Die Insel - Elias J. Connor - E-Book

Die Insel E-Book

Elias J. Connor

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Beschreibung

Benjamin, Mitte 40, ist seit über vier Jahren mit seiner jungen Freundin Jane liiert. Obwohl ihre Beziehung sehr stabil und fest ist, fährt Jane in diesem Sommer alleine mit ihrer Familie in den Urlaub auf die idyllische Balearen-Insel Menorca. Benjamin ist sehr traurig, dass er sie nicht begleiten kann – gerade, weil Menorca doch der Ort ist, an dem Benjamin in der Kindheit und Jugend viele Sommer verbracht hat. So gerne hätte er seiner Freundin alle Orte, Strände und geheimen Plätze gezeigt. Während des Urlaubs stellt Jane jedoch fest, dass ihr die gemeinsame Zeit mit der Familie bald zu viel wird und beklagt sich zunehmend in Nachrichten und Anrufen bei Benjamin. Durch ihre Berichte erinnert sich Benjamin selbst an seine vergangenen Urlaube auf Menorca – aber bald schon erkennt er, dass diese Zeit nicht nur von schönen Erinnerungen geprägt war... Der gefühlvolle, emotionale Roman ist eine Hommage des Autors Elias J. Connor an die paradiesische Mittelmeer-Insel Menorca, die auf Tatsachen beruht und als eine Fortsetzung des Romans BENJAMIN angesehen werden kann.

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Elias J. Connor

Die Insel

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Kapitel 1 - Das Versprechen

Kapitel 2 - Mitteilungen

Kapitel 3 - Der erste Tag

Kapitel 4 - Die Insel der Träume

Kapitel 5 - Es wird besser

Kapitel 6 - Das Haus

Kapitel 7 - Natalie

Kapitel 8 - Der Ausflug nach Mahón

Kapitel 9 - Die Nachbarn

Kapitel 10 - Neue Arbeit

Kapitel 11 - Junge oder Mädchen

Kapitel 12 - Die Diskothek

Kapitel 13 - Ferne Umarmung

Kapitel 14 - Illusionen der Vergangenheit

Kapitel 15 - Das Meer

Kapitel 16 - Die Gefahr in der Tiefe

Kapitel 17 - Parallelen

Kapitel 18 - Die schönen Seiten der Insel

Kapitel 19 - Zu Hause

Über den Autor Elias J. Connor

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Impressum

Widmung

Für Jana.

Meine Freundin, meine Partnerin, mein Engel.

Ich bin sehr glücklich, dich an meiner Seite zu haben und bin sehr froh, dass du in mein Leben getreten bist.

Elias.

Kapitel 1 - Das Versprechen

Die Straßenbahnstation liegt am äußersten Rand von Köln, weit abseits des belebten Zentrums. Hier, in einem ruhigen, fast vergessenen Viertel, scheint die Zeit langsamer zu vergehen. Es ist ein heißer Sommertag, die Sonne steht hoch am Himmel und brennt auf die Straße herab. Der Asphalt der schmalen Straße, die an die Station grenzt, flimmert in der Hitze, als wäre er mit einem leichten Schleier bedeckt.

Die Haltestelle selbst ist einfach gehalten, vielleicht schon etwas in die Jahre gekommen. Ein schmaler, überdachter Wartebereich aus milchigem Plexiglas schützt die wenigen Reisenden, die hier manchmal auf die Straßenbahn warten, vor Regen und Wind. Heute jedoch wird die Überdachung nur wenig genutzt. Die Hitze staut sich unter dem Dach und macht das Warten im Freien angenehmer. Neben dem Wartehäuschen steht ein alter Fahrkartenautomat. Die Farbe ist abgeblättert, und der Automat wirkt, als hätte er bessere Tage gesehen. Er steht schief, als wäre sein Fundament im Laufe der Jahre abgesackt, doch er funktioniert noch – zumindest meistens.

Der Bahnsteig ist nicht besonders hoch, gerade so, dass man bequem in die Straßenbahn einsteigen kann. Er wird von wenigen Blumenkübeln gesäumt, die einmal eine freundliche Atmosphäre schaffen sollten. Jetzt sind die Pflanzen darin vertrocknet, gelb und braun verfärbt, Opfer der gnadenlosen Sommerhitze. Der Sand und der Staub, der von den nahen Feldern herein geweht wird, bedeckt die Ränder der Station, sammelt sich in den Ecken und verleiht dem Ort eine fast vergessene, melancholische Stimmung. Im Hintergrund hört man hin und wieder das Surren von Insekten, die sich in der schwülen Luft träge bewegen. Grillen zirpen irgendwo im hohen Gras.

Das Viertel selbst scheint stillzustehen, die Häuser, die die Station umgeben, wirken wie in einer Art Sommerschlaf. Viele Fensterläden sind geschlossen, um die Hitze draußen zu halten. Die Fassaden der kleinen Häuser sind in blassen Farben gehalten, einige davon verwittert und mit Rissen durchzogen. Efeu rankt sich über ein paar der Mauern, als würde es versuchen, das Alter und die Abnutzung der Gebäude zu verdecken. Hier ist nicht viel los – es gibt keine Geschäfte in unmittelbarer Nähe, keine Cafés oder belebten Straßen. Nur ein paar vereinzelte Autos stehen am Straßenrand, heiß von der Sommersonne, die sich auf ihren Motorhauben spiegelt.

Ein paar Passanten sind zu sehen. Sie bewegen sich langsam, fast träge, als hätten sie sich dem Rhythmus dieses abgeschiedenen Ortes angepasst. Eine ältere Dame mit einem Einkaufstrolley geht die Straße entlang, ihr Schritt ist ruhig und bedächtig. Sie trägt einen weiten Strohhut, um sich vor der Sonne zu schützen, und hält die Hand vor die Augen, um den Weg zu überblicken. Vorbei an der Straßenbahnstation biegt sie um eine Ecke, verschwindet in den Schatten eines der Häuser.

An der Haltestelle sitzt ein junger Mann auf einer der wenigen Bänke. Er trägt eine Sonnenbrille und ein locker sitzendes T-Shirt. Sein Gesicht ist in Gedanken versunken, die Kopfhörer in seinen Ohren machen deutlich, dass er sich in einer anderen Welt befindet, vielleicht begleitet von Musik, die ihn die Hitze und die Langsamkeit des Ortes vergessen lässt. Neben ihm lehnt ein Fahrrad an dem niedrigen Zaun, der die Gleise von der Straße trennt. Der Lack des Rahmens ist leicht abgeblättert, das Rad wirkt benutzt, aber gepflegt. Es scheint, als wäre es sein ständiger Begleiter auf den langen, ruhigen Straßen dieses Viertels.

Eine Mutter kommt mit ihrem kleinen Kind die Straße entlang. Das Kind, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, hält einen Eisbecher in der Hand, der an den Seiten bereits beginnt, in der Hitze zu schmelzen. Die Mutter wirkt entspannt, ihre Schritte sind gemächlich, als hätte sie alle Zeit der Welt. Sie wirft einen kurzen Blick auf die elektronische Anzeige, die an der Haltestelle hängt und die verbleibende Zeit bis zur nächsten Straßenbahn anzeigt. Noch zehn Minuten, dann wird die Linie 7 hier halten. Die Anzeige blinkt kurz, als wäre sie nicht ganz sicher, ob diese Information korrekt ist.

Die Geräusche des Viertels sind gedämpft, fast wie in Watte gehüllt. Kein lautes Hupen, kein Geschrei von Kindern, kein Dröhnen von Motoren. Nur das ferne Summen der Hochspannungsleitungen, die entlang der Bahngleise verlaufen, und das leise Rauschen des Windes, der durch die trockenen Blätter der Bäume an der Straße streicht. Ab und zu fährt ein Auto vorbei, aber es scheint, als bewege es sich wie in Zeitlupe, als würde es die Ruhe und Gelassenheit dieses Ortes respektieren.

In der Ferne, hinter einer Kurve, taucht plötzlich das leise Surren der Straßenbahn auf. Zuerst kaum wahrnehmbar, wird das Geräusch schnell lauter, bis man das Rumpeln der Räder auf den Gleisen deutlich hört. Die Straßenbahn, hellgelb und weiß, gleitet gemächlich um die Ecke, die metallische Oberfläche reflektiert das gleißende Sonnenlicht. Langsam rollt sie in die Station ein, das Quietschen der Bremsen durchbricht die Stille des Viertels.

Die Türen öffnen sich mit einem sanften Zischen. Der junge Mann mit den Kopfhörern steht auf, wirft einen kurzen Blick auf sein Fahrrad und entschließt sich, es mit in die Straßenbahn zu nehmen. Die Mutter und ihr Kind steigen ebenfalls ein, das Kind hüpft aufgeregt auf der Stelle, während die Mutter das geschmolzene Eis vorsichtig abwischt. Die Hitze scheint niemanden wirklich zu stören, sie gehört einfach dazu, ein Teil des Lebens an diesem abgelegenen Ort.

Nachdem die wenigen Passagiere eingestiegen sind, schließen sich die Türen wieder langsam, fast widerwillig, und die Straßenbahn setzt sich wieder in Bewegung. Das Surren und Rumpeln wird leiser, als sie aus der Station hinausfährt und bald hinter einer Biegung verschwindet, wo sie zwischen den Feldern und Bäumen weiter ihren Weg nimmt.

Zurück bleibt die stille Station. Die Anzeige an der Haltestelle springt wieder auf 30 Minuten um – die nächste Straßenbahn wird eine Weile auf sich warten lassen. Der leichte Wind trägt den Duft von trockenem Gras und wärmender Erde heran, und die Grillen beginnen wieder ihr Lied zu singen. Ein neuer Schatten bewegt sich über die Straße – ein Paar mit Hund schlendert an der Station vorbei, der Hund schnüffelt neugierig an einem der verstaubten Blumenkübel.

Es ist, als würde diese Straßenbahnstation an einem fernen Ort existieren, abseits des Trubels der Großstadt. Hier, wo die Zeit langsamer fließt und die Sommersonne alles in ein goldgelbes Licht taucht, scheint es keine Eile zu geben. Manchmal könnte man fast glauben, dass die Menschen, die hier warten, nur Träume sind, gefangen in einem endlosen Sommertag.

Es ist ein heißer Sommernachmittag. Die Sonne brennt auf die Pflastersteine vor der Straßenbahnstation, und ich sitze hier auf dieser harten Bank. Der Wind ist so schwach, dass er sich kaum bemerkbar macht, während ich meinen Blick über die leeren Gleise schweifen lasse. Es ist ruhig in diesem Viertel, viel zu ruhig, fast so, als wäre ich der einzige Mensch weit und breit. Das Warten fühlt sich heute anders an. Schwerer.

Ich schaue auf die Uhr. Sie müsste jeden Moment kommen. Dieser Nachmittag gehört noch uns, aber dann?

Mein Bein wippt unruhig auf und ab, ein Tick, den ich in solchen Momenten oft habe. Die Leute schauen mich manchmal komisch an, aber ich kann das nicht kontrollieren, also ignoriere ich sie. Es fühlt sich ein bisschen an wie eine Uhr, die in meinem Kopf tickt, mich daran erinnert, dass die Zeit vergeht – und heute vergeht sie nicht schnell genug.

Dann sehe ich sie.

Jane kommt die Straße entlang, und sofort spüre ich, wie sich mein ganzer Körper entspannt. Sie trägt ihren grünen Sommerrock, den ich so an ihr liebe, und ihre braunen Haare sind im Nacken zu einem losen Zopf zusammengebunden. Die Sonnenbrille sitzt schief auf ihrer Nase, was sie in meinen Augen noch niedlicher macht.

Ich stehe auf, während sie näher kommt, und ich kann das Lächeln nicht unterdrücken, das sich auf mein Gesicht stiehlt. Sie wirkt etwas erschöpft, aber als sie mich sieht, hellt sich ihr Gesicht auf, und das reicht, um mein Herz ein paar Takte schneller schlagen zu lassen.

„Da bist du ja endlich“, sage ich, während sie den letzten Schritt auf mich zu macht.

„Es tut mir leid, ich musste noch ein paar Sachen erledigen“, antwortet sie und klingt dabei fast entschuldigend.

„Ist doch egal“, erwidere ich und ziehe sie in eine sanfte Umarmung. Ich atme ihren vertrauten Duft ein, während ich meine Lippen auf ihre lege. Es ist nur ein kurzer Kuss, aber er bedeutet mir viel.

„Wie war dein Tag?“, frage ich, als ich sie loslasse und wir uns neben die Gleise stellen. Mein Arm liegt wie selbstverständlich um ihre Schulter, während wir auf die Bahn warten.

„Lang“, sagt sie mit einem Seufzer. „Aber jetzt ist es endlich vorbei. Keine Arbeit mehr für drei Wochen. Ich bin froh, dass ich endlich mal von der Arbeit abschalten kann.“

Ich spüre, wie mein Magen sich bei ihren Worten zusammenzieht. Drei Wochen. Drei Wochen ohne Jane. Drei Wochen, in denen sie mit ihren Eltern nach Menorca fliegt, während ich hier bleibe und arbeite. Es fühlt sich falsch an, dass wir so lange getrennt sein werden, und obwohl ich versuche, mir das nicht anmerken zu lassen, weiß ich, dass sie es merkt.

„Ich wünschte, du würdest nicht ohne mich fliegen“, sage ich leise. Mein Blick ist auf die Schienen gerichtet, während ich spreche.

Jane legt ihre Hand sanft auf meine Brust, direkt über mein Herz. „Ich weiß, Harrylein. Ich wünschte auch, du könntest mitkommen. Aber du weißt doch, wie meine Eltern sind...“

Sie nennt mich immer Harrylein. Das ist der Spitzname, den sie mir damals, als wir zusammen kamen, gegeben hat. Jane ist ein großer Harry-Potter-Fan und vergleicht mich oft mit Harry.

Ich nicke, obwohl ich ihre Eltern nicht wirklich verstehen kann. Nach vier Jahren Beziehung könnte man doch erwarten, dass ich mit in den Urlaub fahren darf. Aber Janes Eltern sind kompliziert. Sie haben es zwar akzeptiert, dass ihre erwachsene Tochter, 26 Jahre alt, mit einem älteren Mann von Mitte 40 zusammen ist, und sprechen ihre Bedenken selten direkt aus. Trotzdem fühle ich es jedes Mal, wenn ich ihnen begegne. Diese Blicke, diese leisen Kommentare.

„Ich werde dich vermissen“, sage ich schließlich, als ob diese Worte ausreichen könnten, um das Gewicht der kommenden Wochen leichter zu machen.

„Ich dich auch“, antwortet Jane und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. „Aber drei Wochen sind doch gar nicht so lange, oder? Wenn ich zurück bin, machen wir etwas Schönes.“

Ich versuche, das Lächeln zu erwidern, aber es fällt mir schwer. „Klar,“ sage ich, aber in meinem Kopf drehen sich die Gedanken. Ich bin nicht gut darin, allein zu sein. Jane und ich sind so viel zusammen, dass die Vorstellung, drei Wochen ohne sie zu verbringen, mich unruhig macht. Sie ist wie ein Anker in meiner Welt, und wenn sie weg ist, fühle ich mich schnell verloren.

„Ich habe dir schon ein paar Bücher rausgesucht“, sagt sie plötzlich, als wollte sie meine Gedanken erraten. „Für die Zeit, in der ich weg bin. Und vielleicht könnten wir abends telefonieren?“

Ich nicke dankbar. Jane weiß, wie wichtig Routinen für mich sind, und sie bemüht sich immer, mir zu helfen, wenn sie durchbrochen werden. Genau so ergeht es ihr ja auch. Als Autisten kennen wir dieses Problem nur zu gut. Vielleicht werde ich es irgendwie schaffen, die Zeit ohne sie zu überstehen. Zumindest hoffe ich das.

In der Ferne höre ich das leise Quietschen der Straßenbahn, und kurz darauf taucht sie um die Ecke auf. Die Türen öffnen sich, und wir steigen ein. Es sind nur wenige Leute in der Bahn, und wir finden leicht einen Platz. Jane setzt sich ans Fenster, ich neben sie, und lehne mich zurück, während die Bahn sich in Bewegung setzt. Sie fährt uns in Richtung Stadtzentrum, zum Einkaufszentrum am anderen Ende von Köln.

Jane legt ihren Kopf auf meine Schulter, und ich spüre, wie ihre Wärme mich beruhigt. Es ist ein vertrautes Gefühl, so zusammen zu sitzen. Ich weiß, dass ich diese Nähe in den kommenden Wochen vermissen werde.

„Freust du dich auf den Urlaub?“, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne.

„Ja, schon“, antwortet sie und hebt ihren Kopf leicht, um mich anzusehen. „Aber es wäre schöner, wenn du mitkommen könntest.“

„Ich weiß“, sage ich leise und starre auf die vorbeiziehende Stadt. „Vielleicht nächstes Jahr?“

„Vielleicht“, sagt sie, aber ihre Stimme klingt unsicher. Wir wissen beide, dass es an ihren Eltern liegt. Ihre übertriebene Vorsicht, ihre ständige Skepsis mir gegenüber. Manchmal frage ich mich, ob ich sie je wirklich überzeugen kann, dass ich gut für Jane bin.

„Was wollen wir im Einkaufszentrum machen?“, frage ich, um das Thema zu wechseln.

„Ich wollte mir noch ein paar Sachen für den Urlaub kaufen“, antwortet sie. „Und vielleicht könnten wir danach noch etwas essen?“

„Klingt gut.“ Ich versuche, in ihrer Gegenwart zu bleiben, nicht zu sehr in Gedanken abzudriften. Es fällt mir schwer, den Gedanken an die bevorstehende Trennung loszulassen, aber ich will diesen Tag nicht mit Melancholie verderben. Es ist Janes letzter Arbeitstag vor ihrem Urlaub, und wir sollten das feiern.

Die Bahn hält an einer weiteren Station, und ein paar neue Fahrgäste steigen ein. Ein älterer Mann setzt sich in unsere Nähe, und ich kann spüren, wie seine Blicke kurz auf uns ruhen. Es passiert oft, dass die Leute uns ansehen. Jane und ich passen wohl nicht in das Bild, das sie von einem typischen Paar haben. Sie ist so viel jünger als ich, und unsere Eigenheiten fallen den Menschen oft auf, auch wenn sie es nicht immer laut aussprechen.

„Willst du eigentlich irgendwas machen, während ich weg bin?“, fragt Jane plötzlich und reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich zucke mit den Schultern.

„Arbeiten, denke ich. Vielleicht ein bisschen Lesen. Du weißt ja, wie das ist.“

Sie nickt, und ich spüre, dass sie etwas sagen will, es aber nicht tut. Stattdessen nimmt sie meine Hand und drückt sie leicht. Wir sitzen den Rest der Fahrt in Stille, aber es ist keine unangenehme Stille. Es ist die Art von Stille, die zwischen uns existiert, wenn Worte nicht nötig sind.

Als die Bahn das Einkaufszentrum erreicht, steigen wir aus und betreten das klimatisierte Gebäude. Die Kühle im Inneren ist eine willkommene Erleichterung nach der drückenden Hitze draußen, und Jane lässt meine Hand los, um sich die Haare aus dem Nacken zu wischen.

„Wo wollen wir zuerst hin?“, frage ich, während wir uns durch die Menge bewegen.

„Lass uns erst in den Laden da drüben gehen“, sagt Jane und zeigt auf einen kleinen Laden mit sommerlicher Kleidung im Schaufenster. „Ich brauche noch ein paar leichte Sachen für den Urlaub.“

„Klar“, sage ich und folge ihr hinein. Während sie durch die Regale stöbert, halte ich mich etwas im Hintergrund. Kleidung einkaufen ist nicht unbedingt etwas, das mir Spaß macht, aber ich tue es gern für sie. Außerdem gibt es mir die Möglichkeit, sie zu beobachten – die Art, wie sie sich bewegt, wie sie konzentriert die Stoffe prüft, bevor sie sich für etwas entscheidet.

„Was hältst du von dem hier?“, fragt sie plötzlich und hält ein leichtes, weißes Kleid hoch. Es sieht perfekt aus für warme Tage am Strand, und ich nicke zustimmend.

„Steht dir bestimmt gut“, sage ich, und sie lächelt.

Nach einer Weile haben wir alles gefunden, was sie braucht, und wir machen uns auf den Weg in den Food Court. Jane entscheidet sich für einen Salat, während ich mich für eine Portion Sushi entscheide. Wir setzen uns an einen der kleinen Tische, und während wir essen, versuche ich, den Gedanken an den bevorstehenden Abschied zu verdrängen.

Doch irgendwann kann ich es nicht mehr zurückhalten.

„Drei Wochen sind wirklich lang“, sage ich plötzlich, mehr zu mir selbst als zu ihr.

Jane legt ihre Gabel ab und sieht mich an.

„Ich weiß, Harrylein. Aber wir schaffen das, okay? Wir haben schon so viel zusammen durchgestanden, und das hier... das ist nur eine kleine Pause. Danach wird alles wieder wie vorher.“

Ich nicke, auch wenn ich nicht sicher bin, ob sie Recht hat. Aber ich weiß eines: Ich werde diese drei Wochen irgendwie überstehen. Wegen ihr.

Wir verlassen das Einkaufszentrum durch einen Seiteneingang, und die warme Sommerluft schlägt uns entgegen, als wir nach draußen treten. Der Kontrast zur klimatisierten Kühle drinnen ist spürbar, aber angenehm. Es riecht nach heißem Asphalt, und irgendwo in der Ferne summt eine Biene über die Blumenbeete am Rand der Gehwege.

„Lass uns da hinten hinsetzen“, schlage ich vor und deute auf eine kleine, abgelegene Bank unter einem Baum. Sie steht etwas abseits, fast versteckt, als würde sie nur auf uns warten. Jane nickt, und wir steuern darauf zu. Die Bank ist alt, die Farbe an den Holzlatten blättert ab, aber es ist der perfekte Platz, um für einen Moment die Welt auszuschließen.

Wir setzen uns, und sofort legt sich eine tiefe Ruhe über uns. Jane schmiegt sich an mich, und ich lege meinen Arm um sie, halte sie fest, als hätte ich Angst, sie könnte jeden Moment verschwinden. Ihr Kopf ruht auf meiner Schulter, und ich atme tief ein, spüre den Duft ihrer Haare und den warmen Hauch ihrer Haut. Es ist dieser eine Moment, der sich anfühlt, als könnte er ewig dauern – und ich wünsche mir, dass er es tut.

„Ich liebe dich“, flüstere ich plötzlich, ohne lange nachzudenken. Die Worte kommen einfach heraus, wie ein Fluss, der sich seinen Weg bahnt. „Und ich werde dich immer lieben.“

Jane hebt den Kopf und sieht mich an, ihre Augen sind sanft und voller Gefühl. Sie braucht keinen Moment zu überlegen, um zu antworten. „Ich liebe dich auch“, sagt sie leise. „Für immer.“

Ihre Worte treffen mich tief, so tief, dass ich fast vergesse, zu atmen. Wir sagen nichts mehr, sitzen einfach nur da, eng umschlungen, während die Zeit stillzustehen scheint. Es fühlt sich an, als wären wir allein auf der Welt, und die Hektik des Einkaufszentrums, der Verkehr, die Menschen – all das ist plötzlich so weit weg, dass es keine Rolle mehr spielt.

Die Sonne wandert langsam über den Himmel, und irgendwann bemerke ich, dass der Tag in einen sanften Abend übergeht. Die Schatten werden länger, die Luft kühler, und die Vögel beginnen ihr leises Abendlied. Jane seufzt leise, und ich weiß, dass der Moment, in dem sie gehen muss, immer näher rückt. Aber ich halte sie noch fester, als könnte ich damit die Zeit anhalten.

„Es wird spät“, sagt sie schließlich, und ihre Stimme klingt fast ein wenig bedauernd. „Der Bus fährt bald.“

Ich nicke nur stumm, weil ich nicht wirklich etwas sagen will. Worte würden nur die Stille stören, die zwischen uns liegt, diese zarte Verbindung, die wir gerade teilen. Aber irgendwann muss ich sie doch loslassen. Gemeinsam stehen wir auf, und Jane legt ihre Hand in meine, während wir langsam zur Bushaltestelle schlendern. Keiner von uns eilt. Jeder Schritt fühlt sich an wie ein kleiner Abschied, und ich versuche, jeden Moment auszukosten, jede Sekunde mit ihr, bevor sie geht.

Als wir die Haltestelle erreichen, bleibt Jane stehen und dreht sich zu mir um. Für einen Augenblick sehen wir uns einfach nur an, als müssten wir uns noch einmal einprägen, wie der andere aussieht, für die Zeit, in der wir getrennt sein werden.

„Ich hasse es, wenn du gehen musst“, sage ich schließlich und versuche zu lächeln, aber es fällt mir schwer. „Es fühlt sich jedes Mal so an, als würde ein Stück von mir mit dir verschwinden.“

„Mir geht es genauso“, antwortet sie leise und tritt einen Schritt näher.

Der Bus kommt um die Ecke gerollt, und mein Herz zieht sich zusammen. Jane lehnt sich vor und küsst mich sanft auf die Lippen, ein letzter Kuss, bevor sie einsteigt. Ihre Hand löst sich aus meiner, und ich spüre die Kälte, die ihre Abwesenheit hinterlässt. Der Bus hält, die Türen öffnen sich, und sie steigt ein. Ich sehe ihr nach, wie sie einen Platz am Fenster nimmt und mir noch einmal zuwinkt.

„I love you“, flüstert sie durch die Scheibe, und ich sehe, wie ihre Lippen die Worte formen.

„I love you, too“, sage ich zurück, auch wenn sie es vielleicht nicht hören kann. Aber ich weiß, dass sie es weiß.

Die Türen schließen sich mit einem leisen Zischen, und der Bus fährt an. Ich bleibe stehen, sehe ihm nach, wie er langsam um die Ecke biegt und aus meinem Blickfeld verschwindet. In dem Moment, als der Bus endgültig weg ist, brechen alle Gefühle, die ich zurückgehalten habe, über mich herein. Es ist, als ob die Flut auf einmal losbricht.

Die Tränen kommen unerwartet, heiß und schnell, und ich lasse sie laufen. Ich stehe mitten auf der Straße, während die Menschen um mich herum gehen, und ich weine, als könnte ich den Schmerz und die Sehnsucht in mir einfach heraus spülen. Aber es funktioniert nicht. Nichts funktioniert in diesem Moment. Alles, was bleibt, ist das leere Gefühl, dass Jane jetzt weg ist und ich warten muss, bis ich sie wiedersehen kann.

Die Sekunden dehnen sich zu Minuten, die Minuten zu einer gefühlten Ewigkeit. Ich bleibe noch eine Weile stehen, lasse den Kopf hängen, während die Dunkelheit des Abends langsam über die Stadt zieht. Die Laternen gehen an, und das sanfte Licht taucht die Welt in einen goldenen Schimmer, aber es erreicht mich nicht. Nichts erreicht mich gerade. Still stehe ich da, den Kopf voller Gedanken und doch so leer.

Langsam drehe ich mich um und gehe in die entgegengesetzte Richtung. Jeder Schritt fühlt sich schwer an, als müsste ich mich zwingen, weiterzumachen, obwohl mein Herz bei Jane im Bus geblieben ist.

Jetzt ist Tag 1 – Tag 1 unserer räumlichen Trennung. Jane ist weg, und ich bleibe hier zurück – in meinen Gedanken ihren Blick, ihr sanftes Lächeln, mit dem sie mich eben noch angesehen hat.

Kapitel 2 - Mitteilungen

Der Flug nach Menorca war sanft und unaufgeregt, aber dennoch bleibt Jane ein nervöses Gefühl im Bauch. Nach all den Jahren wieder in einem Flugzeug zu sitzen, hatte etwas Unwirkliches. Es ist, als hätte sie einen Teil von sich selbst, den sie lange unterdrückt hatte, wieder freigegeben. Nun steht sie mit ihrer Familie am Flughafen von Mahón, dem kleinen, unscheinbaren Gebäude, das wie ein Tor zu einer anderen Welt wirkt. Die Luft ist mild, salzig, und die Sonne scheint durch den klaren Himmel.

„Alles gut, Jane?“, fragt ihr Vater, während er ihr mit einem leicht besorgten Blick über die Schulter sieht. Er neigt den Kopf leicht und kneift die Augen zusammen, als würde er irgendein Anzeichen von Unwohlsein in ihrem Gesicht erwarten.

„Ja, alles gut“, antwortet sie, bemüht um ein Lächeln. Sie zieht an ihrem Rucksackriemen, um die Hände zu beschäftigen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihre Familie sie wie ein Kind behandelt, als wäre sie nicht in der Lage, einfache Dinge selbst zu regeln. Es stört sie, aber sie sagt nichts. Nicht jetzt, wo der Urlaub gerade erst begonnen hat.

Ihre Mutter und ihre Tante unterhalten sich bereits über die Pläne für die kommenden Tage. Ihr Onkel lugt in sein Handy, wahrscheinlich um nachzusehen, wann der Bus sie abholt. Die typische Familienaufstellung: Jeder in seiner Rolle, jeder an seinem Platz. Jane fühlt sich wie eine Zuschauerin, und das ist in diesem Moment gar nicht so unangenehm.

„Der Bus müsste gleich da sein“, sagt ihr Onkel und zeigt auf eine heranrollende, weiße Linie am Horizont, die sich als der Reisebus entpuppt. „Cala en Bosch, nicht wahr?“

Sie ist froh, dass sie bald im Bus sitzen und sie nicht mehr den aufdringlichen Geräuschen des Flughafens ausgeliefert ist. Menschen, die in Eile sind, in Sprachen, die sie nicht versteht, während irgendwo über ihnen die Durchsagen durch die Lautsprecher dröhnen. Die Aufregung des Ankommens und Abreisens – es ist ihr immer zu hektisch.

Der Bus hält und die Türen zischen auf. Die klimatisierte Luft, die ihnen entgegenschlägt, ist eine willkommene Erfrischung. Jane lässt ihrer Familie den Vortritt, bevor sie selbst an Bord steigt und einen Fensterplatz sucht. Sie will die Landschaft sehen, alles in sich aufnehmen, bevor der Urlaub wirklich beginnt.

Kaum ist der Bus in Bewegung, lehnt sie sich zurück und lässt den Blick aus dem Fenster schweifen. Die ersten Eindrücke sind schnell verflogen: Gewerbegebiete, kleinere Häuser, die sich mit einem überraschend grünen Hinterland vermischen. Doch dann weicht die Stadt und die Landschaft öffnet sich vor ihren Augen. Sie sieht flache Hügel, Olivenbäume und Felder, die in einem sonnenverbrannten Gelb leuchten. Es gibt alte Steinmauern, die sich wie Ranken durch die Felder schlängeln. Die Vegetation hier ist karg, beinahe mediterran-trocken, doch irgendwo dazwischen blitzen immer wieder bunte Farbtupfer auf – wilde Blumen, die in der Sommersonne leuchten.

„Die Landschaft erinnert mich an Kroatien“, murmelt Jane und ihr Vater, der neben ihr sitzt, schaut sie fragend an. „Wir waren doch schon so oft da, weißt du noch? Diese trockene Hitze, die Olivenhaine … es sieht ähnlich aus.“

„Ja, stimmt“, sagt er nachdenklich und richtet den Blick ebenfalls nach draußen. „Aber hier ist es anders, weniger felsig, dafür mehr Felder. Mehr Zäune.“

Der Vater blickt prüfend aus dem Fenster.

„Und trotzdem ein bisschen wie in Amerika“, fügt Jane hinzu, ohne dass sie genau sagen könnte, warum. Vielleicht ist es das Gefühl der Weite, das diese Landschaft ihr vermittelt. Sie war nie in den USA, aber in den Bildern, die sie von den endlosen Prärien gesehen hat, findet sie eine ähnliche Stimmung.

Die Hügel rollen sanft dahin, und immer wieder entdeckt sie vereinzelte Fincas – große Landhäuser aus hellem Stein, deren Terrakottadächer unter der Sonne glänzen. Manche haben Zypressen in den Gärten, die wie grüne Speere in den Himmel ragen. Andere besitzen große Höfe, wo alte Brunnen oder verlassene Karren stehen. Sie sieht kleine Herden von Schafen, die faul auf den Feldern grasen, und überall scheint eine träumerische Stille zu herrschen, als hätte die Insel keine Eile.

Jane lehnt ihren Kopf gegen das kühle Fenster und schließt die Augen für einen Moment. Die sanfte Bewegung des Busses und die warme Brise, die durch einen kleinen Spalt des Fensters strömt, versetzen sie in eine tiefe Entspannung. Es fühlt sich fast surreal an – die Wärme, das sanfte Schaukeln, der vertraute, aber doch fremde Geruch der Mittelmeerluft.

„Also, Jane“, beginnt ihre Mutter plötzlich, und sofort spannt sich Janes Körper an. Sie weiß, was kommt. „Hast du schon überlegt, was du morgen machen willst? Wir könnten einen Ausflug nach Ciutadella machen oder vielleicht an den Strand gehen. Was meinst du?“

Jane öffnet die Augen, richtet sich auf. „Mal sehen“, sagt sie leise. Sie will sich nicht festlegen, nicht schon wieder. Ihre Familie scheint es als ihre Pflicht zu betrachten, jeden ihrer Schritte zu planen, als hätte sie nicht die Fähigkeit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Sie spürt, wie die sanfte Ruhe, die sich eben noch in ihr ausgebreitet hatte, langsam von einem leisen Unmut verdrängt wird.

„Wir haben doch den ganzen Urlaub Zeit“, fügt sie hinzu, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. Sie weiß, dass das Gespräch nicht lange bei ihr bleiben wird, dass ihre Mutter und Tante bald wieder in ihre eigene Welt abtauchen werden. Trotzdem bleibt das Gefühl bestehen, dass sie sich in einem unsichtbaren Netz aus Fürsorge und Erwartung verfängt.

„Na gut, aber du sagst Bescheid, ja?“, hakt ihre Mutter nach, wie um sicherzugehen, dass Jane wirklich verstanden hat, was sie sagen will.

„Ja, mache ich.“ Jane starrt aus dem Fenster, während der Bus langsam durch eine enge Landstraße fährt. Die Mauern aus groben Steinen auf beiden Seiten des Weges wirken fast archaisch, als hätten sie die Zeit selbst überdauert.

Ihre Tante dreht sich nun zu ihr um.

„Ich dachte, wir könnten auch einen Tag lang ein Boot mieten. So wie früher, erinnerst du dich? Das hat dir immer so viel Spaß gemacht.“

Jane nickt mechanisch, ohne wirklich zuzuhören. Das Bild der Landschaft vor ihr fesselt sie viel mehr. Sie sieht ferne Küstenstreifen, die sich am Horizont abzeichnen, das tiefe Blau des Meeres, das zwischen den Hügeln durchschimmert. Das ist es, was sie will. Einfach hier sein, einfach nur in diesem Moment.

Doch das ständige Reden ihrer Familie, ihre unaufhörlichen Versuche, jeden Moment zu gestalten, beginnen sie zu ermüden. Es ist, als ob sie nicht verstehen könnten, dass sie auch ohne ihre ständige Fürsorge leben kann – oder vielleicht wollen sie es einfach nicht verstehen. Und jedes Mal, wenn sie versucht, ihre Eigenständigkeit zu betonen, weichen sie ihr aus oder behandeln sie, als würde sie übertreiben.

Der Bus fährt jetzt durch eine kleine Stadt. Die engen Gassen, die pastellfarbenen Häuser, die Balkone mit den verschnörkelten Eisenarbeiten – alles wirkt charmant, aber auch touristisch, als wäre es extra für die Besucher auf Hochglanz poliert worden. Ein Restaurant am Straßenrand hat seine Stühle und Tische direkt auf dem Gehweg platziert. Ein paar Menschen sitzen dort, trinken Sangria, lachen und reden laut.

„Guck mal, das sieht nett aus“, ruft ihre Mutter und zeigt auf das Restaurant. „Da könnten wir morgen Mittag essen!“

„Vielleicht“, antwortet Jane vage und wendet den Blick wieder ab.

Die Landschaft verändert sich wieder, als der Bus die Stadt hinter sich lässt. Kiefernwälder tauchen auf, dichte, grüne Baumwipfel, die sich im leichten Wind wiegen. Sie wirken wie ein dichter Schutzschild gegen die heißen Strahlen der Sonne. Der Geruch von Pinienharz dringt durch das Fenster. Jane schließt wieder die Augen und atmet tief ein. Sie versucht, sich nicht von der ständigen Anwesenheit ihrer Familie bedrängt zu fühlen. Aber je mehr sie es versucht, desto mehr dringt das Unbehagen in sie ein.

Warum können sie nicht einfach akzeptieren, dass sie erwachsen ist? Dass sie in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen? Sie will nicht undankbar wirken – schließlich lieben sie sie. Aber sie will Raum. Raum für sich selbst, für ihre eigenen Gedanken, ohne dass jede Entscheidung von den sorgenvollen Blicken ihrer Eltern begleitet wird.

„Cala en Bosch – letzte Station!“, ruft der Fahrer in gebrochenem Englisch. Jane richtet sich auf. Ihr Onkel und ihr Vater stehen bereits und schnappen sich das Gepäck aus den Fächern über den Sitzen. Jane wartet, bis der Gang frei ist, bevor sie selbst aufsteht. Ihre Beine fühlen sich steif an, aber das wird sich sicher bald ändern, wenn sie erst einmal an der frischen Luft ist.

Als sie aus dem Bus steigen, schlägt ihr der heiße Wind entgegen, aber es ist ein angenehmer Kontrast zur stickigen Luft im Bus. Sie streckt sich kurz, während ihre Familie sich um das Gepäck kümmert. Vor ihnen erstreckt sich eine kleine Straße, die direkt zum Meer führt. Sie sieht schon die ersten Boote im Hafen schaukeln, das tiefe Blau des Wassers im Kontrast zum hellen Sand der Strände. Der Duft von Salz und Meer füllt die Luft, und für einen Moment kann Jane all die Anspannung hinter sich lassen.

„Jetzt beginnt der Urlaub“, murmelt sie leise vor sich hin und zwingt sich zu einem Lächeln. Sie liebt ihre Familie, aber sie weiß auch, dass sie lernen müssen, sie loszulassen. Vielleicht wird dieser Urlaub ja eine Gelegenheit sein, ihnen das zu zeigen.

Ich sitze auf der Couch und starre auf mein Handy. Der Bildschirm bleibt dunkel. Keine Nachricht von Jane. Sie müsste schon längst angekommen sein, aber nichts. Kein „Wir sind gut gelandet“, kein „Alles gut hier“. Nur Stille. Der Gedanke, dass sie vielleicht im Flugzeug oder bei der Ankunft Probleme hatte, bohrt sich in meinen Kopf wie ein unangenehmer Splitter. Ich schaue auf die Uhr: 18:50. Noch zehn Minuten bis 19 Uhr. Fast lächerlich, wie ich mich an so eine imaginäre Deadline klammere.

Jane ist heute früh mit ihrer Familie nach Menorca geflogen. Ein Familienurlaub – ihr Vater, ihre Mutter, Onkel, Tante. Und natürlich Jane, meine Jane.

Schon Tage zuvor hatte ich gewusst, dass es schwer für mich sein würde, sie nicht sehen zu können, aber jetzt, wo sie tatsächlich nicht da ist, fühlt es sich an, als wäre ein Teil von mir abgerissen worden und irgendwo in der Leere alleine gelassen.

Ich schaue wieder auf mein Handy, obwohl ich genau weiß, dass es nichts Neues gibt. Keine Benachrichtigung. Nur das dumpfe Summen des Kühlschranks in der Ecke meiner Küche begleitet die Stille.

Jane ist 26. Ein zartes, kompliziertes Wesen, autistisch, wie sie vor etlichen Jahren diagnostiziert wurde. Aber sie lebt sehr gut damit. Wir leben sehr gut damit, und das schon seit den vier Jahren unserer Beziehung.

Manchmal empfindet sie alles intensiver, als ich es jemals könnte – Geräusche, Berührungen, Stimmungen. Oft zieht sie sich dann zurück, in sich selbst hinein, wo die Welt für sie vielleicht weniger verwirrend ist. Ihre Familie hat gelernt, mit ihrer Empfindsamkeit umzugehen, aber sie sind übervorsichtig, fast zu fürsorglich. Vor allem ihr Vater. Er sieht mich mit Argwohn, schon seitdem wir zusammen sind. Und ich kann es ihm nicht verübeln. Immerhin bin ich knapp 20 Jahre älter als Jane.

Ich bin 45. Ein Alter, in dem man sich eigentlich nicht mehr um die Meinung anderer scheren sollte. Aber bei Janes Familie ist es anders. Vielleicht, weil ich weiß, dass sie für Jane das Wichtigste sind. Für sie wäre ich heute auch am liebsten mit nach Menorca geflogen, aber das kam nicht infrage. Janes Vater hätte es nie erlaubt. Vielleicht glaubt er, dass ich Jane nicht gut genug verstehe, dass ich sie irgendwie „überfordere“. Aber das tue ich nicht. Zumindest nicht bewusst.

Mein Handy vibriert plötzlich. Ich fahre zusammen, mein Herz macht einen kurzen Hüpfer. Es ist eine WhatsApp-Nachricht. Janes Name leuchtet auf dem Bildschirm auf, und ich spüre eine Welle der Erleichterung.

„Wir sind sicher gelandet, Harrylein. Sind jetzt im Hotel. Es ist wirklich schön hier. Erinnert mich ein bisschen an Kroatien oder Amerika. Ich melde mich später noch mal mit einer Sprachnachricht. Hab dich lieb.“

Ich atme tief durch. Sie ist gut angekommen. Nichts ist passiert. Kein Unglück, keine Panikattacke am Flughafen, keine Probleme bei der Einreise. Ich starre für einen Moment auf den Bildschirm, lese die Nachricht erneut. Es ist, als würde eine unsichtbare Last von meinen Schultern abfallen. Jane ist sicher, sie ist im Hotel, und es scheint ihr gut zu gehen.

Trotzdem bleibt da ein seltsamer, bitterer Beigeschmack. So sehr ich mich über ihre Nachricht freue, ich kann nicht leugnen, dass ich mich allein fühle. Sie ist so weit weg. Ich weiß, es ist albern – es ist nur Menorca, nicht die andere Seite der Welt. Aber die Distanz fühlt sich an wie ein Ozean. Ich lege mein Handy auf den Tisch und lehne mich zurück. Der Abend breitet sich wie eine schwere Decke um mich, und ich merke, wie Wehmut in mir aufsteigt.

Ich vermisse sie jetzt schon. Das Zimmer fühlt sich leer an, stiller, als es sein sollte. Die Möbel um mich herum wirken plötzlich leblos, die Wände kahl, obwohl sich nichts verändert hat. Es ist die Abwesenheit von Jane, die alles anders macht.

Ich denke an ihre Worte.

„Erinnert mich ein bisschen an Kroatien oder Amerika.“

Ich war nie in Kroatien. Und in Amerika nur ein paar Mal in Urlaub, aber das ist lange her. Jane liebt es, zu reisen. Wenn ich an sie denke, sehe ich sie oft in Bewegung – auf irgendeiner Fähre, die Nase im Wind, oder durch enge Gassen in einer fremden Stadt streifend, immer neugierig, immer mit offenen Augen. Sie sieht in allem das Besondere. Ich bewundere das an ihr, diesen Drang, die Welt zu entdecken, auch wenn sie manchmal von der Reizüberflutung überwältigt wird.

Ich schaue wieder auf die Uhr. Fast 19:15. Sie hat geschrieben, dass sie sich später nochmal melden wird. Vielleicht eine Voice-Mail. Ihre Stimme zu hören wäre schön.

Ich lasse mich tiefer in die Couch sinken und versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Vielleicht sollte ich lesen. Aber mein Blick bleibt am Handy haften, als könnte es jeden Moment wieder vibrieren.

Die Wahrheit ist, ich wäre so gern bei ihr. Ich hätte sie so gern begleitet. Janes Familie ist in den letzten Jahren ein sehr wichtiger Teil ihres Lebens geblieben, und das verstehe ich. Aber manchmal frage ich mich, ob sie mich wirklich jemals ganz als Teil ihres Lebens akzeptieren werden. Ihr Vater scheint mich zu tolerieren, mehr nicht. Und vielleicht liegt das an meinem Alter. Vielleicht sieht er in mir jemanden, der seiner Tochter nicht gut tut, der sie irgendwie zurückhält, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Ich habe immer versucht, Janes Unabhängigkeit zu fördern, sie in ihrer Selbstständigkeit zu bestärken.

Aber ich kann nicht leugnen, dass es schwer ist, diesen Urlaub nicht mit ihr zu teilen. Nicht weil ich Menorca so unbedingt wieder sehen will, sondern weil ich ein Teil von Janes Erlebnissen sein möchte. Ihre Familie wird Geschichten teilen, Insiderwitze haben, an die ich nicht anknüpfen kann. Sie werden Abende zusammen verbringen, während ich hier sitze, allein in meiner Wohnung, und auf eine Nachricht von ihr warte. Ich schüttle den Kopf. Diese Gedanken sind nicht hilfreich, sie sind unfair.

Es ist nicht Janes Schuld. Sie hat mich gefragt, ob ich mitkommen möchte, und ich weiß, dass sie es ehrlich gemeint hat. Aber es war von vornherein klar, dass es nicht möglich sein würde. Ihr Vater hätte eine Woche lang schlechte Laune gehabt, und das wollte Jane nicht riskieren. Sie will Harmonie, und ich verstehe das. Ich will es ihr nicht schwerer machen, als es manchmal ohnehin schon für sie ist.

Mein Handy vibriert wieder. Diesmal ist es die versprochene Sprachnachricht. Ich drücke sofort auf Play.

„Hey, Harrylein. Sorry, dass es so lange gedauert hat. Es ist wirklich schön hier. Wir waren schon ein bisschen spazieren, haben das Hotel erkundet. Ich glaube, du würdest es auch mögen. Es erinnert mich an Kroatien, weißt du noch? Diese Mischung aus mediterraner Ruhe und amerikanischer Größe. Es ist alles ein bisschen weitläufig hier, aber irgendwie auch gemütlich. Ich wünschte, du wärst hier. Ich vermisse dich.“

Ihre Stimme. Warm, weich, vertraut. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, dass sie neben mir sitzt, ihre Hand auf meiner. Ich höre den Wind in ihrem Hintergrund, das entfernte Murmeln von Stimmen, vielleicht ihre Familie. Sie klingt entspannt. Glücklich.

Und trotzdem fühle ich mich einsam. Ich vermisse sie so sehr, dass es fast weh tut.

„Hey, Mausi“, beginne ich schließlich eine Voice-Mail an sie. „Es tut gut, deine Stimme zu hören. Schön, dass du gut angekommen bist. Oh, ich wäre so gerne mit dir dort, jetzt und hier. Aber ich hoffe, dass du deinen Urlaub genießen kannst. I love you.“

„I love you.“ Das sagen wir uns nach fast jeder Nachricht. Es tut einfach gut, das zu hören.

„Meine Familie nervt“, kommt wenig später eine Sprachnachricht von ihr zurück. „Am Flughafen fing das schon an, als mein Onkel meinen Koffer nehmen wollte, obwohl der Rollen hat und ich ihn selbst schieben konnte. Jetzt im Hotel machen Onkel und Tante lauter Planungen für den Urlaub. Das überfordert mich ein bisschen. Aber ich versuche, das beste daraus zu machen. I love you.“

„Ja, Mausi“; antworte ich ihr. „Ich kann mir vorstellen, dass es schwer ist. Aber halte durch. In ein paar Wochen sehen wir uns ja wieder.“

Mit einem zärtlichen „Gute Nacht“ endet unsere Konversation für heute. Ich blicke aus dem Fenster, und als ich merke, dass es draußen noch warm genug ist, setze ich mich auf den Balkon und lasse meine Gedanken schweifen.

Menorca. Insel der Träume. Die Insel, die ich als Kind, als Jugendlicher und teils auch als junger Erwachsener oft besucht habe.

Der Abend bricht langsam herein, und die Dämmerung streckt ihre blassen Finger über die Dächer der Stadt. Ich sitze auf der Couch, mein Blick starr auf das dunkler werdende Fenster gerichtet. Es ist still in der Wohnung, die Geräusche der Welt gedämpft. Jane ist auf Menorca. Und ich bin hier. In diesem Moment, in dieser Stille, fühlt es sich an, als wäre sie unendlich weit weg.

Ich atme tief ein und lasse meinen Kopf gegen die weiche Lehne der Couch sinken. Meine Gedanken beginnen, wie sie es oft tun, zu wandern, diesmal in Richtung der Insel, die ich so lange nicht mehr gesehen habe. Menorca. Der Name allein löst in mir eine Flut von Bildern aus – Orte, Gerüche, Geräusche, die ich als Kind und Jugendlicher so oft wahrgenommen habe. Über fünfzehn Jahre ist es her, dass ich das letzte Mal dort war, und doch kommt es mir in diesem Moment seltsam nah vor. Fast so, als könnte ich meine Augen schließen und wäre plötzlich dort.

Jane ist jetzt dort, zum ersten Mal. Sie ist begeistert gewesen, bevor sie losgeflogen ist, neugierig auf alles, was die Insel zu bieten hat.

---ENDE DER LESEPROBE---