Die Herzheilerin - und andere Grausamkeiten - Jürgen G. H. Hoppmann - E-Book

Die Herzheilerin - und andere Grausamkeiten E-Book

Jürgen G.H. Hoppmann

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Beschreibung

Wellnesscamp für Kriegsheimkehrer: Ein Therapeut schickt sie alle in den Tod. Evi und Max, das schrägste Kriminalisten-Duo seit Bonnie und Clyde, ermitteln undercover. Unter den Schönen und Reichen bewegte sich das Bäckermädel beim Europäischen Planetenfest. "Der Astrologe" war ihr großes Abenteuer. Nun sitzt sie da mit dickem Bauch im achten Monat, jeder Menge Vorstrafen und einem hier Gestrandeten an ihrer Seite, ehemaliger Afghanistan-Kämpfer mit schweren Macken, der sich pudelwohl fühlt in der Oberlausitz, dem fernsten Osten Deutschlands. Aus der Traum vom Goldenen Westen. Doch dann taucht Gwiazdek auf. Der polnische Europol-Kommissar lockt mit einem Spezialauftrag. Erweiterte Suizide unter Kriegsveteranen, die in Wellness-Kursen betreut werden. Einfluss feindlicher Agenten oder Friendly Fire aus den eigenen Reihen? Politische Einflussnahme bremst Kripo und Staatsanwaltschaft aus. Der Militärische Abschirmdienst kommt nicht weiter. Ein Undercover-Job für Max. Der kann sich unter alten Kameraden tummeln. Doch was zum Teufel will seine hochschwangere Freundin dort? Die Welt beschreiben JGH Hoppmann lebt "in the middle of nowhere" an der Schwelle zwischen Old Europe und New Europe. Es kommt auf den Blickwinkel an, wie man in diesen Ort hinein bzw. aus ihm herausschaut. Eines steht auf jeden Fall fest: Der schönste Platz in Görlitz ist Zgorzelec. Wer's nicht glaubt, soll sich auf die Reise machen!

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JGH Hoppmann
für Karumina, Liliana und Orchidee
Prolog
Ganesha
Blumengruss nach Indien
Muladhara
Wurzelchakra
Rupertustherme
Obersalzberg
Hitlers Adlerhorst
Rattenlinie Süd
Mussolinis Kamin
Königliches Kurhaus
Irshya
Die Missgunst
Holzhackerbuben
Blumengruss
Italien und Österreich
Svadhisthana
Genitalchakra
Spritzende Brüste
Allgäuer Gipfelzipferl
Shapeweare-Shopping
Titisee
Maison Blanche Strasbourg
Schwarzwald-Tripitaka
Orangengarten
Geruchskontrolle
Swarga Loka
Das Himmelsparadies
Blumengruss
Frankreich und Schweiz
Manipura
Nabelchakra
Die grosse Sause
Fleischwerdung
Heiltempel Zgorzelec
Sonnengebet
Mada Abhimān
Der Größenwahn
Schmetterling
Buddhistenkloster Rübezahl
Kobra
Wölfin
Kuhgesicht
Zweisam-Einsamkeit
Katze
Weibergewäsch
Embryo
Zappel-Meditation
Grössere Liebe
Blumengruss
Polen und Tschechien
Anahata
Herzchakra
Verölter Bartwuchs
Allroundservice JVA Görlitz
Gutenachtgeschichte
Stellvertreter auf Erden
Optimist und Pessimist
Mahaloka
Die Harmonie
Herzheilende Grausamkeiten
Blumengruss
Belgien und Luxemburg
Vishuddha
Kehlkopfchakra
Willkommensempfang
Spa in Mainhattan
Recreation im Kreiskulturhaus
Wellnessdinner
Hypnopomp-hypnagogischer Pop
Ganga
Die Mondwelt
Gewaltmarsch über Todesstreifen
Stalinstadt
DeutschDemokratische Mitte
Blumengruss
aus der Hölle
Ajna
Stirnchakra
Kohl und Pinkel
Chakren rauf und runter
Schönheitswettbewerb
Backpfeifentherapie
Seenotrettungseinsatz
Naraka
Das Fegefeuer
Suizidservice International
Blumengruss
Ost- und Westsee
Sahasrara
Kronenchakra
Knutschkugel im Märchenwald
Sukha
Die Erfüllung
Hohe Dielen
Kongsmark auf Rømø
Medikamententest
Sylter Königshafen
Siebenschneiderstein
Blumengruss
auf Nimmerwiedersehen
Karma
Stirb und Werde
Ein Gedicht
Jahrmarktbudenzauber
Walkürenritt Rattenlinie Nord
Mordlust
Jamna
Die Geburt
Weltreise
Johannistrieb
Teufel und Weib
Blumengruss
Lange Anna und Kleine Anna
Epilog
Indien über den ganz nahen Osten
Charaktere
Rollen und Darsteller
Protagonisten
Mentoren
Antagonisten
Deuteragonisten und Tritagonisten
Literatur
www.thriller.one

JGH Hoppmann

DIE HERZHEILERIN

und andere Grausamkeiten

Thriller

für Karumina, Liliana und Orchidee

© 2023 Jürgen G. H. Hoppmann

Lektorat und Korrektorat: Gundula Bacquet, Frankfurt am Main

Deutsche Verlagsauslieferung: tredition GmbH, Hamburg

Deutsche Hörbuchdistribution: XinXii, Berlin

Sensitivity Reading, Exposé-Gutachten: Li-Sa Vo Dieu, Berlin

Zeichnungen Umschlag und Innenteil: Patricia Cooney, St. Gallen

Foto hintere Umschlagseite: ArsAstrologica, Görlitz

Rückschau im Buchanhang: Lorenzo Gori, Berlin

Vorschau: Commedia dell’arte, Jacques Callot: Wellcome Collection, London

Chakren: Wikimedia, Author datumizer, formerly SharkD, Michael Horvath

Umschlaggestaltung, Layout, deutsches Hörbuch: ArsAstrologica, Görlitz

Pinyon Script Font: Nicole Fally, safe new world studio, Bielefeld

Vollkorn Variable Font: Friedrich Althausen, Schwielowsee

Webdings und Palatino Linotype Font: Microsoft, Redmond

Lato font family: Lukasz Dziedzic & Adam Twardoch, Warschau

Polnische Bearbeitung und Hörbuch: Zespół Zegarów Słonecznych, Dolny Śląsk

Polnische Verlagsdistribution: Ridero IT Publishing Sp. z o.o., Krakau

Druck und Distribution im Auftrag des Autors/der Autorin:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

ISBN Softcover: 978-3-347-89927-8

ISBN Großschrift: 978-3-347-89930-8

ISBN Hardcover: 978-3-347-89928-5

ISBN E-Book: 978-3-347-89929-2

ISBN Hörbuch: 978-3-987-628962

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor/die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine/ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors/der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Prolog

Ganesha

Blumengruss nach Indien

Lieber Guru Zodiacus,

jetzt haben wir Juli, ich bin in der 33. Woche. Letzten Winter in Auroville schenkte uns der Taxifahrer ein Heiligenbildchen. Als wir in Uromis Waldhäuschen in der Oberlausitz die Reisetaschen auspackten, schaute ich es mir genauer an. Diese komischen Inder verehren pummelige Elefanten mit vier Armen und Schwabbelbauch! Ich fand das so witzig, dass ich ihm Zigarette und Schnapsflasche verpasst habe, und Schminke wie ein Sissy-Boy, transgendermäßig. Und jetzt, voll schwanger mit dickem Bauch, erfahre ich von einem grausamen Kindsmord!

Die Muttergöttin Parvati fühlte sich einsam, sagt die Hindu-Mythologie. Shiva, ihr Göttergatte, hatte sich in tiefe Meditation versenkt. Ein Asket, kein guter Liebhaber. So formte sie sich aus eigenem Blut, abgeriebenem Körperschorf, Dreck und Schweiß, vermischt mit Salben, Ölen und dem Wasser des Ganges ein Kind, erweckte es mit Mantra-Gesang zum Leben.

Zum Elefantenkopf kam Ganesha durch Shivas Zorn. Als der allmächtige Gott nach Hause kam und den Fremden sah, zückte er sein Schwert und schlug ihm den Kopf ab. Ein fürchterliches Missverständnis. Parvati war außer sich. Der Herr des Alls, König des Tanzes, Glücksverheißender und Zerstörer in Personalunion, musste improvisieren. Er schwor, das Haupt des ersten Lebewesens, das ihm über den Weg laufen würde, als Ersatzteil zu nehmen. Und das war ein Elefant. Ob Pavarti über die Klempnerarbeit ihres Göttergatten begeistert war, ist nicht überliefert. Zumindest adoptierte Shiva den derart wiederbelebten Ganesha an Sohnes statt. Der Hausfrieden war wiederhergestellt.

Schräge Geschichte. Komisch, kosmisch. Ich kann nur hoffen, dass Max, mein Lover, unserem Kind den Kopf dran lässt, wenn es das Licht der Welt erblickt.

Kannst du rechnen, oller Guru Zodiakus im fernen Indien? Mitte Dezember in Mäxchens Studentenbude in der Polizeiakademie Rothenburg, da hat es geknallt. Volltreffer! Neun Monate dazugezählt und du weißt, wann es so weit ist.

Mit weiteren Blumengrüßen an die Palmblattbibliothek in Bangalore werde ich dich auf dem Laufenden halten. Ich hoffe, du kannst meine Handschrift entziffern. Übermittlung wie der Blitz, total geheime Geheimbotschaft. Perfekte Technik, auf meinem eigenen Mist gewachsen. Weder CIA noch FBI werden dahinterkommen, Europol sowieso nicht. Max, mein süßer Lover, hat auch keine Ahnung. Besser so. Sicher ist sicher. Für den Fall, dass seine Vaterfreuden in Wut umschlagen und er zum Kindsmörder wird.

Ich muss Schluss machen, Palmblattguru. Die Reise beginnt.

:-)

Muladhara

Wurzelchakra

Rupertustherme

Strahlender Hochsommertag im hochmodernen Kurzentrum von Bad Reichenhall, das aufgrund seiner optimal ökologisch an den Klimawandel angepassten Architektur kaum etwas von der Hitze dort draußen durch die Panoramascheiben lässt, welche den in der Regel mehr als solventen Kurgästen aus aller Welt freie Sicht auf ein prachtvolles Alpenpanorama schenken – keines Blickes gewürdigt von einem ehemaligen Bundeswehrsoldaten, der über ein vollgekritzeltes Zettelchen gebeugt an seinem Gedicht schnitzt.

»Deine Augen Gänseblümchen.

Leuchtender Schein wie Alpenglühn.

Sende meiner Liebsten Reime,

Oh Evi, sei für immer meine.«

Die Tür zum Behandlungszimmer öffnet sich. Festen Schrittes nähert sich ein staatlich geprüfter Masseur und medizinischer Bademeister, schaut ihm über die Schulter und verschränkt die kräftigen Unterarme.

»Sans a ganzer fescher Dichter, der Herr.«

»Positiv.«

»Und?«

»Massagegutschein.«

»Passt scho. Ägidius mein Name. Kommen’S nei. Ned bös sein, aber alles ausziehen, auch die Unterhosen. Legst di danieder auf die Bank. Kriegst zuerst mal des Allerwertesten-Chakra gezwiebelt, hübsch naufi zum Genital. Zur Krönung der Tausendblättrige Lotus. Mit Ayurveda-Massageöl mit echt bayerischem Enzian. Den Allerwertesten entspannen, wenns recht ist.«

»Negativ.«

Der Physiotherapeut verteilt die Flüssigkeit, walkt und knetet wie ein Pizzabäcker. Aus dem Radio auf dem Beistelltischchen ertönt Blasmusik. Hin und wieder jodelt es.

»Ja mei, sans des hart die Arschbacken! Sachsen-Max, kommst zu uns ins schöne Bayernland, den ganzen langen Weg aus Dunkeldeutschland, und zierst dich so. Geboren 1990 in …«

»Ostindien.«

»Da schau her: ein Ostinder aus dem Osten. Quasi ein Ost-Ost-Inder. Und dann noch weiß wie Käse.«

»Deutsche Eltern. Ist kompliziert.«

»Mia wurscht, wanns’s endlich locker lassen würdest. Schreibst Gedichte für dein Gspusi, wo der die Alpen glühen auf die Augendeckel.«

»Bergbahngutschein.«

»Aha, naufi zum Predigtstuhl, hoch über den Wolken. Das wird sie freuen. Die älteste Drahtseilbahn wo gibt auf der Welt. Generalüberholt. Auf die bayerische Ingenieurskunst ist Verlass. Laptop und Lederhosen. Mir san mir! Wenns jetzt aus dem Fenster schaust, Bub. Nicht doch, liegen bleiben und Steiß entspannen! Wenns schauen könntst, wo ich grad hinschau … ja Himmelherrgodnoamoinaa Oarsch und Wolkenbruch Kruzitürken!«

Ägidius hält inne. Starrt hinaus. Die Ölflasche entgleitet ihm. Echt königlich-bayerisches Enzian-Ayurveda-Heilelixier ergießt sich über Arschbacken, Massagebank und Fliesen. Er bekreuzigt sich, murmelt ein Ave Maria. Haut die Pranke aufs Radio. Jodelnde Blasmusik erstirbt.

Sein Patient reckt sich hoch, folgt dem Blick aufs malerische Alpenpanorama, auf die Predigtstuhlseilbahn in halber Strecke bis zum Gipfelplateau. Kneift die Augen zusammen. Schwer zu erkennen auf diese Entfernung, ob die Kabine schaukelt, Fensterscheiben zersplittern, die Tür schief in den Angeln hängt, Seilbahnpassagiere wie Spielzeugsoldaten hinausfallen, wohl eher unfreiwillig, da irgendjemand dort in der Gondel zu wüten schient.

»Friendly Fire!«, brüllt Max, schlingt sich ein Handtuch um die nackten Hüften, rutscht auf dem öligen Boden aus, stößt draußen im Gang mit einer Krankenschwester zusammen, die auf ihrem Handwagen Schlamm- und Moorpackungen bugsiert. Mit sattem Glucksen verteilt sich der kackbraune Brei an den Wänden des Kurzentrums. Max sprintet zum Ausgang. Trampelt querbeet über die Blümchenwiese des Kurbads, vorbei an kopfschüttelnden Herrschaften auf Verdauungsspaziergang.

»Da läuft der damische Ost-Ostinder, fast nackert«, meint Physiotherapeut Ägidius und hilft Schwester Martha beim Aufwischen der Schweinerei.

Asphaltierter Radweg den Fluss entlang. Spitze Steinchen piken in die Fußsohlen. Wadenkrampf. Rasselnde Lunge. Verschnaufpause. Tinnitus-Pfeifen im Kopf, stetig anschwellend. Max wähnt sich kurz vor dem Hörsturz, bis er begreift, dass das Geräusch von eiskaltem Gletscherwasser kommt, einem reißenden Strom, der sich an einem Wehr bricht und in der Sommerhitze feine Dunstschleier bildet. Rüberhecheln über den Fluss und weiter.

Rechter Hand das Areal der Hohenstaufen-Kaserne, Stützpunkt der Gebirgsjäger-Brigade 23. Stallgeruch weht rüber. Das sind die Maulesel. Kennt er von der Ausbildung für den KSK-Einsatz in Afghanistan.

Die beste Vorbereitung hatte er jedoch in Bremen, als ihm Vollhorst, sein Stiefvater, ne Playstation ins Kinderzimmer stellte, mit Call of Duty, samt dickem Monitor. Ballerte mit dem Joystick irgendwelche Feinde ab, von morgens bis abends. War im Grunde nicht sein Ding. Doch der und Stiefmutter Edda wollten ihn unbedingt entsorgen. Ab zum Bund. Hat ja auch geklappt. War ne coole Truppe, die KSK. Kampfeinsatz am Hindukusch. Im Hubschrauber mit den Kameraden. Ego-Shooter live auf dem Schlachtfeld. Neben dem Bordmaschinengewehr ne Subwoofer-Box, aus der »Boom Boom Boom« von den K.I.Z-Hip-Hoppern dröhnt. Drückst auf den Auslöser, wenn du die kleinen weißen Mäuse auf dem Nachtsichtmonitor im Fadenkreuz hast. Bisschen Scheiße halt, wenn du selbst so ne Maus bist, weil du mit deinen Männern da unten was klären musst. Sie absichern. Gegen was auch immer. Einen Moment nicht aufpasst. Irgendwas läuft schief. Friendly Fire. Irgendein »Schütze Arsch« sitzt oben im Helikopter und ballert auf die eigenen Leute. Kann passieren. Waren alle bisschen zugedröhnt damals. Ständig was geraucht, grüner Afghane, kriegste in Kabul auf dem Markt für ’nen Appel und ‘n Ei. Kriegt man nicht aus dem Kopf, das. Pfeift in den Ohren, kriegst diese Panik.

Von links trudeln Kleinwagen herbei, vom Kreisverkehr an den Bad Reichenhaller Salzwerken in leichte Verwirrung geraten. Sie nähern sich im Schritttempo, die vierspurige Straße ist verkehrsberuhigt. Fußgängerampel auf Rot. Kann nicht bei Rot marschieren, weil drüben Polizei steht. Was soll er hier? In der Oberlausitz sind Brotlaibe zu kneten, Uromis Haus zu renovieren das Kinderzimmer ist einzurichten für den Nachwuchs und der LO 2500 von VEB Robur-Werke Zittau, ihr Backverkaufswagen, braucht einen neuen Motor. Er hat nichts verloren in Westdeutschland, wo er aufgewachsen ist. War nervig genug.

Rot heißt marschieren, sagte Evi immer. Heute Morgen meinte sie: »Musst dich entspannen, Mäxchen. Lass dir mal den Tinnitus im Kopf wegmassieren, werdender Vater. Ich nehme die Freifahrt zum Predigtstuhl.« Da saßen sie noch auf der Bank mit Blick ins Tal, gerade angekommen, über Nacht von Görlitz nach Dresden, dann Leipzig, Nürnberg und München.

Freifahrtscheine, freie Unterkunft und Verpflegung plus Tourismus-Gutscheine bei dieser merkwürdigen Fortbildung, die Evi irgendwo aufgetan hat. Keine Ahnung, wo und was. Nachdem alle Brote und Brötchen fertig gebacken waren, hatte er sich hingelegt, und sie übernahm die Frühschicht. Dieser österreichische Banker und Gwiazdek, der Pole von Europol, die hätten ihr ein Angebot gemacht, sagte sie mittags. Hatte schon fertig gepackt, den Nachbarn Bescheid gegeben, dass sie den Kater versorgen, und duldete keinen Widerspruch.

Vor einer Stunde, da zeigte seine Liebste auf einen kleinen roten Punkt in der Ferne, der einen dünnen Strich hochkletterte wie ein Marienkäfer an einem Blattstiel. Hoch zur Bergstation will sie, die von Wolken umgeben war und die sich jetzt in der Sommerhitze auflösen. Evi rückte sich ihre Blüte hinterm Ohr zurecht. Gestern beim Zwischenstopp am Bahnhof Görlitz auf Gleis 15 gekauft. Hätte beinahe den Anschluss verpasst, weil sie ewig lange in diesem BeautyFlowerWorld-Shop blieb. Hätte sich in Uromis Garten eine Primel rausrupfen können, für lau. Dort schießt das Zeug wie von selbst aus dem Boden. Nein, sie musste in diesem schweineteuren Blumenladen shoppen.

Weiber. Haben ihren eigenen Kopf. Kann man nichts machen. Sie rückte das halb verwelkte Kraut hinterm Ohr zurecht und meinte: »Nun geh schon zur Massage. Wenns dir beim Warten langweilig wird, kannst du mir ein Gedicht schreiben.« Als ob das mit dem Dichten so einfach wäre.

Endlich Grün. Bei der Seilbahn-Talstation totales Gedränge. Einsatzwagen, Feuerwehr, Notärzte. Hubschrauber kreisen über dem Geschehen. Der Wahnsinnige dort oben in der Kabine schreit aus vollem Hals. Drischt auf Fahrgäste ein, die sich am Rand der eingeschlagenen Gondelfenster festklammern. Das blöde Volk hier unten hält Handys hoch und filmt. Die Leute schreien lustvoll, als eine Frau im blau-weiß-karierten Dirndl herabstürzt. Evis Kittel, den sie von ihrer Uromi geerbt hat, ist grün – oder?

Max muss näher ran und drängelt sich durch. Ellenbogeneinsatz. Er reckt und streckt sich. Der Kerl dort oben in der Kabine sieht aus wie sein Einheitsführer, damals in Kabul, der nach der Friendly-Fire-Sache seinen Dienst quittiert hat. Tatsächlich, das ist er. Breitet die Arme aus. Lacht wie irre und springt in die Tiefe. Die Menge johlt.

Der Knoten vom Badetuch löst sich. Völlig nackt steht Max im Mittelpunkt des Geschehens. Dann sammeln Polizei und Feuerwehr die Smartphones ein. Proteste ringsum, von wegen Livestream und zigtausend Follower. Jemand packt ihn von hinten. Reflexartig dreht er sich um und geht in Kampfstellung. Schaut in Gänseblümchenaugen.

»Liebster Max! Du siehst zwar wunderschön aus, so als Adonis, wie Gott dich schuf. Darf ich dir meinen Bäckereiverkaufskittel überziehen, damit du dir keinen Sonnenbrand holst?«

»Positiv.«

Obersalzberg

Hinter dem Bergmassiv des Predigtstuhls schlängelt sich die Eisenbahn immer tiefer in die Hochalpen hinein. Auf den Wiesen und droben auf den Almen braune Kühe mit weißen Schnauzen, lange Wimpern um die Augen. Blau-weiß karierte Wimpel und Fahnen mit den Löwen des Freistaats. Bergbauernhöfe mit breiten, weit ausladenden Schindeldächern, gegen Sturm und Schnee mit rund geschliffenen Backsteinen belegt, groß wie Brotlaibe. Fensterbänke und hölzerne Balkonreihen, aus denen Geranien hervorquellen wie die üppigen Dekolletés von Alpenwirtinnen, die in Biergärten zur Rast einladen. Beleibte Mannsbilder in krachledernen Hosen schwenken Maßkrüge, laben sich an deftigen Schweinshaxen.

Evi sitzt am Fensterplatz des Zugabteils. Über dem Tablet-PC, den sie von ihrer Uromi geerbt hat, googelt sie nach touristischen Highlights. Traumhafte Bilder vom Königssee, umgeben von steil aufragenden Hängen, bewachsen mit stämmigen Tannen. Sankt Bartholomä, ein Kirchlein am Ufer, weiß mit roten Zwiebeltürmen, nur mit dem Schiff erreichbar. Im Hintergrund gewaltige, auch im Sommer schneebedeckte Bergmassive. Rechts der Blick zum Watzmann, links der Kehlstein.

»Schau doch: Wir könnten mit dem Ausflugsdampfer zum Malerwinkel fahren. Im See spiegelt sich das Kloster. Der Königsbachfall stürzt 200 Meter tief. Ab und zu kommt ein Schiffer mit seinem Kahn und trompetet gegen eine Echowand. Der Felsen hier, siehst du?«

»Positiv.«

»Du setzt dich drauf. Rezitierst dein Gedicht. Vor Alpenpanorama.«

»Negativ, war mal da.«

Widerwillig nimmt Max ihr das Gerät ab, klickt selber rum. Dauert eine Zeit lang, bis er es wieder zurückgibt. Seine Königssee-Bildersuche zeigt andere Resultate: Fahrzeugmassen auf einem Parkplatz, der an die Verladestationen einer Automobilfabrik erinnert, Touristenhorden zwischen Souvenirbuden, Trachtenmode aus osteuropäischer Billigproduktion, Plastik-Edelweiß made in China, Geldautomat an urbayerischem Brotzeitstüberl, die Nahaufnahme einer Speisekarte.

»Au weia!«, ruft Evi und Zugpassagiere drehen sich nach ihr um. »Für dieses Familienmenü, Germknödel-Spezialität für drei Personen inklusive Getränke und Nachtisch, könnte man in unserem Oberlausitzer Backverkaufswagen glattweg die Tagesproduktion kaufen, kräftig durchgeknetete Sauerteigbrote, ganz weich gebackene Brötchen, zuckersüße Zimtsterne und knallharte Salzteigstücke.«

»Positiv.«

»Schluss jetzt mit negativ und positiv. Ich will, dass du strahlst und nicht so schief guckst.«

»Halswirbel bei Massage verrenkt.«

»Dann lass dich wieder einrenken. Herr Ägidius ist laut Lehrgangsbroschüre diplomierter Chiropraktiker und Osteopath.«

»Doktor Google sagt, bei 98 Prozent der Fälle renkt sich das von selbst ein. Hier, schau aufs Tablet.«

»Bleiben zwei Prozent.«

»Die Hälfte überlebt das Knocheneinrenken. Der Rest ist Eigenbeschuss, ›blue on blue‹ sagen sie bei der NATO …«

»Dein berühmtes Friendly Fire?«

»Querschnittslähmung oder gleich tot. Du kriegst keine Witwenrente, vegetierst als Alleinerziehende dahin.«

»Soll das ein versteckter Heiratsantrag sein?«

»Kompliziert, Evi. Weißt schon: Geburtsurkunde gefakt und meine Adoptiveltern rücken nicht mit der Wahrheit raus.«

»Dann rücken wir denen halt auf den Pelz, fahren nach Bremen. Laut Lehrgangsprospekt sind wir in der sechsten Lehrgangswoche in Norddeutschland.«

»Mal sehen.«

»Und bis dahin vermiest du mir nicht die Reise. Jetzt auf zum Kehlstein. Jovis Morgenstern meinte am Telefon, dass Swarożyc Gwiazdek einen Spezialauftrag für uns hat. Wenn wir den erledigen, winkt uns viel Geld. Vielleicht bekommen wir eine Festanstellung als Geheimagenten und bleiben auf Dauer im Goldenen Westen!«

»Vergiss es, Evi. Gwiazdek von Europol hat dafür gesorgt, dass ich aus der Polizeiakademie geflogen bin. Ist mit der Knarre auf mich losgegangen letzten Winter. Weißt du doch? Der hat ’ne Macke. Sieht überall Nazis. Kehlstein? Nennen die US-Soldaten ›Eagle’s Nest‹, Adlerhorst. Kranke Hitler-Scheiße! Doktor Google meint, von Berchtesgaden mit dem Linienbus zum Obersalzberg, Führersperrgebiet in tausend Metern Höhe. Kannst dort auf mich warten, Ausstellung im alten Bunker ansehen, Babybauch ausruhen, Seilbahn-Stress vergessen.«

»Erstens war das mit der Seilbahn wohl eher dein Stress. Ich war zu spät, wollte eigentlich zum Blumenladen.«

»Wieso Blumenladen? Hier hast du mein Gänseblümchen-Gedicht.«

»Dankeschön. Und zweitens …«

»Zweitens gibts nicht. Der Adlerhorst liegt auf 1836 Metern, 120 Meter unterm Kehlsteingipfel der Eingang zum Fahrstuhl. Kurz vor Kriegsausbruch in den Fels gemeißelt. Laut Doktor Google kamen ein Dutzend Arbeiter ums Leben. Kannst du alles auf dem Tablet sehen. Am Kamin, Marmor von Mussolini gestiftet, trank der Führer sein Käffchen mit Eva Braun. Das ist nichts für dich.«

»Und wieso, bitteschön?«

»Totalsanierung. Shuttleverkehr eingestellt. Zu Fuß auf den Berg braucht es zweieinhalb Stunden mindestens, jetzt in der Sommerhitze. Gutes Training für Männer ohne Kind im Bauch. Außerdem klemmt ab und zu der Lift im Berg. Kommst nicht mehr raus, wirst zur Pharaonen-Mumie. Der Adolf war ein Schisshase, hat ihn nie benutzt. Bleibst schön brav im Ausstellungscafé.«

»Führerbefehl, oder was?«

Tatsächlich: am Obersalzberg alles abgesperrt. Weiter nach oben dürfen nur Baufahrzeuge. Evi ist stinksauer, sagt kein Wort mehr. Schaut Max nicht nach, als er sich beim Obersalzberg auf den Weg macht, humpelnd und mit schiefem Hals. Fächelt sich mit einem Ausstellungsflyer kühle Luft zu und genießt einen schweineteuren Wellnessdrink an der Touristeninfo.

Neben der Absperrung, halb versteckt an einer Tanne, der Wegweiser zum Gipfelpfad, anfangs entlang der abgesperrten Teerstraße, die sich gemächlich um den Berg windet. Doch das würde zu lange dauern. Max muss Tempo zulegen, wenn er es rechtzeitig zum Gipfel schaffen will. Gwiazdek und Morgenstern werden nicht ewig warten. Also über Stock und Stein, anfangs zwischen schattenspendenden Bäumen, die immer spärlicher werden. Höher und höher.

Verkrüppelte Kiefern, Sträucher. Weit geht der Blick übers Land. Oberhalb der Baumgrenze kein Schutz mehr vor der Julisonne, die erbarmungslos herniederbrennt. Das Hemd hat er ausgezogen. Krebsrot wird sein Rücken sein, er spürt den Sonnenbrand. Schweiß rinnt ihm über die Stirn, brennt in den Augen. Lädierte Fußsohlen vom Sprint zur Predigtstuhlbahn. Dicke Blasen. Er läuft abwechselnd auf den Außenkanten und im Entengang, damit sie nicht aufplatzen. Die Luft wird dünner. Ohne den Solidaritätsbauch, den er sich anfraß, um mit seiner schwangeren Liebsten mitzuhalten, wäre er schon längst auf dem Gipfel.

Der Pfad trifft auf die moderne Teerstraße. Doch schneller geht es über den alten Schotterweg, in den Fels gehauen, steil an der Wand nach oben. Was müssen die Arbeiter geschuftet haben von achtzig Jahren, als sie Breschen in die Gesteinswand schlugen, um dem ollen Mussolini seinen Marmorsims hochzukarren. Hoppla, beinahe ausgerutscht. Lockerer Randstein purzelt den Hang hinab, fliegt ein Stück im freien Fall und zerplatzt auf einem Felsen. Jetzt bloß nicht ausrutschen.

Ein Plateau, in das die Straße der Touristenbusse mündet. Das Kassenhäuschen neben dem Tunneleingang zum Fahrstuhl ist verrammelt. Baufahrzeuge, Betonmischer, Schalungsbretter, Zementsäcke, ein Abfallcontainer und ein nagelneuer ID.Buzz von Volkswagen, Luxuscampingwagen mit Elektroantrieb. Das muss ein Erlkönig sein, ein Prototyp, denn jetzt im Sommer 2020 sind solche Wagen noch nicht im Handel. Merkwürdig. Blick nach oben: in gut hundert Metern Höhe auf der Spitze des Kehlsteins das Alpenrestaurant. Bohrmaschinenlärm und lautstarkes Gehämmer.

»Erbaut 1938« steht auf dem Schlussstein des Torbogens. Ein schmiedeeisernes Gitter, nur angelehnt. Ein Schild weist auf Bauarbeiten hin. Max schirmt seinen Blick vor den gleißenden Sonnenstrahlen ab, die hier auf zweitausend Metern Höhe gnadenlos herniederbrennen, quetscht sich durch, ist im Berg. Ein Tunnel, breit genug für drei indische Elefanten. Bloß, was sollten die hier? Der Wechsel von glühender Hitze zur Kälte im Berg schlägt aufs Hirn. Aber der Hals hat sich wieder eingerenkt. Kein Pfeifen im Kopf, weil kein Psychostress, sondern volle Kontrolle. Beim Kampfeinsatz am Hindukusch war er die Ruhe selbst.

Ringsum rötliches Granitmauerwerk. Alle dreißig Meter hängen Kandelaber von der Decke und verbreiten gelbliches Licht. Sehr cool und stylish, wie in einem alten James-Bond-Film. Fehlt nur noch, dass ein Superschurke wie Goldfinger hinter der Ecke hervorspringt. Gibt bloß keine Ecken. Der Tunnel bohrt sich endlos kerzengerade in den schmalen Berggipfel. Müsste eigentlich schon wieder auf der anderen Seite rauskommen.

Plötzlich ist Schluss. Tunnelende. Quietschen, als ob hinter seinem Rücken das Eisengitter zugefallen ist. Und eine Ecke, hinter der sich eine kreisrunde Halle verbirgt. Könnte ein geheimer Nazi-Tempel sein. Glühbirnen auf dreiarmigen Kerzenhaltern. Sitzbänke rundum mit grünen Lederpolstern. Zu kalt hier, um sich auszuruhen. Eine golden glänzende Schiebewand aus Messing. Ohne Türknauf. Nur Schlitze an der Seite, wie für eine Sprechanlage. Und ein Knopf zum Draufdrücken.

Verschwörungstheorien aus durchgeknallten Hollywoodfilmen und Playstation-Ballerspielen schießen ihm durch den Kopf. Was, wenn es das Dritte Reich wirklich noch gibt? Ein Druck auf das Bedienelement und SS-Zombies springen raus, Wehrmacht-Sturmgewehre in den Fäusten, und machen ihn kalt. Ratatatam! Max schaut sich nach Kameras um. Vielleicht ist er in einer abgefuckten TV-Show gelandet. Oder aber sein Konterfei flimmert über Monitore vom NSU 2.0 – den gab es wirklich. Der ehemalige Afghanistansoldat lehnt sich flach an die Wand, um nicht in die Schusslinie zu kommen, und streckt seinen Arm vorsichtig in Richtung Knopf aus. Kalter Granit am durchgeschwitzten Rücken. Schweißtropfen auf dem Höhlenboden.

Wie von Geisterhand gleiten die Türflügel auseinander, öffnen ein golden schimmerndes Gelass, klein wie eine Gefängniszelle. Ringsum auf Hochglanz polierte Messingwände, in denen sich sein Anblick spiegelt und von der anderen Seite zurückgeworfen wird, etwas kleiner sein angebrannter Rücken, noch kleiner wiederum seine leicht schwabbelige Vorderseite, und so weiter und so fort bis in die Unendlichkeit. Grüne Lederbänke wie im Vorraum, zu dem sich wie von Geisterhand die Schiebetüren verschließen. Erschöpft setzt er sich. Hört Ventilatorensurren. Riecht stickige Gaskammerluft. War noch nie in einer Gaskammer. Die Szene in »Schindlers Liste« hat nur Bild und Ton, keinen Geruch. Und das sieht alles so schäbig aus: keine Messingwände, kein altmodisches Telefongeklingel, das er halluziniert. Tatsächlich eine Halluzination, denn sein Handy, das er aus der Hosentasche zieht, hat kein Signal. Keine Kontrolle, das Ende ist nah, Pfeifen im Kopf, Tinnitus. Der Europolagent Swarożyc Gwiazdek wird recht haben. Das Böse ist überall, lebt ewig, wird nie untergehen. Die Legende von Neuschwabenland, der Nazi-Festung im ewigen Eis der Antarktis.

Ihn friert. Die Luft wird knapp. Er krümmt sich zusammen und presst die Hände an die Ohren. Das Klingeln will und will nicht aufhören. Er blickt auf. Schaut zur Uhr an der Wand, Design wie auf einem Meeresdampfer. Darunter ein uraltes, schwarzes Bakelit-Telefon. Mit letzter Kraft nimmt er den Hörer ab, krächzt wie ein Sterbender.

»Hallo?«

»Bist du es, mein Lover? Dauert ewig, bis du abnimmst. Du hast echt ’ne lange Leitung. Der Kaffee wird schon kalt und die Schlagsahne fällt zusammen. Zieh am Schalter neben dem Telefon, dann gehts aufwärts!«

Die goldene Zelle vibriert. Unsichtbare Motoren setzen sich in Bewegung. Beschleunigung, als ob ein Nazi-Raumschiff ins All startet. Sein Magen hängt in den Kniekehlen.

Hitlers Adlerhorst

Das Restaurant auf der Spitze des Kehlsteins ist eine einzige Baustelle. Die Fenster sind mit Abdeckfolie verklebt. Überall liegen Kabel rum. Elektriker bohren Löcher durch die Wände. Anstreicher hängen auf Leitern unter der Decke. Mittendrin auf umgedrehten Malereimern Evi, wie sie an einem Wasserkocher hantiert, neben sich eine Konditortüte. Jovis Morgenstern lehnt am Kamin des Führers und qualmt. Die Asche seiner Memphis-Zigarette von Austria Tabak AG bröselt auf den Marmorsims, ein Geschenk des italienischen Duce, dessen Leiche Antifaschisten am Ende des Zweiten Weltkriegs an den Füßen aufhängten. Max versagen die Knie.

»Ein herzliches Servus. Gelungener Aufstieg, sportlich, sportlich! Gnädige Frau, hätten’S vielleicht eine Sachertorte für unseren Athleten? Bittschön, und dazu eine Wiener Melange. Wissen’S, das Wetter macht uns doch arg zu schaffen. Sagen Sie nichts! Ich weiß, auch ich muss mich stählen. Zehn Pfunde sind schon herunter. Wenn ich mich so umschaue – ich meine nicht Sie – dann weiß ich, wer sich das Bauchfett angekiefelt hat. Gestatten’S das Bonmot, Herr Max.«

»Du mich auch.«

»Wer wird denn gleich granteln. Wissen’S, wir haben uns herausgenommen, Ihre reizende Verlobte mit dem Elektro zu chauffieren. Kleines Präsent der österreichischen Familien Porsche und Piëch. Ein paar Worte am Rande des Wiener Opernballs, und was soll ich Ihnen sagen? Drei Tage später stand der Wagen vor der Tür. Die Herren Monteure waren so freundlich, uns die Schranken zu öffnen. Wahrhaft akrobatisch, Ihre Einlage am Berg, Herr Max. Wollten’S nicht stören bei der Akrobatik. Sind ganz leise vorbeigefahren, meine Wenigkeit und das Fräulein Evi und der liebe Swaro. Er ist zum ersten Mal hier oben, bewundert draußen auf der Balustrade die Rundumsicht. Unser Hofkapellmeister Wolfgang Amadeus – Gott habe ihn selig – wäre begeistert vom Fernblick ins schöne Salzburger Land.«

»Negativ. Beschleunigung in fünf Sekunden auf hundert echt schlapp, Höchstgeschwindigkeit 160 km/h ebenfalls. Aber Schnellladegeschwindigkeit von 460 km/h ist heftig. Daten habe ich vom Autoquartett. Will die Kiste offroad testen, mit ›Rock me Amadeus‹ wie beim Kampfeinsatz in …«

»Das war Falco, unser Schlagersänger, Herr Kriegsinvalid!«

»Wieso invalid?«

»Ja meinen’S, wir hätten Sie sonst aufgenommen in die Wellness-Fortbildung für Frontheimkehrer? Wo denken’S hin! Nur solche, wo sans a bisserl ›lädiert‹. Verzeih’ den Ausdruck. ›Krüppel‹ wär noch unschöner.«

Max knirscht mit den Backenzähnen und geht auf den voluminösen Österreicher zu. Evi will sich dazwischen stellen, kommt bloß nicht vom Malereimer hoch. Hektisch kramt sie im Kuchenbeutel.

»Sehr verehrter Herr Mag. iur. rer. soc. oec. Jovis Morgenstern, dürften es auch Zimtsterne sein? Unser Angebot ist momentan auf Thermomix-Kreationen beschränkt, bedauerlicherweise. Die Wiener Melange, das wären Espresso und warme Milch zu gleichen Teilen in vorgewärmter Tasse, Milchschaum und obendrauf kleine Tupfer Kakaopulver, mit Zucker und Honig in großem Glas serviert. Etwas schwierig, aber Tassen hätte ich.«

»S’könnt auch ein Haferln sein. Wenn’s nix hilft …«

» … so schadet es doch nicht. Da gehe ich ganz d’accord, Herr Professor. Empfehle Kaffee Mix nach Art des Hauses mit 51 Prozent Bohnenkaffee und 49 Prozent Getreide und Hülsen plus ein Schuss Zichorie zur Abrundung, ›Honeckers Mischung‹ genannt, eine Originalrezeptur des Ersten Sekretärs und Staatsratsvorsitzenden der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Gott habe ihn selig.«

Der Magister der Jurisprudenz, Soziologie und Ökonomie aus Wien beäugt misstrauisch die Ansammlung von Plastikbechern auf den beklecksten Eimerdecken.

»Schaut interessant aus, Gnädigste, jedoch …«

»Original Ostprodukt aus Uromis DDR-Beständen. Ich gebe Ihnen mal ein paar Löffel in die Tasse. Vorsicht, heißes Wasser. Nicht umrühren! Warten, bis sich das Pulver setzt. Spart den Filter. Zucker hier im Marmeladenglas. Der Schraubverschluss klemmt, daher die Ameisen. Keine Sorge, die ertrinken, wenn man sie mit reinlöffelt. Dazu ein Zimtstern, eine ganz saubere Papierserviette und Besteck vom VEB Werkzeugkombinat Schmalkalden. Elegant, nicht wahr?

Ach übrigens, ehe ich‘s vergesse: Bekommen eigentlich alle Kursteilnehmer so einen hochmodernen Elektrobus? Eintrittskarte für Hochseilbahnen, in denen man sich mit – wie heißt es doch so schön – erweitertem Suizid vergnügt, sind auf Dauer doch etwas anstrengend für Damen in froher Erwartung. Nicht, dass es demnächst bei mir zu einer Frühgeburt kommt. Ihre Kompetenz in allen Ehren. Aber können Sie sich als Geburtshelfer vorstellen, mit beiden Armen voll rein in den schleimigen Mutterleib, das Ungeborene so drehen, dass ihm nicht die Nabelschnur den Hals abwürgt, und dann das ganze Fruchtwasser, gar nicht zu reden vom Blut und natürlich der Pisse und Scheiße, die unten rausfließt, wenn frau als Mutter in spe kräftig an Drücken ist?

Ich musste mir heute Morgen nach dem Vorfall – Sie haben sicherlich in den Nachrichten davon gehört – mein Näschen pudern. Sie verstehen: Wir Frauen sind etwas eitel. Dies entschuldigt natürlich nicht im Geringsten unsere Verspätung, aber sie erklärt es zumindest.

Dass mein Held, der im Schweiße seines Angesichts hier vor Ihnen steht, mir in wahrhaft grandiosem Einsatz am Fuße der Predigtstuhlbahn das Leben gerettet hat, darf nicht unerwähnt bleiben.«

Die feine Dame spielen. Das Näschen in die Höhe recken. Den Junkern mit spitzen Worten kräftig eins aufs Maul geben. Das hat Evi von ihrer Uromi gelernt. Die war bis Frühjahr 1945, als sie vor den Russen flüchteten, Dienstmagd auf einem pommerschen Landgut, hatte sich so einiges bei ihren hohen Herrschaften abgeguckt.

Geistesabwesend starrt der korpulente Österreicher, abgespeckt von Dreifach- auf Doppelkinn, auf den Afghanistan-Veteranen.

»Ja ja, die Handyfotos Ihres nackten Adonis auf Twitter und Facebook, die sind nun wirklich nicht zu übersehen.«

Maxens Ohren nehmen schlagartig die gleiche Röte an wie sein verbrannter Rücken. Morgenstern senkt seinen Blick auf die Ameisen, die während Evis Vortrag eine Straße gebaut haben, von der Zuckerdose über den Zimtkeks, der in der brütenden Hitze des Tages leicht matschig geworden ist, bis zum Kaffee-Mix-Plastikbecher.

»Etwas unschön, das Ganze. Nicht, dass Sie mich missverstehen, wertes Fräulein. Wissen’s, das bezieht sich nicht auf Ihre lobenswerte Kaffeehausbewirtung.« Er stochert mit dem Original-Ost-Alulöffel drin rum. »Ich schweife ab. Wo waren wir gleich stehen geblieben?«

»Dass Sie nicht umrühren, wegen der Kaffeekrümel.«

»Soll das ein Tadel sein?«

»Keineswegs, Herr Professor. Was den Bus betrifft: Ein ordentliches Ostprodukt wäre uns natürlich lieber. Siehst du das auch so, Max?«

»Positiv. Laut Autoquartett soll der Elektrobarkas auch nicht schlecht sein, 1975 in Karl-Marx-Stadt gebaut. Oder der Trabant nT mit Lithium-Ionen-Batterie und Solardach, 2007 als ›newTrabi‹ vorgestellt.«

»Herr Morgenstern, wir können das Seilbahnunglück natürlich auch an die Bild-Zeitung verkaufen, exklusiv mit Aktfotos vom Mäxchen. Der ist ein Internetstar, wie Sie wissen. Die Presse wird ganz wild auf ihn sein.«

Morgenstern schüttelt seine Schwabbelbacken.

»Was das Kleinklein der Umstände betrifft, wieso und weshalb man Sie zum Lehrgang einlud, fragen’S nachher bittschön den Swaro.«

»Na dankeschön, jetztauch noch beim Europol-Kommissar betteln!«

Der Österreicher nickt. Er scheint einen Entschluss gefasst zu haben. Beschwingt rührt er im Heißgetränk und wirbelt das Pulver durcheinander, das sich auf dem Boden der Plastiktasse abgesetzt hatte, nimmt einen kräftigen Schluck, hebt sein Haupt und lächelt breit. Kaffeekrümel verzieren sein Gebiss.

»Protektion ist alles!«

»Sie haben da …«

»Sagen’S nichts, Gnädigste. Der Elektro-Prototyp sei mein bescheidener Beitrag, um Sie und Ihren Gatten in spe zu motivieren – vorausgesetzt, Sie leisten den Ihrigen im Rahmen des Spezialauftrags.«

»Ach ja? Letzten Winter, das Praktikum beim Dresdner Planetenfest. Fing alles ganz harmlos an: Tagespraktikum und Freikarte für den Abend.«

Max ist vollkommen ausgehungert, fischt sich den fünften und letzten Zimtstern aus der Backtüte und brüllt los:

»Verdammte Scheiße! Diese Serienmorde beim Planetenfest. Evi ist fast draufgegangen. Wir fahren zurück. Auf den ID.Buzz scheißen wir.«

Morgenstern greift zu einer Papierserviette. Es dauert ein wenig, bis er alle Kaffeekrümel aus dem Gebiss raushat.

»Herrschaften, wenn’S sich bittschön nicht echauffieren würden. Haben’S sich wacker geschlagen, beim Einsatz letzten Winter. San’S a bisserl wie Bonnie and Clyde im Wilden Osten, meint der gute Swaro.«

»Bonnie and Clyde: cooler Film.«

»Mäxchen! Die haben Banken ausgeraubt, wurden von den Cops mit Maschinengewehrsalven durchlöchert.«

»Friendly Fire, kann passieren.«

»Swarożyc Gwiazdek hat uns das Ganze eingebrockt. Komm raus auf dem Balkon, Max. Den knöpfen wir uns vor.«

Rattenlinie Süd

Jovis Morgenstern weist sie mit großer Geste zum Aussichtsbalkon. Die Aussicht ist wirklich atemberaubend.

»Bittschön: dort der Watzmann mit Frau und Kindern, ein alpines Dreigestirn am Königssee. Waren’S schon dort? Empfehlenswert, Gelegenheit zur Dampferfahrt. Ein bisserl Tourismus, aber von was sollen die Bergbauern auch sonst leben. Ein Dirndl stände Ihnen nicht schlecht, gnädige Frau. Alles original heimische Produktion.«

»Klar doch«, meint Evi. »Max hat mir Fotos gezeigt, sogar vom Restaurant am Seeparkplatz.«

»Sehn’S, gnädige Frau, hier wird an alles gedacht. Finden’S mit Sicherheit eine Ladestation für den Elektro. Wenn’S Ihre Augen nach links wenden würden: der große Hundstod. Gewaltiges Bergmassiv im Salzburger Land, Republik Österreich. Ein bisschen rechts davon, mit dem Fernglas zu erkennen, wenn die Sonne nicht derart intensiv scheint, der Gran Pilastro in Italien.

Ja, und ganz rechts hier auf der Balustrade, wie unschwer zu erkennen, vor Ihnen der gute Swaro. Hat sich ein wenig zurechtgemacht für unsere Mission. Das wird er Ihnen sicherlich gleich erklären – hoffentlich bei guter Laune. Sie kennen ihn ja vom letzten Winter. Manchmal schweift er ab, verliert sich in unschönen Details. Typisch polnische Paranoia, wenn’S mir die Bemerkung gestatten würden, dass er immer und überall Nazis entdeckt.

Wollen’S einen Blick ins originalgetreue Eva-Braun-Zimmer werfen? Nein, jetzt nicht? Zu schade! Staatsgäste wurden hier empfangen. Warum glauben’S, haben die Besatzer all dies nicht abgerissen nach Kriegsende, was einst für den deutschen Reichskanzler erbaut wurde? Weil es sie beeindruckt hat, weil es sie inspirierte. Denken Sie nur an die James-Bond-Filme. Das, was die Deutschen damals taten, ist nun wirklich Geschichte. Nicht wahr, Swaro?«

Ein mürrischer Kerl mit gewaltigem Schnurrbart, selbst bei dieser Hitze eine altmodische Schirmmütze auf dem Kopf und einem Mantel mit militärischem Schnitt und weitem Kragenaufschlag locker über die Schultern gelegt, flucht derart, dass man meinen könnte, er spuckt Feuer.

»Kurwa mać! Hitler war Österreicher, wie 11 Prozent der KZ-Kommandanten, 40 Prozent der KZ-Aufseher, 14 Prozent der SS-Mitglieder und drei Viertel des Mitarbeiterstabs von Adolf Eichmann, und das bei einem Anteil von nur 8 Prozent Österreichern im Großdeutschen Reich. Bergbauern im Salzburger Land, reich durch Judengold, das Nazis vor Kriegsende in ihre Bergfestung schafften. Das dort, Gran Pilastro, ist Rattenlinie Süd. Fluchtroute dieser Verbrecher nach Südamerika mit Unterstützung des Vatikans.«

Der österreichische Magister schüttelt linkisch mit den Armen, als sei das alles eine Lausbubentat.

»Herrschaften! Der gute Swaro verdirbt uns die Ferienstimmung. Verzeihen wir’s ihm. Schauen wir frohgemut nach vorn. Auf gehts zur neuen Aufgabe.«

Schweigen. Der Pole zündet sich eine neue Zigarette an, wendet ihnen den Rücken zu und starrt auf die Bergwelt. Irgendwo da unten Kuhglockengeläut. Es muht. Eine Hummel setzt sich dickleibig auf einen überquellenden Geranientopf. Evi knipst sich eine Blüte ab.

»Bardzo przepraszam, ane kamisarzu Swarożyc Gwiazdek, ale … Max, wo gehst du hin?«

»Sonnenbrand.«

Morgenstern eilt ihm nach und schließt die Balkontür. Der Pole dreht sich zu Evi, nickt militärisch knapp.

»Słucham, pani.«

»Sie hören? Okay. Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Herr Kommissar. Ein paar klitzekleine Fragen: Sie haben sich optisch verändert. Fast dachte ich, der legendäre polnische Feldherr und Staatsgründer Józef Piłsudski ist auferstanden. Er war Bankräuber und überfiel Geldtransporte?«

»Der Postzug bei Vilnius: Der Widerstand gegen russische Okkupation musste finanziert werden. Dafür verbannte ihn der Zar nach Sibirien.«

»Stimmt. Dort prophezeite ihm eine Wahrsagerin große Zukunft aus der Hand. Seine Geliebte, die am Überfall beteiligt war, heiratete er erst, nachdem seine Ehefrau starb. Und als polnischer Staatspräsident, Vater zweier Kinder, verliebte er sich in seine Ärztin, in einem Kurbad. Heiße Affäre. Löste eine Staatskrise aus. Die junge Frau beging Selbstmord – sagt man jedenfalls.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ehrlich gesagt frage ich mich, welche Spezialoperation. Bonnie and Clyde im Wilden Westen? Bayerische Banken ausrauben? Eisenbahnzüge mit Nazigold? Kriegsverbrecher der Rattenlinie umbringen – gibt es auch eine Rattenlinie Nord?«

»Von Danzig über die Ostsee nach Schleswig Holstein. Speziell auf Sylt …«

»Wow, da wollte ich immer mal hin.«

»Bedaure.«

»Na ja. Vielleicht sind Sie privat hier, à la Pilsudski eine auf Kurschatten machen, sexy.«

»Bin hier nur Chauffeur.«

Der Polen wendet sich von ihr ab, zündet die nächste Zigarette an.

»Sie rauchen Sobieski? Großer Kriegsherr. Hat vor Wien die Türken geschlagen und Europa gerettet.«

Evi schau nach Max und Morgenstern. Die stehen drinnen vor dem Kamin und diskutieren heftig. Sie greift sich einen Glimmstängel. Rauchen in der Schwangerschaft geht gar nicht. Aber das Baby im Bauch schläft. Da machts wohl nicht viel aus. Oder?

»Der große Europol-Kommissar Gwiazdek, nur ein kleiner Chauffeur?«

»Inkognito. Deckname Józef.«

»Verstehe: Vorname von Pilsudski. Wen chauffieren Sie?«

»Euch alle.«

»Na super! Alles lassen Sie sich aus der Nase ziehen. Genau wie Max. Wissen Sie was? Spezialauftrag nur unter Bedingungen. Sonst gehen wir an die Öffentlichkeit. Auch was die Morde letzten Winter in Dresden und Warschau betrifft.«

»Kurwa mać.«

»Fluchen Sie ruhig. Ich will üppige Reisespesen und was Halboffizielles von Europol.«

Der Polen zückt seine Geldbörse, reicht ihr viele große Scheine und seine Visitenkarte.

»Proszę.«

»Dzięki, danke. Und wenn der Auftrag erledigt ist, sorgen Sie polizeiintern dafür, dass alle negativen Einträge über Max gelöscht sind, einschließlich der Sache auf der Polizeiakademie, und dass er seinen Führerschein wiederkriegt. Tun Sie was, damit meine Jugendstrafen aus dem Register verschwinden, wenn es geht. Und ich bekomme einen Orden von Europol, aber einen echten diesmal und nicht nur einen geträumten, wie damals in Dresden. Einverstanden?«

»Dobrze.«

Fast scheint es so, als hätte sich der Mann hinter dem gewaltigen Schnurrbart zu einem Lächeln durchgerungen.

»Gut. Die Gutscheine für Seilbahn und Massage haben wir schon genossen. War echt ein Erlebnis. Unterkunft haben wir, Elektrobus kriege ich. Fehlen nur noch Details zum Auftrag. Ups! Das Zappel ist aufgewacht, tritt mir gegen die Nieren. Muss irgendwas tun, was ihm Spaß macht. Vielleicht ne Elektro-Tour durchs schöne Bayernland?«

Evi, die Evi heißt und Evi bleiben wird, blickt Swaro, der jetzt Józef genannt werden will, und Morgenstern zu, wie sie von den Handwerkern ins Tal kutschiert werden. Autoschlüssel und Papiere haben sie dagelassen.

Mussolinis Kamin

Ihr Kreuz schmerzt, wie so oft in den letzten Tagen. Sie trägt es tapfer. Wenn das Strampeln heftiger wird, wie jetzt gerade, legt er ihr die Hand auf den Bauch und alles wird ruhiger.

»Massierst du noch ein bisschen tiefer?«, bettelt Evi und stützt sich mit den Armen am Sims des Rauchfangs ab, schaut auf fein eingerahmte Fotos von Naziverbrechern und anderen üblen Gesellen. »Ich muss mich jetzt irgendwie bewegen und den Mussolini tanzen.«

»Den was?«, fragt Max und lasst die Hände sinken.

»Gib mir mal das Tablet und schau, ob du ne Bluetooth-Verbindung zur Lautsprecheranlage hier findest.«

Gesagt, getan. Technisch alles kein Problem.

Die Scheiben klirren in Adolfs Adlernest, als sie voll aufdrehen. Antike Fotos fallen von den Wänden. Knallharter Drum’n-Base-Techno ballert bis zum Watzmann, mit Frau und Kindern das alpine Dreigestirn des Königssees, weiter zum großen Hundstod im Österreichischen und dem Gran Pilastro gen Italien, Rattenlinie Süd. Den Muhkühen auf den Weiden unten im Tal wird die Milch im Euter sauer.

DAF, Deutsch Amerikanische Freundschaft, jene Punkband aus Düsseldorf, zu deren Bühnenauftritt sich einst extreme Rechte und extreme Linke gegenseitig die Schädel einschlugen, den Adolf Hitler tanzen, den Mussolini, den Jesus Christus und den Kommunistenmus, als sie Hüften schwenkten wie Max und Evi jetzt und hier.

Abwärts gehts, mit dem Führerfahrstuhl tief in den Berg hinein. Mal sehen, ob sie steckenbleiben. Vor dem Tunneleingang wartet Evis nigelnagelneuer ID.Buzz.

Ihr Lover ist nicht schnell mit dem Mund. Doch was er anfasst, das gelingt – sei es nun der 1961 gebaute Backverkaufswagen aus DDR-Produktion, den er von Grund auf überholt hat, oder das Umgebindehaus im Teichland mit seinen jahrhundertealten Stützbalken und der Backstube, das sie von Uromi erbte, der Gemüsegarten oder jene Kaffeemaschine, die vor der Polizeiakademie in Flammen aufging und seinen Rausschmiss beschleunigte.