Ein Cottage in Cheltenham - Zoë Barnes - E-Book
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Ein Cottage in Cheltenham E-Book

Zoë Barnes

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Beschreibung

Ein Traumhaus mit kleinen Schönheitsfehlern: Der Wohlfühlroman »Ein Cottage in Cheltenham« von Zoë Barnes als eBook bei dotbooks. Als Claire erfährt, dass ihr unerwartet ein Häuschen in dem malerischen Cheltenham vererbt wurde, kann sie ihr Glück zunächst kaum fassen. Doch schon bald muss sie feststellen, dass das »Paradise Cottage« seinem Namen leider so gar keine Ehre macht: Das Dach ist undicht, die Verkabelung lebensgefährlich und der Holzwurm seit vielen Jahren unermüdlich am Werk … Aber aufgeben? Kommt gar nicht in Frage! Mit Feuereifer stürzt sich Claire auf die neue Herausforderung und plant ihr ganz persönliches Traumhaus. So lernt sie auch den charmanten Bauunternehmer Aiden kennen. Und plötzlich gewinnt eine ganz andere Frage für Claire größte Bedeutung: Wie bringt sie ihm bei, dass er unbedingt bei ihr einziehen sollte? »Eine Achterbahnfahrt von einem Roman: mit anrührenden Momenten, dann aber auch wieder zum Schreien komisch!« Kingsbridge Gazette Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der humorvolle Liebesroman »Ein Cottage in Cheltenham« von Zoë Barnes ist der erste Band ihrer Cheltenham-Reihe, deren Einzelbände unabhängig voneinander gelesen werden können. LeserInnen von Manuela Inusa und Anne Barns werden begeistert sein. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 565

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Über dieses Buch:

Als Claire erfährt, dass ihr unerwartet ein Häuschen in dem malerischen Cheltenham vererbt wurde, kann sie ihr Glück zunächst kaum fassen. Doch schon bald muss sie feststellen, dass das »Paradise Cottage« seinem Namen leider so gar keine Ehre macht: Das Dach ist undicht, die Verkabelung lebensgefährlich und der Holzwurm seit vielen Jahren unermüdlich am Werk … Aber aufgeben? Kommt gar nicht in Frage! Mit Feuereifer stürzt sich Claire auf die neue Herausforderung und plant ihr ganz persönliches Traumhaus. So lernt sie auch den charmanten Bauunternehmer Aiden kennen. Und plötzlich gewinnt eine ganz andere Frage für Claire größte Bedeutung: Wie bringt sie ihm bei, dass er unbedingt bei ihr einziehen sollte?

»Eine Achterbahnfahrt von einem Roman: mit anrührenden Momenten, dann aber auch wieder zum Schreien komisch!« Kingsbridge Gazette

Über die Autorin:

Zoë Barnes ist ein Pseudonym der britischen Bestsellerautorin Susan Morgan (1957–2009). Sie wuchs in der Nähe von Liverpool auf und lebte danach lange in der Grafschaft Gloucestershire – genauer gesagt im beschaulichen Cheltenham, wo auch viele ihrer romantischen Komödien spielen. Lange vor Helen Fielding und deren »Bridget Jones« war Susan Morgan eine Wegbereiterin der herrlich britischen, humorvollen Unterhaltungsromane. Sie war außerdem als Übersetzerin erfolgreich und stand in ihrer Freizeit als Mezzosopranistin auf der Bühne.

Bei dotbooks veröffentlichte Zoë Barnes: »Hochzeit in Cheltenham«, »Ein Cottage in Cheltenham«, »Frischer Wind in Cheltenham«, »Lieber voll verliebt als wunschlos glücklich«, »Alte Liebe rostet nicht, aber neue Liebe glänzt«, »Die Braut, die sich was traut«, »Die Insel des geheimen Glücks« und »Auf der Spur der Träume«.

***

eBook-Neuausgabe Januar 2021, Mai 2024

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1999 unter dem Originaltitel »Hot Property« bei Piatkus Publishers Ltd., London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Rrrums – Von wegen Traumhaus« im DTV, München. Die deutsche Neuausgabe erschien ursprünglich 2021 unter dem Titel »Wer in den Seilen hängt, kann endlich richtig schaukeln« bei dotbooks, München.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1999 by Zoë Barnes

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2001 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2020, 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: von Shutterstock/Daria Doroshchuck, Azurhino

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-98952-356-2

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/egmont-foundation. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Zoë Barnes

Ein Cottage in Cheltenham

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Ostrop und Joachim Peters

dotbooks.

Für Dmytround alle bei Piatkusfür ihr unvergleichliches Engagement.

Prolog

»Teletubbies auf die Hauptbühne bitte, Teletubbies ...«

Die Lautsprecheranlage plärrte so ohrenbetäubend über den Rasen von Brockbourne Hall, daß alle Schafe auf der angrenzenden Weide protestierend aufblökten. Doch sie wurden noch übertönt vom Geschrei mehrerer hundert Kinder, die einen Mann im Brontosaurus-Kostüm ins Teezelt verfolgten.

»Mein Gott«, keuchte Lorna Walsh, während sie die letzten paar Stufen zum zweiten Stock hinaufstolperte. »Ist das hier immer so?«

Einen Karton mit Büchern zwischen Knie und Kinn geklemmt, öffnete Claire mühsam mit der linken Hand die Wohnungstür. »Frag mich nicht«, antwortete sie fröhlich. »Offiziell arbeite ich erst ab morgen hier.«

Sie taumelte in die Wohnung. Lorna folgte ihr und zerrte mit beiden Händen einen riesigen Koffer hinter sich her.

»Ich kann mir nicht vorstellen, warum du ausgerechnet hier arbeiten möchtest«, fuhr Lorna fort. »Im Grunde kann ich mir nicht vorstellen, daß überhaupt jemand hier arbeiten möchte.«

»Wieso nicht? Die Bezahlung ist nicht übel – und eine Abwechslung ist es auch.«

»Abwechslung? Das ist das reinste Irrenhaus! Ich würde dir ja raten, es dir anders zu überlegen, solange du noch kannst – wenn ich bloß nicht so einen Horror davor hätte, dein Gepäck die ganzen Stufen wieder runterzuschleppen.«

Claire stand mitten in der Wohnung und sah sich um. Das war also ihr neues Zuhause. Zwei schöne große Zimmer, Bad und Küche ganz für sich allein, hübsche Flügelfenster, die geradewegs einem Gemälde von Rossetti entsprungen zu sein schienen, und ein derart dicker Teppich, daß man schon fast Angst haben mußte, seine Zehen darin zu verlieren. Sie hätte nie gedacht, daß es so nett sein könnte, über dem eigenen Arbeitsplatz zu wohnen.

»Ach komm, Lorna, so schlimm wie jetzt ist es bestimmt nicht immer. Meistens geht es um Konferenzen und Seminare und so was. Das hier ist eben ein Fest, bei dem die Kinder ihren Spaß haben sollen; da ist es doch klar, daß die Kleinen ein bißchen ... lebhafter sind.«

»Halt dich fern von Tieren und Kindern«, warnte Lorna. »Mir kannst du ruhig glauben, die machen nur Ärger. Ich muß es ja schließlich wissen; ich war das hintere Ende der Kuh Esmeralda in Skegness.«

»Das ist ja wohl kaum dasselbe wie ein Job als technische Leiterin in einem angesehenen Kultur- und Tagungszentrum«, spottete Claire.

»Angesehen?« Lorna lachte. »Dir ist anscheinend noch nie von einer Bande sechsjähriger Hooligans der Schwanz abgerissen worden.« Sie zerrte den übervollen Koffer noch einen halben Meter weiter, ließ ihn mitten auf dem Teppich liegen und brach auf seinem hochgewölbten Deckel zusammen. »Was hast du eigentlich da drin? Ziegelsteine?«

»Etwas viel Gewöhnlicheres.«

»Ah, verstehe. Nur die verwesenden Leichname von ein paar Ex-Liebhabern, stimmt’s?«

»Ja, und dann noch die Beute aus meinem letzten Bankraub.«

»Na, dann ist ja alles in Ordnung.« Lorna tauchte ihre Hand in einen der zahlreichen Pappkartons, die über das ganze Wohnzimmer verstreut waren. Eine Sekunde später hielt sie triumphierend einen leuchtendgelben Wasserkocher in die Höhe. »Tee, Miss Snow. Auf der Stelle. Sonst hauche ich noch auf dem Axminsterteppich mein Leben aus.«

»Betrachte dich als eingeladen.«

Lorna ließ sich auf den Rücken fallen. »Ich bin tot, Horatio.«

»Ja.« Claire schnappte sich den Wasserkocher aus der Hand ihrer besten Freundin und steuerte auf die Küche zu. »Wenn du nicht mehr zustande bringst als einen toten Hamlet, wundert es mich gar nicht, daß das Old Vic dich noch nicht genommen hat.«

Lorna richtete sich wieder auf und schüttelte ihre schulterlangen, schwarzen Locken. »Du lästerst garantiert nicht mehr, wenn ich erst mal Lady Lorna bin und du meine Garderobe mit frischen Orchideen und Champagner ausstaffieren mußt.«

Aus der Küche drang durch die offene Tür eine Stimme herüber. »Lorna?«

»Was ist?«

»Es ist keine Milch da für den Tee.«

»Dann trinken wir ihn eben schwarz.«

»Tee ist aber auch keiner da.«

»Mein Gott, Claire. Für eine, die mit Organisieren ihr Geld verdient, bist du erstaunlich unfähig.« Lorna kickte ihre Schuhe weg und tappte auf violetten Socken in die Küche. »Also was trinken wir jetzt? Eine schöne belebende Tasse heißes Wasser?«

Claire hielt Lorna eine verstaubte Flasche hin und wischte sich die Hände am Hosenboden ihrer Levi’s ab. »Voilà.«

Lorna verzog die Nase. »Was soll das denn sein?«

»Vimto cordial. Hab ich unter der Spüle gefunden.«

Lorna blies den Staub von der Flasche. »Bäh, das Zeugs trink ich nicht, das ist ja schon ganz braun!«

»Entweder das oder den Abflußreiniger.«

Lorna zuckte mit den Achseln. »Na gut. Aber nur mit einem Schokokeks, um den Geschmack zu überdecken.«

Wieder plärrten die Lautsprecher draußen so laut los, daß der Klang ganz verzerrt war. »Ms. Vance bitte zur Wurmfarm, Ms. Vance ...«

Lorna spitzte die Ohren. »Wurmfarm? Ich könnte schwören, daß der gerade ›Wurmfarm‹ gesagt hat.«

»Hat er auch. Das ist eine von diesen umweltfreundlichen Sachen – du weißt schon, wie diese Ameisenfarm, die wir mal im Bio-Unterricht gebaut haben. Erzieherisch besonders wertvoll. Aber die Kids fahren anscheinend voll drauf ab.«

»Dann schon lieber Zuckerwatte und Karussells.«

Claire schaute aus dem Küchenfenster, während sie wartete, daß das Wasser kochte. Zwei Stockwerke unter ihr fiel das Gelände von Brockbourne Hall in üppigem Grün zum fernen Fluß hin ab. Auf grünen Hügeln, die auf drei Seiten den Horizont begrenzten, weideten vereinzelte Herden von Schafen, die sich schon längst über nichts mehr wunderten. Sie hatten schon alles erlebt: Vertreterversammlungen, Wochenendkurse im Überlebenstraining, organisierten Familienspaß, Managementseminare und sogar Bryan Adams live. So schnell konnte sie nichts mehr erschüttern.

Sie blickte auf das Menschengedränge hinab und versuchte zu verstehen, um was es da eigentlich ging. Stelzenläufer, Menschen in nicht näher identifizierbaren Fellkostümen, Feuerschlucker, Karussells – alles war vertreten, und das nur für einen einzigen Tag. Monster-Trucks, Monster-Burger, Monster-Kids. Mein Gott, war das ein Chaos.

Nicht, daß Claire sich je von Unordnung abgestoßen gefühlt hätte; ganz im Gegenteil, im Chaos wurde sie erst so richtig munter. Probleme lösen, Dinge organisieren und mit Menschen umgehen, das war ihre starke Seite, ohne daß sie sich dabei besonders anstrengen mußte. Irgendwo im Hinterkopf hoffte sie insgeheim, eines Tages in eine Situation zu geraten, mit der sie nicht fertig wurde. Das wäre fast wie eine Erleichterung für sie gewesen.

Lorna und Claire standen zusammen am Fenster und tranken ihren Vimto – zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Lorna war groß, dunkelhaarig und vollbusig, Claire dagegen zierlich und hübsch in der Art von Goldie Hawn, mit kurzem naturblondem Haar. Aber die beiden Freundinnen sahen nicht nur unterschiedlich aus; sie waren auch so gut wie nie einer Meinung. Eigentlich komisch, daß sie schon so lange so gut miteinander klarkamen.

»Erste Hilfe zum Spielzelt bitte, Erste Hilfe zum Spielzelt.«

Lorna öffnete das Küchenfenster und streckte den Kopf hinaus. »Was macht denn der da unten?«

Claire stieß zu ihr. »Wen meinst du?«

»Der Kleine da im roten Anorak. Macht er es wirklich, oder seh ich schlecht?«

Claire unterdrückte ein Kichern. »Ich halt’s nicht aus! Wenn seine Mutter ihn erwischt ...«

Sie mußten so sehr lachen, daß sie das Klopfen an der Tür überhörten. Claire merkte erst, daß sie Besuch hatte, als ein Gesicht mit entschuldigendem Lächeln in der Küchentür erschien.

»Äh, hallo, ich bin Mattie Sykes. Wir haben uns bei Ihrem Vorstellungsgespräch schon mal gesehen, erinnern Sie sich?«

Claire lächelte und streckte ihr die Hand entgegen. »Hallo.« Etwas in Matties besorgtem Gesicht verriet ihr, daß sie nicht einfach nur gekommen war, um sich vorzustellen.

»Also, das tut mir jetzt echt leid, weil ich ja weiß, daß Sie offiziell erst morgen mit der Arbeit anfangen ...«

»Aber?« unterbrach sie Lorna.

»Aber könnten Sie vielleicht ganz schnell mit zum Spielzelt kommen? Die Smurfs dreschen auf Mr. Blobby ein und lassen einfach nicht locker ...«

Kapitel 1

»Und dann hat er angefangen zu schreien.«

Claire stocherte mit ihrer Plastikgabel konzentriert auf ihrem Pappteller herum, auf der Suche nach eßbaren Stücken in ihrem verkohlten Burrito. »Zu schreien?« fragte sie nach, ohne übermäßig interessiert zu klingen. »Wer?«

»Roderick Usher«, wiederholte Lorna mit einem verzweifelten Blick gen Himmel. »Mein Freund Worm.«

»Ach so, Worm. Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

»Hab ich doch!« stellte Lorna mit anklagendem Blick richtig. »Hast du mir überhaupt zugehört?«

»Aber natürlich«, verteidigte sich Claire. »Ich höre immer zu. Aber nach der Stelle, als der Regieassistent seinen Fuß durch das Diorama gesteckt hat, habe ich den Faden verloren.«

Claire schob ihren Teller mit einem dezenten Rülpser von sich weg und fragte sich zum x-tenmal, warum ein Abend mit Lorna eigentlich immer mit einem Essen in der Cotswold Cantina enden mußte. Zumal nicht wenige der Ansicht waren, daß Les, der Besitzer, sich besser auf die Herstellung von Mitteln gegen Verdauungsstörungen verlegen sollte. Damit würde er ein Vermögen machen.

Es war schon nach Mitternacht, und Claire und Lorna waren die letzten Gäste im Café. Wahrscheinlich hätten sie schon eine halbe Stunde zuvor den Heimweg angetreten, wäre nicht ein heulender Märzwind durch die Albion Street gefegt, der nasse Chipstüten aufwirbelte und an die Schaufenster klatschte. In Les’ Cantina war es wenigstens warm.

Lorna wirkte beleidigt. »Wenn dich nicht interessiert, wie mein Stück gelaufen ist, warum sagst du das dann nicht?«

»Klar interessiert es mich.«

»Den Eindruck machst du nicht gerade.«

»Jetzt spiel nicht die Mimose und red endlich weiter!«

Es war wie eine Abmachung, die sie seit ihrer Schulzeit einhielten. Lorna gab zustimmende Geräusche von sich, während Claire sich darüber ausließ, wie sehr ihr neuester Job sie doch unterforderte, und im Gegenzug ließ Claire mitfühlend Lornas endloses Repertoire von Theater-Mißgeschicken über sich ergehen.

Trotz aller gegenteiliger Anzeichen war Lorna auf dem besten Weg, ein ganz großer Star zu werden. Auch wenn es ein langer, steiniger Weg war. Zehn Jahre war sie nun schon im Geschäft und noch immer am Lokaltheater von Cheltenham, wo sie Rollen als Ersatz für Schauspielerinnen einstudierte, von denen noch nie jemand etwas gehört hatte, und zwischendurch mal eine Fernsehrolle als Mordopfer bekam. Doch das alles tat ihrer Entschlossenheit keinen Abbruch.

Claire war da ein ganz anderer Typ. Sie hatte es noch in keinem Job länger ausgehalten als in ihrem gegenwärtigen – ganze fünfzehn Monate, und manchmal kam es ihr vor, als seien es bereits vierzehn zuviel. Nicht, daß sie keine gute Arbeit geleistet oder ihre Arbeit nicht gemocht hätte; sie trug einfach eine schreckliche innere Unruhe mit sich herum. In den sechs Jahren, seit sie von der Schule abgegangen war, hatte sie nie eine Aufgabe gefunden, die für sie eine echte Herausforderung dargestellt hätte.

Sie unterdrückte ein Gähnen und versuchte, Les’ vielsagende Blicke auf die mit Fliegendreck verschmutzte Uhr einfach zu ignorieren. Normalerweise war sie um diese Zeit längst im Bett, und morgen hatte sie eine Tagung von Vertretern deutscher Biermarken zu organisieren, aber Lorna erwachte wie Draculas Braut erst nach Einbruch der Dunkelheit zum Leben.

»Also, wie war das noch mal«, nahm sie den Faden wieder auf, »Worm hat geschrien?«

»Klar hat er geschrien!« Lorna holte mit dem Arm aus, und sechzehn indische Armreifen klingelten im Chor. »Also, es ist Samstagnacht, und die eigentliche Darstellerin sitzt mit Durchfall auf dem Klo. Ich natürlich total aus dem Häuschen, ist doch klar; endlich kriege ich meine Chance, die Madeleine zu spielen. Alles läuft bestens, das Publikum frißt mir aus der Hand, und dann hat Worm, dieser Idiot ...« Sie schnaubte. »Das glaubst du mir nie.«

»Versuch’s einfach.«

»Der Schwachkopf nimmt alles wortwörtlich. Wenn im Skript steht, er soll jemanden erschießen, verlangt er nach echten Patronen. Und was macht er diesmal? Nagelt sich doch glatt versehentlich an die Tür der Krypta, ob du’s glaubst oder nicht.«

»Das gibt’s doch nicht!«

»So wahr ich hier sitze. Hat natürlich geschrien wie am Spieß, überall Blut, massenweise Sanitäter ...«

»O Lorna ...«

»Natürlich mußte die ganze Vorstellung abgebrochen werden, und – hör sofort auf zu lachen, das ist gar nicht witzig!«

»Ich lache doch gar nicht.« Claire versuchte so krampfhaft, nicht zu lachen, daß ihr eine halbe Tasse Kakao in die Nase schoß. »Und mit diesem Verrückten lebst du im selben Haus?« Sie nahm Zuflucht zu einer Papierserviette. »Ich hoffe bloß, du bewahrst deine scharfen Messer sicher auf.«

Lorna räusperte sich. »Warte nur, bis du selber ein größeres Trauma hast und dich an meiner Schulter ausweinen möchtest.«

»Ich habe aber keine Traumata«, erinnerte Claire sie. »So was ist reine Zeitverschwendung.«

»Immerhin hast du Kieran«, schoß Lorna zurück.

Claire lachte. Sie war erst seit ein paar Wochen mit Lornas Mitbewohner zusammen. Sie hatten eine so lose Beziehung, daß es ihr schwerfiel, ihn als ihren Freund zu betrachten – besonders nach dem dummen Streit an diesem Abend. »Kieran? Der ist kein Trauma, der ist ein ... ein ...«

»Auch so eine Zeitverschwendung?«

Claire dachte nach. »Einfach nur ein Kerl. Und du weißt ja, wie das ist mit mir und den Männern. Früher oder später gehen sie mir auf den Keks oder langweilen mich.«

»Und in welche Kategorie fällt Kieran?« fragte Lorna.

»Ich halte dich auf dem laufenden.« Claire hielt die Tasse mit dem Rest ihrer heißen Schokolade in beiden Händen. »Jedenfalls mag ich mein Leben so, wie es ist. Männer sind ja ganz süß, aber...«

Lorna blinzelte zweideutig. »Aber warum soll man sich mit einem Mars-Riegel zufriedengeben, wenn man den ganzen Süßwarenladen haben kann?«

»Lorna Walsh, du bist wirklich unmöglich.«

»Und du bist ein echter Glückspilz. Du hast einfach alles: Jede Menge Geld, eine kostenlose Wohnung in einer riesigen Villa, und dann lernst du auch noch all die geilen Rockstars kennen.«

»Stimmt schon«, gab Claire zu. »Aber vergiß nicht die Vertreter und die pickligen Azubis, die dir an den Hintern grapschen wollen. Ich organisiere schließlich nicht nur Open-Air-Rockkonzerte – und außerdem würde es dir furchtbar auf den Geist gehen, ständig irgendwelche Leute bauchpinseln zu müssen.« Sie kicherte. »Andererseits würde es dir natürlich Spaß machen, wenn mal was so richtig in die Hose geht.«

»Was soll denn das jetzt wieder heißen?«

»Daß es dir erst gutgeht, wenn du mitten in der Krise steckst.«

Lorna warf sich ihren Seidenschal über die Schulter. »Das ist eine gemeine Lüge.«

»Ähem«, tönte es dezent vom Tresen herüber. Claire drehte sich um. Les Lynch unternahm erbärmliche Versuche, mit einem Geschirrtuch eine Fliege zu erschlagen, die irgendwie der Insektenlampe entkommen war. »Wollt ihr zwei heute noch nach Hause, oder soll ich euch Kissen und Decken besorgen?«

Die Uhr an der Wand zeigte null Uhr fünfundzwanzig.

»Oho.« Claire fischte in ihrer Tasche nach einer Zehn-Pfund-Note. »Ich glaube, wir werden gleich rausgeschmissen.«

»Ich bin mit dem Zahlen dran«, verkündete Lorna prompt und begann, in ihrer Webpelztasche zu wühlen.

»Du hast doch gesagt, du hättest nur noch fünf Pfund, die bis nächsten Dienstag reichen müssen.«

»Ja, schon, aber vielleicht hab ich hier drin ja noch ein bißchen Kleingeld.«

»Also gut, du kannst es mir ja wiedergeben.« Sie führten diese Unterhaltung jede Woche aufs neue, sinnierte Claire; sie hätte sie Wort für Wort wiederholen können. Mittlerweile schuldete Lorna ihr wahrscheinlich um die drei Millionen, aber so waren die Schauspieler eben. Sie ging zum Tresen und knallte Les den Schein hin.

»Hat’s geschmeckt, die Damen?«

»Nein«, antwortete Claire fröhlich. »War das eigentlich Spülmittel in den Chimichangas?«

»Schon möglich«, räumte Les ein. »Entweder das oder die original mexikanische Kräuter- und Gewürzmischung.«

»Eher Spülmittel«, meinte Lorna, nahm Claires Wechselgeld und steckte es in die Tasche. Dann folgte sie Claire auf die Straße. Riesige Regentropfen platschten auf den Gehsteig, und die beiden Freundinnen blieben einige Minuten unter der Markise stehen. »Kommst du noch kurz mit zu mir?« fragte Lorna. »Oder bist du noch immer wütend auf Kieran?«

Claire überlegte. Es war schwer, auf Kieran wütend zu sein, zumal er es ohnehin kaum zu bemerken schien. Aber das war eben das Problem mit den Männern: Waren sie intelligent genug, um zu kapieren, womit sie dich verärgert hatten, glaubten sie meistens, sie hätten das Recht, dein ganzes Leben in die Hand zu nehmen. Deshalb hatte der Spaß so oder so bald ein Ende.

»Also gut«, sagte Claire. »Ich fahr dich nach Hause. Aber ich setze mich nicht in diesen Sessel mit der kaputten Sprungfeder.«

»Du bist verdammt hart im Verhandeln, Claire Snow.«

Obwohl Claire so nah wie möglich am Jardine Crescent parkte, waren sie und Lorna völlig durchnäßt, als sie endlich das kaputte Tor, das holprige Pflaster und die stachligen Brombeerranken, die zwischen den lange nicht mehr zurückgeschnittenen Sträuchern herausragten, hinter sich gelassen hatten.

Das Haus Nummer sechzehn wirkte, als wolle es sich für seine Existenz entschuldigen. Obwohl von der Bauweise her identisch mit all den anderen Häusern im viktorianischen Stil, zog es sofort alle Blicke auf sich wie ein krummer Zahn in einem ansonsten perfekten Gebiß.

Die Dunkelheit verbarg zumindest seine schlimmsten Eigenheiten wie die Risse im Putz oder den sogenannten Wintergarten, der wie ein dreidimensionales Puzzle aus Orangenkisten und verwittertem PVC an die Außenwand angeklebt schien. Dann war da auch noch der Garten – größtenteils eine willkürliche Ansammlung wildwuchernder Sträucher, die in krassem Kontrast standen zu einem langen, liebevoll gepflegten Beet, das die Leidenschaft des Besitzers für exotische Gemüsesorten widerspiegelte.

Und die Krönung von allem war, daß das Haus Jardine Crescent Nummer sechzehn wußte, daß es anders war als die anderen, hübscheren Häuser in der Straße. Es litt nämlich unter der schlimmsten Plage, unter der ein Haus mit einem gewissen gesellschaftlichen Anspruch nur leiden konnte.

Es hatte Mieter. Und zwar reichlich.

Regenwasser rann Claire den Nacken hinunter, als sie auf der Türschwelle von einem Fuß auf den anderen trat und darauf wartete, daß Lorna endlich den Hausschlüssel fand.

»Was ist das eigentlich für eine Geschichte mit Facade?« fragte Lorna und hielt ihre Handtasche schräg, damit der schwache Schein einer zwanzig Meter entfernten Straßenlaterne hineinfallen konnte.

»Ich hab’s dir doch gesagt, die fahren jetzt voll auf New Age ab. Sie wollen wieder zusammengehen, um in der Hall zum Millennium ein Sonnwendkonzert zu geben.«

Lorna zog die Augenbrauen hoch. »Ganz schöner Sprung von der neuen Romantik.«

»Hauptsache, die Kohle stimmt. Weißt du noch, wie sie sich getrennt haben, damals Mitte der Achtziger?«

»Ich war damals erst vierzehn, aber schon total verknallt. Wenn ich an diesen Hintern in der engen schwarzen Leder ...«

Claire schnippte mit den Fingern. »Stimmt ja. Du wolltest unbedingt eine Totenkopftätowierung und schwarzen Lippenstift, um genau wie Brent Lovelace auszusehen.«

»Und Mum hat gemeint, wenn ich es wagen würde, wie eine aufgewärmte Leiche nach Hause zu kommen, dann würde sie mich besser gleich auf den Friedhof befördern.« Lorna drehte den Schlüssel im Schloß und trat in den Flur, wo sie sich auf dem Teppich wie ein nasser Airedale-Terrier schüttelte. »Nicht, daß mir das was ausgemacht hätte; ich hätte es trotzdem getan.«

»Ich weiß. Nur, daß du dann plötzlich auf Adam Ant abgefahren bist und dir statt dessen einen Streifen quer über die Nase gemalt hast.«

Lorna lachte stillvergnügt in sich hinein. »Meine arme alte Mum.«

Sie durchquerten den Flur, vorbei an einer Leine mit nassen Nylon-Slips, die leise über dem Heizkörper vor sich hin dampften. Irgendwo tief im Schoß der Erde wurde Arrivederci Roma grottenschlecht auf einem Kornett in B gespielt.

»Wie kann nur ein Mensch hier jemals ein Auge zutun?« wunderte sich Claire. »Egal, wann ich hierherkomme – irgend jemand macht immer Krach.«

Lorna zuckte nicht mit der Wimper. »Ach, das ist nur Mr. Veidt im Tiefparterre. Das geht schon in Ordnung, der hört um Viertel vor mit dem Üben auf. Das macht er immer.« Sie stieß die Küchentür auf. »Kaffee?«

Claire schaute auf die Uhr. »Na gut, aber mach schnell, ich muß morgen früh raus.«

Das Küchenlicht ging an und enthüllte die beigefarbenen Wandpaneele aus Resopal, die niemals – nicht einmal 1972 – der letzte Schrei gewesen waren, und eine mit Sauce Bolognese bespritzte Mikrowelle.

Mitten in der Küche auf einem Stuhl schnarchte friedlich ein junger Mann. Er sah nicht schlecht aus, wenn man eher große, rauhe Typen bevorzugte – obgleich seine maskuline Wirkung etwas beeinträchtigt wurde durch die einzelne rote Rose in seiner Hemdentasche und das Kissen, das er fest an seinen männlichen Brustkasten drückte. Auf dem Tisch vor ihm standen die Überreste eines schnellen Abendessens: ein halbes Glas saure Gurken, ein Päckchen Erdnüsse und ein Erdbeer-Milchshake von McDonald’s.

»Süß«, schmunzelte Lorna. »Wie kann man nur auf so was böse sein!«

»Ganz leicht.« Claire spitzte die Lippen und versuchte, nicht zu lachen. Sie war schließlich noch immer sauer auf Kieran. Er hatte sich heute abend ziemlich danebenbenommen, und sie sah gar nicht ein, warum sie ihm so schnell verzeihen sollte. Na schön, es war ein dummer Streit gewesen über ein Paar Schuhe, die sie eigentlich so toll gar nicht fand. Aber daß er sie deswegen gleich mit seiner fünfzigjährigen Mutter verglichen hatte, war wirklich alles andere als schmeichelhaft. Andererseits war ihr natürlich klar, daß Kieran sich nicht absichtlich so taktlos benommen hatte. Er war eben ein hoffnungsloser Fall, sagte sie sich; nur schade, daß er gleichzeitig so nett war.

»Kieran.« Erst stupste sie ihn leicht an, dann schüttelte sie ihn, aber sie konnte ihm nicht mehr als ein unverständliches Gemurmel entlocken, bevor er seelenruhig weiterschlief.

»Spar dir die Mühe«, riet Lorna. »Der Knabe könnte glatt ein Erdbeben verschlafen. Weiß oder schwarz?«

»Weiß bitte.«

Lorna öffnete den Kühlschrank und wählte von den sechs oder sieben Milchpackungen eine aus. Auf dem aufgeklebten Zettel stand: »Kierans Milch – Finger weg!« Sie öffnete sie und schnupperte vorsichtig. »Bääh!« Dann überprüfte sie das Verfallsdatum. »Die ist ja schon vierzehn Tage überfällig!«

»Dann doch lieber schwarz.« Claire setzte sich auf die Tischkante und nahm sich eine Erdnuß. »Auf die Idee, selber Milch zu kaufen, bist du wohl noch nie gekommen?«

»Mein Gott, nein. Und Worm versteht sich bestens auf geklautes Klopapier. Er schnappt sich immer die Rollen aus dem ...«

»Erzähl’s mir lieber nicht, ich will es gar nicht wissen.« Claire betrachtete den schlafenden Koloß auf dem Stuhl. »Was meinst du, soll ich Kieran in die Wüste schicken?«

Lorna machte ein entsetztes Gesicht. »Nach all der Mühe, die es mich gekostet hat, euch zusammenzubringen? Kommt gar nicht in Frage!« Sie goß heißes Wasser in zwei Becher. »Ich wette, die Rose hat er für dich gekauft, um sich zu entschuldigen.«

»Nur schade, daß er nicht lange genug wach bleiben konnte, um sie mir zu geben.«

»Zumindest war das doch eine nette Idee. Komm schon, verzeih ihm. Nur dieses eine Mal.«

Kierans Nase zuckte im Schlaf. Er sah nicht gerade aus wie ein großer, kräftiger, stark behaarter Hydraulik-Ingenieur, der gerade fünf Jahre in Saudi-Arabien verbracht hatte, sondern eher wie ein kleiner Junge mit seinem Teddy im Arm.

Claire lächelte. »Na schön, vielleicht verzeih ich ihm. Aber erst lasse ich ihn noch ein bißchen schwitzen.«

***

Es war geradezu lächerlich spät, als Claire in ihre Wohnung in Brockbourne Hall zurückkam. So spät, daß sie eigentlich sofort ins Bett gemußt hätte, ohne sich auch nur abzuschminken.

Aber dank Lorna war sie nun hellwach und kein bißchen müde. Also zog sie ihren bequemsten Schlafanzug an, machte sich ein Glas heiße Milch und stellte sich ans Fenster, um den Regen zu beobachten, der in die Wasserbecken zwei Stockwerke unter ihr prasselte. Nicht jeder konnte von sich behaupten, in einem so hochherrschaftlichen Haus zu wohnen, wenn auch nur in einer Art Dienstwohnung.

In ihrer kleinen selbstgeschaffenen Welt fühlte sie sich angenehm warm und sicher. Seit sie in der Hall arbeitete, hatte sie ihr Zuhause mit Geschenken und Souvenirs, Bildern von Freundinnen und Freunden und ihrem Lieblingsfoto von ihrem Bruder Pete ausgeschmückt. Manchem wäre vielleicht aufgefallen, daß auf dem Kaminsims keine Bilder ihrer Eltern standen, an den Wänden keine Siegerurkunden von Schwimmwettkämpfen hingen und auf dem Kopfkissen kein abgenutzter Teddybär saß – nichts, aber auch gar nichts, was an ihre Kindheit erinnert hätte. Vielleicht fiel es tatsächlich manchen Leuten auf. Aber wenn, dann waren sie zu höflich, um nachzufragen.

Das Geräusch des Regens, der gegen Stein und Glas hämmerte, hatte eine angenehm hypnotische Wirkung. Claire fragte sich, was die Arbeit des nächsten Tages wohl bringen würde. Jedenfalls nichts, womit sie nicht fertig werden würde; da war sie sich ganz sicher. Vielleicht war es Zeit, weiterzuziehen und etwas anderes zu suchen.

Sie machte es sich in ihrem Sessel bequem und trank den letzten Schluck heiße Milch aus. Nein, entschied sie, als sie in den Schlaf abdriftete. Noch war es nicht soweit. Noch nicht ganz.

Kapitel 2

»Wer ist gleich wieder Johannsen? Ich habe es vergessen.« Naomi Vance wedelte aufgeregt mit dem Arm über den Schreibtisch und fegte den Tischrechner in den Papierkorb. Claire bückte sich und holte ihn wieder heraus.

»Johannsen ist der große Blonde«, sagte sie geduldig. »Sie haben ihn schon mal getroffen, erinnern Sie sich nicht? In Kidderminster.«

Claire versuchte, ihrer Chefin ein bißchen mehr geistige Beweglichkeit beizubringen, aber Naomi hatte unter Streß noch nie sonderlich klar denken können, Doktortitel hin oder her. So empfand sie nach fünf Jahren, in denen sie Symposien über Plankton organisiert hatte, die Brutalität des Wirtschaftslebens als echten Schock.

»Kidderminster? Wirklich? Mein Gott, ich kann mich einfach nicht erinnern.« Während ihre Chefin die Unterlagen auf dem Schreibtisch durchwühlte, fiel Claire auf, daß Naomi vergessen hatte, drei Fingernägel ihrer rechten Hand zu lackieren. »Wo sind eigentlich die Notizen für meine Rede? Ich habe sie ganz sicher hier irgendwo hingelegt. Sie kennen mich ja; ohne meine Notizen bin ich einfach nicht in der Lage ...«

»Hier sind sie doch.« Claire fischte sie unter einem Teller mit halbvertrockneten Schinkensandwiches heraus. Vorsichtshalber hatte sie schon mal Kopien von den Notizen ihrer Chefin gemacht und in ihrem eigenen Schreibtisch eingeschlossen – für den Fall, daß wieder einmal etwas Ähnliches passieren sollte wie damals, als Naomi ihre eigenen Personalakten in den Abfall geworfen hatte, die dann drei Wochen später auf einer Müllhalde wieder auftauchten. »Und hier ist die komplette Gästeliste für heute morgen.«

Naomi überflog die Gästeliste für die feierliche Eröffnung des neuen Anbaus von Brockbourne Hall, in dem Fortbildungsseminare für Manager abgehalten werden sollten. Michael Tang, Claires Kollege aus Singapur, machte vom anderen Ende des Büros aus eine geringschätzige Geste, aber Claire ging nicht darauf ein. Sie war von dem jungen Mann nicht allzu angetan.

Schließlich war Michael derjenige gewesen, der Naomi überhaupt erst so nervös gemacht hatte, indem er ihr ständig unter die Nase gerieben hatte, wie wahnsinnig wichtig der neue Anbau doch sei und wie viele überregionale Zeitungen zugesagt hätten, zur Eröffnung zu kommen. Michael schien eine perverse Befriedigung darin zu finden, andere bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit bloßzustellen, insbesondere seine Chefin. Claire hegte schon den Verdacht, daß er selbst mit dem Chefposten liebäugelte.

»Erklären Sie’s mir noch einmal«, bat Naomi und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Wer ist derjenige, der die Frau des anderen nicht ausstehen kann?«

Draußen kroch zögernd die wäßrige Märzsonne über den Rasen von Brockbourne Hall und erleuchtete ein blauweiß gestreiftes Festzelt vor dem Hintergrund üppig grüner Hügel mit den obligatorischen Grüppchen von Schafen. An manchen Tagen, dachte Claire, wäre es ganz erholsam, ein Schaf zu sein. Den ganzen Tag nichts anderes tun als essen, blöken und als Wollknäuel herumlaufen. Fast wie Naomi. Sie verdrängte den gehässigen Gedanken schnell wieder.

»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, beruhigte sie ihre Chefin. »Die politischen Angelegenheiten übernehmen wir schon, nicht wahr, Michael? Konzentrieren Sie sich ruhig auf Ihre Rede.«

Michael zwang sich zu einem Lächeln, während er in sein modisches neues Jackett schlüpfte. »Aber sicher, Naomi. Überlassen Sie alles ganz einfach uns.«

Alles an Michael Tang war scharf, dachte Claire. Scharfer Anzug, scharfe Zunge, scharfer Verstand. Eines Tages würde er sich noch selbst schneiden.

Naomi atmete tief durch und stand auf. »Wie sehe ich aus?«

»Großartig.« Mit einem diskreten Klaps auf den Chiffon-Schal ihrer Chefin sorgte Claire dafür, daß die Enden flach auf dem eleganten schwarzen Kleid lagen und ihre leicht untersetzte Figur in ein etwas besseres Licht rückten. »Aber bevor Sie gehen, bürste ich Ihnen lieber noch die paar Haare ab.«

»Haare?« Naomi fuhr mit dem Kopf herum, um sich die Rückseite ihres Kleides anzuschauen, und stieß einen Schreckensschrei aus. Ein dichter weißer Kreis von Katzenhaaren haftete wie ein Sitzkissen an ihrem Hintern. »O nein!« stöhnte sie. »Ich muß auf Snowballs Spezialdecke gesessen haben.«

»Das ist doch kein Problem.« Claire hatte die Kleiderbürste bereits in der Hand. Ihr Tonfall entsprach etwa dem, den sie einem weinenden zweijährigen Kind gegenüber angeschlagen hätte, aber er schien auch auf Naomi zu wirken. »Halten Sie einfach nur still; in einer Minute ist alles wieder in bester Ordnung. Na sehen Sie, schon erledigt.«

Der ganze Raum schien erleichtert aufzuatmen, als sich die Tür hinter Naomi schloß, nur anderthalb Minuten nach der vorgesehenen Zeit. Michael nahm sein Walkie-Talkie vom Schreibtisch und warf auch Claire eines zu. »Warum stärkst du ihr eigentlich immer wieder den Rücken?«

»Weil ich sie mag. Und weil sie meine Chefin ist.«

Die Bemerkung rief eine Mischung aus mitleidigem Lächeln und höhnischem Grinsen hervor. »Ach komm, Claire, wir wissen doch beide, daß sie den Posten nie hätte bekommen dürfen.«

»Aber du schon, was?« konterte sie.

»Zumindest weiß ich, wie ich meinen Job zu erledigen habe.«

»Na ja, das ist wohl Ansichtssache. Denn eigentlich gehören zu diesem Job auch Teamwork und Loyalität, falls du das vergessen haben solltest.«

Er lachte nur. »Du glaubst doch wohl nicht wirklich an dieses Gequatsche? Komm endlich auf den Teppich, Claire. Oder willst du dein Leben lang hinter hoffnungslosen Fällen herrennen?«

***

Gegen elf Uhr dreißig glich der Hang, der von der Hall zum Fluß hin abfiel, einem chaotischen Mosaik aus Mazdas und BMWs. Kein schlechter Andrang, dachte Claire. Nur dumm, daß niemand daran gedacht hatte, das Parken vernünftig zu organisieren.

Sie schaltete ihr Walkie-Talkie ein. »Mel?«

Mit aggressivem Knacken erwachte das Gerät zum Leben. »Was ist?«

Claire zuckte zusammen und nahm das Sprechfunkgerät ein Stück vom Ohr weg. Mel hatte die lauteste und eindringlichste Stimme von allen Leuten, die Claire je kennengelernt hatte, und dazu den entsprechenden Kleidungsstil. Sie kam aus Brixton und war stolz darauf. Ihr Motto war: Wenn Cheltenham mich nicht mag, wie ich bin, kann es sich ja verpissen.

»Könntest du vielleicht die Ordner irgendwie dazu bewegen, das Gebiet um die Einfahrt an der Bourton Road zu räumen? Der Lastwagen vom Partyservice kommt nicht mehr raus.«

»Also bitte, Claire, das ist doch nicht meine Schuld, sondern die von Julian. Ich hab dir doch gleich gesagt, daß er das nicht auf die Reihe kriegt!«

»Mel.«

»Kannst du das nicht Michael aufhalsen? Der ist doch gut im Arschkriechen.«

Allerdings, dachte Claire. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Michael Tang sich hemmungslos an den Leiter der Stuttgarter Delegation heranmachte. Der Junge ließ keine Gelegenheit aus, seine Karriere zu befördern. Manchmal ging ihr seine Art ganz schön auf den Geist.

»Mel«, wiederholte sie.

»Was ist?«

»Tu mir den Gefallen und mach’s einfach.«

Claire ging wieder den Hang hinauf und vorbei am Festzelt, das für das große Ereignis am Samstag aufgestellt worden war. Bei diesem Job drehte sich alles um Planung und Voraussicht. Natürlich hatte Mel in bezug auf Julian hundertprozentig recht, aber schließlich hatte jede Firma, für die sie je gearbeitet hatte, ihren Julian – ein Söhnchen des Chefs, das zu nichts anderem fähig war, als anderen Leuten im Weg zu stehen. Der Nachwuchs von Vorgesetzten war eben ein Berufsrisiko; man mußte irgendwie mit diesen Typen leben und ihnen eine Arbeit geben, bei der sie nicht allzuviel kaputtmachen konnten. Vor allem an einem Tag wie heute, wo so viel kaputtzumachen war.

Der größte Andrang herrschte vor dem Haus, wo einige der Einweihungsrede lauschten, während die meisten einfach nur die Gelegenheit nutzten, den neuen Flügel in Augenschein zu nehmen. Seine »innovative« Architektur hatte in der Lokalzeitung einen Dauerstreit ausgelöst, denn das einzige Zugeständnis an das ursprüngliche Gebäude waren zwei Wasserspeier aus Beton zu beiden Seiten der elektrischen Schiebetür. Der Anbau hatte ein Vermögen gekostet und war schlicht und einfach potthäßlich. Überhaupt war Brockbourne Hall alles andere als ein architektonisches Juwel. Nicht gefällig genug für einen Kostümfilm der BBC und nicht alt genug, als daß bereits Elisabeth I. darin übernachtet haben könnte, war das Gebäude dazu verdammt, sich seinen Lebensunterhalt durch harte Arbeit zu verdienen. Aber heute sah es gar nicht so übel aus. Die Sonne schmeichelte dem graugelben Stein und verlieh ihm einen warmen Schimmer.

Während Claire dem unverständlichen Gemurmel von Professor Johannsen, Dänemarks bedeutendstem Wirtschaftstheoretiker, lauschte, betrat Mattie Sykes die Szene und schüttelte ihr weises Haupt. Sie hatte sich ihre Fähigkeiten als Fachfrau für Öffentlichkeitsarbeit als alleinerziehende Mutter von drei Kindern erworben und würde selbst den UN-Sicherheitsrat innerhalb von fünf Minuten strammstehen lassen. »Naomi hätte die Amerikanerin reden lassen sollen«, seufzte Mattie.

Claire gab den Versuch auf, herauszufinden, ob Professor Johannsen nun eigentlich Englisch oder Dänisch sprach. »Welche Amerikanerin?«

»Die Professorin, die Krisenmanagement lehrt, indem sie ihre Studenten mit fünfzig Doller, aber ohne Hosen in Las Vegas aussetzt. Die hätte das Publikum im Griff.«

Claire lachte. »Johannsen ist eine Koryphäe für Wirtschaftswissenschaften, Mattie, und kein Robin Williams.«

»Schon klar. Aber eine Spur Charisma würde ihm trotzdem nicht schaden.«

Ließ die Eröffnungszeremonie auch an Unterhaltsamkeit einiges zu wünschen übrig, waren doch wenigstens die Medien zahlreich vertreten – ein Punkt, auf den Naomi Vance besonderen Wert gelegt hatte. Claire erblickte in der Menge etliche bekannte Gesichter der lokalen Szene: vom Regionalradio Chelt FM natürlich und vom Cheltenham Courant, ganz zu schweigen von einem runden Dutzend Wirtschaftszeitschriften. Publicity war letztendlich alles. Denn Publicity bedeutete Geld. Was machte es da schon aus, daß die meisten Journalisten nur hier waren, um sich kostenlos einen hinter die Binde zu gießen.

»Ich wollte damit eigentlich nur sagen«, erklärte Mattie, »daß wir keine Publicity kriegen, wenn die Presse keine ordentliche Story bekommt. Die ganze Kiste müßte ein bißchen lebendiger werden.«

Claire zuckte mit den Achseln. »Mir mußt du das nicht sagen, Matt. Ich bin nur für die technische Abwicklung zuständig und schon zufrieden, wenn die Klos nicht verstopfen.«

Höflicher Beifall erklang, als Naomi wieder ans Mikrofon trat. »Meine Damen und Herren, ich würde jetzt gerne unseren Gast, Herrn Professor...« Sie schaute auf ihren Handrücken, wo mit Filzstift der Name stand. »... Jup Johannsen aus ...« Blick. »... Kopenhagen bitten, das Band durchzuschneiden und das neue Gebäude für eröffnet zu erklären.«

Applaus erklang, diesmal etwas lauter. Naomi nahm den Professor beim Arm und bugsierte ihn zum Eingang des neuen Gebäudeteils. Er war so verblüfft, daß er anstandslos mitging. »Jetzt, Herr Professor«, flüsterte sie ihm weithin hörbar zu, während sie ihm eine versilberte Schere in die Hand drückte.

»Bitte?«

»Schneiden Sie es durch, Professor.« Naomi imitierte mit den Fingern eine Schere. »Jetzt.«

»Ah, ja, sehr gut.« Der Professor unternahm einen ersten Versuch, der jedoch mißlang, schaffte es dann aber beim zweiten Anlauf. Die Leute drängten sich schon ein paar Schritte nach vorn, um sich für den bevorstehenden Kampf ums kalte Büfett eine möglichst günstige Ausgangsposition zu verschaffen.

Naomi strahlte triumphierend, als sich die automatischen Türen hinter ihr öffneten und den Blick freigaben auf ein Foyer mit kühlen weißen Marmorsäulen und sündhaft teurem Teppichboden sowie ... Nein, das konnte nicht wahr sein. Hälse reckten und Augen weiteten sich. Aber es war definitiv ... ein Schaf.

Gleich hinter der Tür im Foyer stand ein sehr großes, reichlich bösartig aussehendes Schaf, aus dessen Maul ein halbes Baguette ragte. Als sich die Tür öffnete, schlenderte es so lässig in die Frühlingssonne hinaus wie Lee van Cleef zum nachmittäglichen Showdown in die Main Street.

Niemand rührte sich. Ein paar Sekunden lang herrschte totales, verblüfftes Schweigen.

»O mein Gott«, zischte Claire, den Blick auf das Baguette gerichtet. »Das kalte Büfett!«

Mattie stöhnte. »Der Teppich!«

Jemand lachte. Dann noch einer, und bald lachte die ganze Meute mit.

»Aua!« kreischte Naomi. »Verschwinde, weg da!«

Genau in diesem Augenblick blitzten gleichzeitig zwei Dutzend Kameras auf und fingen für die Nachwelt das Bild von Naomi Vance ein, die gerade von einem Schaf in den Hintern gebissen wird.

***

»Nein, nein, nein, nein, nein!« kreischte Petronella und hämmerte derart auf die Tasten, daß die Partitur vom Klavier fiel.

Die fünf Gestalten auf der Bühne des Jasper Kendall Theatre erstarrten in ihren Posen.

»Um Gottes willen!« stöhnte der männliche Hauptdarsteller, stampfte zum vorderen Bühnenrand und schaute in den Orchestergraben hinunter. »Was war denn diesmal wieder falsch?«

»Zu konventionell, mein Lieber, geradezu obszön konventionell.« Die musikalische Leiterin bückte sich, schnappte die Partitur vom Boden und knallte sie wieder auf den Notenständer. Sie schlug einen Akkord in A-Dur an, und zwar fortissimo. »Alle auf ihre Position.« Die Schauspieler schleppten sich wieder zu ihren vorherigen Standorten. »Noch mal von vorn. Und diesmal, lieber Glyn, mit etwas mehr Nachdruck bitte!«

Lorna saß mit Worm auf einem der vordersten Plätze und sah der ersten Besetzung bei der Probe zu. Die Nebendarsteller waren schon seit zwei Stunden da und noch nicht ein einziges Mal auf der Bühne gewesen. Aber das war bei den Proben immer so. Erst mußte man fünf Stunden rumhängen und sich zu Tode langweilen, um sich dann bis zwei Uhr nachts mit irgendeinem dämlichen Fächertanz abzumühen.

»Er ist die totale Fehlbesetzung«, sagte sie.

Worm drehte sich zu ihr um. »Meinst du Glyn?«

Sie wedelte mit ihrer Packung Pfefferminzbonbons in Richtung Bühne. »Du solltest die Rolle spielen, nicht der da.«

»Ich? Also ich weiß nicht recht.« Er kratzte sich mit seiner bandagierten Hand vorsichtig die Nase. »Die Leute haben schon zu oft die Verfilmung gesehen und deshalb gewisse Erwartungen.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel erwarten sie mit Sicherheit nicht, daß der Conférencier in Cabaret einen Meter dreiundneunzig groß ist.«

Martyn »Worm« Bennett streckte seine ungeheuer langen Beine aus und versuchte, es sich auf dem abgenutzten Klappsitz bequem zu machen. Jedes seiner Gelenke knackte protestierend. Das Jasper Kendall Theatre war vor über hundert Jahren erbaut worden, als die Menschen wohl noch kleiner gewesen waren, und Worm paßte einfach nicht in diese Sitze. Hager und blaß, sah er mit seinem krausen, rötlichblonden Haar aus wie ein magersüchtiger Bindfaden.

Lorna wischte seine Zweifel vom Tisch. »Und wenn ich’s dir sage, du wärst die ideale Besetzung. Keiner ist so wunderschön affektiert wie du.«

»Danke für das Kompliment«, erwiderte er und warf den Kopf zurück.

»Du weißt genau, was ich meine. Du bist wirklich gut.« Sie ließ sich tiefer in ihren Sitz rutschen und legte ihre Stiefel auf die Lehne vor ihr. »Mein Gott, ich sterbe hier noch vor Langeweile.«

Sie bedachte das Innere des alten Theaters mit einem kritischen Blick: die Royal Shakespeare Company war’s nicht gerade. Es bot zweihundert Zuschauern Platz, wenn es einem nichts ausmachte, auf dem Schoß von jemand anderem zu sitzen, und hatte eine Stuckdecke, die in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen bröckchenweise auf das Publikum herabregnete.

Glyn und Petronella waren kurz vor dem Ende ihrer großen Szene: Die musikalische Leiterin schaute immer verdrießlicher drein, und Glyn, die Hände in die Hüften gestützt, blickte finster auf sie herab und versuchte, mit seiner vollen Lebensgröße von einem Meter fünfundsechzig möglichst bedrohlich zu wirken.

»Wenn ich ›Corrie‹ spielen kann, meine Liebe, kann ich auch das hier spielen«, erklärte er mit funkelnden Augen. »Und ich spiele die Rolle so, wie ich sie verstehe.«

»Das ist genau der Punkt, mein lieber Glyn«, entgegnete Petronella mit giftigsüßer Stimme. »Du spielst das hier doch nur, weil’s für ›Corrie‹ nicht mehr reicht.«

»Volltreffer«, murmelte Worm.

Glyn trat noch einen Schritt näher an den Bühnenrand. »Was willst du damit sagen?« zischte er. »Willst du damit vielleicht sagen, daß ich ausgebrannt bin, oder was?«

»Aber mein Lieber«, erwiderte Petronella kühl. »Wie kommst du nur auf so was?«

»Jetzt hör mal zu, ich muß mir das von dir nicht bieten lassen. Ich bin ein bekannter Fernsehdarsteller, und ... und diese ...« Er machte eine angewiderte Geste. »Diese Dilettanten wären nicht mal für ein Laienspiel gut genug.«

Lorna zupfte Worm am Ärmel. »O verdammt, jetzt rastet er aus; wir werden noch den ganzen Tag hier rumhängen. Komm und kauf uns was zu essen.«

Die Cotswold Cantina lag gleich gegenüber vom Jasper Theatre und verdankte einen Großteil ihrer Kundschaft dem Theater – neben den langen Öffnungszeiten hauptsächlich deswegen, weil das Essen spottbillig war. Verdächtig billig, würden manche sagen. Schon so mancher am Hungertuch nagende Schauspieler hatte sich mit Les’ Sonderangeboten über Wasser gehalten, doch nie hatte jemand den Mut gehabt, nach den Zutaten zu fragen.

»Das Übliche?« fragte Les.

»Meinetwegen.« Worm zählte eine Handvoll Fünf-Pence-Stücke aus einer Plastiktüte in seiner Tasche. »Aber Vorsicht mit dem Knoblauch, Lorna hat heute nachmittag noch eine heiße Liebesszene.«

Lorna rümpfte die Nase. »Das nennst du eine Liebesszene? Mit dem? Kein Problem, Les, tu meinetwegen die doppelte Menge rein.«

Sie nahmen ihr Essen mit ans Fenster und setzten sich auf hohe runde Plastikstühle, die umkippten, wenn man sich auf ihnen zu schnell umdrehte. »Das ist einfach nicht fair«, sagte Lorna durch einen Mund voll lauwarmem Reis.

»Was denn?«

»Daß er all diese zweitklassigen Schauspieler für die besten Rollen holt und wir uns mit dem zufriedengeben müssen, was übrigbleibt. Ich meine, wir sind schließlich die reguläre Truppe; da könnte man doch eine gewisse Loyalität uns gegenüber erwarten.«

»Schon, aber Typen wie Glyn Marchant sind eben berühmt, weil sie im Fernsehen waren.«

»Na und? Wir werden eines Tages auch berühmt sein. Und zwar viel berühmter als er.«

»Hm«, brummte Worm nur. »Tatsache ist, daß das Jasper Verluste macht. Wir brauchen Stars, die die Leute ins Theater locken. Andernfalls ...« Er fuhr sich mit einem Finger über die Kehle.

»Stars? Solche wie den da?« schnaubte Lorna verächtlich. »Weißt du, was du machen solltest?«

»Was denn?«

»Du solltest Petronella dazu bringen, daß sie dich sämtliche männlichen Hauptrollen als Ersatzmann einstudieren läßt.«

»Wozu sollte das gut sein?«

»Na ja, das brächte dir immerhin ein paar Pfund zusätzlich pro Woche.«

»Stimmt. Für jede Menge Mehrarbeit. Und nach Steuern blieben mir dann gerade noch fünf Pence übrig. Das ist den Aufwand nicht wert.«

»Schon, aber ich könnte doch Glyn zu einem romantischen Abendessen zu zweit hierherlocken und dann mit einem von Les’ Mexiburgers vergiften, und dann wärst du der Star der Show!«

Les tauchte mit zwei Kannen Tee auf. »Was soll das Geschwätz von wegen Leute vergiften?«

Lorna lächelte süßlich zu ihm hoch. »War nur ein kleiner Scherz.«

»Ach ja?« Les knallte einen Becher vor sie hin. »Hier bitte. Zwei Stück Zucker, Extraportion Strychnin.«

»Herzlichen Dank.«

Lorna lächelte, als er hinausging, um die Pommes frites vom Vortag noch mal zu fritieren. Les Lynch amüsierte sie, und in gewisser Weise faszinierte er sie sogar. Er wirkte ausgesprochen unappetitlich, aber Lorna ließ sich davon nicht täuschen. Sie hegte den Verdacht, daß er gar nicht schlecht aussehen würde, wenn er sich nur rasieren und hin und wieder ein frisches Hemd anziehen würde. Gerüchten zufolge war er Journalist gewesen, bevor er die Cantina aufgemacht hatte, aber er sprach nie über seine Vergangenheit oder darüber, warum er ausgerechnet dieses Loch eröffnet hatte, und noch dazu in Cheltenham. Lorna liebte Geheimnisse. Vielleicht würde sie ihm eines Tages die Wahrheit entlocken.

Worm stöhnte auf. »O nein.«

Lorna drehte sich zu schnell auf ihrem Hocker herum, so daß die Sitzfläche fast abfiel. Worm hatte den Kopf in einem der lokalen Anzeigenblätter vergraben.

»Liest du wieder mal dein Horoskop? Laß mich raten: Du wirst einen zu kurz geratenen, untalentierten Schauspieler kennenlernen.«

»Schlimmer. Schau mal.« Worm schob ihr die Zeitung rüber und deutete auf die Überschrift auf Seite zwei.

FÄLLT AUCH KRÄNKELNDES THEATER DER STADTTEILSANIERUNG ZUM OPFER?

***

Kenton Mayberry, der Direktor von Brockbourne Hall, war weniger ein Geschäftsmann als eine Naturgewalt. Am Tag nach der Eröffnung kam er über Naomis Büro wie ein tropischer Wirbelsturm.

»Was zum Teufel soll das denn gewesen sein?« fragte er, noch während er hereinstürzte und Naomi einen ganzen Arm voller Zeitungen auf den Schreibtisch schleuderte.

Naomi schrumpfte sichtlich zusammen. »Also Mr. Mayberry ... Kenton ... Ich ...«

Claire stand auf, die Broschüre mit den geplanten Veranstaltungen in der Hand. »Vielleicht sollte ich Sie beide besser allein ...?

Mayberry ignorierte sie. Er schnappte sich ein Exemplar des Courant und hielt es Naomi vors Gesicht. »SCHAF ERÖFFNET KALTES BUFFET – Ich nehme an, Sie finden das witzig, was?«

Naomi schluckte. »In Anbetracht ...«

»Oder ziehen Sie die hier vor?« Der Daily Argus zeigte mitten auf Seite eins ein riesiges Foto mit der Überschrift GRUPPENBILD MIT SCHAF. »Wie finden Sie das?«

Claire hatte normalerweise ihr Temperament gut im Griff, aber im Fall von Kenton Mayberry war sie versucht, eine Ausnahme zu machen. Er war ein echter Schweinehund – genau der Typ, dem es Spaß machte, seine Untergebenen zu schikanieren, der Typ, den Claire immer gehaßt hatte. Und er ließ Naomi nicht einmal die Chance, sich zu verteidigen.

Als Mayberry kurz innehielt, um Luft zu holen, warf Claire ihrer Chefin einen vielsagenden Blick zu, der sie auffordern sollte, sich zur Wehr zu setzen. Aber Naomi war sehr blaß und still geworden.

»Mr. Mayberry«, begann Claire mit fester, klarer Stimme. »Vielleicht kann ich versuchen, die Sache von gestern zu erklären?«

Der Kopf des Direktors schnellte herum. »Wer sind Sie denn?«

»Claire Snow. Ich bin Naomis Stellvertreterin.«

»Ach, tatsächlich?« Die kleinen, rotgeränderten Augen musterten sie von Kopf bis Fuß. »Dann machen Sie sich mal nützlich und bringen Sie mir einen Kaffee.«

Claire öffnete den Mund, um ihm zu erklären, daß Kaffeekochen nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehörte, aber Naomi war schneller. »Das ist eine sehr gute Idee«, sagte sie eine Spur zu eilfertig. »Machen Sie doch bitte Mr. Mayberry einen Kaffee, Claire.«

Halt den Mund und geh, beschworen Naomis Augen sie. Laß mich die Angelegenheit auf meine Weise ausbügeln.

»Also gut«, sagte Claire und biß wütend die Zähne zusammen. »Kaffee.« Sie sparte sich die Mühe, Mr. Mayberry zu fragen, wie er seinen Kaffee denn gerne hätte. Er würde Instant-Kaffee mit Milchpulver in einem ungespülten Becher bekommen, und wenn ihm das nicht paßte – sein Pech.

Sie mußte sich schwer zusammennehmen, um nicht die Tür zuzuknallen, als sie in das Großraumbüro hinaustrat, das sie sich mit dem runden Dutzend Verwaltungsangestellten von Brockbourne Hall teilte. Mehrere Augenpaare waren auf sie geheftet.

»Probleme?« fragte Michael Tang.

»Mach dir keine Hoffnungen«, erwiderte sie sarkastisch.

Er wirkte verblüfft. »Wie bitte?«

»Ach, vergiß es.« Sie ließ ihn stehen und ging in die Küche. Sie verstand selbst nicht, was mit ihr los war; es war gar nicht ihre Art, sich so in etwas hineinzusteigern. Schließlich war das nur ein Job, und es war doch nicht ihr Problem, wenn Naomi Vance nicht genug Mumm hatte, sich zu verteidigen.

Sie füllte den Wasserkocher und stellte sich dabei vor, wie Kenton Mayberry sich versehentlich auf einen spitzen Gegenstand aus Metall setzte. Danach ging es ihr gleich viel besser. Dann fielen ihr wieder die uralten, angeblich die Verdauung fördernden Kekse ein, die in einer Blechdose unter der Spüle dahingammelten; sie holte sie heraus und arrangierte sie sehr hübsch auf einem Teller. Wenn sie Glück hatte, schmeckten sie absolut scheußlich, und vielleicht waren sie sogar leicht toxisch.

Als das Wasser kochte, streckte Mattie den Kopf zur Küchentür herein. »Claire?«

Sie blickte über die Schulter zurück. »Hmm?«

»Da ist ein Anruf für dich auf Apparat fünf.«

»Konntest du mir nicht was ausrichten lassen?«

»Er meint, es wäre wichtig.«

Claire folgte ihr zum nächsten Telefon und nahm den Hörer. Mayberry mußte eben ein bißchen länger auf seinen Kaffee warten. »Claire Snow, was kann ich für Sie tun?«

»Guten Morgen, Miss Snow. Mein Name ist Owen Pendle, Sie kennen mich nicht.«

Das klang verdächtig nach jemandem, der ihr etwas andrehen wollte. »Und Sie meinen, ich sollte Sie kennenlernen?«

Er lachte. »Ich denke schon.« Seine Stimme klang recht jung, aber nicht unbedingt wie die eines Handelsvertreters. »Ich arbeite für Doorman, Glossop & Pendle, eine Anwaltskanzlei in Cheltenham. Wir betreuen den Nachlaß der verstorbenen Miss Mary Willenhall. Soweit ich weiß, war Mary Willenhall Ihre Großtante – die Schwester Ihrer Großmutter mütterlicherseits. Ist das korrekt?«

Sie kramte in ihrem Gedächtnis. »Kann schon sein. Ich habe eine große Verwandtschaft, aber wir haben kaum Kontakt untereinander.« Sie fügte nicht hinzu, daß sie selbst von ihrer eigenen Mutter seit über drei Jahren nichts mehr gehört hatte. Mit dem Telefon zwischen Kinn und Brust wühlte sie unter den Papierstapeln auf dem Schreibtisch nach einem Stift. »Also ist diese Dame ... verstorben, wenn ich Sie richtig verstanden habe?«

»Leider ja. Vor ein paar Monaten. Das ist jetzt natürlich ein Schock für Sie, aber falls es Sie tröstet: Sie war schon sehr alt.«

»Verstehe.« Es war ein merkwürdiges Gefühl, vom Tod einer Verwandten zu erfahren und nicht das geringste dabei zu empfinden. Aber wie konnte man auch etwas empfinden für eine Person, an die man sich gar nicht erinnerte? »Können Sie mir irgend etwas über sie erzählen? Wo hat sie gelebt?«

»Gar nicht weit weg von hier. In Lilcombe Magna, gleich hinter Cirencester.«

Auch der Name des Dorfes sagte Claire nichts, aber in ihr regte sich eine sehr ferne Erinnerung, wie ein verschwommenes Bild. Wie alt war sie damals wohl gewesen? Sechs, sieben? Älter nicht. Sie war im Garten eines Cottages mit ihrem kleinen Bruder Peter und unzähligen Schmetterlingen, und eine nette Dame beugte sich zu ihnen herab und bot ihnen frisch gepflückte Erdbeeren in einer Porzellanschüssel an ... Und dann war das Bild verschwunden.

»Ich fürchte, ich erinnere mich nicht.«

»Nun, Ihre Großtante scheint sich jedenfalls an Sie erinnert zu haben. Wie ich schon sagte, starb sie vor ein paar Monaten, und seither haben wir verzweifelt versucht, Sie aufzuspüren.«

Claire blinzelte. »Mich? Und wieso? Sie wollen doch wohl nicht sagen, daß sie mir etwas hinterlassen hat?«

»Ein ziemlich großes Etwas sogar«, erwiderte der Anwalt. »Sie hat Ihnen ihr Haus vermacht.«

Kapitel 3

Die Hintertür des Paradise Cottage öffnete sich gerade eine Handbreit, so weit die Sicherheitskette es zuließ. In der Dunkelheit tauchte ein einzelnes Auge auf.

»Hau ab.«

Der Mann auf der Türschwelle steckte seine Nase in den Spalt. »Komm schon, Ted, du taube Nuß«, redete er auf den anderen ein. »Mach die Tür auf.«

»Warum sollte ich?« erwiderte die Stimme des Unsichtbaren.

»Ich will mich nur mal umsehen.« Er klappte den Kragen seiner Regenjacke hoch, um sich gegen den schneidenden Märzwind zu schützen. »Jetzt mach schon, es ist arschkalt hier draußen. Überleg doch mal«, argumentierte er, »warum willst du mich denn nicht reinlassen? Wo die Hütte doch sowieso bald mir gehört.«

»Da liegst du schief«, kam es von drinnen. »Weil nämlich der Anwalt den rechtmäßigen Erben gefunden hat. Also kannst du auch gleich verschwinden und mich in Ruhe lassen.«

Den Mann auf der Schwelle schien dies nicht sonderlich zu beunruhigen. »Und wenn schon. Dann kaufe ich es dem Erben eben ab. So oder so – am Ende gehört Paradise Cottage mir.«

***

Owen Pendle sprang auf, als Claire sein Büro betrat, und streckte ihr zur Begrüßung die Hand entgegen.

»Miss Snow, hallo. Nehmen Sie doch Platz.«

»Danke.« Sie knöpfte den Mantel auf und setzte sich.

Pendle war einer jener Leute, die ganz anders aussehen, als ihre Stimme am Telefon suggeriert: Er war mindestens 30 Zentimeter kleiner, mehrere Jahre jünger und längst nicht so sportlich. Dazu kamen eine kaffeebefleckte Kordhose, ein ausgeleierter beiger Pullover und die Art von wolligem Blondhaar, mit der die Natur Art Garfunkel geschlagen hatte. Äußerlich eine totale Enttäuschung, dachte Claire.

»Nett von Ihnen, daß Sie sich so spät am Abend noch Zeit für mich nehmen«, sagte sie, um das Eis zu brechen.

»Aber das ist doch selbstverständlich. Tut mir leid, daß Sie zwei Tage auf einen Termin warten mußten. Es muß schließlich ein ziemlicher Schock für Sie gewesen sein.«

Dem zumindest konnte Claire nicht widersprechen. »Allerdings. Mr. Pendle ...«

»Nennen Sie mich doch bitte Owen.«

»Sind Sie sich bei diesem Testament auch ganz sicher, daß ich die Begünstigte bin?«

Der junge Anwalt blätterte in einem Ordner, bis er die gesuchte Stelle gefunden hatte. »Wir bringen am besten erst mal die Formalitäten hinter uns. Können Sie bestätigen, daß Sie Claire Joanna Snow sind? Gegenwärtig wohnhaft in Brockbourne Hall bei Cheltenham?«

»Die bin ich.« Zum Beweis legte sie ihre Geburtsurkunde auf den Tisch.

»Ihr Vater ist Terence Arthur Snow, seit kurzem wieder verheiratet und wohnhaft in Kettering?« Sie nickte. »Haben Sie Geschwister?«

»Nur meinen Bruder Peter. Er ist vier Jahre jünger als ich.«

»Gut, gut. Und können Sie mir auch den vollständigen Namen Ihrer Mutter nennen?«

Claire fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Ihr Mund war plötzlich sehr trocken. »Veronica. Veronica Jane Snow.«

»Nun, dann scheint ja alles in bester Ordnung.« Pendle blickte auf. »Aber es ist kein Wunder, daß wir so lange gebraucht haben, um Sie aufzuspüren.«

»So? Und warum?«

»Miss Willenhalls Papiere sind leider ziemlich chaotisch. In diesem Ordner sind sechs oder sieben verschiedene Adressen von Ihnen angegeben, während wir von Ihrer Mutter anscheinend gar keine haben. Sind Sie seit Ihrer Kindheit oft umgezogen?«

Ihre Kindheit. Sie wünschte, sie würden das Thema wechseln. Claire redete nicht über die Vergangenheit, wenn es sich vermeiden ließ. Mochten die Leute sagen, was sie wollten – manche Wunden heilte auch die Zeit nicht.

»Meine Eltern haben sich getrennt, als ich noch ganz klein war; mit acht bin ich dann zu meinem Vater gezogen.«

»Ah ja«, sagte Owen Pendle betreten. »Ich habe schon so etwas gehört. Tut mir leid, daß wir uns so detailliert mit Ihrem Privatleben befassen müssen, aber ...«

»Das ist Ihr Job. Ich weiß.«

»Und was ist mit Mary Willenhall? Erinnern Sie sich gar nicht an sie?«

Claire zuckte mit den Achseln. »Im Grunde nicht. Nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, haben wir von den Willenhalls nichts mehr gehört. Und dann sind wir mehrmals umgezogen, weil mein Vater arbeitslos wurde – so haben wir wohl jeden Kontakt zu diesem Zweig der Familie verloren.«

Er holte ein altes Schwarzweißfoto aus dem Ordner. »Vielleicht hilft das hier Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge.«

Das Bild zeigte eine Frau um die Sechzig, die mit einem großen Weidenkorb voller Früchte unter einem Apfelbaum stand. Das Gesicht kam Claire sehr bekannt vor; sie war ganz sicher, es schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Aber wo und wann? Vielleicht irrte sie sich ja auch. Es war die Art von Gesicht, die man in Anzeigen für Treppenlifte und Filzpantoffeln sah.

Sie beugte sich vor, und ihr Drang, mehr zu erfahren, war ihr selbst peinlich. »Dieses ... Testament meiner Großtante ...«

»Aber natürlich, entschuldigen Sie, ich habe Sie schon viel zu lange auf die Folter gespannt.« Pendle legte einen Stoß vergilbter Papiere auf den Tisch. »Da haben wir’s. Letzter Wille und Testament von Miss Mary Willenhall, Paradise Cottage, Lilcombe Magna.« Er schob die Blätter hin und her, bis er das gesuchte gefunden hatte, und räusperte sich. »Auf Sie bezieht sich nur ein einziger Absatz, und der ist sehr kurz und unmißverständlich. Soll ich ihn vorlesen?«

Sie nickte. »Ich bitte darum.«

»Meiner Großnichte Claire Joanna Snow vermache ich mein Haus Paradise Cottage in Lilcombe Magna, Grafschaft Gloucestershire, seinen Garten und seinen gesamten Inhalt.«

Sie schluckte. Sie wußte nicht recht, ob sie das alles beängstigend oder aufregend finden sollte. »Darf ich mal sehen?«

»Aber natürlich.« Er reichte ihr die entsprechende Seite.

»Und Sie sind ganz sicher, daß ich damit gemeint bin?«

»Absolut sicher, Miss Snow. Das Haus gehört Ihnen. Und Ihr Bruder hat auch etwas geerbt. Ein Auto, glaube ich.«

Sie ließ sich in ihren Stuhl zurückfallen und schüttelte den Kopf. »Ich kann das einfach nicht glauben. Ihr Haus! Warum hätte sie es mir vererben sollen?«

»Mary Willenhall hatte selber keine Kinder.«

»Aber sie hat doch bestimmt nähere Verwandte gehabt? Oder Freunde? Ich habe sie doch nicht mal gekannt!«

Owen Pendle hob die Hände. »Tut mir leid, Miss Snow, alle Fragen kann ich Ihnen leider auch nicht beantworten. Aber ganz offensichtlich wollte sie tatsächlich, daß Sie ihr Cottage erben.«

»Ja, sieht ganz so aus.« Claire schaute auf ihre Hände, als erwarte sie, daß sie zitterten. »Ich war noch nie in so einer Situation. Was muß ich denn jetzt machen?«

»Natürlich gibt es noch ein paar juristische Formalitäten, aber bei denen kann ich Ihnen behilflich sein. Das Wichtigste ist erst mal, daß Sie sich entscheiden, was Sie mit Paradise Cottage anfangen wollen. Ach ja«, fügte er mit einem Fingerschnalzen hinzu, »fast hätte ich’s vergessen. Da wäre auch noch der gegenwärtige Mieter zu berücksichtigen.«

Claire blinzelte. »Was für ein Mieter?«

»Tut mir leid, ich hätte ihn schon vorher erwähnen sollen. Ein alter Mann wohnt schon seit Jahren da und kümmert sich um Haus und Grundstück. Ein richtiges altes Original, wenn ich mich recht erinnere; ich habe ihn vor vielen Jahren mal getroffen. Wie hieß er noch mal ... ah ja – Merriman. Theodore Merriman.«

»Mein Gott«, seufzte Claire verwirrt, »jetzt bin ich also auch noch Vermieterin!« Sie malte sich schon Lornas Kommentare zu diesem Punkt aus.

Pendle lächelte nachsichtig. »Das ist kein Grund zur Sorge, glauben Sie mir. Aber vielleicht sollte ich Sie besser begleiten, wenn Sie sich das Cottage ansehen? Dann könnte ich Sie vorstellen, wie es sich gehört.«