Handbuch für Traurigkeiten - Katharina Hacker - E-Book

Handbuch für Traurigkeiten E-Book

Katharina Hacker

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Beschreibung

Den besten Rat oder jedenfalls den schönsten für den Umgang mit Traurigkeiten wusste zweifellos Billie Holiday und sang ihn in »Good Morning, Heartache«. In anderer Stimmlage sollte man sich mit Traurigkeiten nicht beschäftigen, aber was tun, wenn man nicht singen kann? Nachdenken hilft auch. Und wo persönliche Erfahrungen nicht bare Münze, sondern Anlass zur Erkenntnis sind, wird es plötzlich doch erstaunlich hell und manchmal heiter. Katharina Hackers subjektiver Blick auf die häufigen Gäste namens Traurigkeiten, ob sie Herzschmerz heißen oder anders, hilft zu sagen: »Sit down«! Wo sie bleiben dürfen, wüten sie nicht leicht. Ein Stundenbuch in schwierigen Zeiten, gegossen in die Dauer nachdenklicher Minuten – das ist doch was!

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Seitenzahl: 60

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Katharina Hacker

Handbuch für Traurigkeiten

Minutenessays

BERENBERG

Inhalt

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Als ich mit den Hunden nach Hause zum Dorf zurückging, fand ich auf dem Weg Spuren von Rehen, einem sehr kleinen Pony, anderen Hunden und Menschen, Waschbären, vielleicht einer Katze und in unregelmäßigen Abständen ein Herz, kleiner oder größer, vermutlich mit einem Stöckchen in den Sand gezogen, wie unterwegs, aber deutlich zu erkennen, und vielleicht fünf oder sechs die Länge des Weges, der sich aufs Dorf hin wohl einen knappen Kilometer zieht.

Davor war ich auf den weiten Feldern zu den geborstenen Weiden hingelaufen, die ich von fern öfters mit meinem Vater gesehen hatte, breite, zerklüftete Stämme, kahl jetzt im Februar, und mein Vater hatte immer das Durchscheinende der winterlichen, laublosen Landschaft geliebt.

Mit meinem alten besten Freund war ich den Weg nicht mehr gegangen, denn er war vorher gestorben, und vor zwei Jahren war ich viele Male den Weg mit meiner sterbenskranken Freundin im Herzen gegangen und mit meiner besten Freundin, die nach einem Herzinfarkt noch schwach gewesen, war ich ihn gegangen und wieder, als sie bei Kräften war, und unzählige Male waren wir den Weg zu viert gegangen, und meine inzwischen herangewachsenen Töchter auch unzählige Male zu zweit oder mit Freundinnen.

Was ich auch sah, sah ich mit vielen Augen, nur die Herzen im sandigen Weg sah ich alleine, ohne die Menschen, die ich liebte, und anderntags würden sie schon verwischt oder vertreten oder verregnet sein.

Ich kann nicht sagen, dass ich traurig war, aber alle Traurigkeiten waren doch dabei, sehr hell und einige fröhlich, und viel Sehnsucht und auch ein zerdehntes Herz, das in die Vergangenheit wollte und noch etwas in die Zukunft.

Deswegen habe ich dieses Buch geschrieben.

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Ich packe mein Köfferle, sagte ein alter Freund im November und ging ins Krankenhaus, es war, als trete er einem Orden bei, und Tage später wusste ich, er stirbt, ich fuhr in aller Herrgottsfrühe durchs ganze Land und kam noch rechtzeitig, bei ihm am Bett zu sitzen und leise ein Lied für ihn zu singen; weil ich nicht viele Lieder kann, war es Komm, lieber Mai, und mache die Bãume wieder grün, und weil ich nicht gut singen kann, sang ich leise und heiser.

Dann musste ich wieder abreisen, denn seine Familie wollte kommen, und meine Familie in Berlin wartete, und am selben Abend starb er.

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Dies Buch taugt für die meisten nicht. Es redet über Traurigkeiten und will nicht aufheitern. Allenfalls dass es Gesellschaft leistet, aber das ist auch nicht sicher. Es sucht nicht Trost, schon gar nicht Ablenkung. Es will nichts, als da bleiben, wo es ist.

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Tristitia utilis, also nützlich hieß die Traurigkeit im christlichen Mittelalter, wo sie Anlass zu Umkehr und Buße gab, und wie wenig wir an Buße glauben mögen oder daran, dass unsere Umkehr einst Erzengel milde stimmt, so nützlich ist doch, wenn Traurigkeit uns anzeigt, dass wir unser Handeln überdenken können.

Und es ist nützlich und tröstlich, nicht mit Trost gegen die Traurigkeiten anzurücken, sondern sie geduldig und freundlich zu betrachten.

5

In den Wochen bevor meine Mutter starb, war sie klar oder in einer anderen Welt, und manchmal wusste ich nicht, ob sie klar oder in einer anderen Welt ist.

Eines Tages fragte sie mich: War ich lange tot?

Ihre Stimme klang wach und energisch, ein wenig fordernd.

Du warst nicht tot, antwortete ich.

Aber ich war doch im Jenseits, das müsst ihr doch gemerkt haben!, sagte sie mit einem gewissen Unwillen.

Vielleicht warst du im Jenseits, aber du warst auch hier!, erwiderte ich beschwichtigend und dachte an die wenigen Nächte, die ich unweit ihres Krankenbettes auf einer Matratze geschlafen und wie sie halb aufgewacht und doch anderswo gewesen war. Und jetzt, nur jetzt, hatte ich meine Chance.

Wie war es denn dort?

Sie überlegte kurz.

So wie hier, nur die anderen waren auf der Straße.

6

Die entscheidende Frage bei den Traurigkeiten ist, ob sie notwendig und unvermeidlich sind oder nicht, ob sie sich nämlich mit einer anderen Auffassung der Dinge und Verhältnisse in anderem Licht zeigten.

Und sich wie von selber erledigten.

So die Auffassung derjenigen Philosophen, die fest ans Licht der Vernunft glauben wollen und gleichsam ungeduldig zu uns sagen: Denken hilft!

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Es gibt Tote, die einem als Tote weit vertrauter werden denn als Lebende und deren Tod einen tiefer berührt, als es das Leben hätte vermuten lassen. Nach dem höflichen Erschauern, dass sie verstorben, verschwinden sie nicht im Orkus, sondern behaupten einen Platz in unserer lebendigsten Erinnerung.

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Gegen Traurigkeiten hilft seit je das Spazierengehen. Man gewinnt Zeit, und mit dem Körper bewegt sich die Seele doch, und wo sie sich verfangen und verhaken will, löst sich etwas, man kann alleine gehen oder zu zweit, jedenfalls kann man die Traurigkeit mitnehmen und muss sie nicht verjagen.

So soll dies Buch sein: zum Spazieren.

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Das Glückliche meiner Kindheit waren die Ankunft im Sommerdorf, der Feldweg dort, die immer gleichen Pfützen, der Mist beim Bauern gegenüber, der dunkle Gang, der zwischen Küche und Stall trennte, die Spaziergänge an der Hand meiner Großmutter, die Durchreiche zwischen Küche und Esszimmer in ihrem Haus und ihr Essen, der steil abfallende Garten mit den Johannisbeeren und wie mein Großvater in der Küche für die Vögel Talg in die aufgeschnittenen Kokosnüsse füllte.

Hätte man mir als Kind erklärt, dass Leben und Lebendigkeit nicht ein und dasselbe, dass sie nicht zusammenfallen, ich hätte es nicht verstanden.

Als junges Mädchen wäre ich erleichtert gewesen. Ich las die Gedichte von Baudelaire und begriff nicht, warum sie mich betrafen; ich wusste nicht, was Akedia, was Ennui ist, der böse Überdruss, die lähmende Leere.

Ich weiß nicht, wann ich begriff, dass mit dem Leben die Lebendigkeit nicht frei Haus mitgeliefert wird, jedenfalls nicht, wenn man der Kindheit entwachsen.

Der Tod, glaube ich, traf mich vor der verwirrenden Leere der Seele, der rastlosen Stumpfheit und Langeweile, der Ödnis, die alle Kraft, allen Willen und auch das Wissen um Lebendigkeit vernichtete. Der erste Tod war der meines ersten Freundes, wir waren schon auseinander, und ich weiß nicht mehr, wie er sich das Leben genommen, ich erinnere mich nur an die Beerdigung, ohne jedoch sicher zu sein, ob ich dort war.

Dann starb abrupt und früh meine Großmutter. Vielleicht hätte es mich ohne die entsetzliche Langeweile der Schultage, die oktroyierte Teilnahmslosigkeit, die rastlose innere Leere nicht aus der Bahn geworfen.



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