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Warmherzig wie eine Umarmung, humorvoll wie ein Abend mit Freundinnen: »Die Insel des geheimen Glücks« von Zoë Barnes jetzt als eBook bei dotbooks. Sie liebt ihre Adoptivmutter, sie liebt deren Töchter, die wie echte Schwestern für sie sind … und doch hat Holly sich tief in ihrem Herzen immer nach einer eigenen Familie gesehnt. Aber bevor sie die mit ihrem Freund gründen kann, muss sie dringend das Rätsel ihrer Herkunft lösen: Warum hat ihre leibliche Mutter sie kurz nach der Geburt vor einem Krankenhaus abgelegt und ist dann scheinbar spurlos verschwunden? Gemeinsam mit dem erfahrenen, aber auch irritierend attraktiven Privatdetektiv Phil beginnt Holly, Nachforschungen anzustellen – und findet tatsächlich eine Spur, die sie auf die Isle of Man führt … »Dieser Roman rührt uns zu Tränen, während er uns gleichzeitig ein breites Lächeln auf die Lippen zaubert!« News on Sunday Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der ebenso berührende wie amüsante Roman »Die Insel des geheimen Glücks« von Zoë Barnes. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 421
Über dieses Buch:
Sie liebt ihre Adoptivmutter, sie liebt deren Töchter, die wie echte Schwestern für sie sind … und doch hat Holly sich tief in ihrem Herzen immer nach einer eigenen Familie gesehnt. Aber bevor sie die mit ihrem Freund gründen kann, muss sie dringend das Rätsel ihrer Herkunft lösen: Warum hat ihre leibliche Mutter sie kurz nach der Geburt vor einem Krankenhaus abgelegt und ist dann scheinbar spurlos verschwunden? Gemeinsam mit dem erfahrenen, aber auch irritierend attraktiven Privatdetektiv Phil beginnt Holly, Nachforschungen anzustellen – und findet tatsächlich eine Spur, die sie auf die Isle of Man führt …
»Dieser Roman rührt uns zu Tränen, während er uns gleichzeitig ein breites Lächeln auf die Lippen zaubert!« News on Sunday
Über die Autorin:
Zoë Barnes ist ein Pseudonym der britischen Bestsellerautorin Susan Morgan (1957–2009). Sie wuchs in der Nähe von Liverpool auf und lebte danach lange in der Grafschaft Gloucestershire – genauer gesagt im beschaulichen Cheltenham, wo auch viele ihrer romantischen Komödien spielen. Lange vor Helen Fielding und deren »Bridget Jones« war Susan Morgan eine Wegbereiterin der herrlich britischen, humorvollen Unterhaltungsromane. Sie war außerdem als Übersetzerin erfolgreich und stand in ihrer Freizeit als Mezzosopranistin auf der Bühne.
Bei dotbooks erschienen die folgenden Romane von Zoë Barnes: »Auf der Spur der Liebe«, »Du sagst Chaos, ich hör‘ Hochzeit«, »Wer in den Seilen hängt, kann endlich richtig schaukeln«, »Das Glück spielt die erste Geige, aber ich bin die Dirigentin«, »Lieber voll verliebt als wunschlos glücklich«, »Alte Liebe rostet nicht, aber neue Liebe glänzt« und »Die Braut, die sich was traut«.
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eBook-Neuausgabe Juni 2021
Die britische Originalausgabe erschien erstmals 2009 unter dem Originaltitel »Return to Sender« bei Piatkus, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Wohin das Glück dich führt« bei Weltbild.
Copyright der Originalausgabe © 2009 by Zoë Barnes
Copyright der deutschsprachigen Erstausgabe © 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Alexandra Dohse, www.grafikkiosk.de, München, unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock/Depiano, everysunsun
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96655-438-1
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Zoë Barnes
Die Insel des geheimen Glücks
Roman
Aus dem Englischen von Margarethe van Pée
dotbooks.
London – im Büro von Payne, Rackstraw und Bynt
Ein Champagnerkorken flog gegen die Decke, und alle jubelten. Alle außer Holly Bennett, die an ihrem Schreibtisch saß und abwesend aufs Telefon starrte. Mechanisch legte sie den Hörer auf die Gabel, während sie innerlich schrie: Das passiert nicht wirklich. Ich glaube es nicht! Das ist alles nicht wahr!
Eine leere Konfettiröhre segelte herunter und überzog Hollys Computermonitor mit blauen Fäden. Sie merkte es kaum. Sie war in Gedanken im hundertfünfzig Kilometer entfernten Cheltenham, wo ihre Mutter langsam und fast unmerklich starb. Es war einfach nicht fair. Maureen Bennett war doch erst fünfundsechzig! Mit fünfundsechzig starben die Leute heutzutage nicht mehr!
Verlass uns nicht, Mum. Bitte, du kannst uns nicht verlassen!
Holly ballte die Hände zu Fäusten. Motorneuronenerkrankung. Wenn sie die Diagnose nicht von ihrer Mutter selbst gehört hätte, hätte sie es nicht geglaubt, dass einer so lebensfrohen Frau nur noch so wenig Zeit bleiben sollte. Wie lange hatte der Arzt ihr noch gegeben? Ein Jahr, vielleicht achtzehn Monate, und mit jedem Tag, der verging, würde es ihr ein bisschen schwererfallen zu gehen, zu sprechen, ihre lebhafte Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, die Holly, ihr Dad und ihre Schwestern immer so geliebt hatten. Am Ende, sagten die Ärzte, würde sie nicht einmal mehr selbstständig atmen können. Und dann müsste ihre Familie die Entscheidung treffen, ob … ob …
Holly traten die Tränen in die Augen. Sie wischte sie mit dem Ärmel weg. Sie hatte keine Zeit, sich gehen zu lassen. Obwohl sich in ihrem Kopf alles drehte, zwang sie sich, an praktische Dinge zu denken. Natürlich hatte Mum ihr erklärt, sie solle sich keine Sorgen machen, als sie gefragt hatte, ob sie sich nicht eine Hilfe nehmen wollte. Sie und Dad kämen gut alleine zurecht, hatte sie gemeint. Aber das war typisch Maureen. Sie wollte niemandem zur Last fallen.
Holly wusste, dass ihre Mutter Hilfe brauchen würde, aber woher sollte sie kommen? Dad war ein wundervoller Ehemann und Vater, aber er stand kurz vor der Pensionierung und konnte nicht alles allein bewerkstelligen. Und von seiner Pension als Briefträger konnte er es sich vor allem nicht leisten, einen Pflegedienst rund um die Uhr zu bezahlen. Hollys beide jüngere Schwestern lebten in Cheltenham, aber Grace erholte sich gerade von einer Fehlgeburt, und Jess … na ja, Jess war siebzehn und hatte selbst genug Probleme, da sie ständig kurz davor stand, aus der Friseurschule herausgeworfen zu werden.
Es gab also nur eine Lösung.
Holly war so tief in Gedanken versunken, dass sie zusammenzuckte, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte.
»Hey, du bist ja so still geworden«, sagte Murdo mit seinem weichen schottischen Akzent. »Alles in Ordnung?«
Holly drehte sich auf dem Stuhl zu ihm um. In seinem schmalen, attraktiven Gesicht stand echte Sorge geschrieben. Groß, dunkelhaarig und fürsorglich war Murdo Mackay der Traum jeder jungen Frau. Er und Holly waren schon seit drei Jahren zusammen – buchstäblich vom ersten Tag an, an dem sie nach London gekommen war, um ihr Glück in der Werbung zu versuchen. In ihrer Beziehung gab es Höhen und Tiefen wie bei jedem Paar, aber er hatte sie nicht ein einziges Mal im Stich gelassen. Er war immer für sie da.
»Nein, nichts ist in Ordnung«, gestand sie. »Es gibt schlechte Nachrichten. Wirklich schlechte. Mum ist …« Sie brachte die Worte nicht über die Lippen und begann zu schluchzen.
»Holly, was ist mit Maureen passiert?«
»Kann ich es dir später erklären?« Sie schluckte, um den Kloß im Hals loszuwerden. »Meinst du, ich bekomme heute Nachmittag noch einen Termin bei Bill Rackstraw? Ich glaube, ich muss mir Urlaub nehmen. Ziemlich lange sogar.«
Murdo zuckte mit den Schultern. »Du weißt ja, wie verständnisvoll er ist. Zwei Wochen dürften sicher kein Problem sein.«
Ich rede nicht von zwei Wochen, Murdo.« Holly schüttelte traurig den Kopf. »Ich rede von einem Jahr. Mindestens.«
Achtzehn Monate später:
St Mungo’s Church auf dem Bluebell Estate, Cheltenham, an
einem windigen Sonntagnachmittag im März.
»Es hat einen ziemlich spitz zulaufenden Kopf«, zischte Tante Gladys aus der zweiten Reihe rechts. Sie lehnte sich in den Gang, um den einen Star der Taufe besser betrachten zu können. »Ist das … normal?«
Holly stand am Taufbecken, eine brennende Kerze in der Hand. Sie wandte die Augen von Tante Gladys’ hohem, violetten Hut mit der wippenden Pfauenfeder ab und bemühte sich, ein Lachen zu unterdrücken. Schließlich konnte sie nicht während der Taufe aus der Rolle fallen. Zum Glück war die achtzehnjährige Jess, Hollys Schwester und die Mutter von Baby Aimee, viel zu beschäftigt mit dem schreienden Kind, sodass sie die Bemerkungen ihrer Tante nicht gehört hatte. Kev Hopkins, ihr Freund, sah so aus, als benötigte er seine ganze Konzentration, um von dem unbequemen neuen Anzug nicht bei lebendigem Leib verschluckt zu werden. Als angehender Sänger und Songschreiber war Kev es nicht gewöhnt, Anzüge zu tragen.
Ich liebe meine Familie, dachte Holly, und eine Welle der Zuneigung schlug über ihr zusammen. Sogar Tante Gladys, und das will schon etwas heißen.
Streng genommen waren die Bennetts eigentlich nicht Hollys wirkliche Familie, beziehungsweise sie waren es dem Gesetz nach, aber nicht in biologischer Hinsicht. Holly war als winziges Baby auf der Treppe eines Krankenhauses ausgesetzt und dann von den Bennetts adoptiert worden. Für sie stellte das allerdings keinen Unterschied dar – sie waren und blieben ihre Familie. Wenn überhaupt, machte die Tatsache, dass sie adoptiert worden war, alles noch besonderer, denn ihre Eltern hatten sie schließlich ausgesucht.
Beim Gedanken an ihre Eltern Harry und Maureen zog sich Hollys Herz vor Schmerz und Trauer zusammen. Wenn doch Mum heute hätte hier sein können, dachte sie. Sie wäre so stolz auf Jess und Grace – ihre zwei jüngeren Töchter – gewesen, weil sie ihre Babys in der Kirche taufen ließen. Stolz – und ein wenig überrascht, dachte Holly lächelnd und warf ihre kastanienbraunen Haare zurück. Noch vor Jahren hatte es einen mächtigen Familienstreit gegeben, als Grace und Steve geheiratet hatten. Es war typisch für ihre Schwester gewesen, dass sie sich geweigert hatte, kirchlich zu heiraten, »weil es ein Schweinegeld kostet und nichts bedeutet, wenn man nicht an Gott glaubt«.
Und jetzt standen sie heute alle hier und sahen zu, wie Grace’ und Jess Kinder in die Kirche von England aufgenommen wurden. Als Eltern sieht man offensichtlich vieles anders, dachte Holly. Vielleicht werde ich das eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft: selbst herausfinden. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass ihre Mutter noch die Chance gehabt hätte, ihre Enkelkinder im Arm zu halten. Wenn es Gott gibt und ich ihm je begegnen werde, dachte Holly grimmig, dann wird er mir ein paar unangenehme Fragen beantworten müssen.
Es war ein typischer, unbeständiger Märztag auf dem Bluebell Estate. Der Regen prasselte auf das Betondach der Kirche, und der Wind war so stark, dass er Bonbonpapiere und anderen Abfall durch die Luft wirbelte. Die beiden gesunden Babys brachten ihren Unmut so laut zum Ausdruck, dass wenigstens das metallische Geräusch des Müllabfuhrwagens übertönt wurde.
Holly lächelte unwillkürlich, als sie daran dachte, dass Grace und Steve ihr Kind an einem so unschönen Ort taufen ließen. Sie hätten ohne Weiteres eine pittoreske alte Kirche in einer schickeren Gegend wählen können, aber Mum und Dad hatten hier Vorjahren geheiratet. Und wenn die Kirche gut genug für sie gewesen war, dann war sie heute auch gut genug für ihre Enkel. Also fand die Taufe in dem hässlichen Betonbau statt.
Als sich die Zeremonie dem Ende entgegenneigte und der Regen draußen sich zum Hagel steigerte, wurde Holly durch einen Rippenstoß aus ihren Gedanken gerissen.
»Psst. Tante Holly.«
»Hä?«
Jess drückte ihr etwas Weiches und ungewohnt Feuchtes in die Arme. »Nimm sie mal einen Moment, ja?«
»W-was?«
»Ich muss dringend aufs Klo. Bin gleich wieder da. Du musst sie nur einen Moment lang halten.«
Jess rannte den Gang entlang zu den Toiletten, die sich hinten im Kirchenschiff befanden, und ließ Tante Holly mit ihrer drei Monate alten Nichte allein.
Holly rümpfte die Nase. »Puh, du stinkst«, meinte sie grinsend zu ihrem Patenkind. »Hast du etwa in deine Windel gemacht? Es muss wirklich toll sein, wenn man ein Baby ist«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Du kannst tun, was du willst, und alle lieben dich trotzdem.«
Während Holly noch über das Wunder des Lebens nachdachte, tauchte Grace neben ihr auf. Sie wirkte unglaublich schlank in ihrem eng sitzenden Designeroutfit.
»Hast du es gemerkt?«, fragte sie.
»Was gemerkt?«
»Deine arme kleine Schwester kann sich noch nicht einmal einen Hut leisten. Ich wette, sie hat alles im Katalog bestellt. Sie und Kev kommen kaum klar.«
Es war nicht der erste Wink mit dem Zaunpfahl von Grace. »Willst du damit etwa sagen, ich sollte ihnen aushelfen?«
»Nun, es könnte nicht schaden.« Grace nahm nie ein Blatt vor den Mund. »Ich weiß, dass du das Geld, das Mutter dir hinterlassen hat, noch nicht angerührt hast.«
»Nur weil du alles ausgegeben hast …«, begann Holly.
»Wir haben auch eine Familie zu versorgen«, unterbrach Grace sie.
»Grace, du und Steve, ihr habt wirklich genug Geld. Ich helfe Jess gerne, aber ich finde, du solltest auch deinen Teil dazu beitragen. Ich bin nur eine kleine Postangestellte, während du und Steve an eurer ersten Milliarde arbeitet!«
Grace wandte verlegen den Blick ab. »Ja, aber das Geschäft läuft nicht jede Woche gleich gut, und Steve muss genug Rücklagen haben, um reinvestieren zu können. Und was dich angeht – wie lange willst du eigentlich noch die Post austragen?«
Holly wurde rot. »Du weißt genau, warum ich das tue. Ich bin nach Hause gekommen, um mich um Mum zu kümmern, und dann hat Dad den Job im lokalen Postzentrum für mich gefunden.«
»Mum ist vor über einem Jahr gestorben, Holly. Vor einem ganzen Jahr. Warum bist du immer noch hier? Warum sitzt du nicht schon längst wieder an deinem Schreibtisch in London und entwirfst kreative Werbung, statt dich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten?« Grace blickte auf das schlafende Baby in Hollys Armen. »Und wenn du es leid bist, Karriere zu machen, könntest du auch Murdo heiraten und Mutter werden. So oder so, du kannst nicht den Rest deines Lebens Post austragen.«
»Ich … ich bin einfach noch nicht so weit, um wieder nach London zu gehen«, stammelte Holly, der das Gespräch zunehmend unangenehmer wurde. »Noch nicht.«
»Wie ich schon sagte, du kannst nicht dein ganzes Leben lang Postbotin spielen.«
»Ich weiß.« Holly streichelte Aimees winzige Hand, und die kleinen Fingerchen schlossen sich automatisch um die ihren. Wärme und Liebe stiegen in ihr auf. Du bist mein Patenkind und meine Nichte, dachte sie, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit du ein glückliches Leben führst. Zumindest darüber bin ich mir sicher.
»Weißt du«, Grace zwinkerte ihr zu, »ein Baby im Arm steht dir wirklich gut. Anscheinend passt Muttersein zu dir. Ich wette, Murdo findet das auch, nicht wahr, Murdo?«
Holly war so vertieft in ihr Gespräch mit Grace gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie Murdo sich dazugesellt hatte.
»Was finde ich auch?«, fragte er und legte Holly den Arm um die Schultern.
»Ich glaube, sie würde eine tolle Mutter abgeben, meinst du nicht auch?«
Holly schluckte, als Murdo ihr tief in die Augen blickte und antwortete: »Oh, absolut.«
»Na, dann lasst euch mal nicht zu viel Zeit.« Lachend machte Grace sich auf die Suche nach Steve. »Ihr werdet auch nicht jünger.«
Aber ich bin doch noch nicht einmal dreißig, protestierte Holly im Stillen, als sie am Büfett in der Eingangshalle der Kirche stand. Okay, Ende des Jahres werde ich die magische Grenze knacken, aber bis jetzt bin ich immer noch neunundzwanzig, und es wird noch Jahre dauern, bis ich an tickende biologische Uhren denken muss.
Allerdings musste sie sich eingestehen, dass sie schrecklich gerne ein Baby bekommen würde. Vielleicht nicht jetzt sofort, aber bald. Die Frage ist nur, dachte sie, möchte ich es mit Murdo haben? Eine schwierige Frage, dachte sie, und eigentlich weiß ich die Antwort darauf nicht. Noch nicht. Jedenfalls werde ich ganz bestimmt nicht zu den Leuten gehören, die ein Kind bekommen und erst anschließend über die Zukunft nachdenken.
Während sie ein Cocktailwürstchen aufspießte, betrachtete sie gedankenverloren ihr Spiegelbild in der Glasscheibe der Vitrine, in der die Fußballmannschaft der Kirche ihre einzige Trophäe aufbewahrte.
Die junge Frau, die sie anblickte, war zwar keine strahlende Schönheit, konnte aber durchaus als hübsch gelten, auch wenn die Nase ein wenig zu lang geraten war.
Sie hatte große, dunkle Augen mit langen Wimpern; ihre schulterlangen kastanienbraunen Haare glänzten. Sie war nicht groß und auch nicht gertenschlank, aber sie bewegte sich mit einer gewissen Anmut. Kurz fragte sich Holly, ob sie ihren Gang wohl von ihrer Mutter hatte. Und wenn ja, von welcher? Von ihrer Adoptivmutter, die so gerne getanzt hatte … oder von ihrer biologischen, die bisher ein komplettes Geheimnis geblieben war?
Nicht zum ersten Mal machte sich Holly Gedanken darüber, woher sie kam. Nach der Geburt von Adam und Aimee dachte sie mehr und mehr darüber nach, selber ein Kind zu bekommen, und je konkreter der Wunsch wurde, desto stärker sehnte sie sich danach, etwas über ihre eigene Herkunft zu erfahren. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie ihre Adoptiveltern nicht liebte; im Gegenteil, sie vergötterte sie. Aber die Tatsache, dass eine unbekannte Frau ihr das Leben geschenkt und sie dann aus ebenso unbekannten Gründen auf der Krankenhaustreppe zurückgelassen hatte, blieb für immer bestehen.
Ich muss es wissen, dachte sie. Wer auch immer diese Frau ist, sie ist ein Teil von dem Menschen, der ich wirklich bin. Aber … was ist mit Maureen? Was ist mit der wundervollen Frau, die mich aufgezogen hat? Wie wäre ihr zumute gewesen, wenn ich ihr gesagt hätte, dass ich meine leibliche Mutter finden will? Ist es vielleicht nur Selbsttäuschung, wenn ich mir einrede, dass sie mir ihren Segen gegeben hätte?
»Was ist los, Liebes?«, fragte eine vertraute Stimme neben ihr. »Warum stehst du hier so ganz alleine?«
Holly drehte sich um. »Alles in Ordnung, Dad. Ich denke nur ein bisschen nach.«
»Uber Mum?«
Sie nickte. »Die Taufe hätte ihr gefallen. Sie wäre so stolz auf Grace und Jess gewesen.«
Ihr Vater wuschelte ihr durch die Haare, wie er es immer getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. »Sie wäre auf euch alle stolz gewesen. Aber das war sie immer. Und jetzt komm wieder zu den anderen. Ich habe gerne alle meine Mädchen um mich herum.«
Auf der anderen Seite der Halle unterhielten sich Hollys Schwestern.
»… und deshalb mache ich mir Sorgen«, vertraute Jess ihrer Schwester gerade flüsternd an.
»Meinst du etwa, ich nicht?« Grace strich Adam, der an ihrer Schulter schlief, über die weichen Löckchen. »Jedes Mal, wenn ich meinen Kleinen ansehe, dann denke ich, was wäre wenn …«
In diesem Augenblick gesellte sich Harry Bennett mit Holly im Schlepptau zu ihnen. »Na, wenn das mal nicht meine beiden anderen Lieblingstöchter sind!« Unsicher blickte er sie an. »Wir stören doch nicht, oder?«
»Nein, Dad.« Grace’ Stimme ließ das Gegenteil vermuten. »Natürlich nicht.«
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Holly.
»Selbstverständlich.« Jess rang sich ein Lächeln ab. »Und, amüsiert ihr euch auch? Das Fest ist nicht übel, was?«
»Du hast alles toll arrangiert«, stimmte Holly zu.
»Ja, klar.« Jess seufzte. »Aber ich will in meinem ganzen Leben kein einziges blödes Meeresfrüchte-Canape mehr sehen.«
»Wo ist Aimee?«, fragte Holly.
»Kev ist mit ihr zur Toilette gegangen, um ihr die Windel zu wechseln«, erklärte Jess. »Er ist an der Reihe.«
Harry schmunzelte. »Den Jungen hast du dir gut erzogen.«
»Natürlich«, erwiderte Jess selbstgefällig. »Damit kann man gar nicht früh genug anfangen – habe ich nicht recht, Grace?«
»Absolut. Und wenn alles andere nicht hilft, gibt es eine Woche lang keinen Sex.« Grace grinste. »Den Trick hat mir Mum verraten.«
Harry wurde rot. »Schaut mal, ist das da drüben nicht eure Tante Gladys?«, wechselte er das Thema. »Mit ihr habe ich mich heute noch gar nicht unterhalten.«
Und damit floh er.
»Grace, du bist schrecklich! Du hast ihn ganz verlegen gemacht«, bemerkte Holly.
»Entschuldigung, ich konnte einfach nicht widerstehen.« Grace gähnte. »Es ist so leicht, ihn in Verlegenheit zu bringen.«
»Ja. Das hat Mum auch immer gesagt«, erinnerte sich Holly. »Einmal hat sie mir erzählt, dass er, als sie sich gerade erst kannten, zufällig in die Frauenumkleide im Schwimmbad geplatzt ist. Die Schreie hat man meilenweit gehört – nicht die der Frauen, sondern die von Dad!«
Die drei lachten, dann sagte Grace: »Die Geschichte hat mir Mum nie erzählt.« Es klang anklagend.
»Das war kurz, nachdem ich aus London zurückgekommen war«, erklärte Holly. »Damals konnte sie noch reden.«
»Auf jeden Fall mit dir.«
»Ich habe ja auch am meisten Zeit mit ihr verbracht«, erwiderte Holly leicht gereizt.
Vor ihrem inneren Auge liefen die letzten Monate mit ihrer Mutter noch einmal wie ein Film ab. Anfangs hatten sie noch viel geredet, aber am Ende hatte nur noch Schweigen geherrscht, weil die Krankheit ihr alles nahm, sogar die Stimme. Alles, bis auf das Licht in ihren Augen, das erst der Tod ausgelöscht hatte.
Holly wartete, bis der Schmerz in der Brust nachließ, dann fuhr sie fort: »Sie hätte die Taufe genossen.«
Grace blickte sich um, betrachtete die Onkel und Tanten mit ihren großen Hüten und der eleganten Kleidung und seufzte. »Ja. Und ich muss daran denken, dass ich damals so einen Aufstand gemacht habe, weil ich nicht in der Kirche heiraten wollte. Wenn ich Mum dadurch zurückbringen könnte, würde ich Westminster Abbey mieten und eine Märchenhochzeit feiern.«
Holly streichelte über Aimees pfirsichweiche Wange. »Mum hätte sie hinreißend gefunden«, sagte sie zu Jess. »Sie ist wirklich schön; ein vollkommenes kleines Geschöpf.«
»Na ja, sie … sie sieht zumindest so aus«, erwiderte Jess.
Hollys Herz sank. »Warum? Stimmt etwas nicht mit ihr? Das hast du noch gar nicht erwähnt.«
Grace legte Holly die Hand auf den Arm. »Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Bei Adam auch. Jess meint nur … wegen Mums Krankheit. Wir können eben nicht sicher sein, oder? Wir wissen nicht, ob sie sich vererbt hat. Und selbst wenn wir es wüssten, könnten wir doch nichts dagegen tun, weil die Motorneuronenkrankheit nicht heilbar ist.«
Holly lief es kalt den Rücken herunter. »Aber ich dachte, Mums Spezialist hätte gesagt, sie sei nicht erblich?«
»In acht oder neun von zehn Fällen wird sie nicht vererbt«, korrigierte Jess sie. »Aber ein kleines Risiko besteht trotzdem. Und das bereitet uns Sorgen.«
»Aber es ist verschwindend gering«, sagte Holly.
»Nicht wenn du der zehnte Fall bist«, erwiderte Grace.
»Entschuldigung, ich wollte nicht …«
»Natürlich nicht«, sagte Grace. »Aber Jess und ich wissen wahrscheinlich erst, ob wir die Krankheit bekommen, wenn wir über vierzig sind, und bis dahin könnten Aimee und Adam schon eigene Kinder haben – es sei denn, sie haben zu viel Angst, welche zu bekommen, weil sie nicht wissen können, was sie ihnen möglicherweise vererben.«
»Kev und ich hatten schon über Spendereier nachgedacht«, offenbarte ihr Jess. »Aber dann bin ich zufällig schwanger geworden. Es war ein ziemlicher Schock, nicht wahr, Grace?«
»Spendereier! Davon hast du mir nie etwas gesagt …« Hollys Gedanken überschlugen sich. Ihr war, als sei plötzlich all ihre familiäre Sicherheit zerstört worden. »Mein Gott, ja, du hast recht; ich hatte ja keine Ahnung …«
Verwirrt schwieg sie. Es tat weh, dass Jess sich ihr nicht anvertraut hatte. Warum nicht? Sie hatte vermutlich mit Grace darüber geredet. All das ist in meiner eigenen Familie vor sich gegangen, dachte sie, und ich habe nichts davon gewusst. Ich hatte keinen Schimmer. Bin ich vielleicht besonders dumm? Oder haben sie auf einmal das Gefühl, sich mir nicht mehr anvertrauen zu können? Bin ich zu einer Außenseiterin geworden?
Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie eine unsichtbare Kluft zwischen sich und ihren Schwestern. Es war kein gutes Gefühl.
»Was ist mit dir und Steve?«, fragte sie Grace. »Du hast doch bestimmt auch Angst gehabt, als du schwanger warst.«
»Wir haben beschlossen, dass es das Risiko wert ist. Aber es war nicht leicht.«
Holly dachte an den Morgen vor der Beerdigung ihrer Mutter. Graue Gesichter und ein Himmel, der dazu passte. Holly war so in ihrer Trauer gefangen gewesen, dass sie kaum mitbekommen hatte, wie Grace sich übergeben musste. Erst später hatte sie zugegeben, dass sie keine Magenverstimmung gehabt hatte, sondern schwanger gewesen war. Sie hatte es schon vorher sagen wollen, aber das Krematorium schien ihr nicht der passende Ort zu sein, um ein neues Leben anzukündigen. Rückblickend passte alles zusammen. Oder wie ihr Großonkel Bill es mit seinem üblichen Taktgefühl formuliert hatte: »Einer rein, der andere raus – so ist das Leben. Ich bin bestimmt der Nächste.«
»Es tut mir leid. Ich … ich habe einfach nicht nachgedacht«, stammelte Holly. »Wahrscheinlich war ich viel zu sehr damit beschäftigt, Mum zu vermissen.«
»Na, zumindest brauchst du dir über das Problem nie Sorgen zu machen«, bemerkte Grace kühl.
Holly verstand nicht sofort. »Wieso?«
»Ich meine, wenn du ein Baby bekommst.« Grace warf ungeduldig ihre Locken zurück. »Schließlich bist du nicht mit Mum verwandt.«
Für einen kurzen Moment hätte Holly sie ohrfeigen können. »Sie war genauso meine Mum wie deine!«, protestierte sie.
Jess griff ein. »Natürlich war sie das, Holly. Grace hat es sicher nicht so gemeint.« Sie blickte ihre Schwester an. »Stimmt’s?«
Grace zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, dann lächelte sie und sagte: »Nein, natürlich nicht, Hol. Sei doch nicht so empfindlich. Ich meinte doch nur, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst, die Krankheit zu vererben, weil du mit Mum nicht biologisch verwandt warst. Und ganz egal, wie du dazu stehst«, fuhr sie fort, bevor Holly noch etwas erwidern konnte, »es ist eben doch etwas anderes, oder?«
Es war Mittwoch – Hollys freier Tag als Postbotin. Allerdings merkte sie nichts davon.
Anstatt auszuschlafen, wachte sie auf, als um sechs Uhr ihr Wecker klingelte. Rasch schlüpfte sie aus dem Bett und taumelte schlaftrunken ins Badezimmer.
Normalerweise hätte sie zunächst gefaulenzt und dann den Rest des Tages mit ihren freiberuflichen Werbeprojekten verbracht, die sie übernommen hatte, um den Bezug zu ihrer Branche nicht zu verlieren und aktiv zu bleiben. Heute jedoch musste sie mit ihrer Schwester in ein gottverlassenes Nest fahren, wo sie Kleider abholen wollte. Alles für einen wohltätigen Zweck. Und das konnte sie schließlich nicht gut ablehnen, oder?
Fluchend machte sie sich fertig. Warum hatte sie sich von Grace nur überreden lassen, die Designeroutfits für ihre Wohltätigkeitsmodenschau abzuholen? Grace war im Moment noch nicht einmal besonders nett zu ihr – allerdings war sie zu niemandem mehr besonders nett, der nicht genauso reich war wie sie, seit Steve und sie es zu etwas gebracht hatten. Warum habe ich mich bloß darauf eingelassen?, jammerte Holly im Stillen. Ich muss nicht bei Verstand gewesen sein. Was für ein Pech, dass Dad heute arbeiten muss, sonst hätte ich ihn bestimmt überreden können, an meiner Stelle mitzufahren.
So jedoch saß sie um sieben in Dads altem Expostauto. Grace könnte den Wagen mit Sicherheit selbst fahren, wenn sie nur wollte, murmelte Holly, als sie die Whaddon Road entlangrumpelte. Sie hat bloß Angst davor, in einem klapprigen, verrosteten Transit gesehen zu werden.
Drüben, auf der schicken Seite der Stadt, in The Avenue 5, wartete Grace schon auf sie in ihrer Eingangshalle. Duftige Voilevorhänge verdeckten ihre kostbare Sammlung von Swarovski-Tieren vor neugierigen Blicken. Als die Rostlaube quietschend vor dem Haus zum Stehen kam, spürte Holly förmlich, wie peinlich berührt ihre Schwester war. Sie lächelte in sich hinein. In dieser Gegend hatte man wahrscheinlich seit der Nacht, in der alles Blei vom Dach der Kirche abgeschlagen worden war, nie mehr etwas so Schreckliches gesehen.
Mit gesenktem Kopf huschte Grace aus ihrem brandneuen Stadthaus im Regencystil und stieg hastig in den Wagen.
»Schnell, bevor mich noch jemand sieht.«
»Zu spät.« Holly zeigte auf die Jalousien von Nr. 7, die sich gerade bewegt hatten. »Spielt das wirklich eine Rolle?«, fragte sie, als sie aus der Stadt heraus auf die A40 fuhren.
Grace starrte sie an. »Gott, mit dir geht es wirklich bergab, seit du nicht mehr in London wohnst. Je eher du dich von Murdo retten lässt, desto besser.«
»Und wenn ich nicht von ihm gerettet werden will?«
»Dann bist du blöder, als du aussiehst.«
Sie blickten einander an und brachen in Lachen aus. Holly schaute gerade noch rechtzeitig wieder auf die Straße, um einem Mercedes auszuweichen. Wenigstens war die Atmosphäre jetzt entspannt.
»Und was genau machen wir heute?«, fragte Holly.
»Ich habe es dir doch gesagt. Wir holen Kleider für die Wohltätigkeitsmodenschau ab. Du kennst doch Tammy Hyde-Cooper?«
»Äh … nein.«
Grace schüttelte ungläubig den Kopf. »Natürlich kennst du sie. Sie schreibt die Kolumnen im Telegraph – die, die mit dem Typ verheiratet ist, der Mighty Motors auf Channel Six moderiert.«
Holly hob interessiert den Kopf. »Der mit dem hübschen Arsch?«
»Nein, der dicke.«
»Ah.« Ihr Interesse erlosch wieder.
»Ihre beste Freundin ist die trendige Modedesignerin, und sie hat sie überredet, uns ein paar ihrer Sachen für die Show zu überlassen. Ist das nicht toll?«
»Es wäre toller, wenn ich nicht an meinem freien Tag bis nach Hampshire aufs Land fahren müsste«, erwiderte Holly freimütig. »Und wie hast du diese Tammy kennengelernt?«
»Ich habe sie bei einem Charity-Essen erkannt, und da bin ich auf sie zugegangen und habe ihr gesagt, wie wundervoll ich ihre Kolumne finde«, erwiderte Grace stolz. »Sie hat nach meinen karitativen Projekten gefragt, und wir haben uns auf Anhieb verstanden.«
»Und ist ihre Kolumne tatsächlich so wundervoll?«
Grace zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe sie noch nie gelesen. Aber darum geht es doch auch gar nicht.«
»Ach nein?«
Grace’ Augen blitzten. »Nein. Wenn es der guten Sache dient. Und den Wert von guten Kontakten kann man nicht hoch genug einschätzen.« Sie beugte sich näher zu Holly.
»Dein Murdo ist doch gut vernetzt. Meinst du nicht, er kennt jemanden Nützlichen? Hast du nicht gesagt, dass seine Mum mal David Beckham begegnet ist?«
Holly lachte. »Ja, an der Bushaltestelle, und er war damals fünf Jahre alt. Irgendwie bezweifle ich, dass er sich daran noch erinnern kann. Und jetzt komm, Süße, schau mal auf die Karte! Ich hoffe, wir sind nicht den ganzen Tag unterwegs. Ich muss heute Abend noch Babysitten.«
Zehneinhalb Stunden später fuhr ein schicker roter Mazda Zweisitzer langsam zum Bluebell Estate hinauf und parkte vor Crocus House. Holly quälte sich aus ihrem geliebten Auto – das einzige luxuriöse Besitztum, das sie aus ihrer Londoner Zeit noch behalten hatte –, streckte ihren schmerzenden Rücken und eilte die Treppe zu Jess’ und Kevs Wohnung im zweiten Stock hinauf.
Jess öffnete auf ihr Klingeln hin die Tür und blickte sie erleichtert an.
»Holly! Wo warst du denn?« Jess schob einen rosa Glitzerhaarreifen über ihre zweifarbigen Haare. Diese Woche war die untere Lage dunkelbraun mit einer hellblonden Schicht darüber, als ob jemand Vanillesauce über einen Schokopudding gegossen hätte. Holly hatte es noch nie erlebt, dass Jess länger als zwei Wochen die gleiche Frisur gehabt hatte. »In zwanzig Minuten fängt die Band an, und bis zum Pub laufen wir mindestens zehn. Wir haben schon gedacht, du kommst nicht mehr.«
»Ich auch«, erwiderte Holly düster, zog ihre Fleece-Jacke aus und warf sie auf das durchgesessene Sofa im Wohnzimmer. Eigentlich hatte sie keine Lust zum Babysitten bei ihrer Schwester, nachdem sie mit Grace den ganzen Tag in einem Transit verbracht hatte – sie war kurz davor gewesen, sie zu erwürgen aber ein Versprechen war ein Versprechen, und Holly hielt ihr Wort.
»Was war los?«, fragte Kev. Er kam gerade in seinem besten Ausgeh-T-Shirt und zerrissenen Jeans aus dem Schlafzimmer, die hellbraunen Dreads hatte er lose im Nacken zusammengefasst. »Du siehst ja ganz erschöpft aus.«
»Was los war? Grace war los. Sie hat mich durch ganz Südengland gejagt, nur um ihre blöde Designer-Freundin zu finden.«
»Und habt ihr sie gefunden?«
»Am Ende ja. Aber zuerst sind wir fünf Mal an dem Dorf vorbeigefahren. Keine Straßenschilder weit und breit, und ihr wisst ja, wie gut Grace im Kartenlesen ist.«
Jess kicherte. »Erinnerst du dich noch, wie sie Dad auf den Truppenübungsplatz dirigiert hat?«
»Wie könnte ich das vergessen? Und als wir heute endlich zu dem blöden Haus kamen, stellte sich heraus, dass die Kleider noch einmal achtzig Kilometer entfernt in einem Lagerhaus aufbewahrt wurden.«
»Also ein kleines Kommunikationsproblem, was?« Kev bot Holly seine Dose Carlsberg an. Dankbar trank sie einen Schluck.
»So könnte man sagen. Ach, und das Beste kommt ja noch: Ihre Freundin hatte vergessen, Grace zu sagen, dass sie nur Kinderklamotten entwirft, und jetzt muss Grace alle Eltern rund um Cheltenham überreden, ihre kleinen Engel als Models für die Kindersachen zur Verfügung zu stellen. Es sind übrigens echt hässliche Klamotten«, fügte sie hinzu. »Eine Mischung aus Little Miss Muffet und der Braut von Dracula.«
»Das klingt ja nach einem anstrengenden Tag. Ich weiß nicht, was Grace sich überhaupt davon verspricht«, sagte Jess. Sie zog ihren Mantel an und drückte Holly die schläfrige Aimee in die Arme. »Immerhin muss sie Adam versorgen, und Steve hat ein Geschäft.«
»Es gibt ihr Macht«, warf Kev ein.
»Ach was, Kev! Es sind doch nur Wohltätigkeitsveranstaltungen!«
»Trotzdem kriegt sie davon einen Kick! Und sie kommt sich toller vor als andere, weil sie all diese Prominenten kennt.«
Holly war versucht, Kev zuzustimmen, aber als sie Jess’ Blick sah, behielt sie ihre Meinung lieber für sich. Trotzdem gab es keinen Zweifel: Seit Steve sich selbstständig gemacht hatte, hatte Grace einen Ehrgeiz entwickelt, den sie früher nicht an den Tag gelegt hatte. Früher war sie mit ihrem Beruf als Krankenschwester zufrieden gewesen, jetzt war sie auf einmal scharf auf jede freie Position als Stationsschwester. Es war schon seltsam, dachte Holly. Früher einmal hatte sie gedacht, Grace in- und auswendig zu kennen, aber jetzt …
»Die Flaschen mit der abgepumpten Milch sind im Kühlschrank, und auf dem Herd steht noch ein Auflauf, wenn du Hunger hast«, rief Jess Holly über die Schulter zu, als sie gingen. »Ruf mich an, wenn irgendetwas ist – und wenn es nur eine winzige Kleinigkeit ist.«
»Das mache ich.«
»Und wenn sie Fieber, Ausschlag oder …«
»Dann bin ich sofort beim Arzt, keine Sorge. Und jetzt geht endlich!«
Als die Tür hinter den beiden ins Schloss gefallen war, seufzte Holly erleichtert auf und ließ sich mit dem Baby im Arm auf das Sofa sinken. Zufrieden betrachtete sie das Gesicht ihrer kleinen Nichte. Zwei blaue Augen blickten sie aufmerksam an. Erzähl mir von der Welt, Tante Holly. Ich will alles wissen, schienen sie zu sagen. Der Auflauf kann warten, dachte sie. Das hier ist unsere Qualitätszeit, meine Kleine, und nichts ist wichtiger.
Die Stille wurde nur vom Ticken der Coca-Cola-Uhr an der Küchenwand und dem sanften Schnauftönen von Aimees Atem unterbrochen. Holly beugte sich über das Baby und atmete tief den Duft der weichen Haut ein. So roch sonst nichts auf der Welt; der süße Duft von frisch gebadeter, perfekter Neuheit. Erneut schlug die Sehnsucht über ihr zusammen, trug ihr Herz und ihre Seele weg.
Du willst wirklich ein Baby, oder?, flüsterte eine verräterische Stimme in ihrem Kopf. Schlag dir deinen Versuch, Karriere zu machen, aus dem Kopf, das liegt dir doch gar nicht. Erst ein Baby wird dich tatsächlich erfüllen.
Ob das wohl stimmt?, fragte sich Holly und streichelte über die zarten blonden Flaumlöckchen. Unerfüllt fühle ich mich eigentlich auch jetzt nicht, oder? Ich habe eine Familie, einen Job, der mir gefällt, und so viele Aufträge, wie ich will, dazu einen gut aussehenden, erfolgreichen Freund … Aber je länger sie darüber nachdachte, desto unsicherer wurde sie. Vielleicht fehlte tatsächlich etwas – eine Gewissheit, eine Richtung? Grace hatte wahrscheinlich recht, und sie sollte eigentlich in London nach Jobs suchen, statt sich hier mit einer Posttasche und einem Fahrrad zufriedenzugeben. Aber wenn sie wirklich daran dachte, ein Kind mit Murdo zu bekommen, müsste sie ihn dann nicht ein bisschen mehr als nur nett finden?
Liebe ich ihn?, überlegte sie. Ich mag ihn sehr, ich finde ihn attraktiv. Und wir haben Spaß zusammen. Zählt das? Ist das schon Liebe? Oder ist Liebe etwas viel Großartigeres, etwas, das ich aber nur mit jemand anderem erleben werde?
Vielleicht könnte ich auch ohne das leben, dachte Holly. Aber wenn ich jemals ein Kind haben will, dann müssen zuvor zwei Fragen beantwortet sein: Wer hat mich geboren? Und warum hat sie mich weggegeben?
Plötzlich wurde Holly klar, dass sie jahrelang nicht über ihre biologische Mutter nachgedacht hatte. Unbewusst hatte sie sich den Gedanken an sie verboten und ihre Existenz geleugnet. Aber es war ja auch nicht nötig gewesen, schließlich hatte sie bis letztes Jahr eine Mutter gehabt. Und auch eine Familie, die sie liebte und zu der sie gehörte. Aber seit den letzten Gesprächen mit ihren Schwestern war ihr klargeworden, dass auch die Vergangenheit ein Teil von ihr war, ob es ihr nun gefiel oder nicht. Ein Teil von ihr, den sie an ihre eigenen Kinder weitergeben würde.
Sie blickte in Aimees fragende blaue Augen. »Ich möchte wissen, wer ich bin«, flüsterte sie. »Hältst du mich jetzt für verrückt?«
Als Holly wieder zu Hause war, war es fast Mitternacht, das Haus war dunkel – bis auf ein einzelnes Licht in der Küche.
Ihr Dad hatte bereits den Pyjama an und bereitete sich seinen Spezialkakao in der Mikrowelle zu, der nur mit einem stärkenden Spritzer Whiskey perfekt war.
»Langer Tag?«, fragte er Holly voller Mitgefühl.
»Unglaublich.« Holly blickte auf der Suche nach etwas Essbarem in den Brotkasten, fand aber nur leicht trockene Cracker. »Wenn Grace mich jemals wieder überreden sollte, ihr einen Gefallen zu tun, lass ich mich einweisen.«
Harry lächelte. »Du konntest noch nie jemandem etwas abschlagen. Genau wie deine Mutter.«
Holly öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber wieder.
»Zumindest erwartet dich hier etwas Schönes«, fuhr Harry fort. »Die sind heute für dich abgegeben worden.« Er stand auf und holte einen gewaltigen Strauß roter Rosen aus der Speisekammer, die er dort verstaut hatte, damit sie frisch blieben.
Holly klappte der Unterkiefer auf. »Aber … wer hat mir denn heute Blumen geschickt? Ich habe doch gar nicht Geburtstag!«
Sie holte die Karte aus dem Strauß und las laut vor: »Für meinen Liebling Holly, zum dritten Jahrestag unserer Begegnung. Mit all meiner Liebe, Murdo.«
Harry zog die Augenbrauen hoch. »Nun, da hast du aber einen aufmerksamen jungen Mann. Ich konnte mir selbst den Geburtstag deiner Mutter, Gott segne sie, kaum merken.«
»Wow.« Holly kratzte sich am Ohr. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder sich Sorgen machen sollte. Musste man sich in einer normalen Partnerschaft den Tag der ersten Begegnung merken? Andererseits stellte sich natürlich die Frage, ob normale Partner ihn jemals vergaßen. Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. »Ich rufe besser an und bedanke mich.«
»So spät noch?«
»Ich kenne Murdo. Er geht nie vor eins ins Bett.«
Sie griff nach ihrem Handy, zögerte dann aber. Sie wollte sich freuen, aber aus irgendeinem Grund schaffte sie es nicht. Sie wollte in Murdos perfekte märchenhafte Zukunft passen, aber auch dieser Gedanke widerstrebte ihr irgendwie. Sie wollte ihm danken, weil er der wundervollste, freundlichste, liebevollste Freund war, den eine Frau sich wünschen konnte, aber …
Entschlossen klappte sie ihr Handy wieder zu und steckte es in ihre Handtasche. »Du hast recht, Dad, es ist schon zu spät. Ich rufe ihn morgen an.«
Es war erst halb fünf am Morgen, aber die Poststelle in Cheltenham brummte bereits vor Aktivität. Lange, überquellende »Särge« mit Briefen und Paketen standen schon bereit und warteten darauf, geleert zu werden. Nesta O’Hare, die diensthabende Abteilungsleiterin, wachte darüber, dass alle ihre Pflicht taten und die Briefe sortierten.
Holly summte leise vor sich hin, als sie die Post für ihre Runde ordnete. Sie liebte die Arbeit. Sie war angenehm monoton, und man konnte gut dabei nachdenken – obwohl ihr an diesem Donnerstagmorgen immer wieder das Gleiche durch den Kopf ging.
Holly und Nesta waren Freundinnen, seit sie in der Kindertagesstätte nebeneinander auf dem Töpfchen gesessen hatten, aber Holly hatte keine Probleme damit, ihren Anordnungen zu folgen. Und das war auch gut so, da es Nesta im Gegenzug auch nicht schwerfiel, Befehle zu erteilen. Sie war die geborene Chefin. Schon mit sechs Jahren hatte sie immer die Königin spielen wollen, und das war auch heute noch nicht anders. Schade nur, dass ihr Liebesleben nicht so glatt verlief wie ihre Karriere, dachte Holly. Nesta war schon mit fast jedem Mann in Cheltenham zusammen gewesen, aber sie schien das Musterbeispiel des ewigen Singles zu sein. Holly vermutete, dass schon der Richtige kommen musste, um sich in eine junge Frau zu verlieben, deren Wohnungsgenossin eine fünfzehn Zentimeter große Amazonas-Spinne namens Ronnie war.
»Hattest du ein schönes Wochenende?«, fragte Julian, ein schlaksiger junger Mann, dessen Sortierbrett neben dem von Holly stand.
»Nicht übel. Und du?«
Julians Gesicht hellte sich auf. »Ich war mit den Jungs beim Klippenspringen in Cornwall. Wow, da war so ein meterhoher Vorsprung, von dem aus wir direkt in die Brandung gehechtet sind. Einen Meter nach links, und die Felsen hätten uns aufgespießt. Sie waren spitz wie Nadeln, unglaublich. Hast du vielleicht Lust, nächste Woche mitzukommen?«
Bevor Holly ihm antworten konnte, dass sie sich lieber die Ohren absägen würde, tippte ihr einer der anderen Briefträger auf die Schulter. »Die Chefin möchte mit dir reden.« Der vierschrötige Kollege, den alle nur Welsh Dave nannten, wies mit dem Kinn Richtung Nestas Büro. »Lieber mit dir als mit mir, Kleine. Das Luder denkt, sie kann mir den Lohn kürzen, weil ich vier Minuten zu spät war.« Er schniefte. »Na, wollen doch mal sehen, was die Gewerkschaft dazu sagt.«
Scheiße, dachte Holly, als sie durch die Poststelle zum Büro ging. Was hatte sie wohl dieses Mal wieder falsch gemacht? Egal ob es sich um unkorrekte Uniformshorts oder ein Wurstbrötchen handelte, das aus der Personalkantine verschwunden war, Nesta war Perfektionistin: Sie sortierte sogar Gummibänder nach Größe.
Die Tür zu ihrem Büro war angelehnt. Holly klopfte kurz und trat ein. »Du wolltest mich sehen?«
Nesta saß in dem vollen und ziemlich schäbigen Büro am Schreibtisch und starrte trübsinnig auf ihren Computermonitor. An der Wand hinter ihr hing die offizielle Poststellenuhr – kaputt –, eine Pinnwand voller gelber Zettel und ein alter Wohltätigkeitskalender mit halbnackten männlichen Postbeamten.
»Du bist doch gut mit Worten«, sagte Nesta und blickte auf. »Was reimt sich auf ›Küche‹?«
»Ah – was?«
»Nein, nicht ›was‹, ›Küche‹«, wiederholte Nesta. »Ich versuche für diese blöden Grußkarten hier zu reimen, aber auf ›Küche‹ finde ich einfach nichts. Mach mal die Tür zu, ja?«, fügte sie hinzu. »Es braucht ja nicht gleich das ganze Büro mitzubekommen, dass ich Probleme habe.«
Holly schob die Tür mit dem Fuß zu. »Und ich dachte schon, du hättest mich hierher zitiert, um mir einen Anschiss zu verpassen.«
Nesta grinste verschmitzt. »Der kommt dann, wenn du keinen Reim für die bescheuerte Karte findest.« Sie fuhr sich mit der Hand durch die wilden rotbraunen Haare. »Dichter? Ich? Ich weiß gar nicht, warum ich mich überhaupt damit beschäftige.«
»Rutsch mal rüber, dann schauen wir es uns gemeinsam an.« Holly nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben die Freundin. Alle im Büro wussten von Nestas poetischem Ehrgeiz. Früher einmal hatte sie sogar ein paar Lokalsendungen darüber gemacht, aber da nichts dabei herausgekommen war, verfasste sie jetzt nur noch Reime für Freunde. »Für wen soll die Karte überhaupt sein?«
»Für den Geburtstag von Ken Roberts Mum. Sie kocht anscheinend genauso gut wie die Fernsehköchin Nigella Lawson, und weil ich eine Idiotin bin, habe ich behauptet, ich hätte die Karte bis heute Abend fertig.«
»Ach so, deshalb auch die Küche.« Holly betrachtete den Anfang des Gedichts. »Mehr hast du noch nicht geschafft? ›Sie sind eine Zauberin in der Küche‹?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht weiterkomme.«
»Okay, okay, ich denke ja schon nach!« Holly kratzte sich am Kopf. »Wie wäre es mit ›Flüche‹?«
»Sie ist Köchin, keine Seeräuberin.«
»Ich weiß es!«, rief Holly. Ihr war eine Idee gekommen. Sie zog die Tastatur zu sich heran und begann zu schreiben. Dann lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und zeigte mit großer Geste auf den Bildschirm. »Da, bitte – perfekt!«
Nesta blickte auf den Monitor. »›Du bist eine Zauberin in der Küche, deine Töpfe kochen ohne Gerüche‹«, las sie vor.
»Genial, was?«
»Nicht wirklich … aber es ist zumindest ein Anfang.« Nesta las den Zweizeiler noch einmal. »Die arme Frau ist dreiundsiebzig. Wahrscheinlich ist das alles sowieso an sie verschwendet. Aber trotzdem danke«, fügte sie hinzu. »Du bist eine gute Freundin. Möchtest du einen Kaffee?«
Holly blickte auf ihre Uhr. »Habe ich noch Zeit?«
»Dir steht eine fünfzehnminütige Pause zu, das hat die Gewerkschaft so festgelegt.« Nesta stand auf, schaltete den Wasserkocher ein und förderte einen zweiten Becher aus den Tiefen ihrer Schreibtischschublade zutage. »Ich weiß, dass du sie normalerweise ausfallen lässt, damit du früher mit deiner Runde fertig bist, aber heute würde ich mich über deine Gesellschaft freuen.«
»Bist du vielleicht ein bisschen deprimiert?«
Nesta nickte.
»Dann hat es also mit dem liebreizenden Leonard nicht geklappt?«
Nesta verzog finster das Gesicht. »Wie bitte, liebreizend? Wir wollten ins Theater, dann hat er in letzter Minute abgesagt – er müsse sich in Middleton um die Blauzungen-Krankheit kümmern. Ich habe ihm gesagt, er könne gleich da bleiben«, fügte sie hinzu. »Und solange ich lebe, werde ich mich nie mehr mit einem aus dem Ministerium einlassen.«
Also schon wieder einer, der dran glauben hätte müssen, dachte Holly. »Du hättest mir Bescheid sagen können, dann wäre ich vorbeigekommen.«
»Ich dachte, du wärst mit deinem attraktiven, sexy Freund unterwegs, schließlich war es dein freier Mittwoch.« Nesta schenkte ihnen beiden Kaffee ein und setzte sich.
»Das glaubst auch nur du. Den ganzen Tag bin ich für Grace und ihre blöde Modenschau durch die Gegend gefahren.« Holly schwieg. Sie hätte gerne weitergesprochen, war sich aber nicht sicher, ob sie es tun sollte, »Murdo hat mir Blumen geschickt. Zu unserem dritten Jahrestag.«
»Wie romantisch«, meinte Nesta. »Was hast du ihm geschickt?«
»Äh … nichts. Ich hatte überhaupt nicht an unseren Jahrestag gedacht.« Sie umfasste ihren Kaffeebecher mit beiden Händen. »Und jetzt weiß ich nicht, was ich zu Murdo sagen soll.«
»Wie wäre es mit ›Danke, Liebling‹?« Nesta musterte Holly aufmerksam. »Stimmt zwischen dir und Murdo irgendwas nicht?«
»Nein, nein, alles in Ordnung. Beängstigend in Ordnung.« Holly drehte die Tasse in den Händen. »Vielleicht ist gerade das das Problem. Ich meine, wenn alles in bester Ordnung ist, dann kann man sich von dem anderen auch nicht zurückziehen.«
»Und du möchtest dich von Murdo zurückziehen?«
»Ja … Nein. Ehrlich gesagt weiß ich es nicht.« Holly trank einen Schluck von dem heißen Kaffee, der ihr wie geschmolzene Lava durch die Kehle rann. »Einen Tag weiß ich ganz genau, was ich für ihn empfinde, und am nächsten … Nun, ich weiß, dass ich ihn liebe, ich bin mir nur nicht sicher, ob ich ihn auf die richtige Art liebe. Ob ich mein ganzes Leben mit ihm verbringen möchte. Klingt das blöd?«
»Ein bisschen«, gab Nesta zu.
»Und es gibt noch mehr Probleme«, fuhr Holly kläglich fort.
»Du lieber Himmel.« Nesta schloss die oberste Schublade ihres Schreibtischs auf und holte die Notfallkekse heraus. Sie schob der Freundin die offene Dose hin. »Hey, du bist doch nicht … Bist du etwa schwanger?«
»Um Gottes willen, nein!« Holly lachte. »Aber das ist in gewisser Weise das Problem.«
»Bist du … Kannst du keine Kinder kriegen?«
»Nein. Hör endlich auf, voreilige Schlüsse zu ziehen. Aber seit Adam und Aimee auf der Welt sind, möchte ich auch ein Kind. Und ich habe das Gefühl, dass es Murdo genauso geht.«
»Ah! Aber du willst nicht unbedingt ein Kind mit Murdo, falls er sich als das falsche Alphamännchen erweist?« Nesta konnte Holly ansehen, dass sie dieses Mal ins Schwarze getroffen hatte. »Aber früher oder später musst du so oder so eine Entscheidung treffen. Das muss jeder von uns. Und manche treffen die richtige Entscheidung, manche nicht, aber die meisten Leute sind trotzdem froh, endlich eine Familie zu haben. Bei mir jedenfalls wäre das so – wenn ich jemals die Chance bekäme.«
Holly nickte. »Stimmt, und deshalb überlege ich mir auch, wie es weitergehen soll.« Sie biss in einen Keks. »Aber es gibt noch eine Komplikation.«
»Ach, du lieber Himmel, Holly.« Nesta hob gespielt theatralisch die Hände. »Hört das denn nie auf?« Sie seufzte. »Na los, spuck‘s schon aus.«
»Du weißt doch, dass ich adoptiert bin.«
Nesta nickte. »Klar. Das habe ich immer schon gewusst. Aber das kann doch jetzt kein Problem mehr sein, oder?«
»Es ist erst eins geworden, seit Mum gestorben ist und ich ein Baby haben will. Bevor ich meine eigene Familie gründe, muss ich wissen, wo ich herkomme; wer ich bin, wenn du so willst – wer mich geboren und dann verlassen hat.«
»Du willst also nach deiner leiblichen Mutter suchen?«
»Wenn das möglich ist.« Zu ihrer Überraschung suchte Holly die Zustimmung von Nesta, wie sie es schon als Kind im Kindergarten gemacht hatte. »Was meinst du?«
»Ich glaube«, begann Nesta langsam, »ich glaube, du … du wirst damit ein Minenfeld betreten, und du solltest es dir extrem gut überlegen.«
Die Reaktion hatte Holly nicht erwartet. »Aber … aber viele Leute versuchen doch, ihre biologische Mutter zu finden.«
»Und viele Leute sind am Ende unglücklicher als vorher«, erwiderte die Freundin. »Das klingt vielleicht hart, aber ich verstehe ein bisschen was davon. Meine Mutter kannte eine Frau … Niemand wusste, dass sie mit dreizehn ein Kind bekommen und es zur Adoption freigegeben hatte. Achtzehn Jahre später stand das Mädchen auf einmal vor ihrer Haustür und wollte mit allen einen auf große, glückliche Familie machen.«
»Und was passierte dann?«, fragte Holly, der das Herz bis zum Hals schlug.
»Als der Ehemann der Frau davon erfuhr, schimpfte er sie eine Schlampe und verprügelte sie. Sie rief die Polizei, zeigte ihren Mann an, beide wurden geschieden, und mit der Tochter klappte es auch nicht. Du siehst also …«
»Oh nein«, hauchte Holly. »Das möchte ich niemandem antun. Aber … aber so muss es doch nicht kommen, oder? Und ich will mich auch nicht in das Leben dieser Frau drängen, ich möchte nur erfahren – warum sie mich weggegeben hat. Ich meine, habe ich dazu nicht das Recht?«
»Vielleicht«, gab Nesta achselzuckend zu. »Vielleicht aber auch nicht. Natürlich kann bei dir alles gutgehen. Ich sage ja nur, dass du gründlich nachdenken sollst, bevor du in der Vergangenheit wühlst.« Sie schwieg einen Moment. »Apropos, was ist eigentlich mit deinem Vater?«
»Dad? Mit ihm habe ich noch nicht darüber geredet.«
»Nein, nicht dein Dad. Ich meine deinen biologischen Vater. Der Mann, der freundlicherweise sein Sperma zur Verfügung gestellt hat, aus dem die Hälfte deiner DNA entstanden ist. Willst du ihn auch suchen?«
Erschrocken blickte Holly sie an. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. »Meinen Vater? Warum sollte ich das denn tun?«
»Na ja, immerhin braucht es zwei Menschen, um ein Baby zu machen«, erwiderte Nesta.
»Das mag ja sein«, sagte Holly, »aber deswegen ist er noch lange nicht mein Vater. Ein Vater ist jemand, der sich um dich kümmert und dich beschützt, und den habe ich zum Glück ja schon. Ich will auf gar keinen Fall den gefühllosen Kerl kennenlernen, der eine Frau so im Stich gelassen hat, dass sie ihr Kind weggeben musste.«
Holly dachte noch über Nestas Worte nach, als sie ihre Postrunde beendet hatte und bereits nach Hause fuhr, um ein Sandwich zu essen und zu duschen.