isabelle kennen. Ein einziger gemeinsamer Spaziergang führte sie den Bromberg hinauf, im Tal, neblig, nieselig, lag Freiburg und verschluckte Isabelle nach nur einer Nacht. 1992 legte Jakob das Examen ab und wußte, daß er sein Thema gefunden hatte: offene Vermögensfragen. Zwischen ihm und Hans war ausgemacht, nach Berlin zu ziehen. 1993 traten sie beide das Referendariat in Berlin an, Jakob in der Kanzlei Golbert & Schreiber, die sich auf Restitution spezialisiert hatte und auf Immobilien in Berlin und Brandenburg. Den Gedanken an Isabelle schlug er sich nicht aus dem Kopf. Er mochte, in seinem persönlichen Leben, Kausalitäten nicht; den Gedanken, er könne sich für Restitutionsfragen interessieren, weil sein Vater beinahe einem solchen Vorgang ausgesetzt worden wäre, drängte er beiseite. Zu seiner Liebe zu Isabelle gehörte das Zufällige ihrer Begegnung unbedingt dazu. Andererseits mußte sie in gewisser Weise ihm restituiert werden: Er hatte lange genug darauf gewartet, und wie man es drehte und wendete, dieses Warten selbst war ein Anspruch. Jakob war beileibe kein Materialist, er mißtraute nur allem, was mysteriös schien, und er mochte keine verborgenen Handlungsmotive, keine Veränderungen, die nicht sichtbar wurden. Mit Grundstücken und Häusern beschäftigte er sich gerne. Er war gerne durch Brandenburg gefahren, es erinnerte ihn an eine Zeit, die er nicht kannte, als würde seiner Erinnerung etwas hinzugefügt über den Käfig seines Lebens hinaus. Die mißliebige Kausalität ließ sich nicht durchbrechen, aber etwas kreuzte sich, eine Zeitachse mit einer zweiten, empfand er auf seiner Fahrt durch die Dörfer, auf dem Weg zu irgendeinem Grundbuchamt, wo er Auszüge, Besitzwechsel einsehen sollte. Nach dem Krieg, als seine Mutter aus Pommern durch Brandenburg gekommen war, mußte es ungefähr so ausgesehen haben. Gepflasterte Straßen, die durch verloren schlafende Dörfer führten, in denen die Fenster fest geschlossen waren, damit keiner eindrang. In den Gesichtern derer, mit denen er sprach, Gier und Angst. Etwas Untertäniges, manchmal mit Hoffnung, manchmal mit Haß gemischt. Selten Ergebenheit. Oft schienen die Gesichter entrückt, die Augen wie überwachsen von den Ablagerungen der Geschichte, die er, Blatt für Blatt, Grundbucheintrag für Grundbucheintrag, nachzuvollziehen versuchte. Es war, als müßte man ein Puzzle auseinandernehmen, um die Teile, die ein trügerisches Bild ergeben hatten, in ihre eigentliche Reihenfolge zu bringen. Schutzwürdig und damit redlich sollen diejenigen sein, die sich auf die in der ehemaligen DDR formell bestehende Rechtslage eingerichtet und sich – gemessen an dieser Rechtslage –korrekt verhalten haben. Den Satz aus Fiebergs und Reichenbachs Einführung in das Vermögensgesetz kannte er inzwischen auswendig. Absichtlich hatte er einen alten Golf gekauft, kein neues Auto. Für die meisten war er trotzdem ein Abgesandter der Siegermächte. Die Sowjetunion gehörte nicht mehr dazu.

Nach dem Referendariat bekam er ein Angebot von Golbert & Schreiber. Schreiber selbst und Robert, der gleichzeitig mit Jakob in die Kanzlei eingetreten war, befaßten sich mit Paragraph 1, Absatz 6 des Vermögensgesetzes: Dieses Gesetz ist entsprechend auf vermögensrechtliche Ansprüche von Bürgern und Vereinigungen anzuwenden, die in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und deshalb ihr Vermögen infolge von Zwangsverkäufen, Enteignungen oder auf andere Weise verloren haben. Er selbst spezialisierte sich auf Fragen des Investitionsvorrangs. War ein vormaliger Besitzer nicht auffindbar, durfte ein Investor, unbeschadet der ungeklärten Besitzverhältnisse, seine Pläne in die Tat umsetzen. Vor den endgültigen Entscheidungen mußte das Leben weitergehen.

Hans war in ihrer ersten gemeinsamen Wohnung in der Wiener Straße geblieben. Noch nachdem Jakob längst ausgezogen war, trafen sie sich dort alle paar Tage, er und Jonas, Marianne, Patrick, mitsamt deren wechselnden Bekanntschaften, Maler meistens wie Jonas und Patrick oder Germanisten, Journalisten, nie ein Rechtsanwalt. Sie saßen an dem langen und wackeligen Tisch, den Patrick durch eine Spanholzplatte und zwei zusätzliche Füße auf zweieinhalb Meter verlängert hatte, die stillschweigende Verabredung besagte, daß jeder etwas zu essen oder wenigstens eine Flasche Wein mitbrachte, und später, als Hans nach dem Referendariat, dem zweiten Staatsexamen seine erste Stelle hatte und genug verdiente, kaufte er große, neue Töpfe und Pfannen, einen zweiten Herd, ließ sich den Wein liefern, duldete nicht länger, daß diejenigen Freunde, die sich mit Stipendien, dem viel zu seltenen Verkauf eines Bildes gerade über Wasser hielten, irgend etwas mitbrachten außer allenfalls einer Zeichnung, einem Druck, einem Foto. In einem der beiden großen Zimmer, die er immerhin renoviert hatte, stand ein Grafikschrank. Die Wände waren weiß gestrichen, kahl.

Im Gegensatz zu Hans zog Jakob gerne um. Bücher und Kleider in Kartons, und weg damit. Verschenkte Bett und Tisch und Stuhl, kaufte etwas Neues, und so war auch Hans immer zufriedenstellend eingerichtet und ausgerüstet. –Idiot, was meinst du, für wen ich dieses Bett gekauft habe? Bestimmt nicht, um selber die nächsten zehn Jahre darin zu schlafen. Eines ihrer Spiele, die so lange schon und so gut funktionierten, daß Jakob manchmal zu glauben begann, es würde kein böses Erwachen geben eines Tages. Jedenfalls nicht, was Hans betraf. Und vielleicht gar nicht. Aus dem Kindergarten, antwortete Jakob, wenn sie gefragt wurden, woher sie sich kannten; inzwischen entsprach es beinahe der Wahrheit, sie kannten sich, seit sie denken konnten oder wollten. Da sie beide keine feste Freundin hatten, galten sie fast als Paar. Warum Hans alleine blieb, wußte nicht einmal Jakob. Er selbst traf keine Frau, die ihn begeisterte, also wartete er auf Isabelle. Zehn Jahre hatte er sich, nicht gänzlich ernsthaft, als Frist gesetzt. Wenn er Isabelle nicht bis 2001 wiedergefunden hatte, würde er sie vergessen.

Um zu feiern, daß er im August 2001 Partner bei Golbert & Schreiber geworden war, lud er Hans ins Diekmann ein, danach gingen sie in den Würgeengel. Es war Zufall, daß Hans sich zur Theke drängte, um ihnen zwei Whisky zu holen, Jakob unaufmerksam den Stimmen neben ihm lauschte. Isabelle. Zum ersten Mal seit zehn Jahren hörte er ihren Namen. Es war nicht schwierig gewesen, mit Ginka ins Gespräch zu kommen. Als sie ihn für den elften September einlud, verlegte er den Termin mit einem New Yorker Investor auf den neunten September und bat Julia, die Sekretärin, seinen Flug umzubuchen.

Er dachte an den Namen, der ihn damals überrascht hatte, an ihr Gesicht, ebenmäßig und eigenartig abwesend, als würde sie auf etwas warten, ohne neugierig zu sein. Sie hatte in nichts den Jurastudentinnen geähnelt, sie sagte, sie wolle Malerei oder Design studieren. Er erinnerte sich an ihr Gesicht, an ihre kleinen Brüste und daran, daß er keinen Augenblick verlegen gewesen war. Ich habe Isabelle wiedergefunden, hatte er noch im Würgeengel grinsend zu Hans gesagt.

Er hatte sie tatsächlich wiedergefunden. Es war der falsche Tag gewesen, bis zum Abend fürchtete er, die Einladung sei obsolet, die Party würde nicht stattfinden, doch dann war er mit dem Taxi in die Schlüterstraße gefahren, hatte geklingelt und war ohne weiteres eingelassen worden. Da war Isabelle.

Nach einem unkonzentrierten Vormittag in der Kanzlei wanderte er in der Mittagspause unruhig Richtung Potsdamer Platz und wieder zurück zur Mauerstraße. Er wollte die Zeitungen nicht sehen, die Gesprächsfetzen nicht hören. Vorgestern noch war er dort gewesen. Aber er war rechtzeitig abgereist. Er war verschont geblieben, Isabelle, dachte er, hatte ihn gerettet.

4

Mae war außer sich, sie klammerte sich an ihn, im Treppenhaus, schluchzend. Völlig hysterisch. Jim hörte, daß der Fernseher lief. Zu dritt waren sie unterwegs gewesen, Albert, Ben und er, und er hatte mit Ben gestritten, während Albert schwieg, wieder und wieder dieselbe CD abspielte, etwas, das Jim ekelte, als pinkelte Albert ins Auto. Es war nicht die Musik, sondern wie Albert zuhörte, großspurig mit den Händen in der Luft herumfuchtelte und nur nach dem Lenker griff, wenn es unvermeidlich war. Oder wenn ein Polizeiauto auftauchte, an diesem Tag häufiger als gewöhnlich, auf ihrer Strecke von Süden her, vor allem um die Docks herum, an den Zufahrtsstraßen, bei Silvertown. Jim fluchte, weil Ben diesmal zweifellos recht hatte mit seiner Nervosität. Was zum Teufel machte die Polizei hier? Aber Albert weigerte sich, das Radio einzuschalten, drehte die Musik lauter. Die Bässe, ein Chor, eine künstliche, elektronisch klingende Frauenstimme, because it’s been so long, that I can’t explain and it’s been so long, right now, so wrong, er konnte sie nicht abschütteln, die hartnäckige, enervierende Stimme, und kurz darauf – Albert hatte ihn bis zur Pentonville Road gefahren – Maes hysterisches Schluchzen. Seine Hand traf ihre Schläfe, weil sie sich duckte oder stolperte. Er faßte sie unterm Arm und zog sie ins Wohnzimmer, in dem Augenblick, als auf dem Bildschirm der zweite der Türme in sich zusammensackte, zeitlupenlangsam, oder wie war das? Ein Trick? Bis er die Verbindung herstellte, zwischen den Bildern und Maes Hysterie, zwischen den Polizeiautos und den Bildern. Aber er begriff nicht, was geschah. Mae redete von den Toten, wiegte sich, als hielte sie ein Kind im Arm, später wiederholte sie immer wieder, was sie gehört hatte, daß es nie mehr sein würde wie bisher, die ganze Welt, das Leben, und nachts, als sie endlich eingeschlafen war, wimmerte sie. Langgezogen, pausenlos, bis er sie stieß oder rüttelte, ein winziges, nicht endendes Wimmern, wie ein loop, als wäre das Zeitmaß verändert, als hieße die gültige Geschwindigkeit seit diesem langsamen Zusammensacken der Türme Zeitlupe. Tagelang ließ Mae alles durcheinanderliegen, in der Küche und im Zimmer auch. Irgendwann blieb das Fenster offenstehen, der Teppich wurde naß, es stank, Mae sagte, daß es stank. Ließ alles liegen. Der Geruch blieb, nachdem Jim kurzerhand den Teppich herausgerissen hatte. Kein Leben so. Was ging Mae das alles an, was ging ihn das an? Auf dem Estrich lange Streifen von Klebstoff. Und wie sie auf dem Sofa hockte, dem gelben Sofa, früher gelben Sofa, früher fast neuen Sofa, das Albert ihnen gebracht hatte, wie auch den Tisch und die Stühle, seine Wohnungen, für meine Mitarbeiter, was Ben wie ein Papagei nachplapperte. Ben, der stolz darauf war, Alberts rechte Hand zu sein. Er hatte ein Auge auf Mae geworfen, ein mieses, unterwürfiges Arschloch, schaffte es, Jim aufzubringen, kam ungefragt, lästerte über die Wohnung, wo es stank und nichts im Kühlschrank war. Ein paar größere Sachen gab es, in den Vororten und sogar außerhalb, Albert hatte die Idee, bei Leuten einzubrechen, die aus London weggezogen waren, sich sicher fühlten, vor allem mittags sicher fühlten, tagsüber, in den kleinen Vororten und Städtchen, wo alles so friedlich war, daß sie keine Alarmanlagen einbauten und sogar die Fenster offenließen und einander vertrauten. Keine Einbrüche mehr, hatte er vor einem Jahr verkündet, aber jetzt galt das nicht mehr, und Jim sah die Gärten, kleine Häuser mit Gärten davor oder drumherum, er war seit zehn Jahren nicht aus London herausgekommen, und jetzt all diese Häuser, gepflegt, friedlich. Mae und er hatten nicht einmal ein Bett, nur eine Matratze. Field Street, der reine Hohn, kein Grün weit und breit, statt dessen Lärm und Baustellen und Dreck. Was Mae tat, wohin sie ging, sobald er aus dem Haus war, wußte Jim nicht. Die Straße hinunter, Richtung King’s Cross, wo Albert sie aufgesammelt hatte. So laut hier, daß Maes Husten leise klang. Und er dachte an all die Programme für Aussteiger. Nur, wer glaubte daran? Anti-Drogen, Anti-Prostitution, Anti-Kriminalität. Er wollte weg, mit Mae. Sie lag auf dem Sofa ausgestreckt, sagte, sie wolle aufhören, versprach es ihm. Am Fenster stand sie, wenn er ging, lag auf dem Sofa, wenn er zurückkam, ihr Körper wurde schlaff, sobald er sie umarmte, und wenn er in sie eindrang, hustete sie, hustete, bis er fühlte, daß er taub wurde. –Hör endlich auf! Er mußte genug Geld zusammenkriegen, damit sie wegkonnten. Keine Einbrüche mehr, nur noch Drogen, hatte Albert gesagt. Dann doch wieder Einbrüche, und Jim machte mit, um endlich ein paar Tausend Pfund zusammenzubekommen. Es waren mehr Polizisten, die herumliefen, kontrollierten. Der Spätherbst war kalt und naß. Die Fenster schlossen nicht, oder Mae vergaß, sie zu schließen. Die Heizung funktionierte nicht oder funktionierte allzugut, es war unerträglich heiß, es stank, Ben war dagewesen, hatte ihr irgendwas gebracht, Tabletten. Da stand sie, am Fenster, richtete sich auf, trug ein eng anliegendes blaues Wollkleid, dunkelblau, keine Schuhe. Sah aus wie ein Schulmädchen. Ihre etwas zu kräftigen, hübschen Oberschenkel zeichneten sich deutlich ab. Da stand Mae, hielt sich an der Tür fest, die Augen halb geschlossen. Da stand Mae, sah ihn, lachte, lachte und fiel auf das Sofa. Gelb, früher einmal gelb. Beugte sich vor, würgte, Schleim tropfte aus ihrem Mund; sie wurde immer dünner.

Sie sagte, daß sie den Staub verabscheue und daß es hier nicht besser sei als dort, in New York, und wie viele der Staub zugrunde richtete, daß keiner darüber redete, über die Toten. Sie wollte Tee. Es wurde Dezember, im neuen Jahr, sagte Jim, würden sie aus der Stadt weggehen, ein neues Leben beginnen, sobald er genug Geld hatte, aufs Land ziehen. Sie wollte Tee trinken und daß er Scones mitbrachte und Kuchen. Die Baustelle um King’s Cross breitete sich immer weiter aus, sogar das Midland Grand wurde renoviert. Albert behauptete, in ein paar Jahren würde es eine gute und wohlhabende Gegend sein, sie würden dankbar sein, in der Field Street zu wohnen. Jim sagte, wenn Mae nicht bald zum Arzt ginge, mit den Tabletten aufhörte, würde sie keine Wohnung mehr brauchen.

Meistens saßen sie vor dem Fernseher, und Mae schlief ein. Er wußte nicht wo, war sich aber sicher, daß es eine Falle gab. Ihr Gesicht. Er ging, zog die Tür hinter sich zu, lauschte, stieg die Treppen hinunter, stand auf der Straße. Lauschte. Eisiger Wind trieb Papierchen, Staub vor sich her. Plastiktüten. Eine Zigarettenschachtel. Ein Junge linste aus einem Eingang, winkte. Der Januar verging. Aber der Krieg ist längst zu Ende, sagte er ihr, die Türme, die Toten, verschleierte Frauen, zusammengerollt lag sie auf dem Sofa, weinte. Ben kam alle paar Tage. Sie leugnete es, aber Jim war sich sicher. Und nur, wenn Jim neben ihr saß, im Halbdunkel des Fernseherlichts, und ihr erzählte, daß sie einen Garten haben würden, eine Mauer, die er selber hochziehen würde, mit seinen eigenen Händen, und daß er wisse, wovon er spreche, weil sein Vater Maurer gewesen sei, und wie die Rosen blühen würden, im Sommer, nur dann sah sie ihn an und lächelte. Sie könnten im Garten Tee trinken, unter einem Kirschbaum, einem Nußbaum, unser Leben, wollte er ihr sagen, und daß sie daran denken solle, an den Garten und wie sie Tee trinken würden, unter einem Kirschbaum oder Nußbaum, von der Küche mit dem Tablett direkt in den Garten, der Kirschbaum in voller Blüte. Es war noch kalt, aber bald könnten sie spazierengehen, sie könnten nach Richmond oder Kew fahren, die Themse entlang spazierengehen, er würde sie nach Kew Garden’s führen, sie waren beide noch nie dort gewesen, aber es sollte so schön sein, sagten alle. Ihr Gesicht war dünner geworden, sie aß fast nichts, sie rauchte zuviel, sagte er, aber er rauchte auch, und Ben kam, brachte ihr Tabletten. Amphetamine, Valium, sobald Jim aus dem Haus war. Jim packte sie an den Schultern, schüttelte sie. Das Leben, wollte er ihr sagen, er wollte vernünftig mit ihr reden, damit sie Ben nicht mehr hereinließ, und nur noch ein paar Wochen oder Monate, bis sie wegkonnten, aus London weg, und irgendwo auf dem Land würden sie neu anfangen, vielleicht sogar heiraten. Das war das Leben: neu anzufangen. Das war das Leben: nicht zu sterben. Sie konnten nach Richmond oder nach Kew fahren, sie konnten ans Meer fahren. Aber Mae sagte, daß er voller Haß sei, und dann vergaß er ihren Geburtstag.

Ben hatte ihr, argwöhnte Jim, von Alice erzählt. Es war nicht der Verrat, der ihn aufbrachte, sondern etwas Tieferes, das er nicht ausdrücken konnte, ebensowenig, wie er sagen konnte, warum er Mae sah und dachte, daß er zu weit entfernt war, daß er vergeblich ihren Namen rief. Schlimmer war, daß sie nicht gerne mit ihm schlief. Nie gerne mit ihm geschlafen hatte, dachte er. Alice war etwas anderes gewesen, sie hatte sich ihm gegeben, sie mochte ihn, sie verhöhnte ihn, und dann hatte sie ihm dreihundert Pfund gestohlen. Betrunken, verludert. Es gab so viel, das man liebte, das man haßte, aber man konnte es nicht erklären. Alice war eine Schlampe gewesen, mit dem Gesicht eines kleinen Tieres, spitz, verschlagen, und wie sie es geschafft hatte, ihn zu betrügen. Sie hatte es nicht besser verdient. Ihr Zimmer in der Arlington Road hatte ihn geekelt, mit dem schmutzigen Geschirr, den Nadeln, mit dem Radio, das sie nie abstellte. Wie ein Tier, sagte er zu Albert, wütend, weil Ben behauptete, er habe ihr etwas angetan.

–Wer bist du, daß du dich über andere erhebst? Ausgerechnet Albert sagte es. Mae war fünfundzwanzig geworden, Jim hatte ihren Geburtstag vergessen. –Du bist voller Haß, sagte Mae. Er wollte mit ihr ins Kino gehen. Daß alles voller Polizisten sei, überall Kontrollen, sagte sie, daß sie nicht mit der U-Bahn fahren würde. –Was soll uns, so wie wir aussehen, denn passieren? Sehe ich denn arabisch aus? Oder du? fragte er sie. Voller Haß sei er, wiederholte Mae, und Ben kam, stand dabei und hörte alles. Zwei Tage später schaffte Jim es nicht, ein simples Haustürschloß zu öffnen, und sie waren unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Albert hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und laut gelacht, bis Jim sie abschüttelte und aufgebracht losrannte. Albert hatte ihm seinen Anteil nie ausbezahlt, –bewahre ich für dich auf, alles sorgfältig aufgeschrieben, beschwichtigte er Jim, noch ein bißchen Geduld, hielt ihn zum Narren. Zahlte die Wohnung, das kleine, stinkende Loch, eure Wohnung, und sie sollten dafür noch dankbar sein. Es war aber fast wie ein Zuhause gewesen, trotz der undichten Fenster, trotz des Gestanks, nur lag Mae zusammengerollt auf dem Sofa, behauptete, daß sie noch immer die Toten sehe, die Lebenden, die aus den Fenstern sprangen, in die Tiefe, daß sie ihre Schreie hören könne, daß sie hören könne, was die Leute redeten, die in den Aufzügen und in den Fluren eingeschlossen waren. Und der Haß, sagte Mae, der Zorn, der auch sie treffen würde, sie beide, –wie konnten wir nicht wissen, daß sie uns aus tiefster Seele hassen? Er schwieg. Die Sirenen heulten die Straße entlang, von rechts nach links, und kehrten wieder um. –Und die Toten, sagte Mae, die wir vergaßen, rufen nach uns. Jim riß das Fenster auf, damit frische Luft hereinkam. Es war Februar. Man hörte die Baumaschinen bis ins Zimmer. Einmal gingen sie spazieren, zum Kanal, liefen am Kanal entlang, wollten bis zum Park und zur Voliere laufen, aber Mae schaffte es nicht, sie setzte sich auf eine Bank am Kanal und sagte, daß sie es nicht weiter schaffte, und er ging alleine weiter.

Später dachte er, daß sie zum ersten Mal verschwunden war, als sie dort alleine auf der Bank sitzen blieb, in einem kleinen Mantel, den sie nicht zuknöpfte, obwohl es kalt war, er hatte sich noch einmal umgedreht, aber sie hielt den Kopf gesenkt. Da ging er weiter, bis er sie nicht mehr sehen konnte, und sie verschwand, obwohl sie doch still saß und sich nicht rührte.

Am nächsten Tag erklärte er Albert, daß er in Zukunft fünfzig Prozent wolle, daß er das Geld wolle, bar, auf die Hand. Albert lachte, aber es war, wie er selbst zu Jim gesagt hatte: Wenn du keine Angst mehr hast, tun die Leute, was du willst. So war es, und Albert willigte ein, bat ihn nur um etwas Geduld, willigte aber ein und streckte Jim die Hand hin. Sie wollten aus der Stadt weg und aufs Land ziehen, das sagte er Albert nicht, und dann traf er Damian, der ihm anbot, seine Wohnung zu benutzen, für ein paar Monate oder länger, eine richtige Wohnung mit zwei Zimmern, in Kentish Town, und sogar einen kleinen Garten gab es. Aber als Jim nach Hause kam, roch er den Gasgeruch und dachte, es ist gleichgültig, woran man erstickt, bis er doch losrannte und die Fenster aufriß und den Herd abdrehte. Sie lag da wie ein Tier, auf dem Küchenboden, und er erzählte ihr nicht von der Wohnung, er stand in der Küche, in dem schwächer werdenden Gasgeruch, trank ein Bier nach dem anderen, er sah im Hof hinterm Haus ein Kind, das mit einer Wäscheleine spielte, es fing wilde Pferde, schleuderte die Wäscheleine wie ein Lasso, und im nächsten Hof stand über ein Moped gebeugt ein Junge, klapperte mit Schraubenziehern und Ersatzteilen, Licht ging an in den Fenstern.

Es wurde Frühling. Vor einem Jahr waren sie nach West Finchley hinausgefahren und hatten Pfannkuchen gegessen, er hatte sie eingeladen und ihr die Tür aufgehalten, er hatte ihr Blumen gekauft, Tulpen, und zu Ostern einen kleinen Stoffhasen. Halbe Nächte hatten sie vor dem Fernseher gesessen und sich umarmt, und sonntags wünschte er sich ein Roast mit Gemüse und Kartoffeln. Er erinnerte sich daran und schaute in den Hof, er erinnerte sich, daß er vor ein paar Tagen ebenso am Fenster gestanden und sich an das vergangene Frühjahr erinnert hatte. –Hör mal, die Kleine . . ., setzte Albert an und zuckte dann mit den Achseln. –Sie tut dir nicht gut. Jim wollte es nicht hören, und es war Ben, der sie nicht in Ruhe ließ, der Mae Sachen brachte, Amphetamine, Valium, sie gegen ihn, Jim, aufhetzte. Irgendwann hatte es soweit kommen müssen. Jim sah, daß Mae blutete. Sie lag auf dem Boden vor dem Sofa, blutete, weinte. Sie hatte gesagt, daß sie die Toten sehe, die Toten und die Sterbenden, sie hörte nicht auf, davon zu reden, und er vergaß, wie sie ausgesehen hatte im letzten Frühjahr und noch im Spätsommer, ihr gleichmäßiges, ovales Gesicht, von den dunkelblonden Haaren eingerahmt und mit Augen, die manchmal grau und manchmal grün waren. Sie hatte etwas Kindliches, weich und glatt und nicht dünn, aber auch nicht dick, es war alles genau richtig mit ihr gewesen. Er hatte sie festgehalten, mit beiden Armen, und sie gehörte ihm, er hatte ihren Nacken umfaßt und gedacht, daß er ebenso zerbrechlich war wie der eines Kätzchens. Sie würden aufs Land ziehen und im Garten Tee trinken. Er ging in die Küche, um ruhiger zu werden, aber dann hörte er, wie sie telefonierte, mit Ben telefonierte, –komm schnell, flehte sie, und sie meinte nicht ihn, schrie auf, als er hereinkam, ein Messer in der Hand. Ben war zehn Minuten später da, schloß die Tür auf, Mae mußte ihm den Schlüssel gegeben haben, sie lag jetzt still, und Jim stand auf, er ging an Ben vorbei, der blaß war und sagte, –du haust hier besser ab, und nach dem Telefon griff.

Er stand eine Weile vor dem Haus, lief dann langsam los, alles war wie in Umrißlinien, nur die Umrisse, sogar seine Eltern fielen ihm ein, wie sie am Eßtisch saßen und auf ihn warteten, wie sie zu dritt auf seinen Bruder warteten, der noch nicht krank war und gleich kommen mußte, er konnte sich daran erinnern, auch wenn etwas fehlte, als wäre ein Loch in seinen Gedanken, da, wo eben etwas geschehen war, und so stand er auf der Pentonville Road, bis er die Sirenen eines Krankenwagens hörte und weiterlief. Man erinnerte sich an eine glückliche Zeit wie an etwas, das wirklich stattgefunden hatte. Es waren aber nur die Umrisse übriggeblieben, die Angst, nicht zu wissen, was geschehen war. Jim tastete nach dem Schlüssel, den Damian ihm gegeben hatte, und fuhr hoch nach Kentish Town, fand die Straße, die Lady Margaret Road, und es war still, eine Katze sprang über die Straße, schwarz und weiß, versteckte sich unter einem Auto.

Ein paar Tage später rief Albert ihn an. Über Mae sagte er nichts, und Jim fragte nicht nach.

5

Es war noch immer Hannas Schlüssel, mit dem Isabelle die Eingangstür des Hauses aufschloß, in dem sich die Agentur befand. Am Tag vor ihrem letzten Krankenhausaufenthalt hatte Hanna ihr den Schlüssel überreicht, mit diesem Lächeln, immer strahlender, je fahler die Haut wurde, je mehr ihr Gesicht einfiel, bis nichts blieb als graue Augen und der volle Mund. Hanna hatte Isabelle umarmt, sie sanft mit ihrer Knochenhand in die Seite geboxt. –Nun komm schon, einmal sehen wir uns mindestens noch. Sie hatten sich mehr als nur einmal gesehen, denn der Tod schien verwirrt, abgelenkt durch das zärtliche Geflüster an Hannas Bett, durch Isabelles Gesicht, kindlicher denn je, und Peters Gelassenheit, der endlich seine Wut und die bitteren, ätzenden Sätze schluckte, die ihnen die letzten Monate vergällt hatten. Isabelle brachte den Schlüssel jedesmal ins Krankenhaus mit und hoffte, Hanna würde ihn zurückerbitten. Doch dann geschah, was zu erwarten war, Andras sagte es ihr, und sie liefen zusammen zur Charite´. Hannas Lippen waren zusammengepreßt, und kein Laut war zu hören, die Ärzte wußten nicht, ob sie Schmerzen litt oder nicht. Manchmal öffnete Hanna die Augen, doch schienen sie nichts wahrzunehmen, nichts anderes auszudrücken als den Entschluß zu sterben. Peter kam nachts, er schlief auf einer Pritsche, die die Schwestern für ihn aufstellten. Tagsüber ließ er sich nicht blicken, weder im Krankenhaus noch im Büro. So waren Andras und Isabelle zu zweit, den ganzen Tag lang und abends auch, denn Isabelle wollte nicht zurück in die leere Wohnung, die Alexa nur noch betrat, um etwas ein- oder auszupacken. In der Nacht, in der es vorbei war, schlief Isabelle bei Andras, er bezog ihr das Bett frisch und legte sich selbst auf das rote, durchgesessene Sofa, das wie ein lächerliches Requisit in seinem Wohnzimmer stand. Um fünf Uhr weckte sie Peters Telefonanruf, er bat sie, sich um das Büro zu kümmern, und sagte, daß er in einem Monat zurückkäme. Der 5. Oktober 1996 war Hannas Todestag gewesen, an diesem Tag hatte Isabelle zum ersten Mal die Hausund die Bürotür aufgeschlossen, mit Hannas Schlüssel, und auf ihrem Schreibtisch einen kurzen Brief gefunden, eine Art Testament, das ihr Hannas Anteile an der Agentur zusprach. Für Isabelle, die – außer während einiger Londoner Monate – nie Grafikdesign studiert hatte, war es ein Ritterschlag, und ein paar Minuten lang lag sie fassungslos in Andras’ Armen. Damals, vor fünf Jahren, hatte sie den Entschluß gefaßt, endlich ernst zu machen mit ihrem Beruf und ihrem Berliner Leben, aber immer war ihr etwas entglitten, wenn auch auf zufriedenstellende Weise, und schließlich hatte sie schon als Hannas Assistentin ebensooft bis spätabends gearbeitet, wie sie es jetzt tat.

Als sie, die Tüte mit ihren alten Turnschuhen in der Hand, die Bürotür öffnete, wäre sie beinahe über Andras gestolpert, der auf allen vieren kniete, die Zunge herausgestreckt, mit bekümmerter Miene, so, als müßte er etwas Verschüttetes auflecken. Für einen Augenblick verharrte er wie gelähmt, dann sprang er auf, während Peter, an seinem Tisch sitzend, scharf auflachte. Es war ein zorniges Lachen.

–Andras, sagte er, wollte mir demonstrieren, wie Suchhunde arbeiten, zwischen all den Trümmern und in der Asche, die ihnen die Nase verklebt. Andras warf einen Blick auf Isabelles Füße. –Du hast dir Schuhe gekauft. –Ihr kotzt mich beide an, Peter warf im Aufstehen beinahe den Stuhl um, der eine spielt verrückt, und die andere hat nichts Besseres zu tun, als Shopping zu machen. Als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, öffnete Isabelle endlich den Mund. –Was ist los mit euch?

Doch Andras starrte stumm auf Isabelles Schuhe, nahm ihr die Tüte aus der Hand, holte einen nach dem anderen die beiden Turnschuhe heraus, stellte sie auf seinen Schreibtisch und strich sacht mit seinem Finger über die Schnürbänder, die Zunge, die Kappe. –Andras, hör auf damit! Es war still, auch hier war es still. Eine S-Bahn näherte sich stockend, blieb stehen. Andras drehte sich zwei-, dreimal um die eigene Achse, setzte sich auf die Tischplatte. Die S-Bahn war wieder angefahren, gewann an Fahrt, war verschwunden, bevor Isabelle sie mit den Augen zu fassen bekam, aber da war schon der nächste Zug, stand still, ruckte ein paar Meter vorwärts, hielt erneut an, und hinter den Scheiben tauchten Gesichter auf, als preßten sie sich nicht gegen Fensterglas, sondern gegen eine Linse, die vergrößerte, entstellte.

–Du bist ganz blaß, murmelte Andras, zögerte, ging ins Vorzimmer, das gleichzeitig als Küche diente, Honiggläser, Geschirr, Teebeutel, eine Espressomaschine, eine transportable Küche, schwer wie ein Eisenschrank, die Gasflasche unter dem Spülstein, zwei Flammen. Er setzte den Kessel auf, stellte auf ein Tablett eine Tasse, die Zuckerdose, das Milchkännchen, vergaß es zu füllen, wartete, bis das Wasser kochte, goß Tee auf. Im hinteren Raum hatten Isabelle und Hanna gearbeitet, im vorderen die beiden Männer. Nach Hannas Tod war Andras zu Isabelle gezogen, hatte Drähte die Wand entlang gespannt, um seine Entwürfe aufzuhängen und Isabelles dazu. Grünes Linoleum im hinteren Raum, rotes im vorderen, das Vorzimmer war blau. Isabelles Schreibtisch stand im rechten Winkel zwischen den beiden Fenstern, vor denen die Züge und S-Bahnen vorbeifuhren. Neben dem Computer, dessen Bildschirm über einer Kugel zu schweben schien, lagen in bunten Schüsselchen Radiergummis, Spitzer, kleine Fläschchen mit bunter Tinte, standen in Gläsern Stifte und Federn. Andras hatte sie ermuntert, wieder mit der Hand zu zeichnen, sogar zu aquarellieren, wie sie es als Schülerin zuletzt getan hatte, und sie gewöhnte sich an seine Arbeitsweise, zeichnete oft stundenlang Straßenszenen, Interieurs, Serien von Bildern, um erst ganz zum Schluß die eigentliche Aufgabe in Angriff zu nehmen. –Es funktioniert, hatte sie Peter triumphierend gesagt, du siehst doch, keine Zeitverschwendung, im Gegenteil. Sie liebte das Büro. New concept – new life, das war es gewesen, für sie jedenfalls, als sie in Berlin eingetroffen war, über eine Wohnungsannonce Alexa und durch Alexa Hanna gefunden hatte. Alles verdankte sie Alexa, hatte sich an sie geklammert, bis Alexa zu Clara zog und Isabelle zwang, endlich eine eigene Wohnung zu suchen.

Andras stellte das Tablett ab, kehrte noch einmal um, holte Kekse und ein Glas Honig, setzte sich. –Du bist blaß, trink eine Tasse Tee. Gestern um diese Zeit hatte Isabelle überlegt, ob sie Ginka bei den Vorbereitungen helfen sollte, und mit zwiespältigem Vergnügen den Abend erwartet, den Trubel und den Alkohol, die unausweichliche Choreographie dieser Abende, die Ginkas Stolz waren. Sie machte keinen Hehl daraus, daß sie Singles als Gäste generell bevorzugte, und auch zehn Paare kurz vor der goldenen Hochzeit hätten sie nicht abgehalten, ihre Party zu einer Single-Party zu machen. In den ersten Minuten schon trennte sie Partner voneinander, mit ein paar beißenden Sätzen, einem Kompliment, einer spöttischen, herablassenden Bemerkung, unfehlbar in ihrem Instinkt, den Punkt zu treffen, der die Liebenden entzweien würde und in jedem einzelnen den Wunsch weckte, wenigstens für diesen Abend angenehmere und aufregendere Gesellschaft zu finden. Man hätte es ihr übelgenommen, hätte nicht das Ergebnis ihre Taktik gerechtfertigt – nach weniger als einer halben Stunde hatten sich die festgelegten Formationen aufgelöst, und jeder gab sein Äußerstes an Charme und Unterhaltsamkeit, um auf diesem Karussell jemanden an sich zu binden, wohl wissend, daß er sonst hinuntergeschleudert würde in das Dunkel, das die Zimmer voller Gelächter und Gesumm zu umlagern schien. Wenn Ginka jemanden verabschiedete, fand sie Sätze, die ihre Gäste wie über eine schiefe Ebene wieder in ihre Ehen und Bündnisse zurückgleiten ließ, nicht ohne den Stachel der Unzufriedenheit, aber fügsam gewillt, neben dem in die Nacht hinauszutrotten, mit dem sie gekommen waren. Die echten Singles versuchte sie zu verkuppeln, auch darin war ihr Instinkt unschlagbar, obwohl sie Isabelle gegenüber zugab, daß es inkonsequent war, den matchmaker zu spielen und danach zu beklagen, daß es weniger und weniger Singles gab. Vor Isabelle machte Ginka nicht halt, allerdings mischten sich ihre Angebote mit der Drohung, sie würde Isabelle die Tür weisen, sollte sie es wagen, eine Langweilerin zu werden wie all die anderen Frauen Anfang dreißig, die plötzlich heirateten, Kinder in die Welt setzten und womöglich aufhörten zu arbeiten.

Andras legte seine Hand auf ihr Knie. –Nimm es nicht so schwer. Am Ende sind es weniger Tote, als sie jetzt glauben. Seine sonst so angenehme, ruhige Stimme klang hohl, er fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar, über das etwas zu breite Gesicht. Sie folgte seinem Blick, der auf ihre Schuhe geheftet war. Es war nicht das World Trade Center, was ihn beunruhigte, es waren die neuen Schuhe, die Anspannung, die von Isabelle ausging, Wellen, die sein Empfangsgerät auffing, ohne sie deuten, ohne sie verarbeiten zu können. Isabelle erinnerte ihn an ein gefangenes Tier, das täuschend reglos blieb, um seinen Ausbruchsversuch vorzubereiten, fühllos für alles andere als die eigene Entscheidung. –Isabelle? Sie nahm die Tasse, wärmte ihre Hände daran. Er wagte nicht, sie nach Ginkas Party zu fragen. Sie war gestern direkt aus dem Büro nach Charlottenburg gefahren, ohne vorher nach Hause zu gehen und sich umzuziehen, in Jeans, den Sneakers, in einem braungelb geringelten T-Shirt. Andras konnte nicht übersehen, daß die meisten Männer ebenso empfänglich waren für Isabelle wie er selbst, den sie von Anfang an wie einen älteren Bruder behandelt hatte, zutraulich, manchmal herablassend neckte sie ihn, quälte ihn, wie man jemanden quälte, dessen man sich sicher war. Zum hundertsten Mal fragte er sich, warum er nicht nach Budapest zurückkehrte, seine paar Sachen zusammenpackte und losfuhr, ohne sich noch einmal umzudrehen, direkt nach Budapest, wo sein Schwager La´szlo´ mit ihm eine Werbe- und Grafikagentur aufmachen wollte. Eine Zeitlang hatte er sich eingeredet, daß er La´szlo´ s Enthusiasmus nicht traute oder daß er den Gedanken, zu seinen Eltern zu ziehen, in das Haus, aus dem er mit vierzehn Jahren zu seinem Onkel und seiner Tante nach Deutschland geschickt worden war, unerträglich fand. Aber er wußte, daß er sich etwas vormachte.

–Gestern um die gleiche Zeit, brach Isabelle endlich ihr Schweigen und verstummte wieder. Andras schüttelte den Kopf. Irgend jemand würde für das bezahlen, was geschehen war, irgend jemand würde den Preis dafür bezahlen, daß sich hier, egal ob in Deutschland oder den USA, die Leute fühlten, als hätte man sie der ihnen zustehenden Wirklichkeit beraubt. Es wird Wirklichkeit in die Welt gebombt werden, dachte er, bis die Leute hier wieder beruhigt sind, beruhigt in der alten Ungerechtigkeit, die ihnen vertraut und angenehm ist. –Irgend jemand wird bezahlen, sagte er schließlich, und bestimmt nicht diejenigen, die verantwortlich sind.